Das 2017 erschienene Marbacher Magazin mit Fotos aus dem Nachlass von Ruth Landshoff und Texten von Jan Bürger, Chris Korner und Thomas Blubacher ist leider vergriffen. Wer nichts verpassen möchte, der kann die Reihe abonnieren: https://www.dla-marbach.de/fileadmin/shop/Abo-Formular_2019.pdf
IM
SCHATTENREICH EICH
DER WILDEN
ZWANZIGER
Fotografien aus dem Nachlass
von Ruth Landshoff-Yorck
von Jan Bürger
marbachermagazin 160
IM SCHATTENREICH DER
WILDEN ZWANZIGER
Fotografien von Karl Vollmoeller
aus dem Nachlass von
Ruth Landshoff-Yorck
von Jan Bürger
mit Beiträgen von
Thomas Blubacher und
Chris Korner
Deutsche Schillergesellschaft
Marbach am Neckar
VOM PARISER PLATZ
NACH MANHATTAN –
UND MARBACH
5
Der Maler stieg einfach durchs Fenster in die große Wohnung. Niemand
hatte ihn eingeladen. Niemand hatte mit ihm gerechnet, aber
natürlich wusste Karl Vollmoeller, um wen es sich handelte, als der
schlaksige Mann mit der niedrigen Stirn und den großen beweglichen
Augen bei ihm zu Hause Platz nahm. Und so wunderte sich
Vollmoeller wohl auch nicht darüber, dass der Eindringling nicht
nur einen riesigen Zeichenblock mitgebracht hatte, sondern auch
einen Revolver, den er laut auf den Tisch poltern ließ. Ganz Berlin
wusste, wer Oskar Kokoschka war, zumindest die ganze Berliner
Boheme, auch wenn noch lange nicht ausgemacht war, dass ›Koko‹
später einmal zu den größten Malern des 20. Jahrhunderts gezählt
werden würde. Und auch der heute vergessene Vollmoeller, Besitzer
der Erdgeschosswohnung am Pariser Platz, gleich hinter dem
Brandenburger Tor, gehörte zur Kulturprominenz der Hauptstadt.
Schließlich war er einer der engsten Vertrauten des Regie-Zauberers
Max Reinhardt.
Mit Vollmoellers wortlosem Drama Das Mirakel / The Miracle feierten
die beiden seit 1911 in ganz Europa Erfolge, in Berlin genauso
wie in London, Paris und seit 1924 sogar am Broadway in New York.
Die Musik zu diesem Stück, das ein Millionenpublikum faszinierte
und den großen Vorteil hatte, nicht übersetzt werden zu müssen, weil
die Darsteller ausschließlich mimisch und gestisch agierten, hatte der
berühmte Engelbert Humperdinck geschrieben. ›Koko‹ aber suchte
6
1922 am Pariser Platz nicht nach Vollmoeller. Er hatte auch nicht
vor, etwas zu stehlen. Eigentlich war ihm der reiche Schriftsteller,
Unternehmer und Filmpionier nur im Weg, denn ihm ging es allein
um dessen Freundin. Er wollte sie unbedingt zeichnen, und nicht nur
an diesem Tag drehte sich in Vollmoellers Zimmerfluchten das meiste
um die nicht einmal volljährige, 1904 geborene Schauspielerin Ruth
Landshoff. Seit kurzem lebte sie mit dem 46-jährigen zusammen und
fläzte, wie es in ihren Erinnerungen heißt, gerade mal wieder bei
ihm auf dem Sofa.
Dem alt gewordenen Bohemien muss die Szene nicht ganz geheuer
gewesen sein. Doch der Maler ließ sich nicht zurückweisen
und blieb stundenlang – nicht ohne Grund hatte er seinen Revolver
mitgebracht. »Koko zeichnete in wilder Eile«, schrieb Ruth Landshoff
knapp vier Jahrzehnte später. »Er schaute mich nicht an, wie
man ein Mädchen, sondern wie man ein Haus anschaut oder einen
Baum. Mein Hund hatte nur einmal kurz gebellt und schlief wieder.
