279.TIROL - November 2021
Ausgabe 2, November 2020
Ausgabe 2, November 2020
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
50<br />
tirol.sportlich und gesund tirol.sportlich und gesund<br />
51<br />
Mein<br />
Leben als<br />
Radsportlerin<br />
ZUR AUTORIN<br />
JULIA SÖRGEL<br />
Julia Sörgel aus Reutte ist zweifache<br />
Österreichische Meisterin<br />
im Mountainbike Hillclimb und<br />
hat den Streckenrekord von Laura<br />
Stigger auf die Lanser Alm um<br />
knapp drei Minuten unterboten.<br />
Ich weiß nicht genau, wo ich beginnen soll.<br />
Einerseits fing ich erst in meiner Jugend<br />
an, das Radfahren als Sport zu betreiben.<br />
Andererseits aber begann meine Begeisterung<br />
für Mountainbikes schon sehr viel früher.<br />
Also fang ich doch ganz am Anfang an …<br />
Ich war vier Jahre alt, als ich das Radfahren daheim vor dem<br />
Haus erlernte. Mit einem pinken Kinderrad mit weißen Reifen,<br />
das mir überhaupt nicht gefiel. Denn als Kind wollte ich immer<br />
ein Bub sein und alles, was irgendwie mädchenhaft war, mochte<br />
ich einfach nicht.<br />
Leider war ich in meiner Kindheit der unsportlichste Mensch,<br />
den man sich vorstellen kann. Was auch immer mit Anstrengung<br />
verbunden war, ich versuchte es zu vermeiden. Mein<br />
Übergewicht machte es mir nicht einfacher, weswegen ich<br />
auch oft als „dicke Kuh“ beschimpft wurde. Im Kindergarten<br />
und in der Schule. Es war meine damalige Englischlehrerin, die<br />
mich aufs Radfahren brachte. Mein damaliges Fahrrad war ein<br />
Jugendmountainbike mit Gepäckträger und allem, was man so<br />
an Fahrradzubehör bekommen kann.<br />
Mein<br />
erstes<br />
Mountainbike<br />
Ich saß nun täglich am Rad und fuhr am<br />
Lech entlang, einen Schotterweg von Reutte<br />
nach Rieden und wieder retour, das sind<br />
ca. zehn Kilometer. Mitte Juni stand meine<br />
Firmung an, und meine Firmpatin fragte<br />
mich, was ich denn für ein Geschenk haben<br />
möchte. Dabei dachte sie an Schmuck. Ich<br />
meinte, dass ich lieber ein neues Fahrrad<br />
hätte, ein Mountainbike. Nach langem<br />
Überreden stimmte sie zu, und ich<br />
bekam ein neues Mountainbike im Wert<br />
von 450 Euro. Durch das viele Radfahren<br />
verlor ich auch Gewicht, aber es ging sehr<br />
langsam. Als ich mit meiner Mama bei<br />
der Sparkasse war, lag dort ein Flyer vom<br />
Ehrenberg-Burgrennen. Und daran wollte<br />
ich unbedingt teilnehmen.<br />
Zum ersten Mal am Schlosskopf<br />
Als ich das erste Mal auf den Schlosskopf<br />
radelte, bewaffnet mit meinem 15 Kilogramm<br />
schweren Fahrrad mit Vollausstattung,<br />
merkte ich erst, was es bedeutet,<br />
bergauf zu fahren. Es war eine Qual, mit<br />
meinem Übergewicht und diesem schweren<br />
Rad dort hoch zu kommen. Jeden Tag quälte<br />
ich mich den Schlosskopf hoch, den ganzen<br />
Sommer über. Dann kam der Renntag: Es<br />
regnete in Strömen, drei Grad Außentemperatur,<br />
grausamer hätte es nicht sein können.<br />
Ich wollte unbedingt mitfahren,<br />
denn sonst wären<br />
alle Qualen umsonst gewesen.<br />
Ausgestattet mit einer Baumwolljacke<br />
radelte ich also beim Rennen mit und benötigte<br />
30 Minuten und 30 Sekunden für ca.<br />
300 Höhenmeter. Keine gute Zeit, verglichen<br />
mit meinen heutigen Zeiten, aber es<br />
war mein erstes Rennen, und ich gewann<br />
sogar in meiner Altersklasse. Ich war einfach<br />
nur glücklich über diesen kleinen Erfolg<br />
und ahnte nicht, dass das erst der Beginn<br />
eines neuen Lebensabschnittes war.<br />
Mein neues Mountainbike<br />
Weil ich in der Schule ein sehr gutes<br />
Zeugnis hatte, bekam ich von meinen<br />
Eltern ein neues Rad. Ich entschied mich<br />
