Mörikes Zeichen ... eine Interimsausstellung im Literaturmuseum der Moderne
Schiller, Hölderlin, Kerner, Mörike ... Für das Schiller-Nationalmuseum erarbeiten wir zur Zeit ein neues Ausstellungskonzept. Daher sind kurz vor dem Corona-Lockdown im März 2020 vier Schriftsteller – Schwaben von Geburt und Autoren von Weltrang – vorläufig ins Literaturmuseum der Moderne umgezogen. Wir haben Dinge eingepackt, die ihre poetisch besonderen Seiten zeigen: Friedrich Schillers Spiele, Justinus Kerners Tintenklecksbilder und die eigenwilligen Aufschreibesysteme von Friedrich Hölderlin und Eduard Mörike. Einige dieser Dinge stecken im Museum noch in Umzugskisten und können von den Besucher*innen selbst entdeckt werden. Andere haben wir auf Werkstatt-Tischen ausgepackt, nach Themen sortiert und durch Kommentare vernetzt. Beides haben wir nun in Hefte übersetzt, um neugierig auf das reale Museum zu machen und es zugleich für alle Besucher*innen auch in den digitalen Raum hinein zu öffnen. #SchillerFreiSpiel #SprachenDerPoesie #Hölderlin2020
Schiller, Hölderlin, Kerner, Mörike ...
Für das Schiller-Nationalmuseum erarbeiten wir zur Zeit ein neues Ausstellungskonzept. Daher sind kurz vor dem Corona-Lockdown im März 2020 vier Schriftsteller – Schwaben von Geburt und Autoren von Weltrang – vorläufig ins Literaturmuseum der Moderne umgezogen. Wir haben Dinge eingepackt, die ihre poetisch besonderen Seiten zeigen: Friedrich Schillers Spiele, Justinus Kerners Tintenklecksbilder und die eigenwilligen Aufschreibesysteme von Friedrich Hölderlin und Eduard Mörike.
Einige dieser Dinge stecken im Museum noch in Umzugskisten und können von den Besucher*innen selbst entdeckt werden. Andere haben wir auf Werkstatt-Tischen ausgepackt, nach Themen sortiert und durch Kommentare vernetzt. Beides haben wir nun in Hefte übersetzt, um neugierig auf das reale Museum zu machen und es zugleich für alle Besucher*innen auch in den digitalen Raum hinein zu öffnen.
#SchillerFreiSpiel #SprachenDerPoesie #Hölderlin2020
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Mörike s
eichen
… eine Interimsausstellung
im Literaturmuseum
der Moderne
Vorab und
zuerst
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Schiller, Hölderlin, Kerner, Mörike ...
Für das Schiller-Nationalmuseum erarbeiten wir zur Zeit
ein neues Ausstellungskonzept. Daher sind kurz vor
dem Corona-Lockdown im März 2020 vier Schriftsteller –
Schwaben von Geburt und Autoren von Weltrang – vorläufig
ins Literaturmuseum der Moderne umgezogen. Wir haben Dinge
eingepackt, die ihre poetisch besonderen Seiten zeigen:
Friedrich Schillers Spiele, Justinus Kerners Tintenklecksbilder
und die eigenwilligen Aufschreibesysteme von
Friedrich Hölderlin und Eduard Mörike.
Einige dieser Dinge stecken im Museum noch in Umzugskisten
und können von den Besucher*innen selbst entdeckt werden.
Andere haben wir auf Werkstatt-Tischen ausgepackt, nach
Themen sortiert und durch Kommentare vernetzt. Beides –
den Inhalt der Umzugskisten und die vorübergehende Ordnung
der Dinge aus deren Nachlass – haben wir nun in digitale
Hefte übersetzt, um neugierig auf das reale Museum zu
machen und es zugleich für alle Besucher*innen auch in
den digitalen Raum hinein zu öffnen.
#SchillerFreiSpiel
Mörike war ein großer Schiller-Verehrer und ließ seine Mutter auf
dem Cleversulzbacher Friedhof neben dem Grab von Schillers Mutter
beerdigen, für das er ein Steinkreuz entworfen hatte: „SCHILLERS
MUTTER“ „eigenhändig eingegraben, „tief&scharf, FRAKTUR.“ – Für unser
Projekt Fehlt Ihnen / Dir Schiller? (gefördert vom Ministerium
für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg im Rahmen des
Impulsprogramms „Kunst trotz Abstand“) suchen wir Ihre und Deine
Lieblingsexponate. Über eine Mail an uns mit einer kurzen Begründung
(museum@dla-marbach.de) freuen wir uns sehr.