Mir wurde die Stille allmählich langweilig, und ich schlief auch ein.
Ich wachte davon auf, daß Koko den Block zuklappte. Er stand auf
und sagte: ›Danke, küss’ die Hand.‹«1
Zwei der an diesem Nachmittag entworfenen Lithografien werden
bis heute immer wieder ausgestellt. Bereits 1924 präsentierte
die viel gelesene Zeitschrift Der Querschnitt eine von ihnen, Seite
an Seite mit einem Foto von Ruth Landshoff. »Schöne Frauen beim
Photographen und beim Maler«, lautete das Motto. In den zwei Jahren
seit ›Kokos‹ überfallartigem Besuch war Ruth Landshoff selbst
stadtbekannt geworden – nicht als mittelmäßige Schauspielerin,
sondern als durch und durch weltliche Ikone. Sie galt als eines der
Gesichter der jungen Generation.
Wie nur wenige verkörperte sie einen neuen Typ Frau. Während
viele noch über Reformkleider und Frisuren diskutierten und
sich durch die Legionen so genannter Bubiköpfe irritieren ließen,
experimentierte Ruth Landshoff bereits auf viel radikalere Weise
mit den Geschlechterrollen. Mal zog sie in Männerkleidern durch
die einschlägigen Cafés, mal posierte sie betont weiblich, im Pelz,
mit Zigarette, Hündchen und Vollmoellers weißem Austro-Daimler
vor der Kamera. Regelmäßig saß sie im Atelier von Frieda Riess
am Kurfürstendamm Modell, die in dieser Zeit zu den beliebtesten
Fotografinnen überhaupt zählte. Und Aufnahmen des Gesichts und
der Hände von Ruth Landshoff waren es auch, die den Bauhaus-Fotografen
Otto Maximilian Umbehr, der sich bald nur noch Umbo
nannte, seit 1927 international stilbildend werden ließen.
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Rolle der
Frau radikal neu definiert. Stefan Zweig prophezeite 1929 sogar, dass
»die vollkommene Umwertung und Verwandlung der europäischen
Frau um 1900« eine »zukünftige Kulturgeschichte« mehr beschäftigen
würde als die zurückliegenden Kriegsereignisse.2 In kurzer Zeit
wurde Ruth Landshoff gewissermaßen zum Poster-Girl einer Bewegung,
die den Abtreibungsparagrafen 218 ebenso zur Disposition
stellte wie die patriarchalische Ordnung insgesamt.
Zum Schreiben fand sie, die schon als Kind im Haus des Verlegers
Samuel Fischer ein- und ausging, erst später und wohl eher zufällig.
Ihr erster Artikel erschien im November 1927 allerdings gleich in der
auflagenstarken Dame aus dem Ullstein Verlag und wurde großzügig
honoriert. Die Presse florierte Ende der zwanziger Jahre, und Ruth
Landshoff war als Journalistin viel erfolgreicher als auf der Bühne.
Zudem erleichterte ihr die Literatur das Spiel mit den Rollen und
Identitäten, das sie extrem faszinierte. Nachdem sie David Graf
Yorck von Wartenburg geheiratet hatte, entdeckte sie auch für ihre
wechselnden Künstlernamen ganz neue Möglichkeiten – bis hin zur
amerikanisch klingenden Signatur Ruth L. Yorck, die sie später im
Exil bevorzugte. Eigentlich hieß sie aber Ruth Levy, und Landshoff
war der Geburtsname ihrer Mutter.