für ein Stevens SMC ES, ein Carbonrad<br />
mit hydraulischen Scheibenbremsen und<br />
Shimano-XT-Schaltung. Für mich war<br />
das, als würde ich von einem Holzwagen<br />
in einen Porsche steigen, einfach nur<br />
unglaublich! Und ich trainierte noch eifriger.<br />
Mit diesem Mountainbike radelte ich<br />
dann zehn Jahre lang und 40.000 Kilometer,<br />
bis es letztes Jahr einen Rahmenbruch<br />
an der hinteren Strebe erlitt. In meiner<br />
Altersklasse gewann ich dann jedes Rennen,<br />
bis ich 18 Jahre alt war. Mit 15 wurde<br />
ich zum ersten Mal Tiroler Meisterin im<br />
MTB Hillclimb in Mieming, mit 16 das erste<br />
Mal Österreichische Meisterin im MTB<br />
Hillclimb in Möllbrücke in Kärnten, und es<br />
folgten noch weitere Tiroler Meistertitel.<br />
Matura, Studium, Staatsmeisterin<br />
Nach der Matura begann für mich ein neuer<br />
Lebensabschnitt. Ich startete ein Lehramtsstudium<br />
an der Universität Innsbruck<br />
in den Fächern Biologie und Geografie. Im<br />
Sommer vorm Studienbeginn wurde ich<br />
noch einmal Tiroler Meisterin in der U23-<br />
Klasse am Hahnenkamm in Kitzbühel, aber<br />
dann verlor ich die Lust am Rennfahren.<br />
Ich war 24 Jahre und hatte inzwischen 75<br />
Kilogramm. Im Dezember 2018 fragte mich<br />
ein Freund, ob ich Lust hätte, mit ihm eine<br />
Skitour auf den Hahnenkamm zu machen.<br />
Es war einfach eine Qual. Ich schleppte<br />
meine 75 Kilogramm die drei Kilometer<br />
lange und 1.000 Höhenmeter steile Abfahrt<br />
in 1,5 Stunden hinauf, wahrscheinlich mit<br />
200 Puls (aktuell benötige ich eine Stunde<br />
für diese Strecke). Das konnte es ja wohl<br />
nicht sein, und ich begann wieder, ganz<br />
wild zu trainieren. Innerhalb von sechs<br />
Monaten nahm ich 25 Kilogramm ab. Am<br />
Nassfeld in Kärnten fand im Sommer 2019<br />
die Österreichische Meisterschaft statt.<br />
Daran wollte ich unbedingt teilnehmen. Am<br />
Start wurde ich von meinen Kontrahentinnen<br />
und deren Trainern belächelt. Ich<br />
stand ohne Sponsor, ohne Trainer, ohne<br />
Team, ohne Physiotherapeuten da. Nur<br />
meine Eltern waren dabei, und die konnten<br />
mir auch nicht helfen. Bei der Startaufstellung<br />
musste ich ganz hinten starten. Um<br />
es kurz zu machen:<br />
Zur Überraschung aller,<br />
auch von mir, wurde ich in<br />
der Klasse Damen Elite tatsächlich<br />
Österreichische<br />
Staatsmeisterin. Nur einen<br />
Monat später wurde ich dann<br />
auch Tiroler Landesmeisterin.<br />
Schneller als die Weltmeisterin<br />
Leider gab es im Frühjahr 2020 wegen<br />
der Corona-Pandemie kein einziges Mountainbikerennen.<br />
Ich wollte mich aber gerne<br />
irgendwo beweisen, da ich das Gefühl<br />
hatte, dass meine Form noch ein Stück<br />
besser war als im Jahr zuvor. Bereits im<br />
Mai wurde ich auf die Laura Stigger Bike<br />
Challenge aufmerksam, die ja von der<br />
GemNova erfunden wurde und organisiert<br />
wird. Als es eines Tages bei uns im<br />
Außerfern regnete, im Inntal das Wetter<br />
aber deutlich besser war, fuhr ich spontan<br />
und ganz alleine nach Lans. Ich wollte<br />
mich an Lauras Zeit messen und war<br />
voll motiviert, mein Bestes zu geben. Wie<br />
eine Wilde radelte ich hinauf zur Lanser<br />
Alm, überholte dabei einige Leute, die über<br />
meine Geschwindigkeit ziemlich erstaunt<br />
waren, wie sie mir dann später erzählten.<br />
Oben angekommen, war ich nicht drei<br />
Minuten langsamer, sondern schneller als<br />
Laura. Das hätte ich vorher nie geglaubt.<br />
Es war auf alle Fälle ein Tag, den ich nicht<br />
so schnell vergessen werde.<br />
LINKS:Julia Sörgel auf der<br />
Lanser Alm. (© privat)