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s
Zeichen Mörike
Eduard Mörike ist uns von
den vier hier ausgestellten
schwäbischen Weltliteratur-
Schriftstellern der nächste.
Zeitlich, weil er der
jüngste von ihnen ist und
erst 1875 starb – 70 Jahre
nach Schiller. Aber auch,
weil er wie kaum ein zweiter
deutschsprachiger Autor
literarische Traditionen
in persönliche Erinnerungen
verwandelt hat. Phantasievoll
und schriftverliebt
erweckt er auf ebenso
wunderbare wie bescheidene
Weise nahezu in allem
Poesie – in Tintenstrichen,
Steinen, Holzstücken,
Veilchen und sogar in
Fensterläden.
Mörikes Goethe, etwas pedantisch:
An den Mond mit seinen zwei Fassungen
von 1788 („Füllest wieder ’s
liebe Tal / Still mit Nebelglanz, /
Lösest endlich auch einmal / Meine
Seele ganz“) und 1789 („Füllest
wieder Busch und Tal ...“).
Mörikes Schil
rig auf ausge
eine kleine N
herrliches Su
mich“ – „täus
Literatur entsteht aus
Literatur. Mörike zeigt das
eindrücklich, indem er die
Texte anderer noch einmal
schreibt – so, wie er
sich vorstellt, dass diese
entstanden sind.
9
Bittschrift
ler, genialisch schludrissenen
Zetteln:
otiz („Carlos ist ein
jet, vorzüglich für
chend nachgemacht“),
ein Kuriosum aus den Familienbriefen
von Schillers Mutter an
dessen Frau: „Liebe Lotte.
Hier schicke ich Ihnen etwas
Gutes zum Schlecken“.
Und eines der im 19. Jahrhundert
beliebtesten, weil komischen
Schiller-Gedichte, das Unterthänigste
Pro memoria an
die Consistorialrath Körnerische
weibliche Waschdeputation in
Loschwitz eingereicht von einem
niedergeschlagenen Trauerspieldichter.
Mörike macht daraus
einen Brief an sich selbst:
„Seiner Wohlgeboren Herrn
Professor Dr Mörike Stuttgart.
In Loschwitz 1786“:
Dumm ist mein Kopf und schwer wie Blei,
die Tobaksdose ledig
Mein Magen leer – der Himmel sei
dem Trauerspiele gnädig.
Ich kratze mit dem Federkiel
auf den gewalkten Lumpen;
Wer kann Empfindung und Gefühl
aus hohlem Herzen pumpen?
Feur soll ich gießen aufs Papier
mit angefrornem Finger? - -
O Phöbus, hassest du Geschmier,
so wärm auch deinen Sänger.
Die Wäsche klatscht vor meiner Tür,
es scharrt die Küchenzofe –
und mich – mich ruft das Flügeltier
nach König Philipps Hofe.
Ich steige mutig auf das Ross,
in wenigen Sekunden
seh ich Madrid – am Königsschloss
hab ich es angebunden.
Ich eile durch die Galerie
und – siehe da! belausche
die junge Fürstin Eboli
im süßen Liebesrausche.
Jetzt sinkt sie an des Prinzen Brust,
mit wonnevollem Schauer,
in ihren Augen Götterlust,
doch in den seinen Trauer.
Schon ruft das schöne Weib Triumph,
schon hör ich – Tod und Hölle!
Was hör ich? – einen nassen Strumpf
geworfen in die Welle.
Und weg ist Traum und Feerei,
Prinzessin, Gott befohlen!
Der Teufel soll die Dichterei
beim Hemderwaschen holen!
Mörikes Hölderlin, wie ein bildender
Künstler: Abschrift (1846) der
Ode Heidelberg mit „sämmtlichen
Correcturen“: „Es wird Dich unterhalten
in die Entstehung dieses
Stücks hineinzusehn, wie es
sich nach u. nach gereinigt hat,
Gedanke u. Ausdruck immer
klarer u. kräftiger wurde. Es ist
theils mit der Feder theils mit
dem Bleistift geschrieben; die
halbverwischten Züge des letzten
sind nur eben noch lesbar“
(an Wilhelm Hartlaub).