Bezeichnend für das, was Ruth Landshoff bis zur Machtübernahme
der Nationalsozialisten erreicht hatte, ist das Kurzporträt
7
8
eines anonymen Journalisten in der Illustrierten Das Leben aus
dem November 1931. »Bitte, Rut ohne ›h‹«, heißt es dort. »Auch
jung, Mitte Zwanzig. Universaltalent: Schriftstellerin – Dichterin –
Malerin – Tänzerin – Bühnen- und Filmschauspielerin – Reiterin –
Automobilistin – Motorradfahrerin. Hat Hausfrauenpflichten als
Gräfin York von Wartenburg. Schrieb mit sieben (s-i-e-b-e-n) Jahren
ihre ersten selbstillustrierten Geschichten, lernte im englischen Pensionat
›viel Hockey, Ethik und wenig Geographie‹. Letzteres holte
sie bald praktisch auf Auslandsreisen nach, malte zwei Jahre in Paris,
betätigte sich dann und zwischendurch wie oben angegeben, schreibt
seit drei Jahren über ihre Reisen und was ihr dabei auffällt, Gesellschaftsreportagen,
über Theater, Film, eigenartige Menschen und
Dinge – sehr natürlich, logisch und fesselnd. 1930 erschien ihr erster
Roman: Die Vielen und der Eine, blendend geschrieben, stilistisch
interessant und gedanklich von seltener Kühnheit.« 3
Bei Erscheinen ihres Romandebüts im Rowohlt Verlag war Rut
Landshoff, wie sie sich auf dem Umschlag nannte, ein Star. Zugleich
war ihre Existenz voller Abgründe und stets gefährdet. Mit Blick auf
eine Affäre mit dem Politiker und Reichsminister für Ernährung und
Landwirtschaft, Gerhard Graf von Kanitz, verglich sie sich rückblickend
sogar mit einem Callgirl.4 In ihrer Beziehung zu Vollmoeller
traten neben allem Glamour zwischen Berlin, Wien, Paris und Venedig,
neben Bekanntschaften mit Hugo von Hofmannsthal, Albert
Einstein und Charlie Chaplin, um nur einige wenige zu nennen, und
den Affären und Freundschaften mit Annemarie Schwarzenbach
(siehe Foto S. 25), Francesco und Eleonora von Mendelssohn auch
die dunkelsten Seiten ihres Lebens immer wieder deutlich zutage.
Harry Graf Kessler spricht in seinem Tagebuch unverblümt von
Vollmoellers »Harem am Pariser Platz«,5 den man sich zugleich als
Casting-Studio für einige der wichtigsten Film- und Theaterproduktionen
der Weimarer Republik vorstellen muss – bis hin zu Josef von
Sternbergs Blauem Engel mit Marlene Dietrich, an dessen Drehbuch
Vollmoeller maßgeblich beteiligt war. Was ihn selbst immer wieder
dorthin zog, verschweigt Kessler diskret.
Ruth Landshoff fiel im System Vollmoeller die zweifelhafte Rolle
zu, immer neue und immer jüngere Frauen in die Nähe des Mittvierzigers
zu bringen. Die meisten von ihnen folgten vermutlich blind
dem Traum einer Karriere als Theater- oder Filmschauspielerin.
