Mit Texten über Hölderlin, Celan, Rühmkorf, Schiller und das Lesenlernen sowie das Forschungs- und Ausstellungsprojekt "Narrating Africa", von Nico Bleutge, Susanne Fischer, Hannelore Schlaffer, Farhad Showgi, Oladipo Agboluaje, Julia Augart, Jennifer Nansubuga Makumbi, Nelson Mlambo, Rémy Ngamije, Sylvia Schlettwein, Annette Bühler-Dietrich, Ildevert Méda, Sami Tchak und Nuruddin Farah.
Was ist
Literatur
?
Programm 2/2020
Was ist Literatur? Zum
Beispiel: ein Wortspiel,
das himmlische Mächte
provoziert.
Peter Rühmkorf, aus
dessen Nachlass diese
Lakritzdose stammt, hat
mit der Mehrdeutigkeit
eines von ihm erfundenen
Kürzels gespielt – TABU:
wie das Tagebuch, das
er schrieb, aber eben
auch wie das Adjektiv und
Substantiv, mit dem wir
etwas bezeichnen, das
aus gesellschaftlichen
Gründen verboten ist.
Das Wort kommt aus dem
polynesischen Sprachraum.
Unaussprechliche,
heilige, unberührbare
Dinge – so die ursprünglich
religiöse Vorstellung
– müssen streng
gemieden werden, da
sie gefährliche Kräfte
besitzen. In ihnen wohnen
Götter. Rühmkorf personifizierte
seine Auswahl
aus den über 15.000 in
Marbach archivierten
Seiten TABU-Text, indem
er ihr ein Zitat von Walt
Whitman voranstellte:
„Camerado, dies ist kein
Buch. Wer dies berührt,
berührt einen Mann.“
Editorial
2_3
Die vergleichsweise abstrakte
Um solche Möglichkeitshorizonte
und reduzierte Form der Literatur
eröffnen und überhaupt weiterhin
erweist sich dabei als Vorteil.
arbeiten zu können, hat das Deutsche
Als Sprachkunst lässt sich Literatur
Literaturarchiv in den vergangenen
allein oder in einer kleinen Gruppe
Monaten einen großen Schritt ins
lesen – laut oder leise, mit oder
Digitale gewagt. Wir arbeiten online
ohne spielerische Elemente, je nach
miteinander, treiben die Digitali-
Bedarf. Solches Lesen, Erzählen
sierung unserer Bestände und
oder Spielen in Seuchenzeiten hat
die digitale Arbeit damit voran.
Tradition, man denke an Boccaccios
Lesungen, Führungen, Gespräche
Decamerone. Im 14. Jahrhundert
und Diskussionen finden, solange
flüchteten sieben Frauen und drei
die Kontaktbeschränkungen gelten,
Männer vor der Pest in die Berge um
hauptsächlich digital in unseren
Florenz. Sie berichten erschreckend
Social-Media-Kanälen und in
realistisch von der Pest. Mit ihren
unserem neuen Blog statt. Unter
Geschichten eröffnen sie mögliche
#closedbutopen präsentiert das
Welten, die sich weit über das
Museumsteam virtuelle Rundgänge
Erlebte hinaus spannen und auf
durch die Ausstellungen und
Fallen Körper und Seele des
eine hoffentlich glücklichere und
vieles mehr. Seit Ende Mai sind
Menschen auseinander, entstehen
gesundere Zukunft verweisen.
die Museen wieder zugänglich, und
monströse Charaktere, meinte
Nutzer*innen können nach Voran-
Schiller. Als angehender Arzt
meldung wieder im Archiv arbeiten.
befasste er sich vor allem mit
psychosomatischen Krankheiten,
Wir hoffen, dass wir der sinnlichen
u.a. mit Melancholie. Seine Be-
und unmittelbaren Seite der Literatur
obachtungen vereinte er in seiner
bald wieder mehr Geltung verschaffen
Dissertation Versuch über den
und auch Sie von Angesicht zu
Zusammenhang der tierischen Natur
Angesicht treffen können, ohne die
des Menschen mit seiner geistigen
Vorzüge des Digitalen aufzugeben.
(1780).
Denn auch die Literatur hat einen –
oder vielmehr: viele Körper, ohne
Gegenwärtig bereitet uns unsere
die sie ihrerseits eine seelenlose
Natur Schwierigkeiten. Aufgrund
Kunst wäre.
der Covid-19-Pandemie müssen
wir unser kulturelles Miteinander
einschränken und uns in einer Weise
verhalten, wie sie für Menschen
untypisch, um nicht zu sagen: unnatürlich
ist. Doch aus der Einsicht
Sandra Richter
in das Notwendige halten wir uns
daran und versuchen zugleich, das
Miteinander auf Abstand zu pflegen.
Inhalt
4_5
8 16
24 22
Narrating Africa
28
SateLIT 1: Planet
34
step by step
Hölderlin, Celan
und die Sprachen
der Poesie
Ausstellungen
Laß leuchten!
Peter Rühmkorf –
selbstredend und
selbstreimend
Schiller, Hölderlin,
Kerner, Mörike
Die Seele
Motzstraße. Else
Lasker-Schülers
Lebenszeichen aus
Berlin
5040
62 52 84
94 8872
Celans späte Sterne
Themen und Dialoge
Wie erzählen wir heute
von Afrika? Welche
Geschichten und Mythen
betreffen uns heute?
Schiller lesen
ratzepatz.
Rühmkorfs
Nachlasspoesie
Lesen! Deep, skim, distant,
close, micro, macro, wide,
scalable, slow, fast?
#LiteraturBewegt
Lesen lernen /
Hannelore Schlaffer
Rühmkorfs letzter Brief
Hölderlin lesen.
Laut und draußen /
Nico Bleutge
Von Winnetou zu
Mohn und Gedächtnis /
Farhad Showghi
Ausstellungen
Hölderlins zehn häufigste Substantive
8_9
Wechselausstellung im Literaturmuseum der Moderne bis 1. August 2021
„Hölderlin ist eine dem Deutschen
verwandte Sprache“, schrieb Oskar
Pastior 1995. Mit über 150 Objekten
und Stationen zieht sich die Ausstellung
Hölderlin, Celan und die
Sprachen der Poesie durch beinahe
alle Räume des Literaturmuseums
der Moderne, um die unterschiedlichen
Dimensionen dieser Sprache
auszuloten. Im Mittelpunkt stehen
Hölderlins Gedichte und ihre
Wirkungen aus unterschiedlichen
Perspektiven: Was geschieht
beim Lesen eines Hölderlin-Gedichts
mit uns? Wie wirkt ein Hölderlin-
Gedicht, wenn wir es in der Handschrift
lesen?
Was verändert sich, wenn wir es
im Raum lesen? Welche Hölderlin-
Erfahrungen sind in Archiv und
Bibliothek überliefert und welcher Text
und was daran ‚wirkte‘ jeweils wie?
Auf dem Hölderlin-Leser Paul Celan,
dessen umfangreicher Nachlass
sich im Deutschen Literaturarchiv
befindet, liegt dabei ein besonderer
Schwerpunkt: Er wäre im Jahr 2020
100 Jahre alt geworden, zugleich
jährt sich sein Todestag zum 50. Mal.
10_11
Gefördert von der Baden-Württemberg
Stiftung. Die Stationen zur Leseforschung
werten wir zusammen mit
dem Leibniz-Institut für Wissensmedien
und dem Institut für Psychologie der
Universität Tübingen aus.
_15
Hölderlin,
Celan und
die Sprachen
der Poesie.
Impressionen
von der
Eröffnung am
23. Mai
mit Staatssekretärin
Petra
Olschowski.
14_15
16_17
Schiller,
Eine Interimsausstellung im Literaturmuseum der Moderne bis Winter 2022
Hölderlin,
Kerner,
Mörike
Für das Schiller-Nationalmuseum
erarbeiten wir zur Zeit ein neues
Ausstellungskonzept. Daher sind
vier Schriftsteller – Schwaben von
Geburt und Autoren von Weltrang –
vorläufig ins Literaturmuseum der
Moderne umgezogen. Wir haben
Dinge eingepackt, die ihre poetisch
besonderen Seiten zeigen: Friedrich
Schillers unterschiedliche Spiele,
Justinus Kerners Tintenklecksbilder
und die eigenwilligen Aufschreibesysteme
von Friedrich Hölderlin und
Eduard Mörike. Alle vier Schriftsteller
stammen aus der Umgebung
des Museums: Schiller wurde 1759 in
Marbach geboren, Hölderlin 1770
in Lauffen, Kerner 1786 und Mörike
1804 in Ludwigsburg.
18_19
Ein zweiter Raum mit Scherenschnitten
von Luise Duttenhofer und
wechselnden Leselaborstationen
ergänzt diese Interimsausstellung.
Blick auf
Schiller,
der vorübergehend
ins
Literaturmuseum
der
Moderne
umgezogen
ist.
20_21
Exponattableaus
sowie Bildund
Tonplatten
zu
Schiller,
Hölderlin,
Mörike und
Kerner im
Literaturmuseum
der
Moderne.
Für Hölderlin,
Celan und die
Sprachen der
Poesie haben
wir mit Objektkarten
und
Originalen in
der Dauerausstellung
im Literaturmuseum
der
Moderne ein
ganzes Ausstellungskapitel
verortet:
„Zitieren.
Hölderlin mit
anderen lesen“.
ie
eele
Die Dauerausstellung zum
20. Jahrhundert im
Die über 280 Exponate, die wir aus
den mehr als 1.400 Schriftsteller- und
Gelehrtennachlässen mit rund
50 Millionen Einzelblättern, Büchern
und Gegenständen des Deutschen
Literaturarchivs ausgewählt
haben, zeigen eine besondere
Literaturgeschichte des Schreibens
und Lesens. Von 1899 bis 2001,
von Hermann Hesse zu W.G. Sebald,
unter anderem mit Exponaten von
Rilke, Kafka, Benn, Döblin, Walter
Benjamin, Joseph Roth, Stefan
Zweig, Else Lasker-Schüler, Mascha
Kaléko, Hannah Arendt, Hilde
Domin, Siegfried Lenz, Sarah Kirsch,
Martin Walser, Thomas Bernhard
und Hans Magnus Enzensberger.
Literaturmuseum der Moderne
22_23
Narrating
Africa
step by
step
Eine Open-Space-Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne
bis 1. August 2021
26_27
Wie erzählen wir von Afrika: von
einem Kontinent und seiner Vielfalt?
Welche Bilder und Stereotype,
welche kolonialen und nationalen
Ideologien bestimmen die Literatur
über Afrika und werden von ihr
geprägt, verbreitet oder zerlegt?
In einer Open-Space-Ausstellung
diskutieren wir das mit Texten,
Archivfunden, Lecture Performances
und Gesprächen u.a. mit Partnern
aus Namibia und zahlreichen Schriftstellerinnen
und Schriftstellern
aus Afrika. Da wir das für den Juni
zusammen mit Annette Bühler-
Dietrich (Universität Stuttgart) und
der University of Namibia geplante
Autorenfestival in den Mai 2021
verschieben mussten, werden wir die
Ausstellung vorerst auf digitalen
Wegen ergänzen, umschreiben und
neu fügen.
Gefördert vom Ministerium für
Wissenschaft, Forschung und Kunst
des Landes Baden-Württemberg.
Screenshots
aus den
#closedbutopen-Videos
zu Narrating
Africa.
Videoeinblicke und -beiträge
zur Ausstellung, u.a. von Oladipo
Agboluaje, Penda Diouf, Jennifer
Nansubuga Makumbi, Ildevert
Méda, Rémy Ngamije, Sami Tschak
und Sylvia Schlettwein finden
Sie auf dem YouTube-Kanal der
Literaturmuseen Marbach.
28_29
ateLIT 1: Planet
otzstraße. Else
asker-Schülers
ebenszeichen aus
erlin
Eine Ausstellungsreihe der Stiftung
Brandenburger Tor und des Deutschen
Literaturarchivs Marbach, von Mitte Oktober
an im Literaturmuseum der Moderne
SateLIT konfrontiert das Publikum
anhand eines überraschenden
literarischen Kerns mit anderen
Sichtweisen und letztlich mit sich
selbst. Denn Literatur verändert unser
Leben: Sie schult den Umgang mit
Mehrdeutigkeit, Mehrsprachigkeit, mit
historischem Zufall und dem Wechsel
von Rollen. Literatur vervielfältigt
die Perspektiven. Ausgehend von
Marbacher Fundstücken erkunden wir,
wie sich diese Wirkmächtigkeit der
Literatur vermitteln lässt und welche
Rolle Literaturarchive dabei spielen.
30_31
Postkarte
von Else
Lasker-
Schüler an
Nicolaas
Johannes
Beversen
mit„Profilmarke“.
Den Umschlag
auf der
vorhergehenden
Seite
mit einem
Bild statt
einer
Absenderangabe
schickte
sie 1913 an
Franz Marc.
Gegenstand des ersten SateLIT sind
die 64 erhaltenen, bislang unveröffentlichten
Briefe und Postkarten,
die Else Lasker-Schüler von 1905
bis 1931 an den Literaturkritiker,
Übersetzer und Mäzen Nicolaas
Johannes Beversen meist aus
dem „Hôtel“ Koschel in der Berliner
Motzstraße, dem heutigen Hotel
Sachsenhof, geschrieben hat.