Im März 1870 verzeichnet Mörike in
seinen Kalender in den Wochen bis
zum 20. März (Hölderlins 100. Geburtstag)
mit einem Schriftschnörkel
„Tempus inane“ – nach einem Vers
aus Vergils Aeneis, „Tempus inane
peto, requiem spatiumque furori“
bittet dort die von Aeneas verlassene
Dido: „Leere Frist nur verlang’
ich, nur Ruh und Weile (wörtlich
spatium: Raum) dem Wahnsinn.“
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Im März und April 1832 notiert
Mörike „Erinnerungen an Erlebtes.
Poetische Umgestaltung desselben
etc. Poetische Vorsätze“:
„Ich will bei Gelegenheit dem
liebenswerthen, lange noch nicht
genug erkannten Dichter, Fried.
Hölderlin ein kleines Denkmal
stiften und über die Schönheiten
wie die Fehler Hyperions etwas
dabey sagen. – Ich besize von
H.s eigener Hand einige Blätter,
welche etwa im J. 1823 –24 in
Tübingen geschrieben sind; zwei
metrische Poesien und einige
Briefe als Fortsetz. des Romans
Hyp. Letztere sind nur durch
den ungeheuern Contrast gegen
jenes ursprüngl. Produkt merkwürdig
und rührend – die beiden
Gedichte aber, Räthsel des
Wahnsinns, lassen den schönsten
Sinn theils errathen, theils
haben sie ihn offenbar; ihr
Charakter – (elegischdidakt.) –
ist durchaus entschieden und
springt auch nicht in einer
Zeile ab. [...] Jene poetisch.
Stücke aber sind mir wahrhaft
ein Heiligthum, und doppelt,
ich habe sie, glaub ich,
durch Waiblinger erhalten.“
Später: „[ich] lief, poetisch
aufgeregt, die Ochsenwanger
Steige keuchend hinauf – unwillkührl.
mußt ich ein paar Verse
ausbilden, deren Inhalt mir
auf keine Weise nahe lag. Rath
einer Alten (an verliebte Jugend).
Ich weiß nur noch den Anfang:
Bin jung gewesen,
Kann auch mit reden,
Und alt geworden
Drum gilt mein Wort.
– (Ihr hübschen Mädchen
– Ihr saubern Knaben)
–
Schön rothe Kirschen
Am Bäumchen hangen“.
Stimme und Schrift der Natur:
„Nachtigallengesang in den Wäldern
von Cleversulzbach beobachtet“
(Cantus Lusciniae in silvis Clever-
Sulzbaccensibus observatus, um 1840).
Mörike hat auf alles Mögliche
in allen möglichen Weisen
gemalt und geschrieben.
angemalte Entstehungswege:
„Ein Stück Baum-Ast mit ausgemalten
Wurmgängen. Zum Andenken an
Clara Pfäfflin, die beim Holztragen
am 30. Okt. 1868 mithalf“.
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Zierschrift für die Schwester –
An Clärchen (1845):
Zwar muß vom Reiz ein Dichter leben,
Er heischt zurück was du versteckt,
Ihm bleibt der Pfeil in’s Herz gegeben
Des Schönen, das ihn ewig neckt;
Nur höre auf, der Welt zu zeigen
Den Schatz, den sie uns schon mißgönnt!
Wer gern ein Kleinod hat zu eigen,
Es ist genug daß er es kennt.
Feuerwerk aus Klecksen zur Mitsommernacht
– noch ein Geschenk an
Clara: „Ein sonderbar schön geistreich
Gedichte auf Johannistag“
(20.6.1836).
Mörikes Gedichte sind durch
ihre eigenwilligen, für
den privaten Gebrauch bestimmten
Aufschreibesysteme
eine besondere Form von
konkreter Poesie: Sie zeigen
sich selbst, lösen visuell
und akustisch sprachliche
Elemente von ihrem Sinn –
und beziehen sich doch eindeutig
auf einen wirklichen
Gegenstand.
