24.11.2020 Aufrufe

Flip-Uni2020-W

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

SPEZIAL

UNIversalis-Zeitung

Für Universität und Hochschulen in Freiburg

ArtMedia Verlag Freiburg Winter 2020 29. Ausgabe / 16. Jahrgang

Zukunftsperspektiven während der Krise

Im Gespräch: Prof. Dr. Kerstin Krieglstein – Neue Rektorin der Universität Freiburg

V

on der Professur für

Anatomie ins Dekanat

der Medizinischen Fakultät

der Universität

Freiburg, ins Rektorinnenamt der

Universität Konstanz und schließlich

wieder zurück in die Breisgaustadt.

Seit Oktober ist Prof.

Dr. Kerstin Krieglstein Rektorin

der Albert-Ludwigs-Universität

Freiburg. Zu diesem Anlass kam

Fabian Lutz mit ihr ins Gespräch.

Ein Blick auf eine steile wie unvorhersehbare

Karriere und auf

zwei Herausforderungen unserer

Zeit: Die Corona-Krise und der

Versuch, eine geschlechtergerechte

Universität zu schaffen.

UNIversalis: Frau Krieglstein, mit

Ihnen ergibt sich eine historische

Zäsur. Sie sind die erste amtierende

Rektorin der Universität Freiburg.

Was bedeutet diese neue Aufgabe

für Sie?

Kerstin Krieglstein: Es freut mich

riesig, diese Zäsur persönlich begleiten

zu können. Es ist natürlich

eine große Aufgabe, bei der mir

aber auch ein großes Vertrauen entgegengebracht

wird. Ich hoffe, dass

diese Entscheidung auch auf andere

Universitäten wirkt und weitere

solcher Entscheidungen möglich

macht. Dabei soll es nicht nur bei

den historischen Zäsuren bleiben,

sondern auch um ein neues Selbstverständnis

gehen: dass es überhaupt

nicht mehr ungewöhnlich ist,

wenn eine Frau an der Spitze einer

Institution steht. Das jedenfalls ist

mein Wunsch.

UNIversalis: Professorin für Anatomie,

später Dekanin der Medizinischen

Fakultät, nun Rektorin. Wie

empfanden Sie den Wechsel von der

Wissenschaft in die akademische

Selbstverwaltung? Das war sicher

kein einfacher Schritt.

Kerstin Krieglstein: Professorin

wurde ich aufgrund meiner Leidenschaft

für Forschung und Lehre.

Dafür hatte und habe ich eine starke

intrinsische Motivation. Wenn man

erst einmal von der Faszination

Forschung gepackt wurde, ist es

eben genau das, was man tun will.

Aus dem Inhalt:

Schumpeters Traum3

Aktuelle Forschungsprojekte

zur NS-Zeit an Freiburger

Hochschulen 5

Ein Experte für Zeitenwende

6

Modern Love: Liebeslosigkeit

für die Freiheit7

Alltag findet Stadt9

Das Phänomen des „unsichtbaren

Virus“ 11

Kunstseminare im Lockdown

13

Hochschul(lehr)kultur in digitalen

Zeiten 14

Ein neuer Blick auf die Alchemie

des Lebens 15

Dafür wollte ich für mich ebenso

wie für andere Freiräume schaffen,

und deshalb habe ich mich in der

akademischen Selbstverwaltung

engagiert. Wer diesen Weg mit

allen Konsequenzen gehen will,

muss dafür letztlich Forschung und

Lehre aufgeben. Das ist aber keine

Entscheidung, die man mal eben

schnell am Tisch trifft – jedenfalls

nicht, wenn man zuvor eine Wissenschaftskarriere

mit Erfolg eingeschlagen

hat. Bei mir war das ein

schleichender Übergang.

UNIversalis: Bedingen sich der

Wunsch zu forschen und Forschung

zu gestalten nicht auch?

Kerstin Krieglstein: Natürlich

hängt beides zusammen. Gerade

um die eigene Forschungsumgebung

zu verbessern, wird man in

Gremien tätig und bemüht sich um

die Gestaltung von Infrastrukturen.

In diesen Ämtern, beispielsweise

als Mitglied im Fakultätsrat oder

als Dekanin, sammelt man Erfahrung,

erhält hilfreiches Feedback

und gelangt immer tiefer in die akademische

Selbstverwaltung hinein.

UNIversalis: Ein Umschlagpunkt

bei Ihnen dürfte die Wahl zur Dekanin

der Medizinischen Fakultät

2014 gewesen sein.

Kerstin Krieglstein: Ja. Als ich

gewählt wurde, wurde das Amt der

Dekanin zugleich in eine hauptamtliche

Funktion überführt. Für mich

gab es ab diesem Moment also keinen

Vergleich, kein Vorbild mehr.

Ich hatte niemanden, an dem ich sehen

konnte, was es bedeutet, dieses

Amt im Hauptamt auszuüben. Auch

wurde mir klar, dass es nicht mehr

im selben Maße möglich sein würde,

meine Forschungen fortzuführen.

Dennoch habe ich ein Konzept

entwickelt, wie der Wiedereinstieg

in die Forschung am Ende meiner

Amtszeit gelingen würde.

UNIversalis: Aber Sie blieben in

der akademischen Selbstverwaltung.

Kerstin Krieglstein: Während

meiner vierjährigen Amtszeit als

Dekanin habe ich einige Angebote

bekommen – ob ich nicht hier oder

dort Dekanin werden möchte, übrigens

wieder in hauptamtlicher

Funktion. Da wusste ich, dass ich

mein Amt in der akademischen

Selbstverwaltung offensichtlich gut

und sichtbar ausübe. Das war Feedback,

das ich brauchte, um mich

auf diesem Weg bestätigt zu fühlen.

Schließlich kam die überraschende

Situation, dass 2018 an der Universität

Konstanz die Rektorenstelle

ausgeschrieben wurde. Da dachte

ich mir: Ich teste einmal meinen

Marktwert und bewerbe mich. Als

Dekanin der Medizinischen Fakultät

übte ich in manchen Bereichen

auch Tätigkeiten aus, die denen

einer Rektorin äquivalent sind. Im

Auswahlgespräch konnte ich auf

diese Kompetenzbereiche verweisen.

UNIversalis: Und Sie hatten Erfolg.

Kerstin Krieglstein: Ja, das war

eine schöne Erfahrung. Die Herausforderung

habe ich gerne angenommen.

Auch in diesem Amt

bekam ich viel positives Feedback

und habe festgestellt, dass ich mich

dort sehr wohl fühle.

UNIversalis: Nach zwei Jahren

waren Sie aber bereits wieder in

Freiburg und traten dort die Rektorinnenstelle

an.

Kerstin Krieglstein: Ich hatte keine

dezidierte Strategie für meinen

weiteren beruflichen Werdegang.

Als sich jedoch die Chance ergab,

an meiner Heimatuniversität, mit

der ich seit über 10 Jahren verbunden

bin, Rektorin werden zu können,

liebäugelte ich sehr damit. Ich

wollte es einfach einmal probieren,

und es hat geklappt. Wahrscheinlich

wäre ich aber hier nicht Rektorin

geworden, wenn ich in Konstanz

vorher nicht wichtige Qualifikationen

gesammelt hätte.

UNIversalis: Neben der persönlichen

Verbundenheit – was reizt Sie

an der Universität Freiburg?

Foto: Jürgen Gocke

Kerstin Krieglstein: Die ehrliche

Leistungsstärke. Es gibt viele universitäre

Einrichtungen, die extrovertierter

auftreten als die Universität

Freiburg und bei denen die sichtbare

Leistung größer als die tatsächliche

ist. In Freiburg verhält es sich

umgekehrt. Dort gibt es einen hohen

Leistungsstandard, das Auftreten

aber ist oft nah am Understatement.

Die Universität Freiburg ist besser,

als sie sich verkauft. Diese Attitüde

gefällt mir, ebenso wie mir Qualität

und Wissenschaftlichkeit der Einrichtung

gefallen. Mit der umgekehrten

Attitüde würde ich weniger

zurechtkommen.

UNIversalis: Ihre Amtszeit begann

inmitten der Corona-Krise. Auf die

Universität Freiburg kamen und

kommen viele Herausforderungen

zu. Gerade die Lehre ist gefordert,

mit flexiblen, neuen Formaten darauf

zu reagieren. Sehen Sie Freiburg

angesichts der Krise gut gerüstet?

Kerstin Krieglstein: Ich sehe die

Universität Freiburg in dieser Situation

gut aufgestellt. Die Universität

setzt sich bereits seit langer Zeit

mit E-Learning-Formaten auseinander.

Seit 2006 sind wir beispielsweise

dank der Förderprogramme

„MasterOnline“ der Landesregierung

führend im Angebot universitärer

Online-Studiengänge in Baden-Württemberg.

Die Herausforderung

war aber, diese punktuellen

Erfahrungen einzelner Studiengänge

innerhalb kürzester Zeit auf die

ganze Universität zu übertragen.

Das ist uns gut gelungen – durch

das enorme Engagement der Lehrenden

sowie des Rechenzentrums

und dort insbesondere der Abteilung

E-Learning. Zum Wintersemester

gilt es nun, diese Erfahrungen

fortzuschreiben und Formate zu

nutzen, die maximal inklusiv sind,

also alle Beteiligten in einem virtuellen

Lehrraum zusammenbringen.

In der Corona-Krise müssen alle

Lehrenden digitale Lehre leisten

und umfassende Lehrkonzepte gestalten

können.

UNIversalis: Wie lässt sich ein solches

Lehrkonzept beschreiben?

Kerstin Krieglstein: Die Corona-

Krise fordert zunächst nur den

Übertritt in eine virtuelle Lehrsituation

– zum Beispiel wird eine

Vorlesung als Videokonferenz

statt im Hörsaal gehalten. Das

reicht aber nicht, da Studierende

hier oft in einer zuhörenden Rolle

verharren. Wir müssen uns für die

Zukunft auch intensiver mit der

Didaktik der virtuellen Lehre und

mit den vielen verschiedenen digitalen

Lehrformaten beschäftigen.

Ob ich mein Seminar oder meine

Vorlesung in synchronen Formaten

mit Videokonferenzen gestalte

oder ob ich sie asynchron anbiete,

also Lehrinhalte in Videos vorab

aufzeichne und den Studierenden

Aufgaben stelle, die sie alleine

oder in virtuellen Gruppen bearbeiten,

ist dabei nur ein trivialer Teil

eines großen Spektrums an Möglichkeiten.

Wichtig ist, Formate zu

schaffen, die die soziale Interaktion

zwischen Lehrenden und Studierenden,

aber auch zwischen den

Studierenden fördern.

UNIversalis: Das betrifft sicher

auch jene hybriden Formate zwischen

Präsenzlehre und digitaler

Lehre. Welchen Stellwert haben

solche Formate?

Kerstin Krieglstein: Die Corona-

Krise fordert uns auf, uns auch in

Zukunft mit dem Besten aus beiden

Welten auseinanderzusetzen, um die

Lehre qualitativ und international

wettbewerbsfähig weiterzuentwickeln.

Hybride Lehrformate werden

sicher an Bedeutung gewinnen.

Sie ermöglichen eine höhere Flexibilität

für Lehrende und Studierende.

Es gab auch schon in den

vergangenen Jahren viele Gründe,

warum sich viele Studierende mehr

digitale Formate gewünscht haben.

Asynchrone Lehrsituationen etwa

kommen Studierenden entgegen,

die neben ihrem Studium arbeiten,

Kinder oder andere Familienangehörige

betreuen müssen. Eine andere

Form der hybriden Lehre ist das

zeitgleiche Zusammenarbeiten von

Studierenden im Seminarraum mit

Teilnehmenden, die per Videokonferenz

zugeschaltet sind. Die didaktische

Anforderung an Lehrende ist

in diesem Setting maximal hoch, da

es gilt, Präsenzdidaktik mit Online-

Moderation zu verbinden, um keine

Teilnehmergruppe zu benachteiligen.

UNIversalis: Welche Rolle spielen

innovative Lehrformate – vielleicht

auch über die Gegebenheiten der

Corona-Krise hinaus?

Kerstin Krieglstein: Innovative

Formate wie der „Flipped Classroom“

oder „Blended Learning“

werden zum Beispiel für die internationale

Lehre immer wichtiger.

Gerade auf europäischer Ebene


2 UNIversalis-Zeitung Winter 2020

muss die Universität Freiburg

bi- und multinationale Konzepte

ermöglichen. Wir sind am trinationalen

Universitätsverbund Eucor

– The European Campus ebenso

beteiligt wie an dem Konsortium

EPICUR, das von der EU als Pilot

für eine europäische Universität

gefördert wird. Über virtuelle Formate

können räumliche und zeitliche

Barrieren überwunden werden.

Zugleich bleibt die direkte Interaktion

zwischen den Lehrenden und

Studierenden aber enorm wichtig.

Mein Wunsch wäre, dass wir diese

Ansätze in Zukunft deutlich stärker

bei der Curriculumsentwicklung aller

Studiengänge nutzen.

UNIversalis: Was für Szenarien wären

dann denkbar?

Kerstin Krieglstein: Studierende

sollen individuell entscheiden und

Lehrangebote flexibel nach den

eigenen Rahmenbedingungen und

Vorlieben zusammenstellen können.

Hier müssen wir unbedingt

in die Ermöglichungsphase treten.

Angesichts der Kreativität unserer

Lehrenden ich bin optimistisch, dass

sich das Angebot dynamisch entwickeln

wird. Bei all den Bemühungen

darf es aber niemals das Ziel sein,

die Präsenzlehre abzuschaffen.

UNIversalis: Sie kommen als Wissenschaftlerin

aus dem naturwissenschaftlichen

Bereich. Hier bleiben

Frauen bis heute unterrepräsentiert.

Welche Schritte sehen Sie als

notwendig, um diese Problematik

anzugehen?

Kerstin Krieglstein: Wir müssen

grundsätzlich für die Attraktivität

der MINT-Fächer (Mathematik,

Informatik, Naturwissenschaft und

Technik) werben, aber auch darauf

hinarbeiten, dass es keine Geschlechterdifferenzierung

mehr gibt.

Wir müssen dazu auch aktiv in die

Verteilung eingreifen. In einer früheren

Phase meiner Karriere war ich

kategorisch gegen jede Quote. Mittlerweile

kann ich der Quote vieles

abgewinnen, auch wenn sie nicht als

Lösung für jedes Problem dient. Ich

glaube aber, dass wir dadurch in jedem

Fall eine Sogwirkung generieren

können.

UNIversalis: Sehen Sie sich über

Ihre Position als Frau im männlich

dominierten Wissenschaftsbetrieb

für solche Problematiken eher

sensibilisiert?

Kerstin Krieglstein: Auf jeden

Fall. Wobei mir viele Problematiken

erst im Rückblick aufgefallen

sind. Wenn ich in einem Gremium

sitze, wissenschaftlich arbeite oder

lehre, sehe ich viele Gleichstellungsproblematiken

nicht unmittelbar.

In späteren Positionen konnte

ich meine Erfahrungen aber oft neu

bewerten. So fielen mir auch einige

Probleme deutlicher auf. Für manche

Qualifikationen musste ich mich

etwa anders oder sogar mehr engagieren.

Gerade in Bezug auf manche

Berufungsverfahren wurde mir das

im Nachhinein oft klar. Da blieb das

Gefühl, in der Bewertung doch zu

schlecht weggekommen zu sein.

UNIversalis: Können Sie von einer

solchen Erfahrung erzählen?

Kerstin Krieglstein: Nachdem ich

frisch habilitiert war, hatte ich mich

sieben Mal auf verschiedene Stellen

beworben, war aber nie eingeladen

worden. Bei der achten Bewerbung

wurde ich dann eingeladen

und gelangte direkt auf den ersten

Bewerberplatz. Von den sieben vorherigen

bis zur achten Bewerbung

hatten sich meine Qualifikationen

allerdings nicht wesentlich verändert.

Ich kann zwar nicht sagen, in

welchem dieser Verfahren Voreingenommenheit

eine Rolle spielte,

aber dass sie eine Rolle spielte, davon

gehe ich aus. Ansonsten ist der

plötzliche Sprung auf den hohen

Listenplatz nicht plausibel. Als ich

Jahre später darüber nachdachte,

kam mir der Gedanke, dass jene

letzte Universität, bei der ich mich

beworben hatte, wohl eine starke

Gleichstellungsbeauftragte gehabt

haben musste.

UNIversalis: Welche Rolle, glauben

Sie, hatte diese Beauftragte im Berufungsprozess?

Kerstin Krieglstein: Diese Person

hat mich sicher nicht durchgesetzt,

aber über ihre Tätigkeit möglicherweise

ein Milieu geschaffen, in dem

Bewertungen datenbasiert, also

ohne impliziten Geschlechterbias

möglich wurden. Es ist wichtig,

Umgebungen zu schaffen, in denen

das Auswahlkriterium „Frau/Mann“

Foto: Sandra Meyndt

immer mehr an Bedeutung verliert.

Begleiten kann man diesen Prozess

dann mit einer Quote.

UNIversalis: Zum Schluss eine launische

Frage: Wie viel Idealismus

trägt das Rektorinnenamt?

Kerstin Krieglstein: Am Morgen

viel, am Abend weniger.

UNIversalis: Liebe Frau Krieglstein,

wir bedanken uns sehr für das

Gespräch!

Zur Person

Kerstin Krieglstein: Jahrgang

1963, habilitierte Hirnforscherin,

ehemalige Professorin für Anatomie,

Direktorin der Abteilung für

Molekulare Embryologie der Medizinischen

Fakultät der Albert-

Ludwigs-Universität Freiburg und

Rektorin der Universität Konstanz.

Seit Oktober 2020 Rektorin an

der Universität Freiburg. Von der

Pharmazie kam sie in die neuroanatomische,

neurophysiologische

und zellbiologische Forschung.

Ihr Forschungsschwerpunkt ist die

pränatale Entwicklung des Gehirns

und seiner Nervenzellen.

Du studierst – Wir machen den Rest

Das Studierendenwerk Freiburg-Schwarzwald

D

as Studierendenwerk

Freiburg-Schwarzwald

(SWFR) ist für die Studierenden

der staatlichen

Hochschulen in Freiburg, Furtwangen,

Villingen-Schwenningen,

Offenburg, Gengenbach, Kehl und

Lörrach zuständig.

Alle Studierenden dieser Hochschulen

zahlen jedes Semester einen Semesterbeitrag,

der sie dazu berechtigt,

die Leistungen des SWFR zu

nutzen.

WOHNEN: Wir helfen durch unsere

Zimmervermittlung ein Zimmer auf

dem freien Wohnungsmarkt zu finden

und bieten günstigen Wohnraum

in unseren Wohnheimen.

ESSEN & TRINKEN: In unseren

Mensen kochen wir täglich preisgünstige,

ausgewogene Mahlzeiten

aus hochwertigen Zutaten – auch

vegetarisch und vegan. Fair gehandelter

Kaffee und Backwaren aus der

Region gibt es in unseren Cafeterien.

GELD: Die finanzielle Förderung

durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz

(BAföG) ist eine

unserer Hauptaufgaben. Unsere

Mitarbeiter*innen informieren über

die gesetzlichen Vorschriften und

helfen beim Antrag stellen.

Außerdem bieten wir weitere Finanzierungshilfen

wie Studienkredite,

Stipendien oder Darlehen. Außerdem

findet man in unserer Online-Jobvermittlung

studentische Nebenjobs.

BERATUNG & SOZIALES: Wir

beraten aber nicht nur in finanziellen

Das Studierendenwerk Freiburg in den Räumen der Basler Straße

Angelegenheiten. Unsere Sozialberatung

hat Informationen zu Krankenversicherung

oder Ausländerrecht,

zum Wohngeld oder zur Kinderbetreuung.