In der anderthalb Kilometer langen
Motzstraße haben Vladimir Nabokov
gelebt, Rudolf Steiner, Billy Wilder
und Erich Kästner. Alfred Döblin traf
hier Ernst Bloch, Bertolt Brecht und
Johannes R. Becher. Oskar Kokoschka
war der Hotelmitbewohner von Else
Lasker-Schüler. Die Korrespondenz
mit Beversen konnte in diesem
Januar mit Hilfe der Kulturstiftung
der Länder erworben werden.
In der Stiftung BrandenburgerTor
wird die erste, mit Shermin Langhoff
und Judith Kuckart entwickelte und
vom Hauptstadtkulturfonds geförderte
Ausgabe von SateLIT vom 25. August
bis zum 7. Oktober gezeigt werden,
im Anschluss geht sie ins Literaturmuseum
der Moderne (18. Oktober
2020 bis 10. Januar 2021). Mehr:
www.stiftungbrandenburgertor.de
„Ich bin in Theben
(Ägypten) geboren, wenn
ich auch in Elberfeld
zur Welt kam im Rheinland.
Ich ging bis elf Jahre
zur Schule, wurde Robinson,
lebte fünf Jahre im Morgenlande,
und seitdem
vegetiere ich“ (1919 an
Karl Kraus).
Auf der Online-Platform Poetic
Textures – Else Lasker-Schüler
Archives, einer Initiative des
Deutschen Literaturarchivs mit
der National Library of Israel
(NLI) in Jerusalem, werden virtuell
und exemplarisch Objekte aus
beiden Institutionen miteinander
verbunden, die im Zuge des Exils
Lasker-Schülers zerstreut überliefert
wurden: Besucher*innen können so
in einzigartigen Materialien recherchieren
und die Sammlungen zweier
Länder und Sammelorte gemeinsam
und in ihren Verbindungen kennenlernen.
Gedichtmanuskripte, Briefe,
Zeichnungen und Collagen sowie
Kommentare von ausgewiesenen Else
Lasker-Schüler-Expert*innen sowie
ein Gespräch von Sandra Richter,
Stefan Litt und Anna Kinder in
Kooperation mit dem Projekt Bridge
to Europe an der NLI finden Sie hier:
www.laskerschuelerarchives.org.
Vorhergehende
Seite:
Peter
Rühmkorf.
34_35
aß leuchten!
eter
ühmkorf –
Eine Wechselausstellung der
Arno Schmidt Stiftung
im Schiller-Nationalmuseum,
voraussichtlich vom
25. Oktober 2020 bis
1. August 2021
elbstredend und
elbstreimend
Der vielfach preisgekrönte Lyriker
36_37
Er sammelte Kinder- und Spottverse,
Zusammen mit Hölderlin, Celan und
Peter Rühmkorf (1929 – 2008) war
studierte und rezensierte Kollegen,
die Sprachen der Poesie verwandelt die
lange Jahre in Hamburg an der Elbe
bewunderte Dichter vergangener
Ausstellung die Marbacher Literatur-
zu Hause, doch seine Manuskripte
Jahrhunderte, schrieb Theaterstücke
museen in einen Ort, an dem die
‚wohnen‘ bereits seit 1981 als
und erreichte mit seinem Erinnerungs-
kleine literarische Form des Gedichts
sogenannter Vorlass im Deutschen
buch Die Jahre die Ihr kennt ein großes
die Hauptrolle spielt und Besucher
Literaturarchiv Marbach, wo nun
Publikum. Rühmkorf arbeitete als
auf Poesie in unterschiedlichsten
die Arno Schmidt Stiftung
Redakteur der Zeitschrift konkret,
Erscheinungsweisen treffen – gereimt
Rühmkorfs Leben und Werk mit
als Lektor des Rowohlt Verlags und
und gezählt, bewegt und still,
einer umfangreichen Ausstellung
engagierte sich in der Studenten-
laut und zart, dunkel und leuchtend.
präsentiert.
und Friedensbewegung.
Geplant ist, dass der Literatur-
Rühmkorf publizierte seine Gedichte
Die Ausstellung zeigt Rühmkorfs
wissenschaftler, Essayist und Mäzen
nicht nur in Büchern, sondern
Werk und sein Leben als Künstler
Jan Philipp Reemtsma und der Lyriker
entdeckte neue Orte für die Lyrik.
und streitbarer Intellektueller in
Nico Bleutge zur Eröffnung sprechen.
Gemeinsam mit befreundeten
allen Facetten. Zentrales Element
Da wir zum Zeitpunkt der Drucklegung
Musikern trug er sie auch als ‚Jazz
der Ausstellung ist der ‚Raum der
dieses Programmhefts noch keine
und Lyrik‘ in Kellerclubs, Kirchen
Gedichte‘, in dem zehn Gedichte
sicheren Angaben zur Durchführung
und auf öffentlichen Plätzen vor.
Rühmkorfs in Großprojektionen
von Veranstaltungen in diesem
inszeniert werden. Eine Auswahl
Herbst machen können, achten Sie
weitgehend unbekannter Film-
bitte auf die Informationen auf unserer
aufnahmen seiner Jazz-und-Lyrik-
Homepage und in der Presse.
Programme aus mehreren
Jahrzehnten ergänzt die Gedichtprojektionen.
Themenstationen
widmen sich wichtigen Aspekten
in Schaffen und Leben des Dichters,
stellen einzelne Werkphasen vor
und erläutern sein poetisches
Konzept. Eine fünfzig Quadratmeter
große Wandinstallation verdeut-
licht am Beispiel des Gedichts
Selbst lll/88 Rühmkorfs aufwändigen
Arbeitsprozess.
Eines von
Rühmkorfs
Selbstporträts
im
Manuskript
von Selbst
III/88.
Celans zehn häufigste Substantive im Band Lichtzwang
Themen und Dialoge
„Wer bloß an meiner Pflanze riecht,
40_41
der kennt sie nicht, und wer sie
pflückt, bloß, um daran zu lernen,
kennt sie auch nicht“, schreibt
Hölderlin im Vorwort seines Romans
Hyperion. Wir wollten daher im
Rahmen des Literatursommers 2020
im Mai und Juni Hölderlin gemeinsam
laut lesen, blind hören oder taub
sehen und mit seinen Texten Räume
abstecken und erfahren. Stattdessen
haben wir alle eingeladenen Künstler
um Video-Beiträge gebeten. Nico
Bleutge haben wir darüber hinaus
eine Reihe von Fragen geschickt.
ölderlin
esen.
Haben Sie ein Lieblingsgedicht von
Hölderlin?
An die Parzen mag ich sehr, Hölderlin-
Evergreen, ein Gedicht ohne
Pflanzen, dafür mit Odenform, Göttern
und der Vorstellung vom Gedicht
als dem „Heil’gen“. Aber auch späte,
längere, verzweigtere Gedichte
wie In lieblicher Bläue lese ich immer
wieder gerne (nicht nur wegen der
Rosen darin), schöne Variationen:
„Im Winde aber oben stille krähet die
Fahne“.
aut und
raußen
Das lyrische Ich, so haben Sie es
„Wer ist das Ich im Gedicht? Jedes
42_43
Wie und wo und auch wann lesen
einmal gesagt, sei in Ihren Gedichten
Ich, das es spricht“, lautet eine These
Sie selbst Hölderlin?
kein Ich, das sichtbar nach draußen
von Heinz Schlaffer, „Ich kann jeder
Ganz ehrlich? Zu Gelegenheiten
tritt, sondern eine Wahrnehmungs-
sagen“ ein Adorno-Satz. In Hölderlins
wie dieser. Wenn ich also eingeladen
instanz, „die nur als ein Häutchen
späten Gedichten fehlt das Wort ‚ich‘.
Erst Leserstimmen zu meinen
werde, mich mit Hölderlin zu
auf die Sprache aufgesetzt ist“.
Ist dieses Schreiben ohne Ich ein
Gedichten haben mich auf das zurück-
beschäftigen. Es gab bis jetzt fast
Auch in den Gedichten, die Hölderlin
Kniff, dem Leser das Gedicht zu ent-
gefahrene Ich in meinen Texten
immer einen Impuls von außen,
im Tübinger Turm schrieb, taucht
ziehen, es ganz zur Sprache, zum
aufmerksam werden lassen, das bei
sei es im Studium, sei es im eigenen
das Wort ‚Ich‘ nicht mehr auf. Wie
Zeichen- und Klangkörper zu machen?
mir anfangs nie ‚Methode‘ war.
Schreiben. Wenn dieser Impuls
verändert dieses ichlose lyrische
In Hölderlins spätesten Gedichten
Je länger ich schreibe, desto mehr
aber einmal da ist, ist es eine umso
Sprechen die Poesie?
(den Jahreszeitengedichten) ist
wird mir die Dialektik auch dieser
intensivere Beschäftigung, manchmal
Bei mir hat sich das aus dem
„der Mensch“, „die Menschheit“ oder
Bewegung klar. So wie ich die
fast rauschhaft, wie ein Sich-Hinein-
Schreibvollzug heraus entwickelt:
ein „Wir“ an die Stelle des „Ich“
Erfahrung gemacht habe, dass der
stürzen und zugleich Angesaugt-
In den intensiven Schreibmomenten
getreten. Es entsteht ein entpersön-
Versuch, etwas ganz genau und
werden, bei – paradoxerweise –
(die leider die seltensten sind)
lichtes, manchmal weisheits-
detailreich zu fassen, in sein Gegen-
aufmerksamer kritischer Distanz.
lässt sich gar kein zentrierendes Ich
buchartiges Sprechen. Zugleich
teil umschlagen kann – also der Baum
Bei Trakl zum Beispiel oder Lasker-
mehr ausmachen. Eher ist es
scheint mir gerade so eine bestimmte
vor lauter Verästelungen nicht mehr
Schüler geht es mir ähnlich.
eine Art von Selbstvergessenheit,
Charakteristik – gleichsam die
in den Blick kommt –, so hat mir auch
als würde man in der Sprache
Signatur einer geistigen Verfasstheit
der Versuch, das Ich zurückzunehmen,
und in den Vorstellungen aufgehen.
– umso deutlicher spürbar zu werden.
gezeigt, wie man plötzlich auf das
Und doch kann man reflektierend
Deutlicher vielleicht als durch ein
Ich und vor allem: auf die Sprache
immer wieder auf das Geschriebene
Ich-Sagen.
und ihr Eigenleben zurückgeworfen
zugreifen.
werden kann. Von daher arbeite ich
inzwischen immer öfter ganz bewusst
Gleichzeitig ist mir damals aufge-
mit dem ,Ich‘, es ist eine Möglichkeit
fallen, dass die Ich-Perspektive –
der Perspektive, also vereinfacht:
das scheinbar Subjektivste – durch
Wer schaut im Gedicht (Sprecher
den Akt und Gestus des Setzens
wie Leser) von wo nach wo?
das Ich plötzlich sehr groß werden
Ich verstehe es als Sprechhülse,
lassen kann. Es hat dann den
durch die ich ganz verschiedene
Anschein des Maßgeblichen und
Stimmen ins Gedicht schleusen
einen viel stärkeren Autoritäts-,
kann, ohne dass sie dann noch klar
Geltungs- und Herrschaftsanspruch
unterscheidbar wären – bewusst
als jede ‚objektiv‘ auftretende,
gesetzte Mehr- und Vielstimmigkeiten
‚versachlichte‘ Redeweise. So hat
bzw. Überlagerungen im Gedicht.
sich ein Schreiben ohne Ich ergeben,
im Sinne einer Offenheit, eines
Freiseins für die Phänomene: etwas
sehen, hören, betrachten können.
Screenshots
aus Nico
Bleutges
Video-Clip,
in dem
er über
Hölderlins
Naturvorstellung
spricht.
44_45
Was machen Hölderlins Gedichte mit
selbst mit dem großen Maß. Das
46_47
Noch einmal zum Lesen: Hölderlin ist
Ihnen – und was Sie mit diesen?
ist sein Anspruch, den ich ganz und
ein Wanderer, später ein Spazier-
Sie versetzen mich in eine, wörtlich,
gar verstehen kann. Aber das Große,
gänger - haben Sie seine Texte schon
Hoch-Stimmung. Die sehr intensiv ist,
glaube ich, kann auf Dauer nicht
einmal draußen gelesen?
mich die Welt tatsächlich für den
wirken, wenn es immerzu absolut
Nein, aber wenn ich ihn am Schreib-
Moment anders erleben lässt, in
gesetzt wird, wenn es ohne Kontrast
tisch lese, setzt die umgekehrte Be-
der ich mich aber auch nur für eine
und in diesem Sinne ungebrochen
wegung ein: Ich fange an zu wandern,
begrenzte Zeit bewegen möchte.
bleibt. Ab und an würde ich mir in
ganz körperlich, die wechselnden
Sie bringen mich dazu, mir einzelne
den Gedichten auch etwas mit der
Rhythmen versetzen mich in
Formulierungen und gedanklich-
Spanne Gemessenes wünschen oder
Spannung, der Körper reagiert ganz
rhythmische Bögen immer wieder
jedenfalls den „Kindersinn“, von
eigen auf die Gedichte, und ich
sehr genau anzusehen. Sie fordern
dem Hölderlin in einem anderen
gehe in dieser Sprache durch eine
dauernde Aufmerksamkeit für die
Gedicht spricht.
Landschaft, folge unterschiedlichen
Umstellungen im Satzbau (als würde
Tonhöhen, Bildern, einem Denken
man laufen und dabei immer auf
und ganzkörperlichen Wahrnehmen in
den Rhythmus seiner Schritte hinge-
einem.
wiesen – und zugleich über diese
Struktur nachdenken).