Das Papier als Bezugspunkt – zwei Brandlöcher
zeigen, von was die Rede ist:
Des Herrlichsten, womit die volle Welt
Uns überdrängt, sich mächtig zu erwehren,
Und Lust und Leid, worin er sich gefällt,
In tausend Herzen bleibend zu verklären,
Erglüht der Sänger schwärmend im Gedicht
Meist ohne Dank, zum mind’sten fühlt
er’s nicht.
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Er ist’s, 18 Jahre nach der
Entstehung abgeschrieben und neu
datiert und verortet auf den
22. Februar 1846 im hohenlohischen
Löffelstelzen:
Am Gebet arbeitet Mörike
über 35 Jahre hinweg.
Die später zweite, aber
zuerst entstandene Strophe –
Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land;
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
Horch von fern ein leiser Harfenton!
Frühling ja du bists!
Dich hab ich vernommen!
Dazu hat Mörike ein Hornveilchen
gemalt und in eine Holzdose geklebt:
Träumen und Erwachen in der Natur
zum Selberspielen.
Wollest mit Leiden
Und wollest mit Freuden
Mich nicht überschütten!
Doch in der Mitten
Liegt holdes Bescheiden
– schreibt Mörike unter anderen
auf das „Natur-Endlospapier“
Birkenrinde, in ein altes
Gesangbuch (Neue Rothenburgische
Seelen-Harfe, 1767) und in
ein Miniaturpoesiealbum (1871).
Mörikes alter Turmhahn von der Kirche
in Cleversulzbach – Schmuck, Wetterfahne
und, wenn man ihn wie eine Figur
in einem Schattenspiel betrachtet,
sprechende und unheimliche Märchenfigur.
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19
21
Mörikes Texte und Dinge, die
wir als bedruckte Plexiplatten
in Umzugskisten gepackt haben –
auf den 10 Plattenhüllen finden
sich jeweils die Kommentare. >>
Mörike
M 1
indgeflüster
23
Eduard Mörike wird durch die Windharfen (nach dem griechischen Gott des
Windes Aiolos auch als Äolsharfen bezeichnet) am Ludwigsburger Schloss
an seine Kindheit erinnert: „Wir durchstrichen die melankolischen Gänge
der königl. Anlage; in der Emichsburg hörte ich die Windharfen flüstern
wie sonst, die süßen Töne schmolzen alles Vergangene in mir auf – ich
sah die unterirdisch aufbewahrten Ritter-antiquitäten wieder die ich als
Knabe, des Jahres einmal, leise mit schüchterner Ehrfurcht, betrachten
durfte, ich sah vom Thurm die Umgegend, die Wege all wo wir Kinder
mit Vater u. Mutter ausflogen!“
Den geheimnisvollen Klang der Äolsharfe haben
wir auf der Platte zum Nachhören eingefangen
(„Peace“, „Peace und Bass“, eingespielt von
Zozo van Barkhussen, michael@wilkernet.de).
An eine Äolsharfe
Angelehnt an die Efeuwand
Dieser alten Terrasse,
Du, einer luftgebornen Muse
Geheimnisvolles Saitenspiel,
Fang an,
Fange wieder an
Deine melodische Klage!
Ihr kommet, Winde, fern herüber,
Ach! von des Knaben,
Der mir so lieb war,
Frisch grünendem Hügel.
Und Frühlingsblüten unterweges streifend,
Übersättigt mit Wohlgerüchen,
Wie süß bedrängt ihr dies Herz!
Und säuselt her in die Saiten,
Angezogen von wohllautender Wehmut,
Wachsend im Zug meiner Sehnsucht,
Und hinsterbend wieder.
Aber auf einmal,
Wie der Wind heftiger herstößt,
Ein holder Schrei der Harfe
Wiederholt, mir zu süßem Erschrecken,
Meiner Seele plötzliche Regung;
Und hier - die volle Rose streut, geschüttelt,
All ihre Blätter vor meine Füße!
SM1
25
Mörike
M 2
indbote
27
Blättchen, das im losen Spiel
Winde durch die Lüfte tragen,
Blättchen, kannst du mir nicht sagen,
Wo ist deiner Wandrung Ziel?
Mörike für seine Schwester Clara
„nach der l. Mutter Tod“ (1841):
Ach ich weiß ein frommes Kind,
Dem möcht’ ich mich gern verbinden,
Kann zu ihm den Weg nicht finden,
Grausam stürmt der Winter-Wind.