Für Studierende mit Nachwuchs

bieten wir Kindertagesstätten

oder helfen bei der Suche nach einem

Kindergartenplatz oder anderer Betreuung.

Ein Anwalt hilft bei Rechtsfragen.

Und wer zwischendurch mal in eine

Krise gerät, ist in unserer Psychotherapeutischen

Beratungsstelle gut aufgehoben.

Unsere Therapeut*innen

helfen bei persönlichen oder studienbedingten

Problemen. Außerdem

bieten wir regelmäßig Seminare und

Workshops zu Stressbewältigung,

Prüfungsangst oder Selbstmanagement

an.

VERANSTALTUNGEN: Ebenso

wichtig wie Essen, Wohnen und Finanzen

ist es, andere Leute kennenzulernen.

Bei unseren Sport- und

Freizeitangeboten, bei den Studitours

oder im Internationalen Club

findet man leicht Kontakt.Und in unserer

MensaBar im Foyer der Mensa

Rempartstraße gibt es während des

Semesters ein reges und vielfältiges

Veranstaltungsprogramm mit Musik,

Party, Film, Comedy, Slam, Ping

Pong Club u.v.a. mehr. Wer mitmachen

will, ist willkommen.

In diesem Wintersemester müssen

wir unser Veranstaltungsprogramm

Foto: Christoph Düpper

wegen Corona leider einschränken.

Bitte schaut auf unserer Website,

welche Angebote stattfinden.

Unser Infoladen, unsere Broschüren,

Flyer, unser Infokalender für Studierende

und unsere Website informieren

euch umfassend über alle unsere

Angebote und Aktivitäten. Täglich

Neues gibt es auf unseren Social Media

Kanälen.

Infoladen des Studierendenwerks,

Basler Str. 2, 79100 Freiburg

Mo –Fr 9.00 – 17.00 Uhr, Tel. 0761

2101-200 , info@swfr.de

www.swfr.de

www.facebook.com/studierendenwerk.freiburg


Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 3

Thomas Ramge und Viktor Mayer-Schönberger

Foto: Peter van Heesen

Schumpeters Traum

Viktor Mayer-Schönbergers und Thomas Ramges Machtmaschinen trifft die heutigen Datenmonopole an

kritischer Stelle und nennt Alternativen für eine datenoffenere Welt

D

igitalisierung bedeutet

Datenmacht. Und

mit Macht kommt

Verantwortung. Dass

Konzerne wie Facebook, Google

oder Amazon nun nicht unbedingt

verantwortungsvoll verfahren,

dürfte vielen klar sein. Aber

was stattdessen? Und wo ansetzen?

Viktor Mayer-Schönberger

und Thomas Ramge zeigen in

ihrem Buch Machtmaschinen.

Warum Datenmonopole unsere

Zukunft gefährden und wie wir sie

brechen eine klare Handlungsalternative

auf: Den Monopolisten

die Datenhoheit nehmen. Statt

Datenhäufung Datenverteilung

– zugunsten einer transparenten,

demokratischen Gesellschaft.

Ein neugieriger Blick in ein spannungsreiches

Buch.

„Daten sind nicht nur der wichtigste

Rohstoff unserer Zeit. Daten

sind Macht. Jeder politisch denkende

Mensch sollte sich mit der Frage

beschäftigen, wie wir mit diesem

Rohstoff umgehen.“ Im Interview

mit der UNIversalis zeigen sich die

beiden Autoren des Buchs Machtmaschinen

in ihrem Anspruch

deutlich. Notwendigerweise, denn

obwohl sich die Digitalisierung in

allen Lebensbereichen vollzieht und

ihre Folgen alltäglich zeigt, wird sie

von der Öffentlichkeit doch seltsam

teilnahmslos dabei beobachtet. Sicher,

wir alle kennen die Debatten

um Datenschutz und empfinden eine

intuitive Skepsis vor Konzernen wie

Facebook und Google; ebenso intuitiv

aber nutzen wir deren Services,

bleiben zwischen Bequemlichkeit

und Überforderung, wenn ein weiteres

„Okay“ unter die Allgemeinen

Geschäftsbedingungen gesetzt werden

muss oder eine Website nach

unserer Zustimmung zur Verwendung

von Cookies fragt. Die konsequente

Auseinandersetzung damit,

– IHR FACHGESCHÄFT IN FREIBURG FÜR

was Konzerne mit unseren Daten

tun und zu welcher Macht sie damit

kommen, überlassen wir lieber Leuten

vom Fach.

Viktor Mayer-Schönberger und

Thomas Ramge sind vom Fach.

Ramge als Journalist und Autor für

aktuelle Technologietrends, tätig für

Zeitschriften wie brand eins oder

The Economist, Mayer-Schönberger

als Professor für Internetregulierung

an der Oxford University, Mitglied

des Deutschen Digitalrats und Autor.

„In unserem Buch versuchen

wir, das Beste aus Wissenschaft

und Journalismus zusammenzuführen.

Unser Anspruch ist es, die

Entwicklungen durch datenreiche

Plattformen für Wirtschaft, Gesellschaft

und Politik in großer Tiefe

zu durchdringen, unsere Analyse

durch klare Sprache und plastisches

Erzählen aber auch für alle Leserinnen

und Leser verständlich und

spannend aufzubereiten.“

Märchen der Digitalisierung

Keine einfache Aufgabe, sind viele

Prozesse in der digitalen Welt doch

nicht leicht greifbar – oder werden

gezielt verschleiert, darauf

machen die Autoren schnell aufmerksam.

Was Facebook, Google

und Co. auszeichnet, sind weniger

exklusive, moderne Technologien

als exklusive, moderne Erzählungen.

Im Mittelpunkt dabei:

Das autonome, findige IT-Genie,

das in Figuren wie Mark Zuckerberg,

Steve Jobs oder der Big Bang

Theory-Serienfigur Sheldon Gestalt

findet. Die Datenmonopolist*innen

aus Silicon Valley erzählen gerne

von großen Figuren, die nach den

Sternen greifen. „Im Narrativ der

Superstarfirmen wimmelt es auf

ihrem Campus nur so von kleinen

Sheldons, die mit einsteinhafter

Brillanz aus Daten Gold machen.“

Weitere Mythen zirkulieren. Den

IT-Superfirmen könnten Unternehmen

und Volkswirtschaften auf digitaler

Ebene allein deshalb keine

Konkurrenz machen, weil ihnen

schlicht die Rechenleistung fehle.

Die berüchtigten Algorithmen, die

etwa Googles Dienste so allumfassend

reagieren lassen, seien gutgehütete

Geheimnisse, zu denen die

schnöden Wirtschaftler*innen von

gestern schlicht keinen Zugriff haben.

Klingt schlüssig, ist aber alles

falsch. Rechenkraft, Speicherkapazität,

Datenanalysewerkzeuge, Algorithmen

und auch Computergenies

sind in Europa ebenso vorhanden

wie im sonnigen Kalifornien.

„Für den großen digitalen Sprung

fehlen vor allem die Zugänge zum

Rohstoff der digitalen Revolution,

zu den Daten. […].“ Ein Wettbewerbsvorteil,

der für den Erfolg

der neuen Unternehmensriesen so

ausschlaggebend ist wie er für alle

anderen ungreifbar scheint. Die

Konkurrenz in Europa bleibt „chancenlos

und ratlos“.

Die Stärke von Machtmaschinen

liegt in der Beharrlichkeit seiner

Argumentation. Die Autoren fragen

nicht nur nach den Gegebenheiten

jener neuen Wettbewerbssituation,

sondern gleichfalls nach

derer öffentlicher Repräsentation.

Die Genieerzählung der digitalen

Innovator*innen ist gerade deshalb

so wirkmächtig und scheinbar unangreifbar,

weil sie sich auf etwas

beruft, das moralisch unangreifbar

scheint: Die Kreativität des Individuums.

Entsprechend selbstbewusst

und freimütig treten die

Exponent*innen des digitalen Wandels

bei Konferenzen auf, teilen ihre

Erkenntnisse und Errungenschaften,

lassen einige wesentliche Informationen

allerdings aus.

Machtmaschinen funktioniert

nicht wie der pseudotransparente

Bestseller How Google Works mit

seinen Wachstumsmärchen der Innovation.

Das Buch bohrt tiefer,

stellt Grundannahmen in Frage und

löst sein Versprechen, sowohl tiefgehend

als auch spannend zu sein,

voll ein.

Eine Fingerspitze Innovation

Joseph Alois Schumpeter erhält

in Machtmaschinen sein eigenes,

wenig hoffnungsvolles Kapitel:

„Schumpeters Albtraum“. Schumpeter,

einer der bedeutendsten Ökonomen

des 20. Jahrhunderts, sah

Vielseitig

ist einfach.

sparkasse-freiburg.de

Innovation und Kreativität als wesentliche

Antriebsfaktoren der Wirtschaft.

Für ihn gaben sie auch in

schwierigen Zeiten Grund für Optimismus.

Auch in Krisensituationen,

etwa während der Weltwirtschaftskrise

von 1924, die Schumpeter

selbst das Vermögen kostete, blieb

der Ökonom davon überzeugt, dass

auf jede wirtschaftliche Diskontinuität

neue Innovation und damit

Wachstum folgt. Ein Albtraum des

Visionärs blieb die Monopolstellung

der Innovation. Würde sich

contouno ü18 –

so flexibel wie das

Leben.

Mit dem kostenfreien Girokonto

für junge Leute bis 25 sind Sie

entspannt in allen Situationen

unterwegs.


4 UNIversalis-Zeitung Winter 2020

die Innovationskraft auf nur wenige

mächtige Unternehmen konzentrieren,

würde diese dort naturgemäß

eingehen. Schließlich haben die

selbstbewusst Mächtigen nur wenig

Anlass, risikoreiche, radikale Ideen

in die Welt zu setzen.

Man ahnt es schon: Schumpeters

Albtraum erhält in unserer Gegenwart

seine Entsprechungen. Hat

Europa vielleicht alle wesentlichen

materiellen wie ideellen Ressourcen,

so wandern diese schließlich

doch ins sonnige Datenkalifornien

ab, wo sie weit bessere Grundbedingungen

vorfinden als im heimischen,

überforderten Markt.

Auch China weiß mit teils noch

höheren Gagen aus den europäischen

Staaten mit ihren eigentlich

innovationsstarken Ausbildungsstätten

zu locken. Bleiben junge

Innovateur*innen hingegen bei ihrem

Projekt und schaffen dezentral

kreative Leistungen, wissen sich die

„Großen“ mit der sogenannten „Kill

Zone“ zu helfen. Gefährlich gewordene

kleinere Unternehmen werden

prompt und lukrativ eingekauft und

damit gewinnbringend entschärft.

Die Übernahme der Message-App

WhatsApp durch Facebook stellt

eins der bekanntesten Beispiele. Ein

großer Konzern öffnet sich damit

immer mehr Datenströmen. Und ein

Datenstrom ist ein gewissermaßen

endlos fließender Rohstoff.

Die Logik der Daten

In die Tiefe zu gehen, bedeutet für

Viktor Mayer-Schönberger und

Thomas Ramge auch, das Denken

dem Gegenstand anzupassen. Im

Denken älterer Wirtschaftszweige

mag das Bild vom „Datenschatz“,

den man nur zu heben braucht,

schlüssig sein – nur verschleiert

es den Tatbestand. Denn Daten

sind weder ein Schatz noch das

neue Öl, mit dem die Maschine

angetrieben wird, die wiederum

Gewinne generiert. Daten werden

nicht schlicht konsumiert, sondern

steigen in ihrem Wert noch

während der Nutzung. Den neuen

Großunternehmer*innen geht es

nicht um den Verkauf von Daten,

sondern um deren steten Besitz

und die ständige Neuverarbeitung

in wechselnden Kontexten. Darauf

gründet das flexible Geschäftsmodell

von Konzernen wie Apple,

Amazon oder Spotify.

Die konstante Überwachung der

eigenen User*innen schafft die

Fähigkeit, flexibel auf Wechsel im

Konsumverhalten zu reagieren. Die

Daten fließen in einem Flussbett,

das konstant angepasst wird. Aber

damit der Fluss fließt, braucht es

Wasser. Traditionelle Konzerne wie

Toyota, Volkswagen oder Mercedes

blieben im Trockenen. Während sie

fleißig das eigene Automatikgetriebe

weiter optimierten, begann Google

mit der Vermessung der Straßen

der Welt, um auf eine komplett neue

Technik, das Autonome Fahren, zu

setzen. Und die basiert auf Daten,

ein Rohstoff, der nie versiegt.

Aus verschiedenen Perspektiven

beleuchtet Machtmaschinen diesen

Umstand. Dann stellt es eine klare

Forderung, die beide Autoren im

Interview bestätigen: „Wir fordern,

dass ein Teil dieser Daten allen

zugänglich gemacht wird, die den

Fortschritt voranbringen können.

Wenn wir mehr Daten mehr Innovatoren

und Innovatorinnen zugänglich

machen, werden wir alle gewinnen.“

Die Leistungen der Tech-

Pionier*innen in Sachen Datengewinnung

könnte so für alle Früchte

tragen. Gerade auch für kleinere

und mittelgroße Unternehmen, die

sonst ohne Zugang zum Datenstrom

eingehen oder zuvor von einem der

Riesen weggekauft würden. Nicht

zuletzt ergibt sich daraus auch ein

Vorteil für Konsument*innen: Ist

der Markt breiter aufgestellt, fallen

auch die hohen Monopolpreise.

„Das ist es, was soziale Marktwirtschaft

ausmacht: die Menschen zu

bemächtigen, und nicht wettbewerbsfeindliche

Konzerne.“

Datenfluss und Datenschutz

Die Autoren besinnen sich auf ein

wettbewerbsstarkes Europa und damit

auch auf die Errungenschaften

des Kontinents in Sachen Datenschutz.

Aber auch hier bleibt ein

kritischer, nachbohrender Blick.

„Selbst leiser Widerspruch gegen

die Dogmen der europäischen Datenschutzreligion

führt dazu, sich

in der Rolle eines Ketzers wiederzufinden.“

Tatsächlich ein empfindliches

Thema, dem sich die Autoren

stellen müssen, wollen sie für

einen offeneren Zugang zu Daten

werben. Statt von Beginn an in eine

rechtfertigende Haltung zu gehen,

wagen sie aber einen Angriff. Gerade

angesichts der Covid-19-Krise

blockierten bestimmte Datenschutzregulierungen

produktive und gesundheitlich

sichere Alternativen,

etwa digitale Schulungs- oder Arbeitsmöglichkeiten.

Die Einschränkung

einer Kontaktverfolgungsapp

aufgrund von Datenschutzgründen

schränke deren grundsätzlichen

Nutzen ein. Gleichzeitig, so die Autoren

aber auch, beweise die Corona-Krise,

wie erfolgreich eine länderübergreifende

medizinische Zusammenarbeit

funktionieren kann,

wenn alle wichtigen Akteur*innen

Zugriff auf die wesentlichen Daten

erhalten.

„Zugangsrechte zu Daten neu

zu regeln, ist rechtlich kein großes

Problem. Die Europäische Union

kann dies durch eine Erweiterung

der Datenschutz-Grundverordnung

leicht umsetzen.“ Im Interview betonen

beide Autoren aber gleichzeitig:

„Zu teilende Daten müssen

dabei freilich von personenbezogenen

Merkmalen befreit werden.“

Das hieße am Beispiel: „Amazon

müsste offenlegen, welche Produkte

gekauft werden, aber nicht, wie oft

oder von wem. Weder Suchanfragen

noch Produktnamen sind personenbezogen

oder Geschäftsgeheimnisse,

sondern es sind ‚reine‘

Sachdaten.“ Ein Rohstoff, der nur

genutzt werden muss. Und ein Modell,

das in Einklang mit dem Gesellschaftssystem

steht, in dem wir

leben. Die Offenheit der Daten spiegelt

das Ideal einer Demokratie als

Ort freier Informationsflüsse und

zugänglicher Fakten. Nur so bleibt

die freie, persönliche Willensbildung

des einzelnen Menschen möglich.

Gleiches gilt für die politische

Entscheidungsfindung, die in diesem

Szenario auf weit mehr Daten

fußen und damit deutlich sachbezogener

begründet werden kann. „Der

Grundsatz von Open Data ist nicht

außergewöhnlich und radikal, sondern

ein konstitutives Element der

Demokratie.“

Prototypen der neuen Welt des

freien wie geschützten Datenzugangs

können die Autoren ebenfalls

nennen. Das internationale Forschungsinstitut

CERN präsentiert

seine innovativen Ergebnisse frei

und offen zugänglich. Die World

Values Survey stellt Daten zu den

Wertevorstellungen einer Gesellschaft,

wie sie seit vier Jahrzehnten

erhoben werden, online für alle

Interessierten zur Verfügung. Und

nur Wikipedia ist wohl zu bekannt,

um ausführlicher im Buch gewürdigt

zu werden. Der Entdeckergeist

ist da und Open Data kennt viele

Befürworter*innen. Dem Buch ist

zu wünschen, dass es dem Diskurs

nun neue Perspektiven schenkt.

Gründlich und facettenreich genug

haben beide Autoren schließlich dafür

argumentiert.

Viktor Mayer-Schönberger und

Thomas Ramge, „Machtmaschinen.

Warum Datenmonopole unsere

Zukunft gefährden und wie wir sie

brechen“, Murmann 2020.

Fabian Lutz


Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 5

V

or wenigen Wochen entstand

ein Bilderstreit in

Freiburg. Es ging um die

christliche Widerstandskämpferin

Gertrud Luckner (1900–

1995), Trägerin des Bundesverdienstkreuzes

am Bande und Ehrenbürgerin

der Stadt. Im Rahmen des Stadtjubiläums

900 Jahre Freiburg sollte ein kleinformatiges

Foto aus dem Jahr 1936,

das Luckner beim Spaziergang durch

die Stadt unweit des Schwabentors

zeigt, als 19 x 14 Meter großes Banner

an der Fassade der Uni-Bibliothek

aufgespannt werden. Nebenan, im

ehemaligen Caritas-Sitz (heutiges

Werthmann-Haus) hatte Luckner,

nach überstandenem KZ-Aufenthalt,

in der Nachkriegszeit jahrelang gearbeitet

und die „Verfolgtenfürsorge“

geleitet. Der Disput kann ein Lehrstück

sein für die Schwierigkeiten mit

unserer Erinnerungskultur. Insofern

ist er auch relevant für wissenschaftliches

Arbeiten.

Zerstört am 27. Nov. 1944: die Alte Ludwigskirche,

Ecke Rheinstr./Habsburgerstr.

Gertrud Luckner im Zwist

Aktuelle Forschungsprojekte zur NS-Zeit an Freiburger Hochschulen

Warum scheiterte das Luckner-

Projekt?

Initiiert hatte das Vorhaben der ehrenamtlich

geführte Verein „Wahlkreis

100“, der sich seit Jahren für

erweiterte politische Beteiligung der

Migrant*innen einsetzt – und dafür

2013 den „Freiburger Integrationspreis“

erhielt. An mindestens vier

Orten der Stadt sollten solche Großfotos

von historischen Akteuren des

Widerstands und der mutigen Selbstbehauptung

gezeigt werden, jeweils

dort wo sie tatsächlich auch aktiv

gewesen sind (siehe: www.sichtbarfreiburg.de).

Der Luckner-Plan war für gutgeheißen

und genehmigt, auch von der

UB-Direktion selbst – doch kurzfristig

(das Banner war schon gedruckt,

für sieben Tausend Euro) zog die Universitätsleitung

ihr OK zurück. Die

Begründung: im Bild-Hintergrund

„wäre eine Hakenkreuzfahne großflächig

und weithin sichtbar gewesen.

Für die Universität Freiburg ist

jedoch die Abbildung von Symbolen

der nationalsozialistischen Diktatur

an einem ihrer Gebäude ein klares

Tabu“.