Schiebt sich Hölderlins Stimme ab
Dabei gelingt es mir nicht immer,
Sie haben in Tübingen studiert
und zu zwischen die Natur und Ihre
die Wirkungs- und Rezeptionsge-
und schon vorher, mit 15, Gedichte
Wahrnehmung von ihr? „Hinunter
schichte dieses Tones auszuschalten,
geschrieben. War Tübingen als
sinket der Wald“ ...
das ganze „weltanschauliche
Studienort auch eine poetische Wahl,
Das Dazwischenschieben findet
Gegrabsche“, wie es Karl-Heinz Ott
eine Annäherung an Hölderlin,
eher auf einer anderen Ebene statt.
jüngst genannt hat. Dafür haben
oder Zufall?
In den Phasen, in denen ich Hölderlin
Hölderlins Gedichte in den verschie-
Tübingen hatte ich mir wegen Walter
lese, nehme ich seine Bilder und
denen Zeiträumen einfach zu
Jens und der Rhetorik ausgesucht,
seinen Rhythmus mit in andere Texte.
viele Beulen abbekommen. Und,
ohne zu wissen, daß Jens 1993 schon
D. h., wenn ich sie lese, vergleiche
etwas persönlicher: In einem
gar nicht mehr unterrichtete. Aber es
ich unwillkürlich den Satzbau mit
Geistert Hölderlins Stimme durch Ihre
Hölderlin-Gedicht heißt es über die
gab vorher, während des Zivildienstes,
Hölderlins Satzbau, seine Art, Bilder
eigenen Texte – so wie man in seinen
Götter „Groß ist ihr Maß, doch
einige Wochen, in denen ich den
anzulegen oder größere Denkbögen
die von Schiller aufstöbern kann?
es mißt gern mit der Spanne der
Hyperion gelesen (und kaum etwas
in die Gedichte einzuziehen, mit den
Nein, jedenfalls nicht als etwas im
Mensch.“ Hölderlin versucht es immer
verstanden) habe. Vielleicht war das
Bewegungen in diesen Gedichten.
Schreiben bewusst Gesetztes oder
der Impuls, gleich in meinem ersten
Auch so entsteht dann beim Lesen
als etwas, das mir bei entsprechend
Semester im Tübinger Brechtbau
eine andere Art von Aufmerksamkeit.
fokussierter Selbstlektüre auffallen
ein Hölderlin-Seminar zu besuchen.
würde. Aber vielleicht kommt das
Das war sehr kompakt, wie ein
noch.
Hölderlin-Brühwürfel. Damals haben
mich vor allem seine theoretischen
Schriften begeistert, meine erste
Seminararbeit war über Urteil und
Sein und den Wechsel der Töne.
Blumen lässt Hölderlin 78-mal blühen
behaupte ich, nicht unbedingt zu
48_49
des Schönen geht, und dem Sprecher
„Mülltonnenstellplatz oder Kompakt-
– in Blumengängen, auf einem
seinen Stärken zählt. Es ist bei ihm
„blühn“ die Wangen, wenn er der
hecke oder Miniterrassen-Anlage,
Blumenhügel und einem Blumenfeld.
eigentlich immer ein Sprechen, also
Natur begegnet.)
Geißblattlaube, Rosenhag“ (Barbara
Blüten leuchten 47-mal, viermal
etwas reflektierend und ,geistig‘
Köhler), „Die letzte Novemberrose
erscheinen Knospen. Präziser wird
Umfasstes, immer schon mit einem
37-mal blühen, glühen, stechen,
baumelt überm Ascheneimer“
Hölderlin bei diesen blühenden
(zwar nicht ausgestellten, aber
kränzen, umwehen bei Hölderlin
(Jürgen Becker), „übern jordan der
Blumen und Kräutern: Krokus und
doch spürbaren) Wissen um die
Rosen: wild und still, herrlich und
rotkohl / der rosen!“ (nochmal Kling),
Thymian, Mohn, Hyazinthe, Tulpe,
,Sprachigkeit‘ des ganzen Vorgangs.
jung, süß und dornig, als Frühlings-
„Scourge them with roses only“
Sauerklee, Kleeblatt und Ampfer
,Instanz‘ klingt mir auch zu zentrie-
rosen, Moosrosen, Rosenstrauch,
(Elizabeth Bishop), „im Zenit Rosen
(je 1), Disteln und Maienblumen bzw.
rend, zu sehr nach Autoritäts-
Rosenhecke und Rosenpfad. Zweimal
Mimosen“ (Ilma Rakusa), „und die
Maienblümchen (je 5), Lilien (7) und
und Machtanspruch. Für mich ist
färben sie als Wangenrose das
bodenlosen rosen / haben sich in
Rosen (37). Nektar wird aus diesen
es bei Hölderlin eher ein Anbieten
Gesicht, zweimal tauchen sie die Welt
mooren versteckt“ (Inger Christensen
Blumen fünfmal gewonnen, Honig
oder sehenlassendes Zusammen-
in mildes bzw. holdes Rosenlicht.
in alphabet – Rosen dürften dort
dreimal. Sechsmal duftet etwas,
bringen der Momente.
Zehnmal gibt es Dornen, sie bilden
eigentlich nicht vorkommen, denn das
16-mal ist es duftend, einmal sogar
Ich würde einfach vom ,Sprecher‘ oder
Dornengänge, Dornenpfade, eine
Buch endet beim Buchstaben „n“).
düftereichst. Zehnmal ist vom Duft,
vom ,Sprechen‘ des Gedichts reden.
Dornenbahn und ein Dornenbett.
Nachtrag. Selbstkorrektur: Es gibt
von Düften und Gedüft die Rede,
Und Hölderlins Sprecher, scheint mir,
– Die Rose ist sicher die in Gedichten
doch Rosen bei mir, in meinem ersten
einmal von den Paradiesdüften.
ist einer, der nicht nur gerne spricht
am häufigsten genannte, abge-
Band klare konturen: „... langsam /
Nelken und Veilchen wachsen an zwei
bzw. singt, sondern sich auch gerne
nutzteste Blume. Gertrude Stein
kriechen die finger den stein entlang
Gedicht-Stellen: „Zwar gehn die
selbst beobachtet, sich ins Verhältnis
spielt 1913 mit der Doppeldeutigkeit
schleifen / und kränze rosen aus
Treppen unter den Reben hoch /
zu sich setzt. Er besingt sich selbst,
von Frauen- und Blumennamen:
grobem vergilbtem / stoff ...“
Herunter, wo der Obstbaum blühend
als „Jüngling“ oder „(blinder)
„Rose is a rose ...“ Wie haben Sie, wie
darüber steht / Und Duft an wilden
Sänger“. Er lässt sich von seiner
würden Sie mit Ihrem „Handschuh
Hecken weilet, / Wo die verborgenen
eigenen Rede „antreiben“, „noch
aus Sprache“ (so Hans Jürgen
Veilchen sprossen“ und „Im Veilchen-
andres zu suchen“. Und er entdeckt
Balmes in seiner Laudatio, als Sie
tal, vom dämmernden Hain umbraust, /
immer wieder eigentümliche
2017 mit dem Kranichsteiner
Entschlummert er“. Als Viole taucht
Korrespondenzen zwischen innen und
Literaturpreis ausgezeichnet worden
das Veilchen noch einmal zusammen
außen, zwischen der Euphorie des
sind) eine Rose anfassen?
mit Hyazinthe, Tulpe und Nelke auf:
Inneren und dem Strahlen der Natur:
An die Rose habe ich mich bis jetzt
„Die klaren Gänge, niedres Gesträuch
„es leuchteten / Die Blumen, wie die
noch nicht gewagt. Es ist, Sie sagen
und Sand, / Auf dem wir traten,
eigenen Augen, mir“.
es, ein poetisch sehr oft verwendetes
machten erfreulicher, / Und lieblicher
Etwas gedreht: Das „Blühen“, das
Wort, darin der ,Seele‘ verwandt
Wenn Sie Hölderlin fragen könnten
die Hyazinthe / Oder die Tulpe, Viole,
so oft erwähnt wird, kommt mir wie
oder dem ,Herz‘. Wie ein Versuch
– was würden Sie ihn fragen?
Nelke.“ Ein weiteres Mal kombiniert
das Pendant der Natur zur Euphorie
aussehen könnte? Da würde ich nun
Holder, mein Lieber, wie hältst Du es
Hölderlin die Nelke ungewöhnlich:
und zur Emphase des Sprechers
meinerseits mit einer kleinen Liste
mit der Ironie?
„Da füttert ich mein Hühnchen, da
vor. Oder, noch einmal anders:
antworten, Formen, an die ich
pflanzt ich Kohl / Und Nelken“. – Wie
Die „blühende“ Natur ist die ihrer-
vielleicht anschließen würde: „eine
würden Sie die Wahrnehmungsinstanz
seits euphorisierte Natur, die der
rose ist natürlich: rosen“ (Thomas
beschreiben, die hinter dieser Natur
euphorischen Gestimmtheit des
Kling), „ein blütenfleisch aus rosen-
steht?
Sprechers wie von selbst entgegen-
silicon“ (auch Kling), „Frau Anna
Von Wahrnehmung allein würde ich
kommt, entgegenstrebt. („Blühen“,
Rothe aus Altenburg / das sächsische
bei Hölderlin tatsächlich nicht reden.
fällt mir auf, ist auch das bevorzugte
Blumenmedium / holt Rosen,
Nicht nur, weil Anschaulichkeit,
Verb, wenn es um das Erscheinen
Scharlachtulpen“ (Marcel Beyer),
elans
päte
terne
50_51
Am 21. März 1970 las Paul Celan
zur Feier von Friedrich Hölderlins
200. Geburtstag im Silchersaal
der Stuttgarter Liederhalle aus
seinem noch unveröffentlichten
Gedichtband Lichtzwang. Vier Wochen
später nahm er sich in Paris das
Leben. Der Auftritt in Stuttgart war
seine letzte große Lesung. Die
Gedichte aus dem kurz nach Celans
Tod veröffentlichten Band Lichtzwang
gelten seitdem als schwer zugänglich.
Können wir Celans späte Verse
heute – ein halbes Jahrhundert
nach seiner Stuttgarter Lesung –
besser verstehen? Wir haben sechs
Leserinnen und Leser eingeladen,
die sieben Verse des Gedichts
„Was es an Sternen bedarf“ in jeweils
sieben Sätzen zu kommentieren:
Carolin Callies, Ann Cotten,
Daniela Danz, Aris Fioretos, Norbert
Hummelt und Rainer René Mueller.
Das Video, das daraus entstanden
ist, ist Teil der Reihe #closedbutopen
auf dem YouTube-Kanal der Literaturmuseen
Marbach.
Was es an Sternen bedarf,
schüttet sich aus,
Paul Celan
bei seiner
letzten
Lesung in
Stuttgart.
Fotos: Agnes
Handwerk,
mit der wir
für unsere
#closedbutopen
Reihe auch
ein Interview
geführt
haben.
deiner Hände laubgrüner Schatten
sammelt es ein,
freudig zerbeiß ich
das münzenkernige
Schicksal.
on
innetou
52_53
Der Schriftsteller und Arzt
Farhad Showghi lebt in Hamburg.
Aufgewachsen ist er in Bayern und
in Teheran. Seit 1987 veröffentlicht
er Gedichte und übersetzt aus dem
Persischen. Für sein Werk wurde er
vielfach ausgezeichnet, u.a. 2003 mit
dem 3sat-Preis beim Klagenfurter
Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb
und 2018 mit dem Peter-Huchel-Preis.
Fragensteller: Jan Bürger.
u
ohn und
edächtnis.
Ein Gespräch mit
Farhad Showghi, der seit 40 Jahren immer wieder Paul Celan liest
Erinnern Sie sich, wann und wie
54_55
oder Aus dunklem Tann. Ja, diese
Sie das erste Mal ein Gedicht von
ganz anderen Karl-May-Bücher waren
Paul Celan gelesen haben?
für mich noch viel interessanter, weil
Da war ich noch Schüler im ober-
sie beispielsweise im Erzgebirge,
bayrischen Bad Aibling, es muss in
dieser typisch deutschen Landschaft
der 11. oder 12. Klasse gewesen sein,
spielen. Sie setzten auf wohltuende,
in jener Zeit, als ich selbst anfing,
besänftigende Art die Fiktion der
Gedichte zu schreiben. Ich glaube,
Getrenntheit. – Als ich nach Deutsch-
das erste Celan-Gedicht, das ich
land zurückkam, gehörten zu
las, war die Todesfuge. Vermutlich im
meinen ersten Lyrik-Lektüren Brecht
Rahmen des Schulunterrichts.
geführt von einer älteren, sehr
und Heine. Dann Rilke, Rimbaud,
Und mein erstes Buch von ihm war
freundlichen Dame. Ihr stiller Laden
und schließlich Celan, und bei seinen
Mohn und Gedächtnis. Mein alter
bestand aus einem einzigen Raum
Gedichten hatte ich plötzlich das
Band ist leider bei meinen vielen
im Souterrain, einige Regale voller
Gefühl, mich an etwas nicht ganz zur
Umzügen verloren gegangen.
Bücher, andere mit großen Lücken.