Dafür waren sie bereit, fast alles zu geben. Noch drastischer als
Kessler und wahrscheinlich auch mit mehr Sinn für Übertreibungen
schilderte der Drehbuchautor und Filmregisseur Géza von Cziffra,
der in den Zwanzigern selbst zu Vollmoellers Schützlingen gehörte,
diese Verhältnisse. Ruth Landshoff kam ihm damals »verhätschelt«
und »verwöhnt« vor: »Sie war hübsch, reizvoll, das Schicksal hatte
ihr viele Talente in den Schoß gelegt und, glücklicherweise, auch
in ihr apartes Köpfchen. Männer und Frauen liebten sie, und sie
liebte Männer und Frauen.« Vollmoeller habe sie »fast sklavisch«
gedient. »Sie sammelte immer junge Mädchen um sich, sie sortierte
sie, und die Auserwählten landeten in Vollmoellers Bett, der sie
dann nach einer gewissen Zeit an seine Freunde weitergab. Wie
einen gebrauchten Wagen. […] Wenn Vollmoeller mit der Landshoff
und zwei, drei hübschen Mädchen in der Eden-Bar zum 5-Uhr-Tee
erschien, raunten sich die Leute zu, sich der Autosprache bedienend:
›Die Vollmoellers machen eine Probefahrt!‹«6
Was man in Ruth Landshoffs 1963 veröffentlichten autobiografischen
Skizzen für Angeberei halten könnte, entpuppt sich angesichts
eines Teilnachlasses mit Briefen, Taschenkalendern, Manuskripten
und zahlreichen Fotos, der dem Deutschen Literaturarchiv erst 2016
gestiftet wurde, als das Gegenteil: Sie, die bereits als Kind Thomas
Mann und Gerhart Hauptmann begegnet war, lernte nach und nach
in Berlin fast jeden bedeutenden Schriftsteller, Künstler, Regisseur
und Schauspieler kennen. Gut zehn Jahre lebte sie mitten in der
experimentierfreudigsten und aufregendsten Szene Europas, bis die
Nazis Berlin zurück in die Provinzialität zwangen und Ruth Lands-
9
10
hoff aufgrund ihres jüdischen Familienhintergrundes emigrieren
musste. Über Frankreich, England und die Schweiz führte ihr Weg
nach New York. Dort traf sie viele ihrer Freunde und Bekannten
wieder. Dennoch fiel es ihr zunächst schwer, in den USA Fuß zu
fassen. Obwohl sie bald auf Englisch publizierte, war ihr Alltag
geprägt von finanziellen Engpässen. Dies änderte sich erst durch
neue wohlhabende Freunde, allen voran durch den Librettisten John
Latouche (1914–1956) und den Lyriker Kenward Elmslie (geb. 1929),
die sie fortan in Krisenzeiten unterstützten.
Kenward Elmslie begleitete Ruth Landshoff 1959 auch nach
Marbach auf die Schillerhöhe. Dort fuhren die beiden in einem exklusiven
Mercedes-Cabriolet vor, das der Pulitzer-Enkel Elmslie einige
Monate zuvor erstanden hatte. Auf den Direktor Bernhard Zeller
muss Ruth Landshoff wie eine Wiedergängerin aus den turbulenten
Jahren der Berliner Boheme gewirkt haben, wie eine Botschafterin
jener Ära, die schon bald einer der wichtigen Sammlungsschwerpunkte
des noch jungen Deutschen Literaturarchivs werden sollte.
Unter dem 11. Mai 1959 notierte Ruth Landshoff in ihrem Taschenkalender,
dass sie dem Schiller-Nationalmuseum »KV-Sachen« übergeben
habe. ›KV‹ stand für den in Stuttgart geborenen Vollmoeller,
dessen Familie einen großen Teil seines literarischen Nachlasses in
Beilstein aufbewahrt hatte, bis ihn Ruth Landshoff dem Marbacher
Archiv anvertraute. »Leider war das Gespräch viel zu kurz, um den
weiten Umkreis des Lebens von Ruth Landshoff-York auch nur vage
zu ermessen«, bedauert Zeller in seinen Marbacher Memorabilien.7
Eine Spur dieser Tage findet sich auch in Ruth Landshoffs veröffentlichten
Erinnerungen. »Ich habe gerade einige Wochen auf dem
Land gelebt, in Beilstein«, heißt es dort. »Das Haus war hübsch, die
Landschaft mit ihren sanft abfallenden alten Hügeln bezaubernd,
die alten Dächer der dörflichen Häuser schön und lieblich, und die
Ordnung der schlafenden Weinhügel und Gärten beruhigend. […]
Auf dem Schloß Beilstein ist der Dichter Karl Vollmöller geboren,
und dort hat er einen großen Teil seiner Jugend verbracht. Nach
seinem Tode bewahrte man dort seine Schriften auf, was noch übriggeblieben
ist nach Feuer und Bomben und andern Verlusten.«8
Vollmoellers Erbe war ihr alles andere als gleichgültig. Mit Bernhard
Zeller vereinbarte sie nicht nur die Übergabe seiner Papiere
an das Archiv. Sie verhandelte auch über eine Auswahl seiner nachgelassenen
Gedichte, die 1960 in der Turmhahn-Bücherei für die
Mitglieder der Deutschen Schillergesellschaft erschien. Das kurze
Nachwort dazu steuerte der Hofmannsthal-Herausgeber Herbert
Steiner bei, der mit Vollmoeller in den USA in Verbindung stand.