Schaut man sich das Bilddokument

genauer an, wird es lehrreich

und interessant: Bei Gertrud Luckner

handelt es sich mitnichten um die fesche

Dame in der Bildmitte, die fast

posierend in die Linse des Fotografen

schaut. Nein, es ist die andere Frau

links von ihr, eine scheinbar zufällige

Passantin mit Aktentasche, die

kritisch blickt, den Kopf leicht senkt,

sich eher ‚weg zu ducken‘ scheint.

Die strittige Frage hat mehrere

Facetten. Das Nein kam Anfang

Oktober, just als der alte Rektor der

Uni abgetreten war und seine Nachfolgerin

noch gar nicht ganz da sein

konnte. Wer hat also die Entscheidung

wirklich getroffen? Offenbar

der Kanzler der Uni, nach erfolgtem

Veto des stellvertretenden UB-Leiters

– zuvor hatte indes deren Direktorin

Antje Kellersohn über längere Zeit

Zustimmung signalisiert. Ein Uniinternes

Kompetenz- und Meinungs-

Durcheinander tatsächlich. Auch die

Jüdische Gemeinde (mit deren Vorsitzender

Irina Katz) war übrigens

eingebunden und stets einverstanden

mit der Installation. Der städtische

Ku lturbürgermeister Ulrich von

Kirchbach und die Leitung des Stadtjubiläums-Teams

sowieso. „Ich bin

deshalb überzeugt, dass das Projekt

einen gelungenen Beitrag zum Jubiläum

darstellt“, teilte von Kirchbach

im Vorfeld schriftlich mit.

Die Entscheidung fiel im Rückblick

augenscheinlich mehr als unglücklich

aus. Aber: was lernen wir

daraus? Zunächst einmal bleiben wir

(und die maßgeblichen Institutionen)

offenbar immer noch ‚verkrampft‘,

wenn es um die Aufarbeitung der

NS-Zeit geht – selbst 75 Jahre nach

Kriegsende. So gibt es auch auf der

Homepage der ALU zwar eine eigene

Seite „Stadtjubiläum 2020“ – aber

die Suche nach „Luckner“ bleibt ergebnislos:

kein Eintrag. Merkwürdig.

Das Projekt wird verschwiegen, auch

eine weitergehende Begründung der

Entscheidung oder der Raum für eine

Debatte wird (noch) nicht eingeräumt.

Da bleibt für die neue Rektorin Kerstin

Krieglstein noch manches zu tun.

Hinzu kommt, dass es sich offensichtlich

um das einzige existierende

Foto handelt, das Gertrud Luckner im

städtischen ‚Alltag‘ der NS-Zeit zeigt

– und insofern auch als realistisch

und authentisch gelten muss: so sah

es halt allenthalben damals aus in der

Innenstadt. Auch das Gegenargument,

dass vis-à-vis der UB am Haupteingang

zum Kollegiengebäude I weiterhin

die Sentenz des faschistischen

Uni-Rektors Martin Heidegger „Dem

ewigen Deutschtum“ gut sichtbar

prangt, zündete nicht. Der Vorgang

lehrt jedenfalls: Bilder wirken vielleicht

anders als Buchstaben. Und ein

Foto in seiner Originalgröße ist womöglich

doch etwas anderes als eine

überdimensionierte Plakat-Version

desselben, das die Nazi-Symbolik

dann zwangsläufig weithin sichtbar

transportiert (wenngleich pixelig

und unscharf angesichts der enormen

Vergrößerung). Andererseits, so zeigt

sich, sind wir weiterhin nicht völlig

frei, (in welcher Dimension auch

immer) historisch dokumentieren zu

können. Schade.

Empörung artikuliert sich

Der Eklat gab den Anlass, einige

Akteure um ihre Meinung zu bitten.

Denn scharfe Kritik an dem

Rektorats-Entscheid wird mittlerweile

laut, zunächst in Leserbriefen

an die Badische Zeitung und zahlreichen

online-Kommentaren: „Ein

seltsamer Umgang mit Dokumenten

der Geschichte. Akadämlicher gehts

nimmer“, oder „Bilderstürmerei und

Geschichtsklitterung sind doch typisch

für Freiburg“ heißt es dort zum

Beispiel.

Natürlich bleibt Clemens Hauser,

beruflich beim Jugendmigrationsdienst

der Stadt Emmendingen tätig,

ehrenamtlich Vorsitzender des Vereins

„Wahlkreis 100“, nach viel investierter

Zeit in das Projekt reichlich

enttäuscht und desillusioniert zurück.

Doch auch unter anderen Beteiligten

und vor allem Geschichtswissenschaftlern

macht sich längst Unmut

breit. Entsetzt sind Franz Brockmeyer,

Leiter der über 700 Bände

und den schriftlichen Nachlass Luckners

umfassenden Gertrud-Luckner-

Bibliothek (die, das ist inzwischen

besiegelt, künftig den Kernbestand

der Mediathek des NS-Dokumentationszentrums

der Stadt bilden soll)

und auch Gabriele Witolla, Leiterin

Inkriminiertes Foto: Gertrud Luckner 1936 unterwegs in der Freiburger Innenstadt Foto: Archiv des Deutschen Caritasverbands

des Archivs des Deutschen Caritasverbands:

„Das ist eine historische

Entstellung, die Gertrud Luckner

nicht gerecht wird“, sagt Witolla ganz

deutlich. Sie spielt damit an auf die

neueste Planung, das Banner doch

aufzuhängen, aber die Hakenkreuzsymbole

zu retuschieren. Tatsächlich

wäre das eine eher peinliche Geschichtsfälschung.

Heinrich Schwendemann, Geschichtsprofessor

an der ALU, konstatiert

trocken und treffend: „Monatelang

hingen in der Region Plakate

zur NS-Ausstellung 2017 im Augustinermuseum.

Da war – sogar in

Farbe – ein Hakenkreuz zu sehen.

Also: Warum soll das dann jetzt bei

diesem Foto mit Gertrud Luckner

nicht möglich sein?“ Auch Robert

Neisen, ebenfalls Historiker und von

der Stadt seinerzeit federführend

beauftragt mit der Konzeption der

besagten Ausstellung, schüttelt nur

den Kopf: „eine unsinnige, alberne

Entscheidung“.

Julia Wolrab, die neue Leiterin

des (noch in der Konzeption und im

Aufbau befindlichen) NS-Doku-Zentrums

der Stadt – die Stelle ist vorerst

auf zwei Jahre befristet –, hält sich

zu der aktuellen Frage im Urteil noch

zurück. Wolrab studierte in Freiburg,

erstellte 2019 ein Gutachten für die

Stadt zur Geschichte des Grundstücks

der Alten Synagoge, hat aber

derzeit ihren Lebensmittelpunkt in

Berlin. Sie blickt der Aufgabe und

dem Doku-Zentrum, das frühestens

Ende 2022 fertiggestellt sein wird,

mit Spannung entgegen und möchte,

„ein Haus, das sich kritisch mit der

NS-Zeit befasst, vor allem aber jugendliche

Zielgruppen anregt, Fragen

an die Geschichte zu stellen.“

Neue Forschungen

Die irgendwie auch ärgerliche Debatte

um das Luckner-Foto gibt zugleich

Anlass, eine kurze Umschau

Foto: Archiv der Evang. Pfarrgemeinde Nord

Der neue

Renault TWINGO Electric Vibes

Jetzt mit 10.000 €

Elektrobonus*

Renault Twingo Electric Vibes (22-kWh-Batterie) ab

16.299,82 € *

• 16-Zoll-Leichtmetallräder "Yeti" • Stoff-Kunstlederpolsterung mit Akzenten in

Orange • Klimaautomatik • Online-Multimediasystem EASY LINK mit 7-Zoll-

Touchscreen und Navigation • Reichweite kombiniert von bis zu 190 km und in der

Stadt von bis zu 270 km (nach WLTP)

Renault Twingo Electric Vibes (22-kWh-Batterie), Elektro, 60 kW: Stromverbrauch

kombiniert (kWh/100 km): 16,0; CO2-Emissionen kombiniert: 0 g/km;

Energieeffizienzklasse: A+. Renault Twingo Electric: Stromverbrauch kombiniert

(kWh/100 km): 16,0–16,0; CO2- Emissionen kombiniert: 0–0 g/km;

Energieeffizienzklasse: A+–A+ (Werte gemäß gesetzl. Messverfahren). Abb. zeigt

Renault Twingo Electric Vibes mit Sonderausstattung. *Gültig bei Fahrzeugübergabe

bis 31.02.2020. MWSt.-Änderung ab 1.1.2021

Besuchen Sie uns im Autohaus. Wir freuen uns auf Sie.

zu halten, an welchen Freiburger

Hochschulen aktuelle Projekte zur

NS-Thematik laufen.

Am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität

kam kürzlich

die Dissertation von Ralf Müller

„Joseph Schlippe und die Bedeutung

der „Heimatschutzarchitektur“ für

Freiburg“ zum Abschluss. Die Arbeit

wird im Frühjahr 2021 als Buch erscheinen,

gemeinsam herausgegeben

vom Stadtarchiv und dem Arbeitskreis

Regionalgeschichte. Schlippe, Leiter

des Hochbauamts von 1925 bis 1951

und nach dem Zweiten Weltkrieg des

Wiederaufbaubüros der Stadt, hatte

sich nicht zum Nationalsozialismus

bekannt und wurde auch nie Parteimitglied.

Gleichwohl positionierte er

sich deutlich gegen die Modernismen

des ‚Bauhauses‘ und pflegte auch mit

dem nationalsozialistischen Oberbürgermeister

Freiburgs Franz Kerber

eine „reibungslose Kooperation“. Die

differenzierende Studie Müllers lehrt,

wie wichtig auch der Horizont über

1945 hinaus bis in die Nachkriegszeit

ist.

Der als freier Autor arbeitende Historiker

Heiko Wegmann forscht seit

langem zur Geschichte der SS in Südbaden.

Er erstellte dazu eine Datenbank

mit mehr als 2.000 SS-Mitgliedern.

Die sich anknüpfenden Fragen

sind vielfältig und kompliziert: Wer

waren die Mitglieder? Konnten Sie

‚Aufstiege‘ realisieren, welche Funktionen

erfüllten sie? Wer war beteiligt

an Gewaltakten, gegebenenfalls

auch schon vor 1933? Wie verliefen

entsprechende Entnazifizierungsmaßnahmen

in der Nachkriegszeit?

„Es gibt da noch viele Forschungslücken“,

sagt Wegmann, der vor einigen

Jahren in einem Artikel nachgewiesen

hat, dass es 1933,entgegen landläufigem

Urteil, eben auch in Freiburg

eine Bücherverbrennung gegeben hat.

Heinrich Schwendemann (Universität

Freiburg) teilt mit, dass, resultierend

aus eigenen Seminaren „in den

nächsten Semestern Bachelor- und

Master-Arbeiten zu Freiburg im Nationalsozialismus

sicher geschrieben

werden“.

Die konkreteste jüngste Initiative

kommt von Professor Felix Hinz

(Pädagogische Hochschule), der ein

Seminar in Kooperation mit dem

Stadtarchiv durchführte, in dem Materialien

für die Schule aufbereitet

wurden: Unter Überschriften wie

„Hitlerjugend in Freiburg – attraktive

Freizeitangebote in brüderlicher

Gemeinschaft“, „Ordnung schaffen

für die ‚Volksgemeinschaft‘?!”

oder „Schule: ‚Kriegsdiener‘ oder

‚Kriegsopfer‘?“ wurden hier Module

für Schüler und Lehrer zur Anwendung

im Unterricht entwickelt.

Zugleich sollen die Resultate in das

„Histo-Lab“ des NS-Doku-Zentrums

Eingang finden. In Kürze können sie

auch auf der Homepage des Stadtarchivs

online eingesehen werden.

Wilhelm Schwendemann, Professor

an der Evangelischen Hochschule

und Leiter des seit 2007 bestehenden

„Instituts für Menschenrechtspädagogik“

hat sich vielfach in Forschungsprojekten

und Publikationen mit der

NS-Zeit befasst. In Vorbereitung, aber

noch nicht in ‚trockenen Tüchern‘, ist

die Kooperation mit einem Arbeitskreis

der Evangelischen Pfarrgemeinde

Nord, der sich mit der Geschichte

der Ludwigsgemeinde von 1933 bis

1953 auseinandersetzt.

„Die Hilfe von Mensch zu Mensch

ist es, was die Diktatur nicht versteht.“

Das bleibt ein wirkmächtiger

Satz von Gertrud Luckner, der auch

heute zu bedenken bleibt.

Martin Flashar

AUTOHAUS GUTMANN GMBH & CO. KG

Renault Vertragspartner

Wentzinger Straße 12

79238 Ehrenkirchen

Tel. 07633-95030 | renault-gutmann.de

* Der Elektrobonus i. H. v. insgesamt 10.000 € umfasst 6.000 € Bundeszuschuss sowie

3.900 € Renault Anteil gemäß den Förderrichtlinien des Bundesministeriums für

Wirtschaft und Energie (BMWi) zum Absatz von elektrisch betriebenen Fahrzeugen.

Der Elektrobonus enthält auch die Förderung des Bundesamts für Wirtschaft und

Ausfuhrkontrolle für den Einbau eines akustischen Warnsystems (AVAS) bei neuen

Elektrofahrzeugen in Höhe von 100 €,www.bafa.de. DieAuszahlung des

Bundeszuschusses und der AVAS-Förderung erfolgt erst nach positivem Bescheid des

von Ihnen gestellten Antrags. Ein Rechtsanspruch besteht nicht. Nicht mit anderen

Aktionen kombinierbar.


6 UNIversalis-Zeitung Winter 2020

Ein Experte für die Zeitenwende

Philipp Blom: „Das große Welttheater – Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs“

Nicht nur das große Welttheater

der Salzburger Festspiele, weltweit

bedeutendstes Festival für

klassische Musik und darstellende

Kunst, welches diesen Sommer

sein 100-jähriges Jubiläum hatte,

ist hier gemeint. Aus diesem Anlass

war der Historiker und Philosoph

Philipp Blom beauftragt worden,

etwas beizutragen. Er hatte seitens

der Veranstalter freie Hand und hat

alles in die Waagschale geworfen,

was ihm zur Verfügung steht. Seine

Überlegungen und Betrachtungen

gehen weit über die unmittelbaren

Fragen der Bühnenkunst hinaus.

Die Festtagsschrift wurde zu einem

brillanten und äußerst anregenden

Essay.

Bloms Ansatz: „Das große Welttheater

ist ein Ort, an dem die

Welt sich neu erfinden kann“. In

dem schmalen Bändchen öffnen

sich weite Räume für neue Ideen

und gedankliche Experimente. In

einem spannend geführten dramaturgischen

Bogen wird uns

das Schauspiel der 4000-jährigen

Menschheitsgeschichte vorgeführt,

dessen Hintergrund, wie könnte es

anders sein, zwielichtig gestimmt

ist. Denn: „Nach dem klassischen

Verständnis des Dramas ist die

Welt längst in der Krisis angekommen.

Was aber danach kommen

mag, eine Katastrophe oder der

Schimmer einer Katharsis, ist völlig

offen. Das Welttheater wartet

auf Akteure, um eine andere Erzählung

zu beginnen.“ Einen Abstand

zur derzeitigen Lage schafft Philipp

Blom dadurch, dass er drei entscheidenden,

weit zurückliegenden

historischen Menschheitskrisen

mit ihren Zäsuren und Umbrüchen,

den daraus hervorgegangenen Bewusstseinswandlungen

und Entwicklungsschüben

nachgeht. Das

ist die sogenannte Kleine Eiszeit

um die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts,

die Epoche der Aufklärung

und der Erste Weltkrieg. Mit

diesem historischen Abstand wird

der Blick auf unsere Gegenwart

präzisiert und erhellt. Im Vergleich

zur gegenwärtigen Krise eröffnen

sich überraschende Perspektiven.

Wie damals, so müssten auch heute

neue Ansätze des Denkens, Lebens

und Überlebens gefunden werden.

„Das große Welttheater“ beschwört

die Magie der Bühne als

eine Projektionsfläche, einen Ort

der gemeinsamen Imagination,

wo Selbstergründung und Selbstfindung

stattfinden können. Als

Theaterkenner zeigt Philipp Blom

auf, dass William Shakespeare

zwar geahnt habe, dass er in einer

Zeit des Umbruchs lebte, aber seine

Stücke beschrieben eine Weltsicht,

die sich seit der griechischen Tragödie

nicht wesentlich geändert

hatte. Seine Figuren zerbrechen an

unumstößlichen Verhältnissen und

sterben oft am Ende schön, aber sie

sterben eben. Fast zweihundert

Jahre nach Shakespeare würden

die Helden von Friedrich Schiller

zwar auch tragisch scheitern an der

Macht der Verhältnisse, doch mit

einem entscheidenden Unterschied:

„Sie wollen die Welt verändern, sie

rebellieren nicht gegen ihr persönliches

Unglück, sondern gegen die

Ungerechtigkeit der herrschenden

Ordnung, sie fordern Freiheit,

Gleichheit und Brüderlichkeit für

alle.“ Obwohl sie sich selbst dafür

opfern, seien sie doch Vorboten für

eine neue Zeit, da sie einen Anspruch

erheben auf die Veränderung

der Gesellschaft, in der alles

ganz anders zugehen könnte. Mit

Schillers Dramen im Klima der

Aufklärung eröffnen sich völlig

neue Denkräume und Bilder, und

so müssten auch mit der heutigen

Krise wieder neue Geschichten entstehen.

Als mögliche Versionen eines solchen

Erzählens nennt Philipp Blom

zum Beispiel Hygienedemonstrationen

und das Auftreten von

Globalisierungsgegnern. Wo sich

eigentlich nichts mehr bewegt, alles

in einem Status quo stecken zu

bleiben scheint, kann ja jeder kleine

Anstoß schon von Bedeutung

sein. Mit Scharfsinn führt uns

der Historiker vor Augen, dass die

westliche Welt nicht trotz, sondern

gerade wegen ihres Friedens und

Wohlstands - der auf Sklaverei,

Ausbeutung, Unterstützung von

Diktatoren und vor allem auf massiver

Umweltzerstörung basiert -, in

einer Krise steckt. Durch seine Ansichten

wurde Philipp Blom schon

als Untergangsprophet bezeichnet,

obwohl er nur konsequent versucht,

Fakten zu analysieren. In seinem

Essay „Das große Welttheater“

erweist er sich als ein Experte für

die Zeitenwende, der von Klarsicht

und Liebe zur Vernunft geleitet ist,

es auch an Ironie und Wärme nicht

fehlen lässt. Bereits für den Philosophen

Ludwig Wittgenstein war

die Welt vor allem die Summe aller

Tatsachen. Aber Blom bleibt bei

Tatsachen und Fakten nicht stehen,

denkt sie auch weiter auf eine bisher

noch nicht vernommene Weise.

Das Internet und die Sozialen Medien

sieht er als einen bedenklich

faktenfreien Raum, wo jeder Nutzer

sich Fakten zurechtschustern und

Verschwörungstheorien verbreiten

kann. Das unterwandere gefährlich

die eigentlichen, auch wissenschaftlich

belegbaren Tatsachen.

Neben seinen bisweilen meditativen

Betrachtungen, kommen in

Philipp Bloms großartigem Essay

auch die nackten Zahlen nicht zu

Der Autor Philipp Blom

Foto: Bogenberger Autorenfotos

kurz. Zahlen etwa zum angewachsenen

CO2-Ausstoß und zur Plastikvermüllung

des Planeten. Er

rechnet vor, dass 1970, in seinem

Geburtsjahr, weltweit 35 Millionen

Tonnen Plastik produziert wurden.

Schon 2015 sind es 381 Tonnen gewesen,

und 2016 wurden allein 480

Milliarden PET-Flaschen verkauft.