Sprache Durchdringendes erinnern zu
Dort kaufte mir mein Vater auf
können: Ich berührte, spürte in und
Hatten Sie damals schon, bei der
ihre Empfehlung hin die ersten zwei
zwischen den Wörtern das, wonach
ersten Lektüre, das Gefühl, etwas
Winnetou-Bücher.
ich mich als lesendes Kind in Persien
Besonderes zu lesen? Oder war Paul
über den Karl-May-Büchern, im
Celan für Sie erst einmal nur ein
Von Karl May zu Paul Celan?
lange nachwirkenden Papiergeruch in
Dichter unter vielen – so wie Ingeborg
Ich erzähle das aus einem ganz
der trockenen Luft, gesehnt hatte.
Bachmann oder Günter Eich?
bestimmten Grund. Mit neun Jahren
So etwas ist nicht leicht beschreibbar.
Nein, da las ich in der Tat etwas
war mein Deutsch noch etwas porös
Anderes. In den folgenden Jahren
und brüchig, es musste sich erst neu
Versuchen Sie es bitte trotzdem.
hat mich Celan dann immer mehr
konsolidieren, und dies geschah mit
Plötzlich schien in dieser Sprache
beschäftigt. Um das zu erklären,
Hilfe von Winnetou I – indem ich mich
der Sehnsuchtsort auf, der mich
muss ich etwas weiter ausholen.
durch die ersten Seiten des dicken,
letztlich zum Schreiben brachte
Das wird Sie vielleicht wundern, aber
grünen Buchs kämpfte. Ich hatte
und auf eigentümliche Weise
ich glaube, es hat viel mit meiner
damals eine große Sehnsucht nach
inspirierte und beruhigte, auch
Folgeseite:
Umschlagmotiv
Karl
May, Der
Schatz im
Silbersee,
Band 36,
Karl-May-
Verlag,
Bamberg
1952.
eigenen Geschichte und meiner Zeit
in Teheran zu tun: Geboren wurde ich
in Prag, aber die ersten Jahre
verbrachte ich in Deutschland.
Zwischen meinem vierten und dem
16. Lebensjahr habe ich im Iran gelebt.
Bis zur 10. Klasse ging ich in Teheran
auf eine deutsche Schule. Eines
Tages, ich war neun Jahre alt, sagte
der deutschen Sprache: Sehnsucht
nach der Muttersprache, also nach
der Mutter und ihrer Sprache, denn
meine Eltern hatten sich getrennt.
Diese Sehnsucht schürten und
linderten die Karl-May-Bücher,
insbesondere solche wie Wurzelsepp
die Angst vorm Sprechen und
Formulieren nahm. Denn ich habe
mich damals im Deutschen nicht
wie selbstverständlich bewegt –
und ich würde fast sagen, bis heute
gibt es Momente, in welchen das
Verbindungsgefühl zum deutschen
Sprachraum abzureißen scheint.
Plötzlich ist etwas ganz und gar nicht
mein Vater: „Komm, wir besuchen
selbstverständlich in dieser Sprache
jetzt einen besonderen Ort, und ich
verankert. Trotz hoher Intensität
werde dir dort Bücher kaufen.“
und Verkopplung mit Gedächtnis,
Er fuhr mit mir zu einer deutschen
Intuition und Affekten, auch jetzt,
Buchhandlung im Herzen von Teheran,
wenn ich mit Ihnen spreche.
_26
Glauben Sie, dass das Celan ähnlich
Was hat Sie verschreckt?
58_59
Diese Zittrigkeit, diese subtile, latente
Wenn ich seine Gedichte lese, dann
ergangen ist? Er wuchs ja auch mit
Ihre Sprache schien mir fern,
Anwesenheit des Erlebten, des
spüre ich dieses drohende Hinter-
mehreren Sprachen auf.
manchmal zu monolithisch aufragend,
Gebrochenen, ich würde sagen, das
grundrauschen sehr stark. Und ich
Ja – bei ihm spüre ich immer diese
am Ende unerreichbar. Es fehlte mir
war etwas, das für mich persönlich ein
spüre auf der anderen Seite auch
Beunruhigung und dieses Sprechen
ein sicheres Gefühl von Zugehörigkeit
Berührungsmoment geschaffen hat
eine existenzielle Notwendigkeit, ein
ins Offene hinein, gerade das hat
oder möglicher Identifikation, wenn
mit Celans Sprache.
immenses Vertrauen in Sprache per
mir damals irgendwie Mut gemacht,
ich sie las. Das fiel mir bei Celan
se, das diese Gedichte trägt. Den Sog
selbst zu dichten und zu schreiben
wesentlich leichter. Bei ihm verwob
Die meisten, die Celans erstes Buch
einer Berufung.
– aber nicht im epigonalen Sinn, nicht
sich Ferne mit zunehmender Nähe.
Mohn und Gedächtnis lesen, das
dass ich versucht hätte, Celans
auch die berühmte Todesfuge enthält,
Glauben Sie, dass Sie Celans
Ton nachzuahmen. Er hat mir eher
Hat für Sie dabei auch das Politische
achten auf das Politische, dann auf
Gedichte heute grundsätzlich anders
Zutrauen gegeben: das Gefühl,
eine Rolle gespielt? Also der Bezug
den besonderen Klang, den Sound
lesen als vor 30 oder 40 Jahren?
etwas wagen zu können.
auf Auschwitz, der für Celans
dieser Verse, dann auch auf die
Interessieren Sie heute andere Dinge
Dichtung essenziell ist. Oder war dies
Liebesgedichte, die legendäre Affäre
an ihnen?
War das für Sie auch ein Aufbruch
für Sie anfangs gar nicht so wichtig?
mit Ingeborg Bachmann im Hinter-
Nicht unbedingt. Wie die meisten
ins Mehrdeutige, in das, was nicht
Die Shoah im engeren Sinn stand für
kopf – doch viel präsenter ist in dem
habe ich manchmal gedacht, Celans
eindimensional zu verstehen ist?
mich damals nicht im Vordergrund.
Buch, wenn man genauer schaut,
frühe Gedichte, gerade jene aus
Ist es das, was Sie mit Sprechen ins
Es war eher das Moment des Verlustes
der Verlust der Mutter. Dieser Verlust
Mohn und Gedächtnis, gehörten zu
Offene meinen?
– und des Erinnerns an die Mutter.
ist sozusagen grundlegend. Wahr-
seinen verständlicheren. Doch das
Einerseits ins Mehrdeutige. Andrer-
Das hat wiederum viel mit meiner
scheinlich haben Sie dies viel stärker
ist auch nur eine vermeintliche
seits dreht es sich darum, ein Ich erst
eigenen Mutter zu tun. Meine Mutter
gespürt als die meisten Leser.
Verständlichkeit, und auf Verständlich-
im Prozess des Schreibens entstehen,
war in gewisser Hinsicht ein Opfer
Vermutlich war das wirklich so.
keit kommt es mir nicht unbedingt an,
Form annehmen oder erahnbar werden
des Stalinismus: Als junge Frau war
Wenn man das psychoanalytisch
wenn ich Celan lese. Mich interessiert
zu lassen – so ähnlich hat es Celan
sie einige Jahre im Prager Militär-
ausdrücken wollte: auch der Verlust
eher das Wurzelwerk, der Subtext,
einmal beschrieben. Das ist für mich
gefängnis inhaftiert, und letztlich ist
der Umgebungs-Mutter, die Erfah-
der in sie hineingewoben ist. Auf
bis heute ein wichtiges Moment.
sie als schwer gezeichneter Mensch
rung, im deutschen Sprachraum
diese Weise war Celan für mich nie
Oder anders gesagt: Ich hatte das
aus dieser Haft entlassen worden.
nicht endgültig ankommen zu können.
hermetisch, auch nicht in seinen
Gefühl, dass es mir mit Hilfe von
Sie konnte sich zunächst nicht einmal
Ich denke dabei an den Psycho-
späten Gedichten. Ich empfinde ihn
Celan weitaus leichter fiel, in der
an ihren eigenen Namen erinnern.
analytiker Donald Winnicott: dass die
nicht als hermetisch. Es gibt bei ihm
deutschen Sprache zu sein, als mit
Diese brüchige Lebenskraft kam trotz
Einheit nicht das Individuum ist,
dieses Herantasten an den Saum
anderen Autoren, die mich eher
hoher sinnlicher Wärme in ihrer
also der Schwerpunkt des Seins nicht
des Verstehens, dieses Ausloten von
verschreckt haben.
Sprache zum Ausdruck. So habe ich
im Individuum liegt. Celan wurde
Rändern, wieder und wieder, diese
von ihr als erstes dieses sich immer
angefeindet, aber er hatte auch
Bewegungen an jener dünnen Linie,
wieder leicht entrückte, eher weiche
etwas Paranoides, sein Leben lang.
an der das Verstehen gerade beginnen
Deutsch gelernt. – Und dann kam
Vielleicht als abgewehrte Angst
könnte. Und das ist etwas, was ich
die Entfernung zu ihr. Ich bin ja mit
vor dem Zusammenbruch.
schon bei meiner ersten Lektüre
meinem Vater nach Persien gezogen
gespürt habe. Ich lese diese Gedichte
– gleichzeitig blieb ich meiner Mutter
immer wieder, und oft ist es wie eine
verbunden, auch dem besonderen,
Art Heimkehr, ein Heimkehr-Moment.
selbstvergessenen Klang ihres
Für mich habe ich das einmal als
Sprechens, mit einem leichten
Ausschauhalten nach mir selbst be-
tschechischen Akzent und einem
schrieben: Ich halte Ausschau nach
gewissen Zittern in der Stimme.
mir, und sehe, bis wohin ich mich
sozusagen vorausschicken kann.
Und irgendwo dort, ganz am Rand,
erlebe ich etwas wie Heimkehr.
Am Saum. Und das berührt völlig
unsentimental auch die Kindheit und
Karl May, diese Winnetou- und
Wurzelsepp-Geschichten, die ich in
Teheran gelesen habe, in dieser
dauerdröhnenden Millionenmetropole.
Die dünnen Seiten der Karl-May-
Bücher in der staubigen Luft, das
Knisterrascheln des rasch vergilbten
Papiers in der betäubenden Nachmittagshitze
– das sind diese Linien,
die sich fortsetzen bis zu den offenen
Enden im Freien, weit draußen.
Das ist eine der scheinbar leisen
Maßlosigkeiten, die mich beim
Schreiben immer wieder antreiben.
Und wenn ich Celan lese, erlebe ich
tatsächlich etwas Ähnliches.
Gibt es andere Dichter, mit denen es
Ihnen genauso geht, die Sie so
ähnlich erwischt oder abgeholt haben?
Hölderlin auf jeden Fall, wobei ich
zugeben muss, dass ich nicht genau
weiß, warum. Ich könnte versuchen,
es zu verstehen, werde aber wohl
wissend nie an wesentliche Punkte
kommen. So wie auch bei Celan.
Glücklicherweise nähert und entzieht
es sich wie asymptotisch. Man kann
nichts festklopfen und raunen: Das ist
es jetzt. Es ist eher eine Form des
existenziellen, retardierten Erwischt-
Werdens, auf verschiedenen Ebenen,
das reicht von der fiktionalen Selbstdeutung
bis ins Implizite. Es gibt für
mich nur wenige Dichter, die so etwas
bewirken können. Trakl würde ich
noch nennen wollen. Etwas Ähnliches
habe ich beispielsweise auch bei
Paul Éluard erlebt, bei Basho oder bei
Andrea Zanzotto.
60_61
Und Peter Huchel? 2018 wurden Sie
für Ihren Band Wolkenflug spielt
Zerreißprobe mit dem Peter-Huchel-
Preis ausgezeichnet, der vom SWR
und dem Land Baden-Württemberg
verliehen wird.
Nun, zwischen Huchel und Celan
liegen für mich Welten. Von Huchel
gibt es einige Gedichte, die ich
sehr mag und die ich für mich
wiederentdeckt habe, als ich mich
durch den Preis neu mit ihm
beschäftigte. Aber bei Huchel – ich
muss jetzt aufpassen, dass das
nicht missverständlich klingt, denn
ich meine das in keinster Weise
abwertend oder stigmatisierend –,
bei Huchel begegne ich doch
immer wieder einer sehr deutschen
Dichtung. Vielleicht berührt sie
Punkte, zu denen ich mich nicht auf
Distanz halten sollte.
Gibt es eine Frage, die Sie Paul Celan
gern gestellt hätten, wenn Sie ihn
hätten treffen können?
Ein gemeinsames, mit vielen Fragen
verknüpftes Thema hätte vielleicht der
Prozess des Denkens und Dichtens
im Zwischen sein können, dort,
wo ein Ich stets aufs Neue sich zu
konstituieren und zu erscheinen
versucht, intra- und interkulturell,
mit mehrschichtigem Ineinandergreifen
von Eigenwelt- und Fremdheitserfahrung,
auch Anerkennung
und Ablehnung.
ie erzählen
ir heute
on Afrika?
elche
eschichten
nd Mythen
etreffen
62_63
Antworten von Oladipo Agboluaje,
Folgeseiten:
Der Soziologe
Norbert
Elias Anfang
der 1960er-
Jahre in
Ghana.
Julia Augart, Jennifer Nansubuga Makumbi,
Nelson Mlambo, Rémy Ngamije,
Sylvia Schlettwein, Annette Bühler-Dietrich,
Ildevert Méda, Sami Tchak, Nuruddin Farah
Oladipo Agboluaje: Wer bin ich? Was
66_67
Klischees reduziert. Aus meiner Sicht
(Literatur, die sich mit dem Klima-
ist für mich ‚Afrika‘? Diese Fragen
bietet jedes afrikanische Land seine
wandel auseinandersetzt) in der
verlangen, dass ich ein Narrativ aus
eigene, einzigartige multikulturelle
afrikanischen Literatur.