Als ich aus der Knospe mich
Vor den Veilchen, früh gerungen,
Kam das Liebchen oft gesungen
In den Garten morgendlich.
Aber da ich jung und schön
Thät mein grünes Herzlein dehnen,
Sah ich sie in bittern Thränen
Unter unsern Zweigen stehn.
Und dort drüben an dem Hang
Stand das Röslein, stand die Weide,
Dorthin wallte sie im Leide
Mir vorüber jeden Tag.
Freut’ mich nichts weiter mehr;
Nicht die süße Maien-Sonne,
Bienenton und Schaukelwonne,
Nicht der Mondnacht Kühle mehr.
Also welkt’ ich vor der Zeit;
Bin, bevor der Herbst gekommen,
Aus der Mutter Hut genommen
Und von der Geliebten weit.
Dürft’ ich zu ihr! Ach wie viel
Sagt ich ihr von Lust und Schmerzen!
Und an dem getreusten Herzen
Fänd’ ich meiner Wandrung Ziel.
SM2
29
Mörike
M 3
zungenbrecher
ugen-
31
„S’leit a Klötzle Blei glei bei
Blaubeur a , / glei bei Blaubeur a leit
a Klötzle Blei“. – Korrekturen von
Eduard Mörike im Handexemplar des
Stuttgarter Hutzelmännlein (1853).
SM3
33
eufzerstellen
Mörike
35
M 4
Eduard Mörike baut in den
letzten beiden Strophen seines
Sonetts Verzweifelte Liebe
(1828, aus den Peregrina-
Gedichten) durch die Häufung von
Fragezeichen, Ausrufezeichen
und Gedankenstrichen regelrechte
Seufzerstellen ein.
Die Liebe, sagt man, wird am Pfahl gebunden,
Geht endlich arm, verlassen, unbeschuht;
Dies edle Haupt hat nicht mehr, wo es ruht.
Mit ihren Thränen nezt sie ihre Wunden.
So hab auch ich die Liebe jüngst gefunden;
Schön war ihr Wahnsinn, ihrer Wange Gluth,
Noch scherzend in der Frühlingsstürme Wuth
Und wilde Kränze in das Haar gewunden.
Wie? solche Schönheit konnt ich einst verlassen?
So kommt nun doppelt schön das alte Glück!
O komm, in diese Arme Dich zu fassen!
Doch wehe! welche Miene, welch ein Blick!
Sie küßt mich zwischen Lieben, zwischen Hassen, –
Sie kehrt sich ab und – kehrt mir nie zurück!
SM4
37
Mörike
M 5
Mit-
39
1
spiel-
gedicht
Johannis ist nun nah,
So sind wir auch schon da
Und bringen Dieß und Das,
Du darfst nur sagen, was.
Eine [Harfe] ohne Sait,
Eine Hochzeit ohne Freud
Eine Mausfall ohne [Mäus’]
Verdienen keinen Preis.
Eine [Rose] ohne Stiel,
Ein Wasser ohne [Mühl’]
Eine [Pfeife] ohne Rohr
Da hüt ich mich davor.
Ein Wetter ohne Glas,
Eine Skala ohne Maas,
Ein Silber ohne Queck,
Da bin i kaum so keck
Ein [Vogel] ohne Flug,
Ein Wirthaus ohne [Krug]
Eine Orgel, die nicht tönt,
Sind alle drei verpönt.
Ein Pfeifer ohne [Pfeif ’]
Eine [Wiege] ohne Läuf ’
Ein Christtag ohne Kerzlich
Die sind mir alle schmerzlich.
Eduard Mörike macht den Leser (hier seine Schwester
Clara, der er das Gedicht Ein sonderbar schön
geistreich Gedichte auf Johannistag am 20. Juni 1836
geschenkt hat) zum Mitspieler, indem er Wörter
durch Bilder ersetzt, die dieser dann enträtseln muss.
SM5
41
Mörike
Mit-
43
M 6
2
spiel-
gedicht
Eduard Mörikes Geschenkgedicht
An zwei Dichterinnen zum
Nikolaustag
1845.