Die Zahlen machen es überdeutlich:

Der Mensch ist weiter denn je

davon entfernt zu begreifen, dass

er ein Teil der Natur ist, die er zerstört.

Die Ordnung, in der wir heute

leben, führt Blom zurück auf das

biblische Gebot: „Mach dir die Erde

untertan.“ Diese Geschichte sei an

ihr Ende gekommen. Denn wie

sollte die Ausbeutung der Erde, ein

unendlich fortschreitendes Wirtschaftswachstum

bei endlichen

Ressourcen, auf Dauer möglich

sein? Es lässt sich nicht mehr leugnen,

dass die Zeichen auf Sturm

stehen, der Kampf um die Zukunft

begonnen hat. Auf die Bühne seines

Welttheaters, ins Spotlight, stellt

Philipp Blom den Homo Sapiens

als ein Zwitterwesen zwischen

Hell und Dunkel, Gut und Böse.

Überdeutlich wird: Die „Krone der

Schöpfung“ (der Mann als Macher)

ist ins Wanken geraten.

Laufend verwandelt sich die Welt

als Bühne, in größerer Geschwindigkeit

denn je. Bei nie dagewesenen,

rasanten Entwicklungen

kommt die Politik mit ihrem Parteiengezänk,

ihren Machtkämpfen

und ausufernden Debatten längst

nicht mehr hinterher. Auf Warnzeichen

wird zwar reagiert, aber

kaum vorausschauend gehandelt,

zaghafte Ansätze versanden schnell

im Tagesgeschäft. Es sind zähe, oft

lähmende Prozesse der Auseinandersetzung,

doch gibt es für unsere

parlamentarische, demokratische

Regierungsform keine Alternative.

Aber auch eine Demokratie müsse

sich wandeln, in ihrem Selbstverständnis

ändern können. In komplizierten

Zeiten gibt es nun einmal

keine einfachen Lösungen, und alle

die das in der Politik versprechen,

möchten zuallererst Wahlen gewinnen.

„Populistische Politiker“,

stellt Blom fest, „haben weltweit

bewiesen, dass große Teile ihrer

Gesellschaft es vorziehen, an alten

Geschichten festzuhalten, anstatt

sich neuen Realitäten zu stellen.“

Gleichzeitig schwinde damit die

Möglichkeit in einer akuten Krise

angemessen zu handeln und zu

tun, was notwendig ist. Im Zweifel

sei ein Rüstungsdeal wichtiger als

eine Uno-Resolution. Die kollektive

Erzählung von Wachstumsökonomie,

industrieller Moderne

und hemmungsloser Ausbeutung

unserer natürlichen Grundlagen

sei vorbei. „Neue Bilder zu finden

für diese Herausforderung ist das

Friedensprojekt der Gegenwart“.

Dass uns die vertraute Welt langsam

abhanden kommt, ist in den

Augen des Historikers nicht erst

seit Corona der Fall. Doch könnte

diese Krise möglicherweise eine

Generalprobe für viel größere, gewaltigere

Umwälzungen sein. An

COVID-19, sagte Blom in einem

Interview nach Veröffentlichung

seines Buches, interessiere ihn, dass

das Virus „kein lösbares Problem“

sei. Ein Weg müsse gefunden werden,

sich mit dem Rest der Natur,

deren Teil wir nun einmal sind,

„intelligent zu arrangieren“. Die

Pandemie sei nur ein Symptom

für viel größere Probleme, eben

auch ein Zeichen dafür, dass es mit

der Herrschaft des Menschen über

die Natur an ein Ende komme. Es

müsse doch zu denken geben, „dass

ein kleiner blöder Virus von einem

Wet market irgendwo in China die

höchst entwickelten Gesellschaften

der Welt innerhalb von wenigen Tagen

völlig lahm legen kann“. Wenn

er, Blom, die klimatischen Auswirkungen

des Raubkapitalismussystems

anspreche, bekomme er zu

hören: „Ja, tut uns schrecklich leid,

ist schon tragisch. Aber man kann

nichts dran machen, die Wirtschaft

muss weitergehen.“ Natürlich, doch

eben ganz anders, mit einem neuen,

besseren Ökonomieverständnis

wie bisher. Jetzt sehe man ja auf

einmal, dass Staaten durchaus die

Notbremse ziehen können.

Doch Philipp Blom ist leidenschaftlicher

Mahner und Mutmacher

zugleich. Sein Essay ist ein

flammendes, mitreißendes Plädoyer

für eine große, weltweite Veränderung,

in dem Politisches und

Privates, Historisches und Visonäres

in einen Denkprozess eingebunden

sind. Nur eine einschneidende

Veränderung könne noch

verhindern, dass, in Bloms Worten,

„unser Planet zur Weltbühne eines

apokalyptischen Schauspiels ohne

Publikum wird“. Die Bühne brauche

ganz andere Figuren und Geschichten,

um eine neue Wirklichkeit

zu beschreiben und Haltungen

zu stärken, die dieser Wirklichkeit

angemessen sind. Noch ließen sich

nicht diejenigen Figuren erkennen,

die einmal eine Schlüsselrolle

spielen könnten, aber gerade in der

jüngsten Vergangenheit rekrutiere

sich ein ganzer Schwung neuer

Akteure auf der Weltbühne. Es hat

sich schon längst gezeigt, dass das

demokratische Projekt der Moderne

zum Gegenstand neuer sozialer

Konflikte werden wird.

Mit Optimismus alleine und

einem „Weiter so!“ kann es keine

Veränderung, kein Weiterkommen

mehr geben. Zumal nicht mit einer

Politik, die in ihrer Verquickung

mit der Wirtschaft immer noch

festhält an der entleerten Formel

vom ewigen Wachstum. Eines Fortschritts,

der vor nichts Halt macht,

der Sicherheit und Wohlstand, vor

allem den Reichtum von nur Wenigen

garantieren soll. „Politische

Clowns und Entertainer in internationalen

Führungspositionen

sind die logische Konsequenz einer

Zivilisation, deren Imagination

längst vermarktet wurde und von

kommerziellen Interessen bewirtschaftet

wird wie ein Acker Kohl,

einer Gesellschaft, in der Celebrities

die Helden der gemeinsamen

Geschichte sind. ... Je stärker die

disruptiven Effekte des Klimanotstands

werden, desto größer wird

das Bedürfnis nach Sicherheit, nach

starken Männern, einfachen Lösungen,

nach Bestätigung und Ausgrenzung.“

Das erleben wir gerade.

„Manchmal kann eine neue Geschichte

sich erst etablieren, wenn

die alte zu einer Ruine zerfallen ist.“

Eine Hoffnung liegt besonders

auf den jungen, sich noch nicht in

festen Bahnen bewegenden Menschen,

die es sich nicht nehmen

lassen und darauf beharren, noch

etwas vor sich zu haben. Könnten

wir nicht mehr vertrauen auf die

Jugend, wäre in der Tat alles zu

spät. In seinem Fazit hebt Philipp

Blom eine Figur hervor: „Ein

schwedisches Mädchen im Teenageralter

mit langen Zöpfen, ein

unfreiwilliges Weltgewissen mit

Asperger-Syndrom, eine moderne

Jeanne d’Arc, die einer korrupten

Gesellschaft den Spiegel vorhält

und deren einsam-trotziger Appell

an die Erwachsenen eine globale

Protestbewegung losgetreten hat.“

So kommt der Historiker am Ende

auf die Bewegung von „Fridays for

Future“ zu sprechen, deren Weckrufe

für ihn ein Hoffnungsschimmer

sind. Und so bleibt auch der

Leser nach der Lektüre bei allen erschütternden

Befunden nicht ganz

hoffnungslos zurück. Denn: „Vielleicht

kann die Energie einer weiter

gedachten Aufklärung tatsächlich

neue Geschichten beflügeln, neue

Figuren auf die Bühne stellen.“

„Das große Welttheater. Von der

Macht der Vorstellungskraft in

Zeiten des Umbruchs“ ist im Paul

Zsolnay Verlag erschienen, hat 126

Seiten und kostet 18 Euro.

Peter Frömmig


Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 7

Liebeslosigkeit für die Freiheit

Getriggered durch Film, Fernsehen, Literatur, Social-Media und Dating-Apps wachsen

Generationen der Selbstinszenierung auf, die nach Perfektion und Unabhängigkeit streben

D

ie Liebe ist seit Jahrhunderten,

wenn nicht

sogar Jahrtausenden,

ein Thema, mit dem sich

Literatur, Mystik, Wissenschaft und

Kultur befassen. Kaum ein anderes

Phänomen umkreist uns so beständig

wie die Liebe. Sie beeinflusst

Kulturen, beginnt Kriege und Tragödien,

beschließt Frieden und verbindet

Nationen. Wo die Liebe hinfällt

gedeiht Glück oder Unglück,

Zerstörung oder Harmonie, Leiden

und Leidenschaften.

Nach neusten Ergebnissen des

statistischen Bundesamtes steigt die

Anzahl deutscher Single-Haushalte

jährlich. 2018 waren es 17,3 Millionen,

2019 bereits 17,9 Millionen

Alleinstehende in Deutschland. Darunter

größtenteils junge Männer

und ältere Frauen.

„Ich habe einfach das Gefühl

wir stecken in einer Endlosschleife

fest“, beschwert sich meine Freundin

beim virtuellen Mädelsabend.

Mit einem Glas Wein in der einen

und das obligatorische Kippchen

in der anderen Hand, ist die Liebe

mit all ihren Dramen und Tragödien

Gesprächsthema Nummer Eins. Gequatscht

wird über kürzlich gelaufene

Dates, explizite DMs (Direct

Messages auf Social Media / meist

von Fremden mit teilweise belästigenden

Inhalten), beginnende Romanzen

und tragische Liebschaften

aus vergangener Zeit. Alles in allem

sieht es in meinem engeren Freundeskreis

in Sachen Liebe ziemlich

mau aus: alle Single ohne nähere

Aussicht auf etwas Bindendes. Dabei

stehen wir mitten im Leben. Abgeschlossene

Berufsausbildungen

und Universitätsabschlüsse, solides

Einkommen, ein gesundes Interesse

an Politik, Kultur und Gesellschaft

und genügend Humor, um über

uns selbst lachen zu können. Das

klingt nach ganz passablen Voraussetzungen.

Doch so einfach ist das

nicht. Wenn nicht gerade Social-

Media-Plattformen wie Facebook,

Instagram und Co dazwischen funken

und Unruhe stiften, steht da vor

allem noch eine große Portion Unentschlossenheit

im Raum. Was will

ich eigentlich? Die Türen stehen offen,

eine Heirat ist zwar ein schönes

Gedankenspiel aber nicht mehr länger

notwendig, um wirtschaftliche

Sicherheit zu garantieren.

Die Liebe ist greifbarer als je

zuvor und doch gelten Millennials

(geb. 1981-1998) laut einer Studie

des Meinungsforschungsinstituts

YouGov 2019, als einsamste Generation.

30 Prozent der Befragten

gaben an, sich oft/sehr oft einsam zu

fühlen, ebenso viele hätten keinen

besten Freund und 25 Prozent der

Befragten gaben an, überhaupt keine

Bekanntschaften zu haben. Doch

wie passen soziale Netzwerke und

Einsamkeit zusammen? Ziemlich

gut, denn die amerikanische Psychologin

Melissa G. Hunt stellte in

einem Experiment fest, dass der reduzierte

Konsum von Social-Media

zu einem signifikanten Rückgang

von Einsamkeit und Depression

führen würde.

Die Frage nach dem „Warum“

stellt auch Eva Illouz in dem 2020

als Taschenbuch bei Suhrkamp erschienenen

Buch „Warum Liebe

endet / eine Soziologie negativer

Beziehungen“. Die in Marokko geborene

Soziologin erforscht in ihrer

Arbeit die menschlichen Emotionen

und erfasst den Zusammenhang zwischen

moderner Konsum- und Medienkultur

und Entwicklung emotionaler

Muster. Neben Professuren

in Frankreich, Deutschland, Amerika

und Israel schrieb Eva Illouz in

den vergangenen Jahren 12 Bücher,

die in 18 Sprachen übersetzt wurden.

In „Warum Liebe endet / eine

Soziologie negativer Beziehungen“

erzählt Illouz wissenschaftlich fundiert

und sprachlich gekonnt von

einer Generation des emotionalen

Konsums. Getriggered durch Film,

Fernseh, Literatur, Social-Media

und Dating-Apps wachsen Generationen

der Selbstinszenierung auf,

die nach Perfektion und Unabhängigkeit

streben.

Die Revolution der Liebe

In westlich geprägten Gesellschaften

ist die Liebe heute ein Thema

der Freiheit. Wir können unsere

Partner*innen frei wählen. Geschlecht,

Religion oder Herkunft

spielen kaum eine Rolle und auch

das Singleleben hat nur noch für wenige

einen bitteren Beigeschmack.

Doch das war nicht immer so. Seit

jeher ist unsere Liebe nicht nur die

Geschichte einer wunderschönen

Romanze, in deren Mittelpunkt

die Anziehung zwischen zwei oder

mehreren Menschen steht. Liebe

ist und war aber schon immer auch

ein Werkzeug der Politik und Wirtschaft.

Nicht zuletzt bewegt sich die

Liebe bis heute in einer religiösen

Kosmologie, die im Laufe der vergangenen

drei Jahrhunderte zwar an

Einfluss verloren hat, aber Tradition

und Sinnbild noch bis heute tief verankert

sind.

Da wäre beispielsweise die Ehe

zweier Menschen, welche zuerst

einen religiösen Akt darstellt. Freie

Trauungen sind zwar im Trend,

Tradition und Brauch haben jedoch

religiöse Vorbilder. Dazu gehört die

Vorstellung der Mono- und Endogamie

und die Erwartung, eine*n

Partner*in fürs Leben und Lieben

zu haben, „bis dass der Tod uns

scheide“.

Im Ursprung des christlichen

Glaubens steht die Liebe zu Gott.

Nach und nach entwickelte sich die

Liebe zum „zentralen Träger für

die Herausbildung des emotionalen

Individualismus“ (Illouz, 2020, S.

17), der seit Jahrhunderten Literatur,

Kunst und Film prägt. Geschichten

über zwei Liebende; eine Liebe, die

nicht sein darf, eine Liebe, die befreit

und Familienfehden übersteht

oder auch an gesellschaftlichen

Zwängen und zwischenmenschlichen

Emotionen scheitert.

In einem Bestseller des 18. Jahrhunderts

erzählt der Philosoph und

Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau

von einer Liebe gegen jede

Vernunft. Zwei Menschen, deren

Liebe nicht sein darf, denn sie verstößt

gegen jede denkbare gesellschaftliche

Tugend. Es geht um

Leidenschaft und Hingabe, um den

sprichwörtlich verbotenen Apfel,

der zu einer fast magischen Anziehungskraft

zwischen den Protagonisten

führt. „Julie oder Die neue

Héloïse“ ist die Geschichte einer

romantisch-tragischen Liebesbeziehung

und gehört bis heute zu den

einflussreichsten Erzählungen der

Weltliteratur. Im Mittelpunkt dieses

Briefromans steht das Recht des Individuums

auf eine frei bestimmte

Gefühlswelt und der Wunsch

nach Selbstbestimmung. Besonders

wenn es darum geht, eine*n

Lebenspartner*in auszuwählen.

Eva Illouz spricht von einer stillen

Revolution der Liebe, vorangetrieben

durch Romanautor*innen,

Feminist*innen, Intellektuellen und

„einfachen Männern und Frauen“

(Illouz, 2020, S. 17), die die Liebe

zum Zentrum von Freiheit und Autonomie

machten.

Frei wählen zu können, wen wir

lieben und heiraten, bedeutet zugleich

das Auflösen gesellschaftlicher

Normen und Werte, die zuvor

für stabile Familienbündnisse und

politisch relevante Vermählungen

sorgten. Somit ist die Autonomie

der Liebe ein fundamentaler Baustein

für den gesellschaftlichen

Wandel, den wir seit dem 18./19.

Jahrhundert erleben und der Ende

der 1960er Jahre seinen Höhepunkt

fand. „Die Geschichte der Liebe im

Westen ist somit nicht nur ein Randmotiv

im großen Fresko der historischen

Entfaltung der Moderne“

(Illouz, 2020, S. 18), sondern hat

direkten Einfluss auf wirtschaftliche

und politische Verhältnisse genommen.

Privatsphäre, der schwächelnde

Einfluss der Kirche, Gesetze zum

Schutz des Persönlichkeitsrechts

und nicht zuletzt das Recht der

Frau, selbstständig über ihren Körper

entscheiden zu dürfen. Die Freiheit

zu lieben und freie Liebe sind

im Tonus nicht weit voneinander

entfernt und spielen bis heute eine

große gemeinsame Rolle. Denn bis

in das Jahr 2020 kämpfen Männer*

und Frauen* rund um den Globus

für eine emotionale Autonomie des

Subjekts, die die sexuelle Freiheit

des Individuums mit einschließt und

uns das Recht auf emotionale und

körperliche Selbstbestimmung gibt.

Lieben und entlieben

Das Ende der Liebe und die Konsequenzen

daraus sind in der Soziologie

seit Jahrzehnten bedeutende

Forschungsaspekte. Bereits 1893

kam der französische Soziologe

und Ethnologe Émile Durkheim

in der Studie „Der Selbstmord“ zu

dem Ergebnis, dass sich soziale

Bindungen zunehmend auflösen.

Eva Illouz führt diese Entwicklung

unter anderem auf Globalisierungsprozesse

und die daraus

resultierende Ausbreitung sozialer

Netzwerke zurück. Dabei deckt sie

auf, dass „der Zusammenbruch der

sozialen Beziehungen und des gesellschaftlichen

Zusammenhaltes –

nicht in erster Linie in Gestalt von

Entfremdung oder Einsamkeit“ (Illouz,

2020, S. 12) auftritt. Vielmehr

erkennt die Soziologin einen „permanenten

Prozess des Knüpfens

und Lösens sozialer Bindungen“

(Illouz, 2020, S. 13), der in engem

Zusammenhang mit dem starken

Wachstum sozialer Netzwerke steht.

Dabei scheint es nicht von zentraler

Bedeutung zu sein, ob diese Netzwerke

virtueller oder realer Natur

sind. Dahinter steht eine „ökonomische

Beratungs- und Lebenshilfemaschinerie“

(Illouz, 2020, S. 12),

Konsum- und Beratungsmächte, die

aus der Liebe ein Geschäft machen.

Selbsthilfebranchen, Literatur und

Coachings zur persönlichen Weiterentwicklung,

Talkshows, Pornound

Sexspielzeug industrien, Dating-Apps

und soziale Netzwerke.


8 UNIversalis-Zeitung Winter 2020

Utagawa-Schule: Liebespaar mit Koto

Foto: Galerie Japankunst & Kunstantiquariat Monika Schmidt - München

Liebespaar und Fächer

Foto: Galerie Japankunst & Kunstantiquariat Monika Schmidt - München

Es geht also um Geld, um viel Geld.

Nach Angaben der Match Group,

zu der unter anderem die populäre

Dating-App Tinder gehört, schrieb

das Unternehmen im Jahr 2019 einen

Umsatz von 1,2 Milliarden US-

Dollar. Ein Anstieg von rund 347

Millionen US-Dollar im Vergleich

zu 2018. Auch in diesem Jahr wird

das weltweit agierende Unternehmen

weitere Gewinne verzeichnen,

denn Dating-Apps und soziale Medien

sind populärer denn je.

In Zeiten von Corona, in denen

Lockdowns, Kontaktbeschränkungen,

geschlossene Bars und

Diskotheken das Knüpfen sozialer

Kontakte noch einmal mehr erschwert

haben, meldet Tinder am

29. März 2020 einen neuen Rekord:

Die Plattform registrierte drei Milliarden

Swipes an einem einzigen

Tag. Ein Swipe ist eine Entscheidung,

bei der es um alles geht. Daumen

hoch oder Daumen runter, gefällt

er/sie/* mir oder nicht. Binnen

Sekunden entscheiden wir anhand

von Bildern und einer lächerlichen

Anzahl an Worten in der Profilbeschreibung,

ob wir eine Person kennenlernen

möchten oder eben nicht.