Fragmenten erstelle, die sich zeitlich
und mehrsprachige Landschaft,
und räumlich immer wieder neu
die ich unter anderem durch seine
Rémy Ngamije: Ich bin ein in Ruanda
zusammensetzen. Ich weiß, dass ich
vielfältige Literatur erforsche.
geborener namibischer Schriftsteller
Oladipo Agboluaje bin, ein Dramatiker
und Fotograf. Mein Debütroman
und Universitätstutor. Ich habe in
Jennifer Nansubuga Makumbi: Ich
The Eternal Audience Of One erscheint
Nigeria und im Vereinigten Königreich
bin eine Schriftstellerin aus Uganda.
demnächst bei Scout Press. Ich
gelebt. Ich bezeichne mich selbst als
Mein erstes Buch, Kintu, ist ein
schreibe Texte für brainwavez.org,
„British-Nigerian“. Ich wurde einmal
historischer Roman. Das zweite ist
eine Schriftstellervereinigung in
von Kollegen aus Sierra Leone
eine Sammlung von Kurzgeschichten
Südafrika, und ich bin der Chef-
gefragt, warum ich einen Bindestrich
aus der Zeit der Diaspora, Manchester
redakteur von Doek!, Namibias erster
verwende, um meine Identität zu
Happened. Mein drittes, The First
Literaturzeitschrift. Meine Kurz-
beschreiben. Als Antwort zitierte ich
Woman, ist ein feministischer Roman
geschichten sind in verschiedenen
Tennyson: „Ich bin ein Teil von allen,
und erscheint dieses Jahr. Afrika ist
Journalen veröffentlicht worden, unter
denen ich begegnet bin.“ Ich verstehe
Zuhause. Es ist ein Ort der Liebe, der
anderem in Litro Magazine, AFREADA,
mich selbst als Afrikaner, aber ich
Schönheit, des Essens, der Musik, des
The Johannesburg Review of Books,
bin nigerianischer Staatsangehöriger
Tanzes, der Fantasie und der großen
The Amistad, The Kalahari Review,
und gehöre dem Volk der Yoruba an.
Familien. Aber es ist auch ein Ort
American Chordata, Doek!, Azure,
Meine Heimatstadt ist Oyo im
des Schmerzes, der Absurditäten, der
Sultan’s Seal, Columbia Journal und
Westen Nigerias. Ich glaube an den
Verschwendung und der schieren
New Contrast. 2020 war ich Longlist-
Panafrikanismus und daran, dass
Frustration. Afrika wurde von Nicht-
Kandidat für den Afritondo Short
Afrikanerinnen und Afrikaner sich
Afrikanern falsch beschrieben, falsch
Story Prize; 2019 wurde ich für den
vereinen müssen, um ein Afrika frei
dargestellt und falsch verstanden.
Best Original Fiction Preis von Stack
von seiner kolonialen Vergangenheit
Magazines nominiert. Weitere
und der Geschichte der Sklaverei zu
Nelson Mlambo: Ich bin Dozent im
Informationen zu meinem Werk finden
erschaffen. Dieses Afrika, das ich mir
Fachbereich ‚Sprache und Literatur-
Sie auf meiner Webseite: remythequill.
wünsche, ist keine Utopie, sondern
wissenschaft‘ in der Abteilung
com. Was Afrika für mich bedeutet?
eine Notwendigkeit. Daher verstehe
‚Englisch‘ an der University
Es gibt keine einfache Antwort
ich Afrika als Entstehungsprozess.
of Namibia, wo ich mit Freude Vor-
auf diese Frage, weil sich diese
lesungen zu afrikanischer, süd-
Bedeutung von Tag zu Tag, manchmal
Julia Augart: Ich bin Lektorin an
afrikanischer und namibischer
von Stunde zu Stunde verändert.
der University of Namibia und lehre
Literatur halte. Afrika steht für mich
Für mich persönlich, und ganz einfach
dort deutsche Sprache und Literatur.
für die Vitalität der Bevölkerung, die
gedacht, bedeutet es zunächst nur:
Afrika ist einer der vielfältigsten
kulturelle Vielfalt und Kontraste, für
Zuhause. Aber selbst das ist eine
und aufregendsten Kontinente für
den Regenbogenkontinent, auf dem
umstrittene Bezeichnung. Trotzdem
mich, der leider häufig auf Afrika
verschiedene Völker zusammen leben,
ist es das für mich: Zuhause – ein Ort,
reduziert wird. Seine Vielfältigkeit und
für Ubuntu-Philosophie und vor
an dem ich geschützt und sicher bin.
Komplexität werden meistens
allem für die Widerstandsfähigkeit
Der Ort, an dem ich geboren wurde,
ignoriert und in den Medien auf Bilder
der Bevölkerung. Mich faszinieren
von dem ich stamme und an
von Armut und Kriminalität und in
auch Darstellungen und Kritik
den ich zurückkehre. Dies alles sind
Romanen und Filmen auf romantische
an Afro-Euphorie und Afro-cli-fi
offensichtlich nebulöse und sich
verändernde Konzepte, aber wenn sie
2010 zum ersten Mal für einen Lehr-
68_69
werden. Leider beobachte ich, dass
ähneln. Afrika ist mein Kontinent,
sich einer eindeutigen Erklärung
aufenthalt hinreiste, wollte ich für
Afrika sich seines eigenen Wertes
aber erst in den Büchern, viele davon
und Kategorisierung entziehen, dann
mich eine Beziehung zwischen
nicht immer bewusst ist; es scheint
von Europäern verfasst, habe ich
nur, weil sie dem Konzept gleichen,
der postkolonialen Theorie und dem
ständig den Positionen der anderen
gelernt, es ein bisschen kennen-
das sie zu erklären versuchen – Afrika
Leben vor Ort herstellen, einem
Kontinente hinterherzulaufen, ohne
zulernen. Meine zahlreichen Reisen in
ist mehr als eine Landmasse, mehr
Leben, dem ich ohne vorgefasste
darüber nachzudenken, welchen Preis
mindestens 20 afrikanische Länder
als seine Bevölkerung. Es befindet
Bilder zu begegnen versuchte.
es dafür zahlt: den Verlust seiner
haben mir weitere Eindrücke
sich ständig in Bewegung und im
In Ouagadougou traf ich auf eine
Menschlichkeit. Deshalb glaube ich,
geschenkt. Afrika ist der Kontinent,
Fortschritt. Eben das ist es, was für
pulsierende Theaterszene und auf
dass ich und andere Künstler und
von dem ich komme, aber bis zum
mich ‚Zuhause‘ bedeutet, und auch,
Studierende der Germanistik, die
Künstlerinnen durch unsere Kunst
Ende meines Lebens wird es für mich
was Afrika für mich bedeutet.
den Wissensaustausch suchten.
dazu beitragen können, dass Afrika
eine Realität sein, die ich nur in
,Afrika‘ ist für mich ein fortdauernder
sich mancher seiner eigenen Werte
Bruchstücken kennen werde. Folglich
Sylvia Schlettwein: Ich bin eine
Lernprozess, in dem ich Traditionen,
bewusst wird.
werde ich nicht sagen „bei uns in
namibische Schriftstellerin
Rituale, Sprachen und Codes zu
Afrika“. Selbst mein kleines Dorf ist
und Übersetzerin, die derzeit ihren
verstehen suche und Wissensformen
Sami Tchak: Sami Tchak ist ein
von einer großen Komplexität, und ich
Unterhalt als Deutsch- und
und Werte mit Freunden, Künstlern,
Pseudonym für Sadamba Tcha-Koura.
bräuchte ein ganzes Leben, um zu
Französischlehrerin verdient. Meine
Kollegen und Studierenden verhandle.
Ich wurde 1960 in Togo geboren,
versuchen, sie zu verstehen.
Muttersprache ist Deutsch, und
Burkina Faso ist für mich auch ein
erwarb dort meine Licence in Philo-
ich schreibe auf Englisch, Deutsch
Zuhause.
sophie und verteidigte 1993 meine
Nuruddin Farah: Ich wurde in Baidoa,
und Afrikaans. Namibia, das sich
Dissertation in Soziologie an
Somalia, geboren und bin in Äthiopien
auf dem afrikanischen Kontinent be-
Ildevert Méda: Ich bin Künstler,
der Universität Sorbonne-Paris V.
und danach in Somalia zur Schule
findet, ist das Land, in dem ich
Dramatiker, Bühnenregisseur und
Seit einigen Jahren widme ich
gegangen, habe in Indien und England
geboren wurde und aufgewachsen
Schauspieler. Ich bin der Direktor
mich dem Schreiben. Zu meinen
studiert. Ich bin der Verfasser
bin, in dem ich den größten Teil
einer kleinen Theatergruppe namens
Veröffentlichungen gehören Place des
mehrerer Theaterstücke und Romane,
meines Lebens verbracht habe und
théatr’Evasion, die ich 1996 gegründet
Fêtes (2001; dt. Scheiß Leben, 2004)
lebe in Kapstadt und lehre im Herbst-
in dem ich schreibe. Namibia/Afrika
habe. Heutzutage biete ich vor allem
Hermina (2003), La fête des masques
semester am Bard College in Upstate
ist Zuhause, Familie, Inspiration und
Bezugspunkt. Ich schreibe vielleicht
nicht immer über Afrika, aber ich
schreibe immer in und aus Afrika.
Annette Bühler-Dietrich: Ich bin
außerplanmäßige Professorin für
Neuere deutsche Literatur an der
Universität Stuttgart und unterrichte
unter anderem Seminare zu
Kolonialliteratur, Migration und
dekolonialer Theorie. Seit 2010 lehre
Workshops an, in denen ich Dramatik,
Schauspiel und Bühneninszenierung
lehre. Die Regierung von Burkina Faso
bittet mich oft darum, an Projekten
zur Lehre von Kunst und Kultur an
Schulen mitzuwirken. Afrika steht für
mich für die Zukunft der Menschheit.
Deswegen habe ich mich dafür
entschieden, hier in Afrika zu leben
und meine Arbeit weiter zu entwickeln.
Wenn ich beobachte, was in
der Welt vor sich geht, fällt mir auf,
(2004), Le paradis des Chiots (2006),
Filles de Mexico (2008). Al Capone le
Malien (2011), La couleur de l’écrivain
(2014), Ainsi parlait mon père (2018),
Les fables du moineau (2020). Seit 1986
lebe ich in Frankreich. Afrika, dieser
Kontinent, auf dem sich mein Land,
Togo, befindet, ist für mich eine
Selbstverständlichkeit, aber auch der
Ort meiner vielfachen Unkenntnis.
Eine Selbstverständlichkeit, weil ich
Afrikaner bin, weil ich von diesem
New York. Mein ganzes Leben
lang habe ich in Afrika gelebt, weil
ich die Geräusche, die Gerüche, die
Menschen, alles an Afrika tröstlich
finde und ich mich inspiriert fühle
und besser schreibe als auf jedem
anderen Kontinent.
Folgeseiten:
Noch nicht
Covid-19
geschuldet,
sondern
Alexander
Kluges
Reisevorsicht:
unsere
allererste
Videokonferenzveranstaltung
Anfang
Februar
2020.
ich auch an der Université Ouaga I
dass die ständige Suche nach der
Kontinent herstamme. Ort meiner
Joseph Ki-Zerbo, Burkina Faso, und
Anhäufung von materiellen Werten
vielfachen Unkenntnis, weil es ein
übersetze Theaterstücke aus dem
und nach Selbstermächtigung
riesiger Kontinent mit 56 Staaten und
Französischen. Von 2012 bis 2018 habe
dazu führt, dass menschliche Werte
Hunderten von Völkern ist, deren
ich in Burkina Faso gelebt. Als ich
verloren gehen oder vergessen
Kulturen sich nicht in allen Punkten
_40
esen! Deep,
kim, disant,
close,
icro, macro,
ide, scalale,
slow,
ast?
72_73
Im Juni hätte in Marbach auch
die Jahreskonferenz der American
Friends of Marbach (AFM) stattfinden
sollen. Das Thema: Lesen
und Leseforschung. Wir haben
stattdessen allen Teilnehmerinnen
und Teilnehmern unseren Lektüre-
Fragebogen zugeschickt, mit
dem wir in Kooperation mit dem
Leibniz-Institut für Wissensmedien
Tübingen im Rahmen des Netz-
werks ,Literarische Erfahrung‘
das Leseverhalten in der digitalen
Welt besser verstehen möchten.
74_75
Welcher
Lesertyp
sind Sie?
Wie würden
Sie Ihre
Art zu
lesen beschreiben?
Gail Finney (University of California,
Davis): Ich lese (aus Vergnügen)
hauptsächlich auf dem feststehenden
Fahrrad im Fitness-Club und vor
dem Schlafengehen.
Kathrin Seidl (Brandeis University):
Zweckorientiert. Wenn es mir keinen
Genuss bereitet und auch keine für
mich relevanten Informationen
enthält, betrachte ich das Lesen als
einen Raub meiner mir kostbaren Zeit.
Sebastian Wogenstein (University
of Connecticut): Ich lese sowohl aus
professionellen Gründen als auch
sehr gern zum Vergnügen.
Sarah McGaughey (Dickinson
College): Bei der Arbeit lese ich
hauptsächlich deutsche und englische
Romane aus dem frühen 20.