»Vollmoeller war Schwabe«, schrieb Steiner nicht ohne Blick auf sein
Publikum: die Vereinsmitglieder. »Seine Liebe galt dem Alten Reich,
nicht dem von 1871, dem alten deutschen und württembergischen
Wesen. Und er war Kosmopolit […] – er hatte in vielen Ländern
gelebt, in Griechenland, Paris, Italien, Berlin, Kalifornien. Vielfältig
und reich begabt, hatte er sich nicht nur im Wort ausgesprochen, er
hatte sich früh und leidenschaftlich mit den neuen Möglichkeiten
der Zeit befaßt, mit dem Bau von Rennwagen und Flugzeugen, als
einer der ersten, und ebenso leidenschaftlich mit dem Theater«.9
Steiner rief die berühmtesten Freunde und Bekannten von Vollmoeller
in Erinnerung: Stefan George, Hugo von Hofmannsthal
und Richard Strauss ebenso wie Gabriele D’Annunzio. Über das ausschweifende
Leben am Pariser Platz und im altehrwürdigen Palazzo
Vendramin am Canale Grande, den der reiche »Schwabe« bis 1938
zu seinem Hauptwohnsitz gemacht hatte, verlor er selbstverständlich
kein Wort.
Der Nachlass der am 19. Januar 1966 an den Folgen eines Herzinfarkts
gestorbenen Ruth Landshoff dokumentiert diese andere
Seite von Vollmoellers Existenz besonders reichhaltig – den Dandy
und Bohemien, aber auch den Antifaschisten, der im Frühjahr 1939
in die USA emigrierte. Dort wurde er Silvester 1941 vom FBI festgenommen
und als ›Internee of War‹ zu Unrecht verdächtigt, mit
11
12
den Nationalsozialisten gemeinsame Sache gemacht zu haben. Bis zu
seiner Freilassung vergingen 13 Monate. Mit den gesundheitlichen
Folgen der Haft kämpfte er bis zu seinem Tod am 18. Oktober 1948
in Hollywood.
Nach Ruth Landshoffs Tod verging fast ein halbes Jahrhundert,
bis Kenward Elmslie zusammen mit dem Lyriker Ron Padgett ihre
Papiere in seiner New Yorker Wohnung wiederentdeckte und nach
Marbach bringen ließ. Ein zweiter Teilnachlass, der überwiegend
Manuskripte zu veröffentlichten Arbeiten und einer nicht abgeschlossenen
Autobiografie enthält, wird im Archivzentrum der Boston
University aufbewahrt.
RUTH LANDSHOFF
Fotografien von Karl Vollmoeller
Berlin / Venedig
1 Ruth Landshoff-Yorck, Klatsch, Ruhm und kleine Feuer. Biographische Impressionen,
Köln / Berlin 1963, S. 88 f. 2 Stefan Zweig, »Zutrauen zur Zukunft«, in: Die Frau
von morgen wie wir sie wünschen, hrsg. von F. M. Hübner, mit einem Vorw. von Silvia
Bovenschen, Frankfurt a. M. 1990, S. 25. 3 Das Leben 9 (1931 / 32), H. 5, November, S. 22.