Ein Swipe = Ja oder Nein.

An einem Tag werden mehr als

drei Milliarden Jas oder Neins verteilt.

Eine unendliche Auswahl an

Profilen, bei denen wir nicht erst

langen Smalltalk halten und erste

Schüchternheit überwinden müssen.

Die Person bekommt unsere

Zurückweisung in der Regel nicht

einmal mit. Unangenehmen Gesprächssituationen

wird aus dem

Weg gegangen, soziale Konflikte

werden gemieden. Diese neue

„wechselseitige Durchdringung

von Kapitalismus, Sexualität, Geschlechterverhältnissen

und Technologie“

(Illouz, 2020, S. 13) eröffnet

ein Universum an sozialen und

globalen Möglichkeiten, in erster

Linie produziert sie aber „eine neue

Form von (Nicht)-Sozialität“ (Illouz,

2020, S. 13), die eine gesamte

Generation prägt und unsere Kommunikation

erheblich beeinflusst.

„Die Wahl, nicht zu wählen“ (Illouz,

2020, S. 44) steht im Zentrum

des Subjekts einer digitalen Moderne,

in der Freund- und Liebschaften

durch das Entliken und Entfolgen

auf Social-Media-Plattformen beeinflusst

und sogar beendet werden.

Damit sind das Knüpfen und Lösen

von sozialen Kontakten und Liebesbeziehungen

nur noch einen Klick

weit entfernt.

Emotionale und sexuelle

Verträge

Der Soziologe Anthony Giddens

befasst sich in seiner Arbeit mit den

Wesenszügen unserer emotionalen

Moderne. Im Mittelpunkt der emotionalen

Moderne steht die körperliche

Intimität zweier oder mehrerer

Menschen, die als Ausdruck einer

ultimativen Freiheit in Sachen Liebe

gesehen wird. Denn das Recht

auf freien Zugang zu körperlicher

Intimität ist zeitgleich die Loslösung

alter Zwänge, beginnend bei

religiösen Bezugssystemen (Sexualität

gleich Sünde), kulturellen Traditionen

(welche standesgemäßen

Grundvoraussetzungen muss die

Beziehung zweier Menschen erfüllen,

damit körperliche Intimität

nicht mehr sündhaft sondern akzeptiert

ist) und die Loslösung der

Ehe als eine gesellschaftliche Institution,

die auch wirtschaftliches

Überleben bedeutet (bis heute haben

Eheleute steuerliche Vorteile;

Partner*innen die ebenso lange

Beziehungen führen aber nicht

verheiratet sind, genießen diese

wirtschaftlichen Vorzüge nur dann,

wenn die Partnerschaft offiziell eingetragen

ist).

Während Intimität noch bis in

die 1960er Jahre hinein das Eingehen

eines bindenden Vertrages bedeutete,

ist das Subjekt heute vollkommen

losgelöst von kulturellen

Verpflichtungen, an die sexuelle Begegnungen

früher geknüpft waren.

Keine Beziehung, keine Verlobung

– wenn Zeitdruck herrscht, wird

sogar das obligatorische Kennlern-

Date übersprungen. Keine Mühen,

keine Kosten, keine Verpflichtungen.

Schnell, effizient und vor

allem eins: nicht bindend. Wie ein

Handyvertrag, der monatlich kündbar

ist, suchen wir heute die Liebe

ohne Verpflichtung und emotionale

Bindung. Eva Illouz beschreibt diesen

Zustand als „bedrückend ungreifbar“

(Illouz, 2020, S. 21).

Sexuelle Freiheit sei institutionalisiert

worden. Nicht zuletzt durch

eine stetig wachsende Konsumkultur

und das Eingreifen von Technologien

in unseren Alltag wurde

„jegliche Gewissheit über die Substanz,

den Rahmen und das Ziel

sexueller und emotionaler Verträge

grundlegend erschüttert“ (Illouz,

2020, S. 21).

Die emotionale Moderne definiert

bislang keine genaue Form

einer Beziehung und setzt keine

Rahmenbedingungen voraus, in

denen Intimität und emotionale

Bindung eine gemeinsame Rolle

spielen müssen. Diese fehlenden

sozialen Drehbücher führen in Sachen

Liebe zu einem gefährlichen

Ergebnis: Des orientierung. Die

vorherrschende strukturelle Ungewissheit

macht es den Akteur*innen

Amors ungemein schwer, zwischen

sexueller und emotionaler Freiheit

zu unterscheiden und eine gemeinsame

Quintessenz zu finden, in der

weder das Individuum seine Freiheit

aufgeben noch auf Liebe selbst

verzichten muss.

Im Kontext dessen sind es vor

allem Frauen, die Orientierungslosigkeit

beschreiben, wenn es darum

geht, berufliche und emotionale

Zukunftsperspektiven zu vereinen.

Darf ich mir als Feministin

eine traditionelle Ehe überhaupt

wünschen? Muss ich zwangsläufig

Karriere über private Sesshaftigkeit

stellen, um dem Bild einer

modernen Frau gerecht zu werden?

Und wie soll ich Kindern, Karriere,

Partner*in und mir selbst genügen?

Seit Jahrzehnten kämpfen unsere

Großmütter und Mütter für die Befreiung

der weiblichen Sexualität

und die Überwindung des Patriarchats,

das übrigens nicht nur Frauen

gefährliche Grenzen aufzwingt.

Doch die Befreiung der weiblichen

Sexualität hat Frauen unserer Gegenwart

„in eine zwiespältige Situation

[gebracht], in der sie durch

ihre Sexualität zugleich ermächtigt

und herabgesetzt werden“ (Illouz,

2020, S. 34). Eva Illouz benennt

die Digitalisierung und Konsumkultur

des 21. Jahrhunderts als zentrale

Machtfelder, die die sexuelle

Befreiung der Frau auf der einen

Seite begünstigt haben, auf der anderen

Seite würden Wirtschaft und

Technologie noch immer einem

patriarchalen System unterstehen,

das klischeehafte Rollenbilder begünstigt

und es Akteur*innen erschwert

einen emotionalen Vertrag

aufzusetzen.

Japan – zwischen Sehnsucht

und Distanz

Die Dokumentarreihe „Sex und

Liebe in aller Welt“, zu sehen auf

Netflix und moderiert von der britisch-iranischen

Journalistin Christiane

Amanpour, gibt Einblick in

den Kosmos Liebe. Von Indien bis

China, dem Libanon und Ghana

bis nach Deutschland entdecken

Zuschauer*innen gemeinsam mit

der etablierten CNN-Journalistin

den Einfluss von Kultur auf Liebe,

Sexualität und Partnerschaft.

In Folge 1 reist die Reporterin in

die drittgrößte Volkswirtschaft der

Welt: Japan. Doch zwischen all

dem technischen und wirtschaftlichen

Fortschritt entscheiden sich

heute immer mehr Japaner*innen

bewusst dazu, Single zu bleiben.

Das Ergebnis: die Geburtenrate

sinkt seit Jahren dramatisch. Mehr

als 20 Prozent der japanischen Bevölkerung

sind über 65 Jahre alt,

nach Prognosen soll bis 2030 jeder

Dritte über 65 und jeder Fünfte

über 75 Jahre alt sein. Bereits heute

lassen sich die Konsequenzen einer

über-technologisierten Moderne auf

die Emotionalität des Menschen im

Beispiel Japans beobachten.

„In der Öffentlichkeit küssen

mein Mann und ich uns kaum. Wir

halten uns nicht an der Hand oder

legen den Arm um. Das passiert fast

nie. In äußerst seltenen Fällen halten

wir uns an der Hand. Doch das

mag ich nicht besonders“, erzählt

eine verheiratete Japanerin, Anfang

30, im Interview mit Amanpour.

„Ich küsse meinen Mann nur, wenn

wir Sex haben. Ob es mir gefällt?

Nicht sehr.“ Durch den alltäglichen

Mangel an Zärtlichkeit ist Intimität

in Japan zu einem Geschäft geworden.

Zahlreiche Stundenhotels in

Tokio bieten einen Ort für gemeinsame

Stunden. Zimmer und sogenannte

„Gesundheitshelfer*innen“

können gebucht werden. Nicht

selten sind es verheiratete Frauen,

die diesen Beruf im geheimen ausführen,

um, nach eigenen Aussagen,

fehlende Intimität und Bestätigung

zu finden.

Für die moderne Geschäftsfrau

bieten Host-Clubs das beliebte

„Boyfriend-Erlebnis“ an. Dabei

geht es weniger um sexuelle

Dienstleistungen. Viel mehr werden

Zuneigung, Aufmerksamkeit,

Interesse und emotionale Zuwendung

angeboten. Diese Dienstleistung

ermöglicht es Frauen in Japan

eine Seite von sich selbst zu

offenbaren, die sonst durch gesellschaftliche

Ablehnung verborgen

bleibt: Emotionalität. Gespräche,

Händchen halten, Umarmungen

und die 100-prozentige Aufmerksamkeit

des Gegenübers sind Teil

des „Boyfriend-Erlebnis“. Einer

der „Boyfriends“ berichtet im Interview,

dass Kund*innen im Monat

bis zu zehn Millionen Yen, ungefähr

81.000 Euro, für diese Art der emotionalen

Dienstleistung ausgeben.

Er selbst würde auch emotional von

der Dienstleistung profitieren, da er

diese Form der intimen Nähe, durch

zarte Berührung und intensive Gespräche,

erst durch diesen Beruf erfahren

habe.

Wissenschaftler*innen sehen die

Anfänge mangelnder Intimität in

der japanischen Erziehung. Durch

das Nicht-erlernen körperlicher Intimität

durch die Eltern empfinden

Japaner*innen die Nähe eines anderen

Menschen oft als unangenehm.

„Ich liebe dich“ oder auf japanisch

„Aishiteru“ ist kein Satz, der allzu

oft fällt. Selbstverständliche Gesten

der romantischen Berührung, wie

die Hand des Partners zu halten,

sind selten. Die Erziehung in Japan

ist also deutlich an distanzierte Regeln

geknüpft. Umarmungen, Küsse

oder andere Gesten der emotionalen

Zuneigung werden unter Eltern und

Kind selten ausgetauscht.

Diese Entwicklung wirkt umso

erstaunlicher, wirft man einen

Blick auf die Kunstform Shunga.

Bei Shunga handelt es sich um japanische

Erotikkunst aus dem 17.

Jahrhundert. Historiker*innen nach

war die Edo-Zeit in Japan vom 17.

bis 19. Jahrhundert für ihre sexuelle

Befreiung bekannt. Sexualität

galt in Japan also für lange Zeit

als ein natürlicher Bestandteil des

gesellschaftlichen Miteinanders.

Es war nicht unüblich, dass Polyamorie

einer monogamen Beziehung

vorgezogen wurde. Sexuelle Befriedigung

und emotionale Intimität

waren, im Gegensatz zu heute,

kein Tabuthema. Kunstwerke aus

dem Genre Shunga wurden z.B.

Töchter vor der Hochzeitsnacht geschenkt

und stellten eine Art Sexualanleitung

dar; gleichzeitig diente

Shunga auch zur Unterhaltung und

das durch alle gesellschaftlichen

Schichten hindurch.

Erst als Japan seine Märkte Mitte

des 19. Jahrhunderts öffnete,

änderte sich das gesellschaftliche

Verhältnis zu Sexualität und Intimität.

Im Hinblick auf das damals

vorherrschende Viktorianische Zeitalter,

galt Shunga nach westlichen

Standards als unangemessen. Mit

Anbeginn der Meiji-Periode wurde

die Kunstform Shunga verboten

und sogar in privaten Haushalten

konfisziert. Eine verlorene Kunstform,

die bei einem Blick auf Studienergebnisse

der Universität zu

Tokio unvorstellbar wirkt: Mehr als

40 Prozent der Japaner zwischen 18

und 34 Jahren sind noch „Jungfrau“

und jeder zehnte Mann über 35 hat

noch keine sexuellen Erfahrungen

gesammelt.

Liebeslosigkeit für die Freiheit

Zwar ist das Sexualverhalten in

Deutschland weitaus regsamer als

in Japan, doch wenn es um Bindungen

geht, entscheiden sich auch

hier zu Lande immer mehr Personen

für ein Singledasein. Die Frage

nach dem „Warum“ versucht Eva

Illouz zu beantworten: „Weil man

zu verwirrt oder zwiespältig ist, um

zu begehren; weil man so viele Erfahrungen

sammeln möchte, dass

die Wahl ihre emotionale und kognitive

Bedeutung verliert; weil

man reihenweise Beziehungen beendet

und zerstört, um so das Selbst

und seine Autonomie zu behaupten.

(...) Liebeslosigkeit ist also gleichzeitig

eine Form von Subjektivität“

(Illouz, 2020, S. 35).

Elisabeth Jockers

Eva Illouz, „Warum Liebe endet /

Eine Soziologie negativer Beziehungen“,

Suhrkamp Taschenbuch

Wissenschaft 2020


Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 9

M

Expert*innen des Alltags

Was macht die DNA einer Stadt aus? Ihre Bewohner*innen, ihre Routinen, ihre Eigenheiten,

kurz gesagt: ihr Alltag

A

lltag und Stadt sind

nicht einfach da. Es

sind die Menschen, die

in ihrem Alltag ihre

Stadt machen.“ Das forschungsorientierte

Studienprojekt „Alltag

findet Stadt“ des Instituts für

Kulturanthropologie und Europäische

Ethnologie der Uni Freiburg

wirft einen Blick hinter die

Kulissen des Offensichtlichen und

fragt danach, wie unser Alltag die

Stadt definiert – und andersherum.

Arbeitsbegriff „Geschenk“

Am Anfang stand der Gedanke, etwas

zurückzugeben. Etwas zurücktragen

in die Stadt, einen Dialog

zu eröffnen, Forschung sichtbar zu

machen, so Dr. Sarah May, Leiterin

des Projekts. Zur Erinnerung:

Dieses Jahr ist Stadtjubiläum, auch

wenn wir momentan nicht viel davon

merken. Trotzdem Anlass genug,

den forschenden Blick einmal

auf sich selbst zu richten, was in

diesem Fall bedeutet, auf die rund

230.000 Freiburger*innen und darauf,

wie sie tagtäglich mit ihrem

Leben, Wirken und Handeln die

Stadt prägen – und wie die Stadt auf

sie zurückwirkt. Dazu brachen May

und acht Studierende des Master

Kulturanthropologie europäischer

Gesellschaften zwischen Oktober

2019 und März 2020 auf zu detektivischen

Streifzügen durch den

Alltag Freiburgs. Dabei erforschten

sie auf vielfältige Weise alltägliche

Praktiken, Räume und Dinge, aus

deren Zusammenspiel die spezifischen

Eigenlogiken erwachsen,

die Freiburg zu dem machen, wie

wir es kennen. Oder kennen zu

glauben.

Vom Besonderen zum Allgemeinen

In Freiburg trägt man Funktionskleidung,

spricht Dialekt und

wählt(e) Grün – soweit die gängigen

Klischees. Eigen- und Fremdwahrnehmung

sind in dieser Beziehung

zwar nicht immer deckungsgleich

und oft handelt es sich um Reduzierungen

und Zuschreibungen,

trotzdem äußern sie sich immer

wieder in alltäglichen Handlungen,

Orten und Dingen. Viele dieser

verschwinden zumeist spurlos unter

dem Radar unserer alltäglichen

Aufmerksamkeitsspanne, was einen

kritischen Blick umso dringlicher

macht. Denn natürlich treffen die

Klischees einer Stadt nie auf alle

ihre Bewohner*innen zu und darüber

hinaus sind sie dem gleichen

Wandel unterworfen wie die Stadt

selbst. Beispielsweise standen 1995

bei Tocotronic noch Backgammon-

Spieler [sic] sinnbildlich für Freiburg,

wer oder was wäre das wohl

heute? Spike-Ball-Spieler*innen?

Näh-Cafés?

Nicht dieser, aber ähnlichen Fragen

geht „Alltag findet Stadt“ in 17 facettenreichen

Text-Bild-Analysen

nach, die sehr guten Fotos steuerte

Finn-Louis Hagen bei. Die Kapitel,

betitelt mit einem thematisch

entsprechenden Verb, enthalten

verdichtete Beobachtungen, Interviews,

Analysen und Recherchen

mit einem mal weiter, mal enger

gefassten inhaltlichen und analytischen

Schwerpunkt. So finden

sich neben prominenten Identitätsmarkern

wie Fahrradfahren

(radeln) oder dem Bächlesystem

(fließen), eine Reihe von Prozessen

und Routinen, die so unmittelbar

in unseren Alltag eingebunden

sind, dass ihre Existenz kaum einen

Blick wert scheint. Wie etwa

in „zusammenleben“, das ein generationsübergreifendes

Wohnprojekt

in den Vordergrund stellt oder

„grenzgehen“, das den Alltag von

Berufspendler*innen beleuchtet –

beide zeigen auf, wie sich im Alltag

einzelner Bewohner*innen übergeordnete

(Stadt-) Strukturen widerspiegeln.

Und da wird es ja gerade spannend,

wenn das Vertraute und Eigene, das

oft keiner Überprüfung notwendig

erscheint, einer eben solchen unterzogen

wird. Wie etwa im Kapitel

„fließen“ von Marlene Diemb, das

die historische Entwicklung des –

nicht immer ikonisch gewesenen –

Wasserrinnensystems kunstvoll mit

subjektiven Eindrücken und den

(stadt-) identitätsstiftenden Potenzialen

der Bächle verbindet.

Spezieller wird es dann beispielsweise

im Kapitel „können“, in

dem es um die unterschiedlichen

Verständnisse rund um Tradition,

Innovation und Handwerkskunst

von Holzinstrumentenbauer*innen

in Freiburg geht; oder in „stricken“,

das den Alltag eines Strickcafés und

das soziale Gefüge darum unter die

Lupe nimmt; oder „kritzeln“, indem

die – zumeist mit Edding geführten

Diskurse – auf den Wänden von

Toilettenkabinen in der UB und im

Café Atlantik nachgezeichnet und

gedeutet werden. Oder, oder, oder.


10 UNIversalis-Zeitung Winter 2020

Vom Pfeilblatt bis zur Forellenbegonie

Nicht nur Prozesse und Routinen,

sondern vor allem auch Beziehungen

zu Dingen prägen unseren

Alltag, seien es kostbare oder hinfällige.

Unmerklich vermenschlichen

wir Objekte, schreiben ihnen

unterschiedlichste Eigenschaften

und Gefühle zu – positive wie negative.

Dieses Handeln wirkt beständig

auf uns zurück. Gerade die Beziehung

von Menschen zu ihren

Zimmerpflanzen, mit denen sich

Julia Voswinckel in ihrem Kapitel

„kultivieren“ beschäftigt, verdeutlicht

dies: Pflanzenliebhaber*innen

verfallen im Gespräch über ihre

Zöglinge oft in einen liebevollen

Tonfall, beschreiben ein Gefühl der

Entspannung, des Bei-sich-seins

bei deren Pflege, sie bauen emotionale

Beziehungen zu ihren Pflanzen

auf und das nicht selten über lange

Zeiträume hinweg.

Eben diese alltäglichen Beziehungen

demonstrieren, wie sich

Objekte von ihrer reinen Objekthaftigkeit

lösen können, in ein semiotisches

System eingeschrieben

werden, damit Zeichen vermitteln

und (subjektive) Bedeutungen erlangen.