Jahrhundert und seit den 1990ern.
Zur Unterhaltung lese ich meistens
Romane, die meine Mutter auf ihren
Kindle lädt. Gedichte lese ich ab und
zu und dann meistens im Internet.
Hal H. Rennert (University of Florida):
Allgemein würde ich meine Art
zu lesen als verbindlich (wissenschaftlich)
im Gegensatz zu unverbindlich
(zum Vergnügen) bezeichnen.
Ich redigiere, exzerpiere, kopiere,
übersetze, mache also meist etwas
aus dem Text, den ich lese.
Meike Werner (Vanderbilt University):
Gewohnheitsleser schon aus
professionellen Gründen, Genussleser
und gelegentlich Stressleser,
um abzuschalten, auf andere
Gedanken zu kommen.
Rainer Rumold (Northwestern
University): Professioneller
Leser von zeitkritischen Texten.
John McCarthy (Vanderbilt
University): Ich bin ein eklektischer
Leser. Hauptsächlich Erzählliteratur
und Essayistisches. Ich lese genau
und langsam, auf Inhalt, Stil und
Bedeutungsnuancen achtend.
Z.B. literarisch bedeutsame Werke
wie Madame Bovary, Anna Karenina,
Die Blechtrommel, A Room of
One’s Own, Agathon und Don Sylvio.
Diese Art von Lektüreverhalten
wurde an Wieland früh geschult.
Patrizia C. McBride (Director,
Institute for German Cultural
Studies, Cornell University, Ithaca):
Im Allgemeinen neige ich zum
langsamen Lesen, vor allem bei
gedruckten Texten. Meine Lesegewohnheiten
sind auch durch die
Materialität des Mediums bedingt.
Eine E-Mail etwa will ich nicht lange
lesen und werde schnell ungeduldig.
Lesen ist Teil der Sozialisation, und
mein Leseverhalten wurde von meinen
Erfahrungen und Erwartungen mit
Büchern tief geprägt. Es ist nicht so,
als wäre das Bildschirmlesen
umständlicher an sich, sondern für
mich hat es nicht den Charakter des
richtigen, genussvollen Lesens.
Rachel Halverson (College of Letters,
Arts and Social Sciences, Moscow):
Ich sehe mich als eine ,Meditationsleserin‘,
die sich in Texte aller Art
vertieft und sich auf das Lesen
so konzentriert, dass die Welt um
sie herum verschwindet.
Stephen Dowden (Brandeis
University): Ich lese von morgens
früh bis mittags, wenn es möglich ist.
Selten abends.
Judith Ryan (Harvard University):
Seit frühester Kindheit bin ich
eine unersättliche Leserin. Ich habe
mir mit drei Jahren das Lesen
beigebracht. Ich lese viel und schnell
und mag viele Gattungen und Themen.
Wann versinken
Sie
in einem
Buch?
Gail Finney: Wenn es spannend wird.
Kathrin Seidl: Wenn ich es nicht
lesen muss! D.h. wenn ich keine
Informationen extrahieren muss,
sondern einfach das Lesen seiner
selbst wegen GENIESSEN darf.
Sebastian Wogenstein:
Rachel Halverson: Am Abend, bevor
76_77
gerne Krimis. Aber da werden die
Wenn es gut geschrieben ist.
ich einschlafe.
Gewalttätigen meistens zur
Sarah McGaughey: Wenn
Stephen Dowden: Das geschieht
Rechenschaft gezogen. Reiche
es unterhaltsam ist. Krimis,
fast nie mehr. Das Versinken ist eher
Figuren mit viel Selbstmitleid kann
Jugendbücher wie Tschick, Harry
eine Kindheitserinnerung.
ich nicht leiden. So à la Bret Easton
Potter, Hunger Games zählen
Judith Ryan: Das hat viel mit dem
Elli’s Rules of Attraction. Und
meiner Meinung nach zu solchen
Stil zu tun. Ein unbeholfener Stil
alles, was sprachlich und inhaltlich
Romanen, die zum Versinken sind.
macht es mir unmöglich, in das Buch
schlecht geschrieben ist.
Rainer Rumold: Wenn es sprachlich
zu versinken.
Rainer Rumold: Nach einem Zuviel
packend ist.
an Eigenanalyse.
Hal H. Rennert: Ich habe drei Stellen
Hal H. Rennert: Ich habe eine
im Haus, wo ich buchstäblich in einem
Korbsessel versinke. Ich lese nie
im Bett, weil ich mir verboten habe,
beim Lesen einzuschlafen. Ein Buch
ist doch kein Schlafmittel! Und beim
Notizenmachen setze ich mich immer
an einen Tisch. Bin ich überhaupt
schon mal beim Lesen versunken?
Vielleicht als Elfjähriger bei Karl Mays
Winnetou.
Meike Werner: Packendes Problem
oder packende Story, gut geschrieben,
zum Nachdenken, Weiterdenken
anregend.
John McCarthy: Selten. Wenn die
Handlung spannend und verwickelt
ist, dann schon. Goethes Werther,
Schillers Die Räuber und Wielands
Don Sylvio von Rosalva haben mich
jeweils auf andere Art und Weise
gefesselt.
Patricia McBride: So richtig in einem
Buch versinken, das passiert leider
nicht oft genug. Selbst bei meinem
Beruf – oder vielleicht deswegen. Bei
mir heißt, in ein Buch zu versinken das
Gleiche, wie nicht auf die Zeit achten
zu müssen. Spätabends passiert
es mir manchmal. Eine wichtige
Auf den
Folgeseiten:
Scherenschnitte
von Luise
Duttenhofer
mit Lesetypen
und
Leseszenen
um 1800.
Wann
legen
Sie ein
Buch aus
anderen
Gründen
als Müdigkeit
und Zeitmangel
beiseite?
Gail Finney: Wenn es trocken wird.
Sebastian Wogenstein: Wenn ich es
nicht interessant oder ergiebig finde.
Sarah McGaughey: Fast nie. Aber
meistens, wenn eine Hauptfigur
Sammlung von etwa 300 kleinen
Reclam-Heften, die ich für wenig Geld
beim Ausverkauf eines Buchladens
vor etwa 30 Jahren gekauft habe.
Da ist deutsche Literatur dabei, die
nie auf meinen Literaturleselisten
der Uni stand: Hans Sachs z.B. und
noch ältere Texte aus dem Mittelalter.
Wenn ich so ein Büchlein entdecke,
lege ich es gern beiseite.
Meike Werner: Wenn mir die Zeit zum
Weiterlesen fehlt.
John A. McCarthy: Wenn es zu oft zu
Wiederholungen kommt und ich das
Gefühl habe, das Argument wird
nicht vorangetrieben und die gleichen
Empfindungen werden immer wieder
durchgewühlt, wenn neue Horizonte
nur langsam geöffnet werden.
Stephen Dowden: Mit Vorliebe lese
ich viele Bücher kurz – etwa je eine
halbe Stunde, alle nacheinander.
Judith Ryan: Fast nie: Meistens mache
ich einen ernsthaften Versuch, das
Buch zu Ende zu lesen, auch wenn es
mir nicht gefällt.
Bedingung ist dabei, dass das Lesen
nicht nur unsympathisch, sondern
um des Lesens willen geschieht.
willkürlich und gewalttätig ist. Was ja
nicht ganz stimmt, denn ich lese so
78_79
edruckt
der
-Book –
elchen
nterchied
ehen Sie?
Gail Finney: Ich lese so weit wie
möglich nur gedruckte Bücher.
Bei E-Books fällt es mir schwer,
mich zu konzentrieren.
Kathrin Seidl: Gedruckt ist schöner:
ein taktiles Erlebnis, Lesen mit
allen Sinnen.
Sebastian Wogenstein: Ich kann
mich in gedruckten Büchern besser
orientieren, sehe aber v.a. in der
globalen und sofortigen Verfügbarkeit
von E-Büchern große Vorteile.
Sarah McGaughey: Ich bevorzuge
gedruckt, aber E-Books sind praktisch,
wenn 1) man eine Mutter hat, die
viele Kindle-Bücher kauft und 2)
wenn ich unterwegs bin.
Meike Werner: E-Books lese ich nur
zu Forschungszwecken, sprich,
wenn Texte nicht oder nur schwer
gedruckt verfügbar sind.
John A. McCarthy: Im gedruckten
Buch kann man jederzeit nachschlagen
und hin und her blättern,
Stellen mit den Fingern zum
Vergleichen festhalten. Das Tastgefühl
fehlt im digitalen Raum.
Patrizia McBride: Bücher sind
für mich gedruckt. E-Books fehlt
die materielle Eingrenzung, die
„boundedness“, aber auch das
materielle Gewicht und der
immaterielle Wert. Mir scheinen
sie weniger Substanz zu haben.
Aber ich schätze an ihnen, dass
sie ‚portable‘ sind und man mit
dem Inhalt anders umgehen kann,
z.B. durch gezieltes Suchen.
Stephen Dowden: E-Books besitzt
man nicht, man leiht sie gegen Geld.
Judith Ryan: Wenn es sein muss
(z.B. wenn ich das gedruckte Buch
nicht bekommen kann oder wenn es
eher um Information und nicht so
sehr um literarische Qualität geht),
lese ich auch E-Books.
Möchten auch Sie auf
unsere Fragen antworten?
Wir freuen uns darüber
und sammeln sie unter
dieser Adresse:
presse@dla-marbach.de
80_81
habe ich doppelt so viele Romane
gelesen, wie ich es normalerweise
im Semester tue.
Hal H. Rennert: Das letzte Treffen
der Deutschstundeteilnehmer bei mir
zu Hause war Anfang März. Seitdem
machen wir leidlich online weiter. Mir
fehlt regelrecht der Lektüre-Rahmen.
Meike Werner: Erstaunlicherweise
nicht wirklich.
John A. McCarthy: Klar. Ich habe mehr
Zeit zum Lesen und Nachdenken.
Patrizia McBride: Nein, leider, weil ich
von zu Hause arbeite. Ich habe sogar
weniger Freizeit zum Lesen als sonst.
Rachel Halverson: Ich vermeide
Bücher, die bestimmte Themen
(Arbeitslosigkeit, Tod, Weltende)
behandeln. Durch das Lesen möchte
ich eine Pause vom ,Pandemiestress‘.
Judith Ryan: Um überhaupt noch
verändert?
forschen zu können, musste ich mehr
auf E-Books zurückgreifen und auch
mehr gebrauchte Bücher kaufen.
Hat sich
durch die
Maßnahmen
zur
Eindämmung
von
Covid-19
Ihr Leseverhalten
Gail Finney: Ja, weil man nicht mehr
zum Fitness-Club gehen kann.
Kathrin Seidl: Ich verbringe insgesamt
mehr Zeit vor dem Computer, daher
lese ich auch mehr online.
Sebastian Wogenstein: Ja, sehr,
aus Zeitgründen. Ich habe ein Kind
im Kindergartenalter und eine
Zweitklässlerin rund um die Uhr zu
Hause und komme kaum noch
zum Arbeiten – geschweige denn
zum Lesen.
Sarah McGaughey: Ich lese viel mehr!
Ich habe wenig Platz, wo ich wohne,
ein Kind und viel am Computer zu tun.
Aber wenn ich abends Zeit habe, lese
ich: Seit dem Beginn des Lockdowns
Nachfolgende
Seiten:
Momentaufnahme
bei den 1:1
Konzerten im
Juni 2020
auf dem Balkon
des Schiller-
Nationalmuseums
mit
Susanne Wichmann
(Horn),
Kathrin Wipfler
(Violine)
und Christian
Teiber (Klarinette).
chiller
esen
Nachfolgende Seiten:
Besuchermitspielkärtchen
aus unserer Ausstellung
„Hegel und seine Freunde“,
die im September 2020
ins Goethe-Institut
Ljubljana weiterwandert
und dort von Hegels
slowenischen Freunden
ergänzt wird. In Marbach
haben 133 Besucher*innen
den Satz „Denken ist
für mich …“ ergänzt,
neun davon mit „Freiheit“,
fünf mit „anstrengend“,
vier mit „unabstellbar“.
Weitere Definitionen waren
u.a.: „Probehandeln“,
„leider viel zu selten“,
„eine sprudelnde Kettenreaktion
kleiner Männlein
in meinem Kopf“,
„Denken ist nicht links
und rechts, schwarz
oder weiß / Denken ist
mutig sein“, „Luxus“,
„nicht für Dich“.
84_85
Ergänzend zur Schillerrede 2020
am 8. November (auch hier geben
wir den Redner sowie Uhrzeit
und Ort rechtzeitig über unsere
Homepage und die Presse bekannt)
möchten wir Sie alle einladen,
zu Friedrich Schillers Geburtstag
am 10. November Ihre Gedanken
zu einem der berühmtesten
Schiller-Zitate mit dem Hashtag
#SchillerFreiSpiel online zu stellen:
„Um es endlich auf einmal herauszusagen,
der Mensch spielt nur,
wo er in voller Bedeutung des Worts
Mensch ist, und er ist nur da ganz
Mensch, wo er spielt.“ Schiller
schreibt das in seinen fünf Jahre
nach Ausbruch der Französischen
Revolution 1794 veröffentlichten
Briefen Über die ästhetische
Erziehung des Menschen. Aus seiner
Sicht macht uns die Kunst frei,
weil sie uns bewegt und verändert,
ohne dass wir die Balance verlieren.