4 Vgl. Thomas Blubacher, Die vielen Leben der Ruth Landshoff-Yorck, Berlin 2015, S. 91.
5 Harry Graf Kessler, Das Tagebuch, Bd. 8: 1923–1926, hrsg. von Angela Reinthal,
Günter Riederer und Jörg Schuster unter Mitarb. von Janna Brechmacher, Christoph
Hilse und Nadin Weiß, Stuttgart 2009, S. 727. 6 Géza von Cziffra, Kauf dir einen bunten
Luftballon. Erinnerungen an Götter und Halbgötter, München / Berlin 1975, S. 169; vgl.
Blubacher (Anm. 4), S. 89. 7 Bernhard Zeller, Marbacher Memorabilien. Vom Schiller-
Nationalmuseum zum Deutschen Literaturarchiv. 1953–1973, Marbach a. N. 1995, S. 359.
In der Registratur der Deutschen Schillergesellschaft findet sich der Briefwechsel
zwischen Ruth Landshoff-Yorck und Bernhard Zeller aus den Jahren 1959 bis 1966,
in dem es auch um Vollmoellers Gefangenschaft in den USA geht. Im Juli 1959 erinnert
sich Landshoff-Yorck, bei der Verteidigung Vollmoellers sei es darum gegangen,
Menschen, die »nicht viel ueber Verhaeltnisse in Deutschland« wissen, zu beweisen,
»dass Karl Vollmoeller unfaehig war[,] etwas zu tun[,] was einer democratischen
Gemeinschaft schaedlich werden koennte«. 8 Landshoff-Yorck (Anm. 1), S. 221–222.
9 Karl Vollmoeller, Gedichte. Eine Auswahl, Marbach a. N. 1960, S. 111 f.
DAS UNGEHEUER
ZÄRTLICHKEIT
33
Zu Vollmoellers bevorzugten Beschäftigungen gehörte es, junge
Frauen aus seinem Umfeld zu fotografieren. In den zwanziger Jahren,
als sich noch kaum ein Amateur eine Kamera leisten konnte, verfügte
er bereits über eine hochwertige Ausrüstung. Aktaufnahmen
gehörten zu seinen favorisierten Sujets. Ruth Landshoff hat deren
Negative zu Hunderten aufbewahrt. Sie fanden sich 2016 in ihrem
New Yorker Nachlass. Die meisten von ihnen zeigen sie selbst in
Berlin oder im Palazzo Vendramin, oft auch unter freiem Himmel am
Lido di Venezia. Eine umfangreiche Serie Vollmoellers gilt der 1900
geborenen Schauspielerin Grit Haid, die in einigen Produktionen
von Max Reinhardt mitwirkte und 1938 bei einem Flugzeugabsturz
ums Leben kam. Eine weitere Serie entstand vermutlich im Februar
1926 im Zuge des ersten Berliner Engagements von Josephine Baker.
Damals war die Tänzerin aus St. Louis – anziehend und »prachtvoll«,
wie Thea Sternheim in ihrem Tagebuch bemerkt1 – keine 20
Jahre alt. Sie stand am Anfang ihrer Weltkarriere. Als das Jazz Age
auch die europäische Jugend in seinen Bann zog, hatte Vollmoeller
sie in New York kennengelernt und ihr Engagements in Paris und
Berlin vermittelt. Nun trat sie wochenlang in der als Sensation gefeierten
›Revue Nègre‹ am Kurfürstendamm auf – und mitunter vor
privaten Gästen am Pariser Platz.
Manchmal ruhte sie sich dort aber auch einfach nur aus. Géza
von Cziffra erinnerte sich, sie bei Vollmoeller getroffen zu haben.