Zimmerpflanzen fristen ihr

Dasein nicht als bloße Dekorationsobjekte,

sondern spiegeln individuelle

Vorlieben und Fähigkeiten

ihrer Besitzer*innen wider, sind

Ausdruck von deren Persönlichkeit

und wirken auf sie zurück.

Zeig mir deinen Müll und ich

sage dir, wie du lebst

Ein gegenteiliges Beispiel liefert

„entsorgen“ von Tobias Becker,

das sich einem eher unpopulären

Hintergrundprozess direkt aus dem

Maschinenraum der Stadt widmet,

der – wie der Titel bereits verrät –

Abfallentsorgung. Die beginnt im

Industriegebiet Freiburg-Nord. Von

hier aus, dem Betriebshof der ASF

(Abfallwirtschaft und Stadtreinigung

Freiburg) in der Hermann-

Mitsch-Straße, starten die Entsorgungsteams

mit ihren weiß-grünen

Lastern tagtäglich auf die zahlreichen

Routen durch das Freiburger

Stadtgebiet und die Peripherie.

Damit dieser Ablauf reibungslos

funktioniert, muss eine Vielzahl von

Faktoren aufeinander abgestimmt

werden: Logistik, Timing, Infrastruktur,

Erfahrung, Routine. Ist all

dies gewährleistet, vollzieht sich

dieser sehr alltägliche Prozess dann

nahezu unsichtbar (zumindest für

Spätaufsteher*innen wie den Autor

dieses Artikels) und wird, wie so

oft, erst sichtbar, wenn er unterbrochen

wird. Man schaue beispielsweise

einmal nach Neapel, das in

den letzten Jahren regelmäßig im

Müll versank, da die Entsorgung

durch bürokratische Ineffizienz und

Korruption immer wieder zum Erliegen

kam – so wird Müll unversehens

sehr politisch. Denn Abfall

und dessen Entsorgung tangieren

als alltägliche Mensch-Ding-Beziehung

unmittelbare Fragen unseres

Zusammenlebens, darüber sprechen

tun wir jedoch selten. Wo hört das

Private auf, wo beginnt das Öffentliche?

Müll bewegt sich in genau

dieser Übergangszone. Ab wann

gilt etwas als Müll? Und für wen?

Des einen Müll ist des anderen

Schatz, weiß eine alte Küchenweisheit,

siehe die in Freiburg sehr populären

Verschenkekisten. Im Müll

wird nicht weniger das Allgemeine

im Besonderen sichtbar, denn der

Umgang mit unseren Abfällen bestimmt

nicht nur, wie wir, sondern

auch, wie andere leben wollen und

können.

Fair teilen?

Ebenso wie die Mythen und Klischees

die Identität einer Stadt

prägen, tun es ihre Konflikte und

Brüche. Und die unterscheiden sich

auf den ersten Blick in Freiburg gar

nicht so sehr von anderen Städten –

ihre Eigenheiten zeigen sich oft erst

im Detail.

Dass in Freiburg beispielsweise

Wohnraum knapp und teuer ist,

weiß jede*r und viele der Gründe

dafür finden sich so oder so ähnlich

auch in anderen deutschen Großstädten.

Die Freiburg spezifische

historische Dimension dieses Problems,

sorgsam recherchiert und

nachlesbar in „wachsen“ (Tobias

Becker), ist hingegen weitgehend

unbekannt. Oder wussten Sie, dass

bereits im Jahr 1872 eine „Gemeinnützige

Baugesellschaft“ gegründet

wurde, die sich dem damaligen privatwirtschaftlichen

Bauboom, der

sich vor allem auf Luxusimmobilien

konzentrierte, entgegenstellte

und ein Eingreifen der Stadt für

mehr bezahlbaren Wohnraum forderte?

Und das wiederum damit zu

tun hatte, dass Freiburg unter Industriellen

aus dem Ruhrgebiet ein

beliebtes Altersdomizil war? Die

Geschichte klingt vertraut.

In Freiburg wird und wurde längst

nicht alles fair geteilt. So auch, man

verzeihe den Kalauer – am Fairteiler.

Das Konzept der gleichberechtigten

Verteilung nicht verkaufter

Lebensmittel ist zwar Freiburg

nicht eigen, in jedem Fall steht es

aber emblematisch für ein Bündel

von Eigenschaften, mit denen Freiburg

gern beschrieben wird. Wie es

dann aber tatsächlich am „Fairteiler“

zugeht (nicht so fair), zeichnet

Karlin Schumachers gleichnamiges

Kapitel in einer Reihe interessanter

und teils amüsanter Beobachtungen

nach und erlaubt damit abermals

Rückschlüsse von einem vermeintlich

kleinformatigen Prozess auf

übergeordnete, stadtspezifische

Strukturen. Was bedeutet ein solidarisches

und tolerantes Zusammenleben

in der Stadt? Und wie

gestaltet sich dies im Alltag? Wie so

oft sind hier Außenwahrnehmung

und tatsächliche Erscheinung zwei

verschiedene Paar Schuhe. Siehe

dazu auch „vermitteln“ von Oliver

Noel Estay Arndt, in dem der Konflikt

rund um Freiburgs ersten Späti

behandelt wird – eine ganz andere

und doch sehr ähnliche (Freiburger)

Geschichte.

Sarah May (Hrsg.): Alltag findet

Stadt. Freiburg als Beispiel. Mit

Beiträgen von Oliver Noel Estay

Arndt, Tobias Becker, Lea Breitsprecher,

Marlene Diemb, Leonie

Hagen, Sarah May, Nicole Nicklas,

Karlin Schumacher, Julia Voswinckel.

Waxmann Verlag 2020, Freiburger

Studien zur Kulturanthropologie,

176 Seiten, 24,90€.

Danny Schmidt

Fotos: Finn-Louis Hagen


Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 11

Das Covid-19-Virus in einer Darstellung des

US-amerikanischen Centers for Disease Control

and Prevention

Angst vor dem Ungreifbaren

Eine der wohl bekanntesten Darstellungen einer Epidemie – Arnold Böcklins „Die Pest“ (1898)

Ein Webdossier der Universität Münster nähert

sich dem Phänomen des „unsichtbaren Virus“

aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

D

as Corona-Virus stellt

uns vor eine ungreifbare

Bedrohung. Für

viele Menschen bedeutet

das Anspannung und Angst,

für die Forschung einen spannungsreichen

Untersuchungsgegenstand.

Das Webdossier „Epidemien.

Kulturwissenschaftliche

Ansichten“ der Universität Münster

reflektiert das „unsichtbare

Virus“ aus Sicht verschiedener

Fachdisziplinen und zieht interessante

Parallelen.

Wir denken um eine Leerstelle.

Denn Covid-19 ist im Grunde vor

Der AOK Studenten-Service.

Mit unseren kostenlosen Webinaren, Online-Vorträgen,

E-Books und praktischen Tipps machen wir Sie nicht nur

fit fürs Studium. Wir sind auch bei allen Fragen rund

um die Gesundheit persönlich für Sie da: online,

telefonisch und vor Ort im AOK-KundenCenter.

Mehr dazu unter aok.de/bw/studenten

AOK – Die Gesundheitskasse Südlicher Oberrhein

Studenten-Service · Sedanstraße 4 · 79098 Freiburg · 0781 20351858

AOK – Die Gesundheitskasse Südlicher Oberrhein

allem eines: Ein unsichtbares Virus.

Und wie bei vielen unsichtbaren,

ungreifbaren Gegenständen fällt

der Mensch im Umgang damit auf

sich selbst zurück. Wir lernen in

diesen Zeiten viel über unser Funktionieren

im Ausnahmefall, angesichts

einer Bedrohung, die überall

und doch nirgends zu sein scheint.

Selbsternannte Querdenker*innen

wollen nicht funktionieren und bezweifeln

die Existenz von etwas,

das ja doch irgendwie nicht da ist,

daher also wirkungslos oder zumindest

eher harmlos sein muss.

Regierungen und Mediziner*innen

RWK · 09/20 · Foto: peterheck.de

versuchen dagegen, uns mit den

notwendigen Informationen zu versorgen,

versuchen, dem Virus ein

Gesicht zu geben. Dabei verweisen

sie gerne auf die Folgen – in Form

kranker, infizierter Menschen, die

gerade zur Herbst- und Winterzeit

die Balken in der Statistik steigen

lassen. Und das Virus selbst? Das

ist seit Beginn der Corona-Krise vor

allem als „Bildmodell“ sichtbar, wie

Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr.

Martina Wagner-Egelhaaf in ihrem

Beitrag im Webdossier „Epidemien.

Kulturwissenschaftliche Ansichten“

bemerkt, „in Form einer unterschiedlich

eingefärbten, irgendwie

unsympathisch wirkenden stacheligen

Kugel.“ Wie Krankheit, Viren

von uns Menschen wahrgenommen

werden, ist Thema des Dossiers,

das von Wagner-Egelhaaf initiiert

und von Mitarbeitenden des Exzellenzclusters

„Religion und Politik“

an der Universität Münster zusammengestellt

wurde. Es ist online und

kostenfrei abrufbar.

Gestalten im Nebel

Zurück aber zur unsympathischen

stachligen Kugel. Von der sieht

man, wie Prof. Dr. Wagner-Egelhaaf

bemerkt, aktuell nicht mehr viel.

Flächigere, lebendiger wirkende

Darstellungen des Corona-Virus erscheinen

in den Medien. Wohl traut

man dem an Corona gewohnten

Menschen mittlerweile das annähernd

wahre Gesicht des Virus zu.

Wobei – wahr? Das wahre Gesicht

des Virus dürften nur die wenigsten

kennen, es bleibt wohl allein den

Virolog*innen. Außermedizinische

Fachdisziplinen können anderes

leisten, anderes Wissen vermitteln,

etwa darüber, welche Bilder sich die

Menschen vom Unsichtbaren machen,

das in Form des Virus immer

auch eine Bedrohlichkeit in sich

trägt. Im gleichen Artikel, der den

Titel „Winzige Wesen“ trägt, unternimmt

Wagner-Egelhaaf auch einen

Ausflug in ihre Disziplin, die Literaturwissenschaft.

Dabei behandelt sie

den phänomenal betitelten Roman

der polnischen Nobelpreisträgerin

Olga Tokarczuk „Die Jakobsbücher

oder Eine große Reise über sieben

Grenzen, durch fünf Sprachen und

drei große Religionen, die kleinen

nicht mitgerechnet. Eine Reise, erzählt

von den Toten und von der Autorin

ergänzt mit der Methode der

Konjektur, aus mancherlei Büchern

geschöpft und bereichert durch die

Imagination, die größte natürliche

Gabe des Menschen. Den Klugen

zum Gedächtnis, den Landsleuten

zur Besinnung, den Laien zur erbaulichen

Lehre, den Melancholikern

zur Zerstreuung“ (2014). Die

Erzählung der Lebensgeschichte

des Geistlichen Jakob Joseph Frank

(1726–1791) kennt dabei auch eine

Passage, in der eine Seuche ihr Gesicht

bekommt. Gar nicht unähnlich

der halbbeseelten unsympathischen

Corona-Kugel erscheinen die Seuchenerreger

im Roman als „winzige

Wesen“, die ihre tatsächliche

Gestalt indes nicht verraten. Sie

verstecken sich im „formlos dichten

Nebel“, in der Luft und warten


12 UNIversalis-Zeitung Winter 2020

nur darauf, eingeatmet zu werden

und zum schnellen Tod zu führen.

Der unsichtbare Erreger sucht sich

seine äußeren Entsprechungen, das

Formlose und erhöht seine Bedrohlichkeit

noch. Ist es gerade doch

der Nebel, der als schauerliche Erscheinung

gilt, die Ungünstiges zu

verbergen vermag.

Um den Nebel zu lüften, hilft

auch der Blick über den Tellerrand.

Im Interview mit der „UNIversalis“

erzählt Prof. Dr. Wagner-

Egelhaaf vom Entstehungshintergrund

des Dossiers. Wenig überraschend

war die ewig tagesaktuelle

Corona-Krise der Auslöser. Aber

auch der Umgang der Menschen

mit dem Virus. Die ständige Suche

nach neuem Wissen über das

unsichtbare Phänomen. Neben

Gesprächen mit Freund*innen und

Bekannten hilft auch der Blick in

die eigene Wissenschaft oder die

der Kolleg*innen. „Es liegt doch

nahe, einmal zu schauen, welches

Wissen über Epidemien unsere

verschiedenen Fachdisziplinen bereithalten.

Während wir in unserem

Leben noch nie eine Pandemie erlebt

haben, gab es in der Geschichte

immer wieder Epidemien großen

Ausmaßes, mit denen die Menschen

umgehen mussten. Gerade auch historisches

Wissen kann ja helfen,

die Gegenwart zu spiegeln und besser

zu verstehen.“

Angesichts ständiger Debatten

über die Nützlichkeit von Geistesund

Kulturwissenschaften für unsere

Gesellschaft ein lockender Versuch.

Die nächste Frage lag nahe:

„Glauben Sie durch die tagesaktuelle

Bedeutung des Corona-Virus

einen breiteren Publikumskreis für

Ihre Forschungen erschließen zu

können?“ Wagner Egelhaaf: „Das

Dossier richtet sich an alle, die auf

der Homepage unseres Exzellenzclusters

‚Religion und Politik‘ unterwegs

sind und die neugierig auf

fachwissenschaftliche Perspektiven

und Denkanstöße zur gegenwärtigen

Krisensituation sind. Unserer

Forschung ein breiteres Publikum

zu erschließen, war nicht unser

primäres Anliegen. Aber wir wollen

zeigen, dass auch die Geistesund

Kulturwissenschaften zu dem

großen Thema unserer Zeit, das

uns alle beschäftigt, etwas beizutragen

haben. Unser Kreis, der aus

Wissenschaftler*innen aus den

Fächern Kunstwissenschaft, Geschichte,

Ethnologie und Literaturwissenschaft

besteht, gewinnt nicht

zuletzt auch aus unserem internen

Austausch neue Blicke auf das Wissen

über Epidemien, das aus dem

eigenen Fach kommt. Diesen lebendigen

und horizonterweiternden

Austausch tragen wir mit unserem

Dossier gern nach außen.“

Ideales Verhalten im Pestfall

Ein wiederkehrendes Krankheitsbild

im Dossier ist das der Pest.

Kunsthistorikerin Prof. Dr. Eva-

Bettina Krems wendet den Blick in

ihrem Beitrag dabei weg von einer

zu objektivierenden Krankheit hin

zu den Vorstellungen und Gefühlen

der Menschen gegenüber einer

solchen einschneidenden Erfahrung.

Wobei bei ihren Forschungen

rasch klar wird: Ganz zu trennen ist

beides nicht. Zur Zeit der Renaissance

wurde zwischen beiden Elementen

sogar ein kausaler Zusammenhang

postuliert. Der deutsche

Arzt Daniel Sennert (1572–1637)

sah die Ansteckung nicht durch

körperlichen Kontakt verursacht,

sondern vielmehr durch das Erschrecken

der Menschen vor der

Krankheit. Wer sich angesichts von

Pestleichen etwa entsetze, könnte

bald selbst zu diesen gehören. Andere

Ärzte nahmen vermittelnde

Positionen ein, verwiesen auf den

Geist als Beschleuniger von Krankheitsprozessen,

wenn auch nicht als

Ursache.

Künstlerische Pestdarstellungen

können dem dräuenden Unheil die

Festigkeit eines guten Glaubens

entgegenstellen. Auf einem Gemälde

des 18. Jahrhunderts ist eine

Jesuitengemeinde zu sehen, die im

„unerschütterlichen Gottvertrauen“

der herannahenden Pestwolke und

den Pestengeln widersteht. Auch

die sorgenden Handlungen innerhalb

der dargestellten Gemeinde

erhalten vorbildhaften Charakter.

Die Pflege der Kranken und Hilfsbedürftigen

gilt nicht nur als pragmatisch

sinnvolle, sondern auch

fromme Haltung gegenüber dem

drohenden Seuchenfall. Die Autorin

eröffnet letztlich zwar keine Verbindung

zur Gegenwart – dennoch

erinnert die mediale Hervorhebung

solcher Leistungen an die heutzutage

vielbeschworene Solidarität und

Wertschätzung für Pflegeberufe. Im

Krankheitsfall werden die Stützen

der Gesellschaft sichtbar und fordern

Aufmerksamkeit ein.

Einen weiteren kunsthistorischen

Blick auf Pestdarstellungen eröffnet

Dr. Jens Niebaum. Seinem Beitrag

zugrunde liegt das Bild „Fürbitte

des hl. Januarius für das Ende der

Pest“ des neapolitanischen Malers

Luca Giordano von 1660–61.

Historischen Hintergrund bildet

die schwere Pestepidemie in Neapel

1656. Knapp die Hälfte der

Stadtbevölkerung starb innerhalb

von vier Monaten. Entsprechend

sind auf dem Bild viele Leichen

zu sehen, die auf drastische Weise

einen Abriss der Gesellschaft bieten:

Männer, Frauen, Junge, Alte,

Kinder. Die Krankheit zeigt sich in

ihren Opfern und in einer kaum zu

bewältigenden gesellschaftlichen

Katastrophe – für die Betroffenen,

die Angehörigen, aber auch die

Totengräber*innen. Aber über den

Köpfen der Toten und Leidenden

wartet die Hoffnung. Der titelgebende

Heilige Januarius bittet für

die geschundene Stadt im Angesicht

Marias, die sich wiederum an den

kreuztragenden Christus wendet.

Selbst gemartert ist er der archetypische

Empfänger menschlichen

Leidens. Aber sein Leidensweg

weist auch auf die Erlösung. Himmel

und Erde stehen in einem intensiven

Dialog, dem die Pest als unsichtbare

Dynamik zugrunde liegt.

Drastische Wahrheiten

Sichtbarmachung durch die Bildende

Kunst – das liegt nahe. Aber wie

steht es mit der Literatur? Prof. Dr.

Wagner-Egelhaaf sieht das Medium

der Literatur in steter Auseinandersetzung

mit der menschlichen Natur

und damit auch mit Krankheit

und Epidemie. Dabei bleibt es aber

selten. „Mir ist bei meinen Untersuchungen

aufgefallen, dass die Darstellung

von Epidemien oft dazu

dient, andere, ebenfalls existenzielle

Themen zu reflektieren. Bei Albert

Camus’ Roman ‚Die Pest‘, der im

Zuge der Corona-Krise sehr hohe

Verkaufszahlen erzielte, hat die Forschung

schon früh herausgearbeitet,

dass die Pest für die nationalsozialistische

Okkupation Frankreichs

steht. In Thomas Manns Novelle

‚Tod in Venedig‘ reflektiert die in

Venedig grassierende Seuche Begehren

und Aussichtslosigkeit eines

alternden Künstlers.“ Die Leistung

der Literatur, metaphorisch Bedeutungen

zu schaffen, wird gerade

angesichts dramatischer Ereignisse

deutlich. Und wieder ist es die Pest,

die dafür ein gutes Beispiel gibt.

Die Romanistin PD Dr. Pia Claudia

Doering setzt sich in ihrem Beitrag

mit den Pestdarstellungen im Werk

des italienischen Schriftstellers

Boccaccio auseinander.

Boccaccios berühmte Novellensammlung

„Decamerone“ (1349–

1353) macht deutlich, welche Möglichkeiten

Literatur hat, das Grauen

der Pest anschaulich zu machen.

Pestbeulen und schwarze Flecken

kennzeichnen die todesnahen Körper

der Kranken. Der Gestank von

Leichen und Medikamenten verweist

auf die Bedrohung. Während

die Behörden in dieser Zeit die hohen

Todeszahlen geheim zu halten

versuchten, eröffnete Boccaccios

Werk den Blick auf die Dimensionen

des Schreckens. Von Massengräbern

wird erzählt, in denen die

Toten „wie die Waren auf Schiffen

übereinandergestapelt werden“.