Sie lehrt uns Geist, Seele und
Körper in Einklang zu bringen. Viele
der Objekte in Schillers Nachlass
thematisieren solche Bewegungsund
Gleichgewichtsübungen.
Aber: Wie sehen wir heute die
Zusammenhänge zwischen Spielen
und Freiheit, Individuum und
Demokratie?
Literatur
ewegt
esen
ernen
Auch die für Dezember 2020
geplante Fortsetzung unseres
Ausstellungsprojekts
#LiteraturBewegt (gefördert
von der Kulturstiftung des
Bundes und dem Ministerium
für Wissenschaft, Forschung
und Kunst Baden-Württemberg),
in dem die Medienwechsel
der Literatur im Mittelpunkt
stehen , haben wir in den
Herbst 2021 verschoben. Daher
noch einmal zurück zum Lesen:
Was geschieht mit unserem
Körper, wenn wir Lesen lernen?
Das haben wir die Essayistin
und Literaturwissenschaftlerin
Hannelore Schlaffer gefragt:
Folgeseiten:
Psyche und
Pegasus.
Testaufbau
für Luise
Duttenhofers
Leseszenen
im Literaturmuseum
der Moderne.
88_89
Es muss etwas passieren! Etwas
Unglaubliches! Übertreibung bis zur
Unwahrscheinlichkeit ist ein erprobtes
Mittel, das Furchtbare zu bannen,
damit es das Schöne werde. Das
Schreckliche ins Schöne zu übersetzen,
dazu reicht schon ein
bequemer Sessel. In Gemütlichkeit
versunken, wird alles Ungeheuerliche,
von dem man gerade erfährt, harmlos.
Noch besser als der Sessel ist, falls
man ein Kind ist, die Hand des Vaters
oder der Mutter. So war denn auch
das erste Buch, das mir vorgelesen
wurde und dessen ich mich erinnere,
ein schönes. Und doch erschien es
mir, als ich es vierzig Jahre später aus
kritischer Distanz noch einmal selbst
las, als das erdenklich Bösartigste,
was man einem Kind vorsetzen kann:
Der Struwwelpeter. Sadismus in jedem
Wort – doch die Hand des Vaters
auf der Schulter war warm, und die
spöttische Stimme, mit der er las,
verkehrte den Barbarismus der
Geschichtchen in spaßige Wunder, in
Zauber, in Phantasie. So ließ sich
über all das, was Erziehungswut sich
an Grausamkeiten ausgedacht
hatte, lachen, schadenfroh, über die
brennenden Katzen wie über den
fliegenden Robert, der hieß wie mein
Bruder.
Die ästhetische Erziehung ist keine
moralische, wie Schiller meint. Sie
beginnt beim Kind, gar beim Kleinkind,
und von da an ist die Bedingung allen
ästhetischen Genusses Körperwärme.
Der Körper, der liest, muss sich seiner
sicher sein. Er muss wissen, dass er
das Auge nicht braucht, das wachsam
die Umwelt kontrolliert, weil er nicht
Diese Schwerelosigkeit, die süchtig
92_93
das nicht – ein Asyl, das nicht riecht,
andere Verbindung von Fiktion und
in Gefahr ist. Die Augen sind die
macht, beginnt mit dem gehörten Text,
nicht blendet, nicht dröhnt, nicht juckt,
Wirklichkeit fand, wie sie notwendig
einzig Gequälten beim Lesen. Je
mit der Erzählung des Vaters etwa,
nicht schmerzt. Wer an diese Welt
ist, damit Lesen Glaubenssache
monotoner die Welt, die vor ihnen liegt
zu dem das Kind am Morgen ins Bett
glaubt und in sie entflieht, nimmt an
bleibe und Glück bereitet. Die
– und was ist schon eine Buchseite
kriecht und auf fränkisch radebrecht:
Wundern so viel wie möglich in die
Wirklichkeit, in die das Gelesene nun
anderes als ein Gefängnis für das
„Rodkäbbchen sach!“ Hier genießt es
sinnliche Wirklichkeit mit, in die er
einging, war das Theater, ein realer
Auge –, desto freudiger arbeitet der
in der Morgenstunde die Sicherheit,
zurück-kehren muss. Beides, Flucht
Ort, an dem ich mein einsames
Geist, sich seine eigenen Welten,
die zum Lesen gehört. Nicht um etwas
und Rückkehr, wurden mir von diesen
Lesen in die Gesellschaft integrieren
auserlesene, zu erfinden. Schwer
zu lernen, sondern damit die Welt
Brüdern leicht gemacht. Der Tag war
konnte. Ich las Schiller, lernte Rollen
Büchersüchtige, die lebenslänglich
nicht ganz verloren gehe dabei – was
still und gut zum Lesen geeignet,
auswendig, war Karl Moor, Max
hinter diesen Buchstabengittern
ein wirklicher Schreck wäre – müssen
denn sie gingen zur Arbeit. An den
Piccolomini, Lady Milford – Frau oder
sitzen, kokettieren gern mit ihrer
Kinderbücher Bilder haben und der
Abenden und am Sonntag zelebrierte
Mann spielt in der Poesie keine
Begeisterung für die Schönheit des
Text eine Stimme, die des Erzählers
dann einer, der schöne Lieblings-
Rolle –, ging ins Theater und sah,
Buches, mit der Sensibilität, die die
oder Vorlesers. Zum Gefühl der
bruder, zusammen mit meinem Vater
dass es das, was ich einstudiert hatte,
Haptik des Einbandes erregt, mit
Sicherheit, die Lesen erst ermöglicht,
und mit mir die Rückkehr aus der
wirklich gab. Mit dem Besuch im
der Schönheit des Papiers – ich vor
gehört das Vertrauen, dass Welt
Bücherwelt in unser Wohnzimmer.
Theater war das Lesen zur sozialen
allem erinnere mich am liebsten an
und Körper trotz der entfliegenden
Ich las alle Bände von Karl May, derer
Erfahrung geworden, die mir die
das sogenannte Bibeldruckpapier,
Phantasie miteinander freundlich
ich habhaft werden konnte, der Bruder
Teilhabe an der Gesellschaft
das damals, eine kirchliche Tradition,
verbunden sind. Dies Gefühl
und mein Vater lasen mit, und so
garantierte. Über das Theater kann
das Buch kostbar machte. Das
verschafft im Erwachsenenalter die
war das Wohnzimmer ein Lager in
man reden, die Lektüre hingegen
Material ist jedoch nur eine Auf-
Tasse Kaffee, die die Lektüre irdisch
den Great Plains, wir waren Old
macht stumm, während man liest,
forderung, mit dem Phantasieren zu
bleiben lässt, oder die Zigarette.
Shatterhand, Winnetou, Nscho-tschi.
und meist auch danach. Zugleich
beginnen.
Nicht aus Geistes- und Gedanken-
Ich sprang vom Pferd, legte das Ohr
wird in Schillers Theaterstücken der
schwäche hebt man immer einmal
auf die Erde, um das Nahen feindlicher
Leser zum Spieler, der frei ist vom
Die ersten Bücher, die ein Kind
wieder den Blick vom Buch, steht auf
Stämme auszukundschaften, und
Alltag. Seine Bühne ist ein anderer,
kennenlernt, sind nichts als
und tut einige Schritte durch den
verbeugte mich mit dem roten Bruder
‚höherer‘ Ort.
Schachteln, in denen etwas versteckt
Raum, sondern aus dem Bedürfnis
vor unserem weißen Freund Old
ist, was die Stimme eines anderen
heraus nach Rückkehr in die Welt,
Shatterhand, dem Vater. Lesen nennt
zum Klingen bringt. Beim Vorlesen
die über der Unglaublichkeit der
man Bildung und fördert es bei
schon beginnt die Entlassung des
Erzählung doch nie oder nur von Irren
Jugendlichen, aber keine Spur war mir
Körpers, die Lesen erst eigentlich
ganz vergessen wird.
bewusst von dieser Pflicht, und von
zum Glück macht. Lesen ist ein Glück,
den wirklichen Verhältnissen in jenem
weil man, sobald man sich in ein Buch
Nun also aus dem Bett des Vaters in
Amerika, mit dem ich mich gerade
vertieft, ein Mensch ist ohne Leib.
den Sessel im Wohnzimmer, an
beschäftigte, hatte ich keine Ahnung,
Man unterliegt weder der Schwerkraft
dem von Zeit zu Zeit die vier Brüder
wusste nichts von der Verdrängung
noch den Gebrechen des Körpers.
vorbeikommen und sagen: „Ah! Die
der Indianer aus ihren Revieren, auf
Lesen ist eine Kraftentäußerung.
höhere Tochter liest schon wieder!“
die Karl May anspielt. Bildung ist ein
Nur wenn es zu lange währt, hat
Vier Brüder fördern das Lesen
emotionales und intellektuelles
einen die Erde wieder: Der Rücken
einer kleinen Schwester sehr. Man
Training, keine Wissensvermittlung.
schmerzt, die Schultern knarzen,
entkommt ihnen gottlob ins Buch
Begleitet vom Achselzucken der
die Augen brennen.
und dort in eine Welt, in die sie nicht
anderen drei Brüder, lief dieses
mitlaufen können – oder doch?
Spiel so vor sich hin und einige Zeit
Bücher sind – wer, der liest, wüsste
lang weiter, so lange, bis ich eine
schreibbmaschinengewehrchen
Pfauenaugenblick
antroposophenlila
Jubidubi
Nonstopcharakter
Versagersagen
Sonnenspelzen
Phantomliebe
Seniorenkrippe
Birkinnen
tomeihoda
pusteblumengrau
Unendlichkeitskino
verschwindibus
Silberseiberfaden
gedankenkrank
Karfreitagslaken
Freiheitsglucken
Kontaktanzeigentypen
Vielerleilieb
Frühstücksbacke
Abendschrieb
Kaltebauernfrühstücke
Nachmittagstigall
Erdenklumpatsch
sternengesalzen
Rosengrannen
Trickesoteriker
Wehmutsgequatsche
sorgengetrüffelt
Blechhorizont
Wimpernwäldchen
Monomanentreck
Quendelbarrikaden
Übersommer
Di-Da-Durchschnittskopp
Wunderhose
Bleistiftgesicht
Stratosphärensperma
Blütenrouladen
Einsiedlerfleisch
Sangsemal
Bewußtseinsboom
Unendlichkeitsfimmel
verjuchheeht
Nymphenfett
Aktienfladen
Feuerstreu
Konstantinopolitanischer.......dudelsackpfeifenmachergesellenrisikozulage
Fernsehkanalisation
Patentveilchen
Abendbold
ver-tam-dadam
Kripskraps
Wünschelnas
Sonnenmaische
Achillesvers
Tirilyrileier
Drehkipphimmel
Feenkot
Sommertinten
Tintentoga
Nichtikus
Herzhämorrhoid
Nervenwisch
Leidenssirup
Jambenbrot
Mistmelodie
Bewußtseinsblähung
düdelüdüt
Tagebuchhalter
Kunstlachsröten
Rüben-Nymphe
1.-Klasse-Einsamkeit
Nervenplankton
Schmierseifenhansel
Déjawuppdich
Schieschie
Höllenhefe
Gleichmachemaschine
Aufklappsterne
Maiengalle
Gelegenheitsschwein
Wohltäterätäter
Paradiesvogelschiß
Fundefeuer
Etruskerspitzmaus
Mondensud
ratze
patz
Rühmkorfs Nachlasspoesie
Peter
Rühmkorf
in seiner
Hamburger
Studentenbude,
um 1955.
Foto: Dieter
Heggemann
94_95
Der Nachlass von Peter Rühmkorf
beispielsweise mit der Lyrik von
96_97
Gibt es Dinge, die Sie heute noch
Erschließung kann man dort nun tat-
ist der größte Einzelnachlass im
Klopstock, Brockes und Claudius
ratlos machen oder staunen lassen
sächlich die Arbeit an den einzelnen
Deutschen Literaturarchiv. Über
auseinander. Die umfangreiche
oder ... ?
Strophen, die Verwandlung des
600 grüne Kästen mit Handschriften
Mediendokumentation belegt
Ratlos bin ich angesichts des immens
Textes verfolgen. Das ist einmalig. –
und Typoskripten gehören dazu
schließlich, dass Rühmkorf ein
umfangreichen (und gesperrten)
Rühmkorf war darüber hinaus ein
sowie seine Bibliothek mit 6.600
Dichter in der Öffentlichkeit war, mit
Tagebuchnachlasses – 30.000 hand-
großer Sammler, auch das muss
Bänden und 193 Tonkassetten in der
zahlreichen Auftritten auf Bühnen,
schriftliche Seiten! Nicht nur die
gezeigt werden, weil es mit seiner Art
Mediendokumentation. Wir haben
im Rundfunk und im Fernsehen –
manische Mitschrift des eigenen
zu schreiben zu tun hat. Hier haben
mit Susanne Fischer über diesen
,Jazz und Lyrik‘ war sein Metier;
Lebens erstaunt mich, auch die Idee
wir ebenfalls viele Nachlass-Objekte,
Nachlass und die Ausstellung
er brauchte sein Publikum. Und er
einer jahrzehntelangen Sperrung, die
die für sich allein ausstrahlen, ,nichts
Laß leuchten! – Peter Rühmkorf,
engagierte sich politisch, auch
aus den Notizen eine Art Flaschen-
Besonderes‘ zu sein, nur ein Stück
selbstredend und selbstreimend
das geht nur in der Öffentlichkeit.
post in die Zukunft werden lässt.
von vielen – und erst in einem Kontext
gesprochen. Susanne Fischer hat
Für wen? Oder hat sich Rühmkorf
zum Leuchten gebracht werden
die Ausstellung mitkuratiert und
Wie ist es, in diesem Riesen-
diese Frage gar nicht gestellt, sondern
können.
ist seit 2018 Geschäftsführender
nachlass und seinen rhizomartigen
nur gedacht: Für euch nicht, ihr
Vorstand der Arno Schmidt Stiftung,
Geflechten zu recherchieren?
sensationsgierigen Zeitgenossen?