SM6
45
chattenmit
Mörike
47
bewohner
M 7
Zwei Scherenschnittfiguren, die der Maler
Moritz von Schwind 1870 Eduard Mörike
schickte – vielleicht, um dessen Wohnung
samt Ausblick in Nürtingen zu verzaubern:
„Der Teufel soll den zweiten Stock holen,
sammt der finstern Stiege und der Aussicht
auf die spanischen Wände von Hausdächern.“
SM7
49
Mörike
51
Erinnerungs-
punkt-
M 8
uster
Die Ausführung in bunten lebhaften
Farben, wie wir sie in der Zeichnung
sahn ist freilich viel hübscher.“
Aus Eduard Mörikes Sammlung: „Abdruck des
türkischen Zeugmusters vom H.[errn] Neuwieter,
zum Andenken für uns gemacht. Wir haben diesen
Model fast Punkt für Punkt entstehen sehn.
SM8
53
Mörike
M 9
Maultrommel-
gedicht
55
Maultrommel, Windharfe, Blätter, Muster - für Eduard
Mörike sind diese luftigen Dinge oft Auslöser von
Erinnerungen. Seinem Freund Ernst Friedrich Kauffmann
schreibt der 23-jährige am 17. November 1827 aus Köngen
kurz vor Mitternacht („Es schlägt bald 12 Uhr“):
Ich machte vorhin ein paar Töne auf der
Maultrommel, dabey fiel mir ein alter
Vers von mir ein, für den ich immer eine
besondre Liebe habe. Er muß her:
Mitternacht.
Gelassen stieg die Nacht ans Land
Hängt träumend an der Berge Wand
Ihr Auge sieht die goldne Wage nun
Der Zeit, in gleichen Schaalen, stille ruhn;
Und kecker rauschen die Quellen hervor
Sie singen der Nacht, der Mutter, ins Ohr
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage!
Das uralt alte Schlummerlied
Sie achtets nicht, sie ist es müd, –
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flücht’gen Stunden gleichgeschwungnes Joch;
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
Es sprechen die Wasser im Schlafe noch fort
Vom Tage
Vom heutegeweßenen Tage!
SM9
57
Mörike
Mehrfach-
M 10
verwendung
59
Wie süß der Nachtwind nun die Wiese streift
Und klingend jetzt den jungen Hain durchläuft!
Da noch der freche Tag verstummt,
Hört man der Erdenkräfte flüsterndes Gedränge,
Das aufwärts in die oberen Gesänge
Der rein gestimmten Lüfte summt.
Wie ein Gewebe zuckt die Luft manchmal,
Durchsichtiger und heller aufzuwehen,
Dazwischen hört man weiche Töne gehen
Von sel’gen Elfen, die im blauen Saal
Zum Sphärenklang
Und fleißig bei Gesang
Flimmernde Spindeln hin und wieder drehen.
Ludwig Bauer schickt
Wilhelm Hartlaub
(Ernsbach, 9. Oktober
1829) die „Abschrift
eines Mörikischen
Fragments“ [im Maler
Nolten der Gesang der
Feenfürstin Thereile,
in den Gedichten unter
dem Titel Gesang zu
zweien in der Nacht]:
SM10
61
Impressum
Ausgewählt haben die Umzugsstücke
Julia Schneider,
Verena Staack und Heike
Gfrereis, die sie auch
kommentiert und zusammen
mit Diethard Keppler und
Andreas Jung im Raum angeordnet
und gestalterisch
gefasst hat. Die Exponatfotografien
stammen von Chris
Korner und Jens Tremmel,
die restauratorische Betreuung
oblag Enke Huhsmann,
Susanne Bœhme und Anaïs Ott,
die Redaktion und Organisation
Vera Hildenbrandt,
Dietmar Jaegle, Lea Kaiser,
Martin Kuhn, Tamara Meyer
und Janina Schindler.
Die Aussttellung „Schiller,
Hölderlin, Kerner, Mörike“
wurde im Februar 2020 im
Literaturmuseum der Moderne
eröffnet und ist dort bis
zur Wiedereröffnung des
Schillers-Nationalmuseums
Anfang 2023 zu sehen.
© 2020 Deutsches
Literaturarchiv Marbach
Gestaltung und
Ausstellungsfotografie
dieser Publikation:
Diethard Keppler und
Andreas Jung
Text:
Heike Gfrereis
Z