Wenig verwunderlich, dass Wagner-

Egelhaaf die Frage, ob die Bildende

Kunst nicht besser dafür geeignet

sei, das Grauen von Krankheit und

Zerfall sichtbar zu machen, klar zurückweist:

„Ich glaube nicht, dass

man Kunst und Literatur hier hierarchisieren

oder gar gegeneinander

ausspielen muss. Sprachliche Bilder

sind genauso aussagekräftig und

oftmals schockierend wie visuelle

Darstellungen.“

Aber wie ist es nun heute? Auch

einen Beitrag zu Covid-19 hat das

Dossier zu bieten. Ethnologin Prof.

Dr. Dorothea Schulz beschäftigt

sich in ihrem Beitrag mit der Lage in

Mali. Wieder geht es dabei weniger

Literaturwissenschaftlerin und Initiatorin des Dossiers

Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf

Foto: Hilla Südhaus

um eine „tatsächliche“ Krankheit

als um den Umgang der Menschen

mit der unsichtbaren Bedrohung. In

Mali wird viel darüber gesprochen,

was denn nun tatsächlich mit dem

Corona-Virus sei. Viele Gerüchte

sind in Umlauf, die mitunter in

Verschwörungstheorien münden.

Covid-19 sei in Mali nicht existent,

nur eine regierungsgesteuerte

Falschmeldung, um „Hilfsgelder

von internationalen Organisationen

zum Zwecke privater Bereicherung

zu mobilisieren“. Aber gibt es denn

keine handgreiflichen Symptome,

mag die unmittelbare Gegenfrage

sein. Viele Corona-Symptome sind

für die Menschen in Mali nicht als

dezidiert coronatypisch zu erkennen.

So gelten Husten, Schnupfen

und Fieber als typische Erkältungssymptome

wie sie in der Regenzeit

häufig zu beobachten sind. Eine enorme

Anspannung bleibt in der Luft.

Ebenso wie die Existenz von Corona

nicht klar ersichtlich scheint, ist

jedoch auch dessen Nichtexistenz

nicht zu belegen. Die Anspannung

bleibt und die Unsichtbarkeit der

Bedrohung erhalten.

So schwierig diese Diagnose am

Ende steht, so ergiebig erweist sie

sich für weitere Forschungen. Eine

Nachfrage bei Prof. Dr. Wagner-

Egelhaaf stößt auf positive Resonanz:

„Ja, wir wollen unser Thema

in jedem Fall vertiefen und vielfach

reicht es auch in unsere anderen

Forschungsfragen hinein. Aber unserem

Dossier sind durchaus auch

schon einschlägige Forschungen

vorausgegangen. Katharina Wolff

beispielsweise hat ihre Doktorarbeit

zum Thema ‚Die Theorie der

Seuche. Krankheitskonzepte und

Pestbewältigung im Mittelalter‘

geschrieben.“ So bleibt immerhin

eins: Lesestoff für die Zeit des

Lockdowns und für die seltsame

Leere, auf die wir darin immer wieder

stoßen.

Das Dossier „Epidemien. Kulturwissenschaftliche

Ansichten“

und weitere Dossiers sind auf der

Homepage des Exzellenzclusters

„Religion und Politik“ abrufbar:

www.uni-muenster.de/religion-undpolitik/aktuelles

Fabian Lutz

App-Touren selbst erstellt!

Studierende der Pädagogischen Hochschule generieren App-Touren für die Öffentlichkeit

Geländearbeit

Foto: Michael Haag

D

as Potential von mobilen,

digitalen Endgeräten

wie Smartphones

und Tablets rückt zunehmend

in den Fokus von Bildungsund

Ausbildungsinstitutionen. Ein

breites Spektrum von Apps eröffnet

bereits vielseitige Anwendungsbereiche

wie die Navigation, Orientierung

und Tracking.

Apps selbst zu generieren ist ein

weiterer innovativer Schritt, sich

mit diesem Medium intensiv auseinanderzusetzen.

Der Schritt

von App-Anwender*innen hin zu

Entwickler*innen von App-Touren

eröffnet den Lernenden eine ganz

neue Perspektive. Die Studierenden

kommen aus einer rein rezeptiven

Haltung in die Rolle von aktiven

Wissensvermittler*innen und werden

in ihren Gestaltungskompetenzen

maßgeblich gefördert. Im

Sinne des Service Learning liefern

die Apps einen neuen, innovativen

Wissenstransfer aus der Hochschule

heraus in die Gesellschaft.

Konzeptentwicklung und Umsetzung

der Apps

Mittels Geländebegehungen, Experteninterviews

und Literaturrecherche

arbeiteten die Studierenden

am Institut für Geographie ihre Didaktik

anhand einer Methodentriangulation

Besonderheiten einer Region,

Stadt oder einer spezifischen

Thematik heraus, beispielsweise

die Folgen der Klimaerwärmung

für Freiburg. Hierbei arbeiteten die

Studierenden kooperativ und kollaborativ

in Dreiergruppen.

Anhand von Storytelling wurden

diese Bausteine lebendig und anschaulich

gestaltet. Die Studierenden

entwickelten dabei u.a. die

Kompetenz wissenschaftlich komplexe

Inhalte zu vereinfachen und

diese an eine bestimmte Zielgruppe

zu vermitteln.

Nach dem Baukastenprinzip konnten

die Studierenden einzelne Elemente

zusammensetzen: Texte,

Abbildungen, Kurzfilme, Audiodateien,

Slider, Quiz und Augmented

Reality.

Die Apps liefern für verschiedene

Zielgruppen, insbesondere

Lehrer*innen, Schüler*innen, aber

auch für Studierende einen Mehrwert

Die User*innen können anhand

der App-Touren ihr Umfeld

neu erkunden und über gut aufbereitete

Hintergrundinformationen

und -geschichten zur Stadt Freiburg

und Umgebung Fundiertes aus Wissenschaft

und Forschung erfahren.

Gerade in Zeiten der Corona Pandemie

eignet sich die App sehr gut für

Schüler*innen, um im Freien neue

Inhalte zu erlernen und neue Kompetenzen

zu erwerben.

Die Studierenden lernten Grundlagen

der empirischen Sozialforschung,

indem sie ihr eigenes

Produkt testeten und so eine optimierte

und qualitativ hochwertige

App-Tour an die Öffentlichkeit herausgaben.

Derzeit ist geplant, dass

die Studierenden jedes Jahr weitere

App-Touren erstellen und dass das

Seminar „App-Touren selbst entwickeln“

auch in anderen Fachbereichen

der Pädagogischen Hochschule

ausgebracht wird.

SPEZIAL

UNIversalis-Zeitung

Für Universität und Hochschulen in Freiburg

IMPRESSUM

Herausgeber:

Art Media Verlagsgesellschaft mbH

Auerstr. 2 • 79108 Freiburg

Telefon: 07 61 / 72 072

e-mail: redaktion@kulturjoker.de

Redaktionsleitung

(V.i.S.d.P):

Christel Jockers

Fazit der Studierenden

„Im Großen und Ganzen hat mir das

Seminar großen Spaß gemacht. Vor

allem der Teil, in dem wir selbstständig

unsere Projekte erarbeiten

konnten.“

„Uns wurde viel Freiheit gelassen,

sodass wir unserer Kreativität freien

Lauf lassen konnten. Innerhalb

der Gruppenarbeit auch wieder viel

über Teamwork und sich selbst gelernt.“

„Ausgeprägter Praxisbezug durch

tatsächliche Konzeption einer App.“

Anna Chatel

Dr. Anna Chatel ist Akademische

Mitarbeiterin im Institut für Geographie

und ihre Didaktik

Autoren dieser Ausgabe:

Dr. Martin Flashar

Dr. Cornelia Frenkel

Elisabeth Jockers

Fabian Lutz

Danny Schmidt

u.a.

Satz/Gestaltung:

Art Media Verlagsgesellschaft mbH

Druck:

Rheinpfalz Verlag und Druckerei

GmbH & Co. KG, Ludwigshafen

Der Nachdruck von Texten und den vom

Verlag gestalteten Anzeigen nur mit ausdrücklicher

Genehmigung des Verlags.


Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 13

Handeln in neuen Räumen

Kunstseminare im Lockdown - eine unverhoffte Quelle für die künstlerische Arbeit

I

n Zeiten geschlossener

Hochschulen und digitaler

Lehre ist die künstlerische

Praxislehre

stark beeinträchtigt. Wie soll auch

ein Druck-, Malerei-oder Bildhauereiseminar

durchführbar sein,

wenn die Schnittstelle zwischen

Studierenden und Dozent*innen

aus einem 15 Zoll-Bildschirm besteht?

Während sich eine Hörsaalsituation

vergleichsweise leicht in

ein Videokonferenzformat übersetzen

lässt, so bedarf der Austausch

über und durch Kunst der Unmittelbarkeit.

Nuancen der Faktur und

die Einnahme eines Betrachtungsstandpunkts

begründen nur zwei

von vielen Aspekten im Umgang

mit Kunst. Was sollte also in Lernarrangements

des Lockdowns über

einen Behelf hinaus zu gewinnen

sein?

Doch jede Veränderung des Gewohnten

birgt kreatives Potenzial.

Wenn der Alltag von außen „gewaltsam“

transformiert wird, erlöschen

Handlungsroutinen und neue

situative Modalitäten des Wahrnehmens,

Denkens und Empfindens

werden möglich. Die zentrale Veränderung

während des Lockdowns

war der zwangsweise Rückzug aus

der (Hochschul-) Öffentlichkeit.

Die weitgehende Reduktion auf das

eigene Zimmer, erlebten viele Studierende

als starke Einschränkung

– und als Verlust.

Die Studierenden eines Kunstseminars

wurden angeregt, sich mit

dieser Situation künstlerisch auseinanderzusetzen.

Meist stand die

Sehnsucht nach nicht erreichbaren

Menschen im Mittelpunkt. Wie

stellt man Abwesendes dar? Ein

Seminarteilnehmer machte kriminologisch

die Fingerabdrücke der

Menschen sichtbar, die noch vor

kurzem in seiner Wohnung ein- und

ausgegangen waren, eine Studentin

beschäftigte sich mit einem verlassenen

Bett, eine andere Kommilitonin

mit dem Verlust der eigenen

Kindheit, der sie sich, zurückgekehrt

ins Elternhaus, in Gestalt

ihres früheren Kinderschlittens gegenüber

sah.

Doch im selben Maß, wie die

Situation den eigenen Radius signifikant

zu beschränken schien,

erweiterte ihn der künstlerische

Blick. Gerade weil die Routine des

Alltags zu Hause durch die ungewohnte

Seminarsituation überlagert

wurde, entfalteten sich alte Räume

neu. Eine Studentin schreibt:

„Dieses Semester war sehr intensiv

für mich. Corona hat uns alle aus

der Bahn geworfen und hat für uns

alle Auswirkungen gehabt. Und

auch vor allem auf die Räume, in

denen wir uns bewegt haben. Wir

konnten nicht mehr an die PH gehen,

konnten nicht mehr in die

Kunstwerkstatt gehen, um dort zu

arbeiten. Und so ist mein Zimmer

zu meiner Werkstatt geworden. Dort

habe ich mich entfaltet. Nicht nur

gedanklich, sondern auch mit allen

Materialien – sodass am Ende noch

kaum mehr Platz für mich selbst

da war. In meinem Zimmer wurde

ich sozusagen von mir selbst verdrängt.

Besonders offensichtlich in

den ‚künstlerischen Konzeptionen‘:

Kunstseminare werden daheim erlebbar gemacht

Foto: Nina Petit

Das eigene Zimmer wird zur Werkstatt

Die Installation, ein Abdruck von

mir selber, hing mitten in meinem

Zimmer. Mehrere Tage lang. Ich

musste diesem Abdruck von mir aus

dem Weg gehen, und konnte mich

nicht mehr in meinem Zimmer bewegen,

wie ich es gewohnt war.Und

so wurde mein Zimmer neu ausgefüllt

– anders von mir ausgefüllt,

eine andere Seite von mir kam zum

Vorschein. Für mich hatte das etwas

Geisterhaftes. Ich hatte das Gefühl,

alles dreht sich in meinem Zimmer

um mich, obwohl das nicht mehr

ich selber bin. Mein Zimmer wurde

zum Gravitationszentrum.“

Die eigenen vier Wände wandeln

sich unter den Bedingungen der

Online-Lehre. Sie beschränken

einerseits den Aktionsradius geradezu

retrodynamisch, wenn das

WG-Zimmer aufgegeben und das

frühere Jugendzimmer bei den

Eltern wieder bezogen wird. Der

Raum mit seinen realen Begrenzungen

und mit seinen digitalen

Schnittstellen wird in der zwangsweise

veränderten Alltagspraxis neu

wahrgenommen, neu vermessen

und neu belebt. Gerade die gemeinsame

„Vorgeschichte“ zwischen

Person und Dingen in vertrauten

Räumen erscheint in der Situation

des Lockdowns als eine unverhoffte

Quelle für die künstlerische Arbeit.

Man steht nicht nur „in touch“ mit

den screens der digitalen Geräte

sondern ist „handfest“ herausgefordert:

Platz schaffen, Umschichten,

Umräumen.

Räume sind nicht nur strukturell

definiert, sie entstehen und verändern

sich gemäß der sozialen Praxis

– und im künstlerischen Prozess.

Das eigene Zimmer wird zu einem

künstlerischen Werk- und Aktionsraum,

ein früheres Jugendzimmer

wird als liminales Gehäuse wiederbezogen,

künstlerisch exploriert

und in einen neuen Schwebezustand

überführt. Anders als in den pädagogisch

gedachten, funktionalen „Behälter-Räumen“

einer Hochschule,

in denen man sozial und strukturell

habitualisiert im 90-Minuten-

Rhythmus arbeitet, gilt es, sich in

den ge“wohn“ten Umgebungen neu

zu orientieren, neue Schneisen zu

schlagen – auch geistig. Das bedeutet

erst einmal sich mit den Dingen,

die „immer schon da“ waren, neu

ins Verhältnis zu setzen: Sie auf den

Kopf zu stellen oder sich selbst.

Wird das eigene Zimmer zur Werkstatt,

lassen sich klassische bildnerische

Verfahren nicht „werkgerecht“

durchführen. Den Studierenden

fallen Materialien und Werkstoffe

„in die Hände“, die sie abwägen

und testen. Sie finden Problemlösungen

ohne Rückversicherung

an klassische Verfahrensregeln, sie

improvisieren und besinnen sich dabei

auf den Begriff „techné“: Technik

als Mittel zum Erreichen eines

individuellen Zieles.

Wenn das eigene Zimmer zwangsweise

zum ständigen Verweil- und

Handlungsort wird, und „Altes“

durch unerwartete Wahrnehmungen,

unverhoffte Gedanken und

Handlungen neu decodiert wird –

dann haben schlichtweg alle Dinge

und Gegebenheiten das Potenzial

für eine kreative Neudeutung.

Tim Tobian beschäftigt sich direkt

mit seinem Zimmer, in dem er das

halbe Jahr viel allein war. „Ich habe

das Zimmer mit Aluminiumfolie

Moltkestraße 31

79098 Freiburg

Deutschland

Foto: Tim Tobian

ausgekleidet und die Körperteile

von den Menschen abgeformt, die

in den letzten sechs Monaten in

dem Zimmer waren.“ Die Folie

legt sich wie Mehltau auf die Oberflächen,

aber bewahrt sie auch. Der

Student assoziiert den Ascheregen

von Pompei und damit überzeitliche

Konservierung, aber auch Gefahrenabwehr

durch das „schützende

Aluminium“, wie er schreibt.

Räume sind nicht nur das Resultat

konzeptioneller architektonischer

Überlegungen, sondern entstehen

erst in der sozialen– und in der

künstlerischen – Praxis. Umgekehrt

wirken diese Räume auf die Praxis

ein, wenn die Nutzer*innen künstlerisch

sensibilisiert, sich zu Kreativität

entscheiden. Möglicherweise

hat das Virus 2020 nicht nur alte

Räume verschlossen, sondern neue

eröffnet.

Thomas Heyl

Prof. Dr. Thomas Hey ist Professor

im Institut der Künste

Mo - Fr: 10 - 19 Uhr

Sa: 10 - 18 Uhr

0761 - 5573301


14 UNIversalis-Zeitung Winter 2020

Hochschul(lehr)kultur in digitalisierten

Zeiten

Bit und Byte im Gespräch

W

ir blicken auf ein Semester

zurück, in dem

sehr schnell auf die

Corona-Pandemie reagiert

werden musste und dabei das

Ausweichen in die Digitalität eine

der wenigen Möglichkeiten war,

Lehre in einem gemeinsamen Sinne

auszubringen. Wir möchten dies als

Blaupause nehmen, um über erste

systematische(re) Erfahrungen mit

digitaler Lehre im Hochschulkontext

nachzudenken.

Grundsätzlich gehen wir davon

aus, dass die Digitalisierung als ein

neues Zeitalter angesehen werden

kann. Ähnlich wie mit den technischen

Veränderungen durch den

Buchdruck scheinen sich neue Muster

einzustellen – ob sie nun mit der

Vermessung der Welt seit dem 19.

Jh. einhergehen, soll hier nicht diskutiert

werden: Dass unser Denken

längst abhängig von Klickzahlen

und anderen Quantitäten ist und wir

darüber einen großen Teil unserer

Anerkennung ziehen, wird nicht

zuletzt deutlich in „snackablen“

Meldungen wie: „Christiano Ronaldo

knackt Instagram-Rekord:

200 Mill. Follower*innen“. Auch

wenn die Hochschule nicht mit

den gleichen, absurden Meldungen

aufwarten kann, scheint die Höhe

der Drittmittel von Forschungsprojekten

eher eine Spielart dieser

Logik zu sein. Weiterhin scheinen

uns Dauererreichbarkeit bzw. permanent

beschleunigte (erwartete)

Reaktionsgeschwindigkeiten im E-

Mail-Verhalten auch im Hochschulkontext

ein weiterer Ausdruck dieser

Veränderungen zu sein, die Irritation

auslösen.

Beste Zeit – so scheint es uns

– Bit und Byte, zwei fiktive

Beobachter*innen dieses außergewöhnlichen

Semesters, eine Unterhaltung

über Auswirkungen digitaler

Lehre führen zu lassen:

Byte: Durch Corona und die neuen

digitalen Arbeitsformen wird in studentischen

(Gruppen-) Arbeiten eine

neue inhaltliche Gewissenhaftigkeit

an den Tag gelegt. Zwar stellt sich

bei Licht betrachtet heraus, dass mit

Corona eine stärkere Strukturierung

der Aufgaben, die an Studierende

gerichtet werden, einhergeht und

nicht zuletzt (auch) erklärt werden

kann, warum ein so hoher Workload

wahrgenommen wird: Man kann

sich eben nicht mehr hinter den

wortgewandten und institutionszugewandten

Studierenden verstecken.

Dennoch scheint sich ein Typ von

Aufgaben durchzusetzen, die klar

und einfach bearbeit- und rückmeldbar

sind, d.h. „klare Aufgabenstellungen“

machen es leichter im Kontext

digitaler Kommunikation. Ob

damit das Denken der Studierenden

geschult wird, frage ich mich schon.

Bit:„Upload oder nicht“ lautet hier

die Frage. Digitale Lehre ist sehr viel

stärker dokumentiert und sorgt – in

positiver wie negativer Form – für

Überwachung von Arbeits-fortschritten.