Friedrich Forssman, der die Aus-
Bargfeld, deren langjährige Mit-
Wenn wir schon zu Pflanzen-
– Was mich immer noch rührt, sind
stellung mitkuratiert und gestaltet
arbeiterin und Geschäftsführerin
metaphern greifen, müsste es das
die Dokumente aus dem Nachlass
hat, wollte ,utopische Räume‘
sie zuvor war.
von Rühmkorf favorisierte Bild
der Mutter. Peter Rühmkorf wurde
entwerfen – Räume, die es real
des Schachtelhalms sein – so
unehelich geboren, seine Mutter
nicht gibt, imaginäre Räume.
Warum haben die Literatur und
empfand er selbst seine Arbeit,
war Dorfschullehrerin, sein Vater ein
Was sind Rühmkorfs Utopien?
ihre Überlieferung bei Rühmkorf
organisch, aber zielgerichtet
reisender Puppenspieler, den er
Die Ausstellung ist ein utopischer
solche Ausmaße angenommen?
wachsend, mit Verzweigungen an
nie kennenlernte: Das war für Mutter
Raum, ein Ort jenseits unserer
Peter Rühmkorf beachtete im
definierten Punkten. Aber zur
und Sohn kein einfaches Leben.
Alltagswirklichkeit mit geheimnis-
Umgang mit seinem Material keine
Nachlass-Recherche: Man wird
vollem Licht, in dem den Besuchern
Hierarchien; es erschien ihm
wahnsinnig dabei – es gibt alles
Jeder Schriftsteller stellt einen vor
Gedichte entgegentreten und man
alles gleich wichtig – auch in der
und von allem zu viel. Zur Hierar-
eigene Herausforderungen, wenn man
sich durch eine Art bunte Ladenstraße
Aufbewahrung. Das beginnt
chisierung, die Rühmkorf selbst
ihn ausstellt. Bei Autoren wie W.G.
voller Themen aus Rühmkorfs Leben
bei den noch ungeformten Einfällen,
nicht vorgenommen hat, waren wir
Sebald, Thomas Mann, Hermann
und Schreiben bewegen kann. Literatur
die er als glücklich empfangene
Kuratoren gezwungen.
Hesse oder Arno Schmidt lässt sich
kann als utopischer Ort verstanden
Sternschnuppen, als Lyriden,
eindrücklich zeigen, wie sie geschrie-
werden, das wird mit der expressiven
empfand. Betont hat er, dass die
Haben Sie etwas gefunden, womit
ben haben, bei anderen ist das bloß
Ausstellungsgestaltung betont.
Arbeit an Gedichten mit diesen
Sie überhaupt nicht gerechnet haben?
langweilig. Wie ist das bei Rühmkorf?
Bei der Frage nach den Utopien des
Lyriden nur anfängt, ehe in einem
Mehrere Gläser mit getrocknetem,
Was lag nahe, was war schwierig?
Autors zögere ich – sicherlich hat
aufwändigen Prozess von Umformu-
selbstgezogenem Marihuana.
Es lag nahe und war schwierig,
Rühmkorf sich für eine friedlichere
lierungen und Überarbeitungen
Dass mich das überraschte, liegt
Rühmkorfs exzessive Arbeitsweise
und gerechtere Welt eingesetzt,
ein Gedicht dann seine Form findet.
aber nur daran, dass ich Rühmkorf
vorzuführen – er hat es selbst mit
glaubte aber dabei nicht an die großen
Es gibt oft hunderte von Seiten,
zu seinen Lebzeiten nicht gut genug
den von ihm publizierten Vorstufen
Würfe oder Revolutionen, sondern
die zur Arbeit an einem einzigen
kannte; jeder seiner Freunde hätte
zum Gedicht Selbst III/88 getan:
an die schrittweise Verbesserung
Gedicht gehören. Die Kenntnis seiner
das gewusst.
693 Manuskript- und Typoskriptseiten
der Gesellschaft. Vielleicht darf
Vorgänger gehörte für ihn unmittel-
für ein einziges Gedicht! Sie füllen
man auch das schon zu den Utopien
bar zur schriftstellerischen Arbeit,
in der Ausstellung eine riesige Wand;
rechnen; er hat jedenfalls nicht
seine Gedichte setzen sich
mit Hilfe einer elektronischen
aufgegeben.
ühmkorfs
etzter
rief
Jan Bürger, stellvertretender Leiter
der Abteilung Archiv und Leiter des
Siegfried-Unseld-Archivs, über einen
Brief von Peter Rühmkorf, den er im
März dieses Jahres beim Sortieren
des Nachlasses von Jürgen Manthey
gefunden hat, der am 13. Dezember
2018 in Lübeck mit 86 Jahren starb:
Roseburg, Kap[itulations]-Tag 2008
Liebe Freunde, hab noch den Tatter inne
Finger, aber irgendwann muß doch endlich
ein dicker Dank auch schön zu Papier.
– Weil Ihr doch meinem Büchlein einen
Durchgang in die Außenwelt gebahnt hab[t]
– nachhallend das Freundschafts=Lübeck
immer noch + 6000.- Auflage bereits verkauft.
Ist das alles nichts? Und Günter
wieder mal als große Anstoßmaschine,
ohne sich selbst nach vorn zu drängen.
Dies wenigstens wollte gesagt sein.
Nein, geschrieben. Weil Bloß-Gesagt-Was
holt sich der Wind weg, und da kannste
hinterher alles mögliche flüstern.
Lebt wohl. Habe eben geschissen.
Paradiesvogelhaft + nach Wochen ein
Segen! 20 Tabletten kämpfen in mir
um die Vorherrschaft.
Ich küsse Euch - -
Euer Peter
98_99
Bücher haben bekanntlich ein
Schicksal, und Briefe haben es
auch. Vier Wochen vor seinem
Tod am 8. Juni 2008 schreibt Peter
Rühmkorf noch einmal an seine in
Lübeck lebenden Freunde: an den
Literaturwissenschaftler Jürgen
Manthey, der schon in den fünfziger
Jahren bei der Zeitschrift konkret
mit Rühmkorf zusammengearbeitet
hat, und an Günter Grass, den
Weggefährten aus der legendären
Gruppe 47.
Rühmkorfs Kraft reicht nur noch für
eine kurze Botschaft mit zitternder
Hand. Zeichnen kann er noch ganz
gut, das bewährte Selbstporträt.
Einige Buchstaben verwackeln ihm
hingegen und überschreiten die
Grenze der Lesbarkeit. Die Krankheit
lässt nicht mehr zu. Deshalb kann
er seinen Brief auch nicht mehr selbst
auf den Weg bringen.
Abgeschickt werden Rühmkorfs späte
Zeilen erst fast zwei Jahre nach
seinem Tod, als seine Witwe Eva
die Papiere von seinem letzten
Schreibtisch in ihrem Haus im
Holsteinischen Roseburg aufräumt.
In Rühmkorfs letztem Lebensjahr
hatten ihm Jürgen Manthey und
Günter Grass zusammen mit seinem
Mitarbeiter Helmut Schenkel und
Andrea Kugel vom Rowohlt Verlag
dabei geholfen, den schmalen Band
Paradiesvogelschiß herauszubringen.
Er kam Anfang April 2008 in die
Buchläden, wurde von der Kritik
gefeiert und verkaufte sich für
Lyrik erstaunlich gut. Die meisten
der Gedichte waren noch vor der
Krebsdiagnose entstanden, aber auf
dem Krankenlager hatte Rühmkorf
ihnen den letzten Schliff gegeben.
An guten Tagen las er gelegentlichen
Besuchern aus ihnen vor – mit
gebrochener Stimme, eine Zigarette
zwischen den langen, geschwächten
Fingern, doch nach wie vor mit
sicherem Gespür für den Klang und
die Wirkung seiner Worte. Rühmkorf
glaubte, die Arbeit an seinem letzten
Buch habe sein Leben verlängert.
Paradiesvogelschiß wurde sein
eigentliches Testament.
102_103
Zur Sammelvitrine
umgewandeltes
Fenster
im Hamburger
Arbeitszimmer
von Peter
Rühmkorf,
fotografiert
am 2./3.
April 2013
kurz vor der
Wohnungsauflösung.
Übrigens kann man die
seit 1929 und damit dem
Geburtsjahr von Rühmkorf
hergestellte italienische
Lakritze namens Tabù mit
dem Slogan „Tabù ...
e vivrai di più“ (‚Tabu
... und Du hast mehr
vom Leben‘) noch heute
kaufen.
Das Literaturmuseum der Moderne
und die seiner Leser vor, Hans Ulrich
Deutsches Literaturarchiv Marbach
Impressum
und voraussichtlich vom 25. Oktober
Gumbrecht erläutert die Faszination,
Schiller-Nationalmuseum und
an auch das Schiller-Nationalmuseum
die Hölderlins späte Gedichte für
Literaturmuseum der Moderne
© 2020 Deutsche Schillergesellschaft,
sind vorerst mit Einschränkungen
ihn besitzen, Ottmar Ette entdeckt in
Marbach am Neckar
geöffnet: Es gelten Besucherzahlen-
Hölderlins Hyperion „alle Töne des
Schillerhöhe 8 – 10,
Herausgeber:
beschränkungen, Mund-Nase-Schutz-
Lebens“, Nico Bleutge sucht Hölder-
71672 Marbach am Neckar
Deutsches Literaturarchiv Marbach
und Handschuhpflicht. Darüber hinaus
lins Ironie, Samuel Kramer, Sara
Tel. 0 71 44/848-0, Fax 0 71 44/848-299
Redaktion:
kann es durch Sanierungsarbeiten
Sommerfeldt, Wolfgang Georgsdorf,
info@dla-marbach.de
Heike Gfrereis, Vera Hildenbrandt
am Literaturmuseum der Moderne und
Katharina Meves und Louise Wagner
und Dietmar Jaegle
durch den Ausstellungsumbau im
zeigen, wie Hölderlins Texte unsere
Gestaltung:
Schiller-Nationalmuseum zu Störun-
Stimme und den Körper und damit
Diethard Keppler und Andreas Jung
gen und zu Sperrungen des Parkplat-
auch unsere Wahrnehmung verwan-
Gesamtherstellung:
zes kommen. Bitte beachten Sie die
deln, Clément Fradin, Julia Maas und
Offizin Scheufele, Druck & Medien
aktuellen Hinweise vor den Museen
Michael Woll führen in die Bibliothek
Öffnungszeiten
GmbH & Co. KG, Stuttgart
und auf unserer Homepage.
von Paul Celan ein, Agnes Hand-
werk erinnert sich an Celans letzte
Schiller-Nationalmuseum und
Die Deutsche Schillergesellschaft
Wir haben seit März 2020 unser
Stuttgarter Lesung und Cornelia
Literaturmuseum der Moderne:
wird gefördert durch die
digitales Angebot erweitert. Die
Funke beantwortet die Fragen von
Dienstag bis Sonntag, 10 – 18 Uhr,
Bundesrepublik Deutschland,
App der Literaturmuseen macht die
Schulklassen. Weil wir unser Festival
ab Oktober 10 – 17 Uhr,
das Land Baden-Württemberg,
Dauerausstellungen auch digital,
zu Narrating Africa auf 2021 verscho-
montags geschlossen (außer an
den Landkreis Ludwigsburg
zu Hause, im Unterricht und in der
ben haben, stellen jetzt schon einige
Feiertagen).
und die Städte Ludwigsburg und
Lehre, zugänglich. Über 130 #closed-
Schriftstellerinnen und Schriftsteller
Marbach am Neckar.
butopen-Video-Clips geben auf
ihre Texte online vor.
Bitte beachten Sie, dass unsere
dem YouTube-Kanal der Literatur-
Ausstellungen und Veranstaltungen
Fotos und Illustration:
museen Marbach Einblick in unter-
Zusammen mit dem Forschungs-
fotografisch und filmisch dokumentiert
Arno Schmidt Stiftung, Jan Bürger,
schiedliche Ausstellungen, Themen
verbund MWW ist für alle Ange-
werden und die Aufnahmen bei der
Heike Gfrereis, Dieter Hegemann,
und Archivbestände für Erwachsene,
hörigen der germanistischen Fachge-
Berichterstattung in Print- und digitalen
Agnes Handwerk, Andreas Jung
aber auch für Kinder. U.a. liest
meinschaft, die nach Anregungen
Medien veröffentlicht werden können.
und Diethard Keppler, Chris Korner,
Hanns Zischler Hölderlins Gedichte
und Hilfestellungen für die Praxis
Martin Kuhn, Jens Tremmel
der digitalen Hochschullehre suchen,
Wortlisten:
im virtuellen Forschungsraum des
Susanne Fischer (Rühmkorf),
Verbunds eine Anlaufstelle ent-
Vera Hildenbrandt (Hölderlin) und
standen: https://vfr.mww-forschung.
Peer Trilcke (Celan)
de/web/digitale-lehre-germanistik/.
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