Ähnlich der Hausaufgabenkontrolle

im Schulbetrieb. Dennoch war

in der Kürze der Zeit die Funktionalität

eines Hochschulsemesters

zentrale Aufgabe. Wie bekommen

wir das in der vorgegebenen Zeit

mit den zur Verfügung stehenden

Ressourcen hin? Zeit für innerliche

und äußerliche Anpassung war nicht

vorhanden. Studiengewohnheiten

wurden auf den Kopf gestellt und

für die technische Ausrüstung von

Studierenden war weder Zeit noch

Geld vorhanden. Alle Beteiligten

sind teils an ihre Grenzen gestoßen,

haben durch dieses erste Pandemie-

Semester vermutlich viel über sich

und ihre Lehr-Lern-Gewohnheiten

erfahren. Ein gut geplantes eLearning-Konzept

braucht Zeit und die

nötige Ausstattung.Politische Vorgabe

war, dass das Semester nicht zu

einem „0-Semester“ wird und hier

könnte man sagen: Es hat funktioniert!

Feststellbar bleibt, dass Digitalisierung

von Lehre in dieser Form

weder zu besserer Bildung noch zu

mehr Bildungsgerechtigkeit führt.

Byte: Guter Punkt – ich möchte

allerdings noch einmal auf die

Richtung der Kommunikation zu

sprechen kommen: Die Kommunikation

über digitale Tools wie Zoom

ist zwangsläufig hierarchisch und

im hohen Maße auf den „host“ ausgerichtet;

er entscheidet, wann wer

reden kann (sonst Mikro stumm, da

Gefahr von Störgeräuschen, auch die

Chatfunktion unter Studierenden ist

grundsätzlich abgestellt bei Zoom),

wer in welche Breakoutsessions

kommt, wer aus der Sitzung rausfliegt

(ohne, dass das Hausrecht angewendet

werden müsste, sondern in

Mikrosekundenschnelle – genauer:

einen Mausklick später– vorgenommen)

oder wer den Bildschirm teilen

kann.

Bit: Teilweise wird das von Studierenden

nahezu diktatorisch wahrgenommen,

denn Diskussionen und

Gespräche, die normalerweise im

Seminar, beim Warten im Flur oder

nach dem Seminar in der Mensa

stattfinden, entfallen. Der Austausch

zwischen allen Beteiligten ist stark

eingeschränkt, das kurze Tuscheln

über Inhalte oder Ablauf ist unterbunden

und die Stellung von Lehrenden

noch exponierter, das Machtgefälle

greifbar. Breakoutsessions

helfen zwar ein wenig, um den Austausch

unter Studierenden zu fördern,

aber mit nur einem Mausklick

holen Lehrende die gesamte Gruppe

zurück oder sind ad hoc mitten

in der Gruppe, wenn sie den Raum

betreten. Eine Funktion des sich Ankündigens

oder Anklopfens existiert

meines Wissens nicht, ggf. nur via

Chat. Dozent*innen bleibt oft auch

keine Wahl, sie bestimmen, wie die

Kommunikation aussieht, kontrollieren

Arbeitsaufgaben, unterbinden

aber teils absichtlich den Austausch

via Peer-to-Peer Chat, damit keine

Ablenkung entsteht. Sich in Videokonferenzen

zu melden, einen Diskurs

anzustrengen, ist für manche

Studierende schwierig, da Reaktionen

nur schwer abschätzbar sind.

Eine Studentin schilderte mir etwa:

„Ich fühle mich, als stünde ich mitten

auf dem Tisch im Seminarraum,

wenn ich in der Videokonferenz

etwas sage. Das Gefühl, Teil einer

Gruppe zu sein, stellt sich bei mir

nicht ein.“ Vermutlich lernen wir alle

dazu, dennoch ist die Demokratisierung

von eLearning-Veranstaltungen

mit entsprechenden didaktischen

Konzepten für die Hochschullandschaft

und für gelingende Lehr-Lern-

Situationen dringend verbesserungsbedürftig.

Fazit zur Hochschullehre im digitalisierten

Semester

Mit diesem Beitrag möchten wir für

mehr Demokratie in Online-Lehre-

Kontexten plädieren. Im „Neuen“

steckt oft weniger Wagnis, mehr hierarchische

Denkart und Entmündigung

als gedacht. Damit digitalisierte

Lehre nicht zu einem alten Wein in

neuen Schläuchen verkommt, stellen

sich uns zentral, folgende Fragen:

Wie möchten wir (digital) lernen?

Wie fühle ich mich als Gegenüber

ernst genommen und respektiert?

Welche Form etwa entmündigender

Kommunikation sollte nicht stattfinden?

Welche Konsequenzen hat dies

für meine Lehre? Wie sehe ich meine

Rolle als Lehrende*r?

Die Antworten auf diese Fragen

werden wohl glücklicherweise unterschiedlich

ausfallen. Uns geht es

hier nicht um die Negierung von

Hierarchien – wo sie notwendig sind

fürs Lernen, können sie beibehalten

werden. Dennoch stellt sich nicht

erst in digitalisierten Zeiten die Frage,

wie Muster und Formate etabliert

werden können, die nicht aus dem

Jahrhundert der schwarzen Pädagogik

stammen. Bildung braucht auch

in digitalen Zeiten keine Entmündigung.

Ein Experiment mit offenem

Ausgang!

Monika Löffler ∙ Florian Weitkämper

Dipl.-Päd. Monika Löffler ist die

Leiterin des Hochschulradios PH

88,4;

Dr. Florian Weitkämper ist Akademischer

Mitarbeiter im Institut für

Erziehungwissenschaft


Winter 2020 UNIversalis-Zeitung 15

Ein neuer Blick auf die Alchemie des Lebens

Der italienische Philisoph Emmanuele Coccia wirft einen systematischen Blick auf das menschliche In-der-

Welt-sein und verweist auf die Zusammenhänge unseres Planeten

D

ank der Pflanzen wird die

Erde endgültig zum metaphysischen

Raum des

Atems. Die Ersten, die

die Erde besiedelten und bewohnbar

machten, waren Organismen, die zur

Photosynthese fähig waren: Die ersten

vollständig terrestrischen Lebewesen

haben die Atmosphäre am stärksten

verwandelt. Umgekehrt ist die Photosynthese

ein großes atmosphärisches

Labor (…).“

Emanuele Coccia, 2016

Unsichtbare Atmosphäre

Es darf als bekannt gelten, dass Lebewesen

in kosmische Vorgänge

eingebunden sind, doch ist uns dies

alltäglich bewusst? Der italienische

Philosoph Emanuele Coccia, der in

Paris lehrt, ruft es uns systematisch

ins Gedächtnis. In seinem Essay „Die

Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der

Pflanzen“, soeben ins Deutsche übersetzt,

plädiert er für einen neuen Blick

auf die Alchemie des Lebendigen und

der Pflanzen, die für ihn nicht nur in

den Bereich der Botanik gehört, sondern

in den der Philosophie. Des Weiteren

macht er in seinem Buch „Sinnenleben“

deutlich, wie wichtig hier

unser sensorisches Vermögen für ein

Verständnis ist. Wir unterschätzten die

Abhängigkeit unserer Existenz, da wir

vor allem menschen-, tier- und geozentriertdenken,

befindet Coccia und will

aus dieser Perspektive herausführen.

Bereits viele Wissenschaftler und Philosophen

haben sich auf diesem Terrain

versucht; gibt es auch nichts wirklich

„Neues unter der Sonne“, wie es landläufig

heißt, so lassen sich den Essays

von Emanuele Coccia doch zivilisationskritische

Denkanstöße entnehmen,

die zu Skepsis einladen.

Pflanzen sind die Magier des Lebendigen

Machen wir es uns ausreichend klar?

Pflanzen schaffen die vegetative Atmosphäre,

in der wir atmen, indem

sie Luft und Sonnenlicht verwandeln;

sie verfügen zwar nicht wie Mensch

und Tier über Nerven, Neuronen und

Gehirn, werden aber von elektrischen

Signalen durchquert und sind aktiv,

wenn auch auf spezifische Art (Coccia

vermenschlicht diese Vorgänge nicht,

wie Peter Wohlleben in „Das Leben

der Bäume“). Zwar haben Pflanzen

kein Gehirn, vermögen sich aber auf

viele Weisen zu orientieren, wenn ihre

Wurzeln z.B. Hindernissen ausweichen.

Amphibisch leben sie in der Erde

und in der Luft, verwandeln Kohlenstoff,

Licht und Wasser in Atmosphäre.

Zwar an einen Standort gebunden, breiten

sie ihre Samen, das „Denken“ ihrer

Zellen, über den gesamten Erdball aus,

nehmen Wind, Wasser und Insekten in

ihren Dienst.

„Dank der Pflanzen wird die Sonne zur

Haut der Erde, ihre äußerste Schicht,

und die Erde wird ein Gestirn, das

sich von Sonne ernährt, sich aus ihrem

Licht konstruiert. Sie verwandeln

das Licht in organische Substanz und

machen das Leben zu einem prinzipiell

solaren Faktum.“

Sonne - „Haut der Erde“

Die Sonne, Coccia bezeichnet sie

als „Haut der Erde“, ist die unerlässliche

Energiequelle aller Lebewesen;

deshalb ist der menschliche Leib

kein bloß chemisches Faktum, sondern

„kosmogonisch“, radikal eingeflochten

in einen extraterrestrischen

Stoffwechsel. Emanuele Coccia wirft

einen systematischen Blick auf das

menschliche In-der-Welt-Sein und

weist auf die Zusammenhänge unseres

Planeten; der Mensch hat Einfluss auf

diesen, begreift ihn aber zu oft nur als

Technosphäre (man denke an die hohe

CO₂-Emissionen und den klimaverändernden

Treibhauseffekt). „In-der-

Welt-Sein bedeutet zwangsläufig Welt

machen“, mitwirken in einem Gewebe

des miteinander Vermengt-Seins, der

Atmosphäre oder „Ursuppe“, für Coccia

die Quintessenz der Welt, in der die

Erde ein partieller Aggregatzustand ist.

„Es gibt ein materielles, aber nicht

neuronales Gehirn, einen Geist, der

der organischen Materie an sich innewohnt

(…). Die ersichtlichste Form

dieser elementaren Form der „Zerebralität“

verkörpert der Samen.“

Geist und Materie

An den für die Photosynthese verantwortlichen

Chloroplasten und in der

Wurzel wirkenden Plastiden zeigt sich

die Bindung des Organischen an das

Energiezentrum Sonne deutlich.Welche

Rolle aber spielt das Bewusstsein

im Universum? Coccia behauptet:

„Materie hängt von Geist ab“, und

wenn Geist aus der gleichen Materie

wie Wolken und Berge besteht, warum

sollten Berge und Wolken dann

umgekehrt nicht Geist besitzen? In

uns und den Pflanzen steckt mehr als

Botanik, Biologie und Physik zeigen

können. Wie aber gelangt „Geist“ in

die lebendigen Abläufe? Eine Pflanze,

so Coccia, ist ein Mechanismus, der die

Erde an den Himmel bindet. Begreift

man nun das Gehirn als eine Art Samen

(darauf weist das Wort „Seminar“), so

nimmt man an, es sei wesentlich nichtanatomisch,

also kein Organ; infolgedessen

wären Geist oder Bewusstsein

ein Merkmal der Materie, nicht etwa

im Organ Gehirn von der Gesamtexistenz

trennbar: „Wo es eine Form

gibt, gibt es einen Geist, der Materie

strukturiert, das heißt, die Materie existiert

und lebt als Geist (…).“Von der

Physik zur Metaphysik?

Sinnenleben

Emanuele Coccia ist bestrebt, nicht

nur dem Vegetativen, sondern auch

den Sinnen in der Philosophie zu mehr

Bedeutung zu verhelfen, was er in seinem

Essay „Sinnenleben“ in Auseinandersetzung

mit der Geistesgeschichte

von Aristoteles bis Merleau-Ponty,

von Nikolaus von Kues bis Helmuth

Plessner darlegt. Er will gegen ein Ichzentriertes

Weltbild antreten, weshalb

er die sinnliche Wahrnehmung als etwas

Drittes zwischen dem wahrnehmenden

Subjekt und dem wahrgenommenen

Objekt begreift. Die Aktivität

der Sinne definiert die Existenz des

Menschen ganz wesentlich, indem

er kontinuierlich – über Medien und

Bilder – eine „Verbindung zwischen

Geist und Wirklichkeit, Welt und Seelenleben“

herstellt. Täglich versieht er

seinen Körper und seine Lebenswelt

mit Formen, Farben und Gerüchen,

wählt Stoffe, Aromen und Musik, reist

in andere Länder, um neue Landschaften

zu sehen.Das Sinnlichen ist

so elementar, dass Coccia esmit einer

alten These besser zu verstehen

sucht; er situiert es nämlich im Raum

zwischen Subjekt und Objekt, so wie

das Spiegelbild dort existiert, wo sich

weder das spiegelnde Objekt befindet,

noch der Betrachter. Die Idee, dass das

Sinnliche in den Zwischenräumen existiert,

war weit verbreitet, bevor René

Descartes sie abgelehnt hat, um den

Geist von „jenen kleinen, durch die

Luft flatternden Bildern“(„espècesint

entionelles“) zu erlösen. Damit waren

Subjekt und Objekt getrennt und das

Individuum konnte sich als unabhängig

begreifen. Nimmt man aber die

„Zwischenräume“ ernst, wird das Sinnliche

als geistige Verbindung zwischen

Menschen deutlich, als Membran der

Übermittlung von Gedanken; diese

kann nur stattfinden, wenn Gedanken

für andere wahrnehmbar sind, also versinnlicht

in einem Medium, in Sprache,

Bild, Mode, Musik oder Gestik: „Jede

Form unseres Innen-, Geistes-, höheren

Lebens, der Wille des Einzelnen ebenso

wie der gemeinschaftliche Wille,

kann nur in etwas Sinnlichem Gestalt

annehmen.“Der Geist ist darauf angewiesen,

sich zu „objektivieren“, in

sinnfällige Realität zu verwandeln.

Nichts Neues unter der Sonne, außer

der Sonne selbst und der lebendig organisierten

Natur? Coccia Essays, seine

suchenden Denkbewegungen, regen

diesbezüglich zu Fragen an.

• Emanuele Coccia. Die Wurzeln der

Welt. Eine Philosophie der Pflanzen.

Hanser Verlag 2019

• ders. Sinnenleben. Übersetzt aus

dem Italienischen von Caroline Gutberlet.

Edition Akzente Hanser. München

2020 . Cornelia Frenkel

Die geistesgeschichtliche Bedeutung des

Isenheimer Altars –

und „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“

E

s gibt Gemälde, die sind

mehr als das, etwa die

Mona Lisa sowie Malereien

von Holbein und

Van Eyck. Auch der Isenheimer Altar,

geschaffen von Matthias Grünewald

im 16. Jahrhundert, gehört

in die Reihe der bemerkenswerten

Kultobjekte, zudem ist er Weltkulturerbe.

Ursprünglich diente er in

der Spitalkirche der Antoniter-Ordensgemeinschaft

in Isenheim bei

Colmar der Heilung Kranker, sollte

bei der Erlösung von der Pest und

der damals grassierenden Vergiftung

„Antoniusfeuer“ helfen, die Leidenden

unterstützen und aufbauen.

Aber der Künstler Grünewald hat

mit seinen Altargemälden, die aus

Bibel-Geschichten komponiert sind

und diese sichtbar erzählen - etwa

„Kreuzigung“ und „Auferstehung

Christi“, das „Engelskonzert“, der

„Besuch des heiligen Antonius beim

heiligen Paulus Eremita“, „Johannes

der Täufer mit dem Opferlamm“ und

die „Versuchung des heiligen Antonius“

- so ausdrucksstarke visuelle

Ereignisse geschaffen, dass sich die

Bilder seines mehrteiligen Flügelaltars

anscheinend bis in die Gegenwart

als komplexe Projektionsfläche

für unterschiedliche Gefühls- und

Leidenszustände eignen.

wAb der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

erfährt der Isenheimer Altar

eine stürmische Rezeption in Bildender

Kunst, Literatur, Philosophie und

Musik; Lovis Corinth, Erich Heckel,

Otto Dix, Max Beckmann, Paul Hindemith

sowie zahlreiche Autoren der

Literatur der Klassischen Moderne,

etwa Joris-Karl Huysmans, Rilke, Ricarda

Huch, Canetti, ließen sich von

diesem Meisterwerk der Renaissance

inspirieren. Ein kürzlich von den Literaturwissenschaftlern

Werner Frick

und Günter Schnitzler herausgegebenes

Buch „Der Isenheimer Altar.

Werk und Wirkung“ zeigt all dies mit

fächerübergreifenden Beiträgen im

Detail auf. Neben der Rezeption und

den intermedialen Bezügen nimmt

der Band auch die Hintergründe der

Entstehung des Altars in den Blick,

untersucht seine ikonografischen Besonderheiten

sowie die Biographie

von Matthias Grünewald (etwa 1475-

1528). Laut neuesten Forschungen

schuf er den Isenheimer Alter, der die

Grausamkeit des Todes und die Erfahrung

von Schmerzen darstellt, die

jeden Körperteil erfassen können, in

den Jahren 1512 bis 1516. Der Band

ist eine wahre Fundgrube, höchst

spannend zu lesen ist z.B. wie sich

Paul Hindemiths Oper „Mathis der

Maler“, 1938 uraufgeführt, auf Grünewalds

Meisterwerk bezieht .Zuletzt

hat Brigitte Kronauer in ihrem Buch

„Das Schöne, Schäbige, Schwankende“

einen außergewöhnlichen Dialog

mit dem Isenheimer Altar geführt.

Es handelt von Personen, für die ein

unerwarteter Umbruch zur Hinterfragung

der eigenen Biographie führt;

die Schlussgeschichte ist hier unter

dem Titel „Grünewald“ einem alten

Mann gewidmet, einem Literaturprofessor,

der nach und nach Figuren

und Vorkommnisse seiner Geschichte

und in seinem aktuellen Lebensumfeld

auf die Bildtafeln von Matthias

Grünewald bezieht, sich quasi in ihnen

spiegelt. Hier entdeckt er seinen

Kummer, Schönes und Schäbiges,

„Sünden“ und „Heilige“, während er

ein gedankliches Netz von Zusammenhängen

und Verweisen webt und

Grünewalds Darstellungen detailliert

vor Augen führt, darunter die erlösende

Auferstehungsszene oder die

von Höllenwesen umgebene Heimsuchung

des Antonius. Die Figur des

alten Mannes macht dem Leser deutlich,

dass ein Nachdenken über die

eigene Existenz ohne Auseinandersetzung

mit der Kunst fast unmöglich

ist, ja sinnlos. Die Schmerzen des auf

den Tod zugehenden Ich-Erzählers

finden ihre Parallele

in denen

jener Kranken,

die einst vor diesem

Altar Linderung

suchten.

Der Dialog mit

dem Kunstwerk

hilft ihm, seinen

Zustand zu erdulden,

er ist nicht

fromm, sondern

glaubt an die

Kraft der Kunst,

die eben mehr

ist als gefälliges

Bild und Unterhaltung,

nämlich

vielmehr einer

Künstlerexistenz

abgerungen wurde

– sie will den

Rezipienten herausfordern,

nicht

einfach nur trösten. Der Isenheimer

Altar, der von ungebrochener Anziehung

ist, wird momentan restauriert.

• Werner Frick / Günter Schnitzler

(Hg.). Der Isenheimer Altar – Werk

und Wirkung. 386 S., zahlr. Abb.,

Rombach 2019

• Brigitte Kronauer. Das Schöne,

Schäbige, Schwankende. Klett-Cotta

2019

• Musée Unterlinden. F - 68000 Colmar.

www.musee-unterlinden.com.

Mo, Mi bis So 9 bis 18h, Do 10-20h,

Di geschlossen Cornelia Frenkel


Starte jetzt dein Projekt auf:

> schwarzwald-crowd.de

250 Euro Weihnachtsbonus sichern

Wir belohnen Crowdfunding-Projekte in diesem Jahr mit einem zusätzlichen

Weihnachtsbonus. Die ersten zehn Projekte, die im Aktionszeitraum vom 1. bis

24. Dezember online sind, erhalten einen Startzuschuss in Höhe von 250 Euro.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!