34
Allerdings: »Sie tanzte nicht, sie saß in einer Ecke und aß Unmengen
von Bockwürsten mit Kartoffelsalat. Das tat sie hier während ihres
Berliner Gastspiels jeden Abend.«2
Die bekanntesten Berichte über Vollmoeller und Baker stehen
im Tagebuch von Harry Graf Kessler unter dem 13. und 24. Februar
1926. Am ersten Abend habe Kessler um ein Uhr morgens einen Telefonanruf
seines Freundes Max Reinhardt erhalten, ob er nicht noch
an den Pariser Platz kommen wolle. Kesslers bemüht hemdsärmelige
Schilderungen der Erlebnisse dieser Nacht machen deutlich, dass
nicht nur Vollmoeller junge Schauspielerinnen und Tänzerinnen wie
Material behandelte. Aus heutiger Sicht wirken seine Aufzeichnungen
herablassend, sexistisch und in Bezug auf Josephine Baker offen
rassistisch. In ihnen zeigt sich der ansonsten so unkonventionelle
Graf ganz als Kind seiner Zeit. Zugleich begeisterte er sich dermaßen
für Baker, dass er umgehend eine Pantomime für sie und Ruth
Landshoff entwarf. Letztere versah er, ganz Grandseigneur, meist
mit dem Attribut »klein«.
Reinhardt sollte das Stück inszenieren – ein wenig scheint Kessler
dabei auch den Welterfolg Das Mirakel im Hinterkopf gehabt zu
haben – und Kurt Weill die Musik beisteuern. Zu alledem kam es
jedoch nie. Das Skript verschwand in der Schublade und findet sich
heute in Kesslers Marbacher Nachlass. Wie ernst er diesen Plan
seinerzeit nahm, erfuhr sogar Ruth Landshoff erst aus seinem postum
veröffentlichten Tagebuch. Sie las es, während sie ihre eigenen
Erinnerungen zu Papier brachte. Und nicht ohne Überraschung
musste sie feststellen, dabei »etwas über jemanden« zu erfahren, der
ihr sehr nahestand, nämlich über sich selbst.3
»Miss Baker sei da«, notiert Kessler am 13. Februar 1926, »und
nun sollten noch fabelhafte Dinge gemacht werden.« Ruth Landshoff
bekommt diese Passage in der Auswahlausgabe von 1961 zu Gesicht,
aber folgen wir Kessler weiter: »Ich fuhr also zu Vollmoeller in seinen
Harem am Pariser Platz u. fand dort ausser Reinhardt u. [Paul]
Huldschinsky zwischen einem halben Dutzend nackter Mädchen
auch Miss Baker, ebenfalls bis auf einen rosa Mull Schurz völlig
nackt, und die kleine Lanshoff (eine Nichte von Sammy Fischer) als
Junge im Smoking. Die Baker tanzte mit äusserster Groteskkunst
und Stilreinheit; wie eine ägyptische oder archaische Figur, die Akrobatik
triebe, ohne je aus ihrem Stil herauszufallen. So müssen die
Tänzerinnen Salomos und Tutankhamons getanzt haben.«
Bemerkenswert, wie künstlich sich der Chronist durch Kennerschaft
und klassische Bildung von einem Geschehen distanziert, das
ihn vermutlich ganz einfach fasziniert, wenn nicht überwältigt hat.
Dabei wird seine Beschreibung immer minutiöser. Besonders fordert
ihn Ruth Landshoffs Androgynität heraus: Josephine Baker tanze
»stundenlang scheinbar ohne Ermüdung, immer neue Figuren erfindend,
wie im Spiel, wie ein glückliches Kind. Sie wird dabei nicht
einmal warm, sondern behält eine frische, kühle, trockene Haut.
Ein bezauberndes Wesen, aber fast ganz unerotisch. Man denkt bei
ihr an Erotik ebensowenig wie bei einem schönen Raubtier. Die
nackten Mädchen lagen oder tänzelten zwischen den vier oder fünf
Herren im Smoking herum und die kleine Lanshoff, die wirklich
wie ein bildschöner Junge aussieht, tanzte mit der Baker moderne
Jazztänze zum Grammophon. […] Zwischen Reinhardt, Vollmoeller
u. mir, die darum herumstanden, lagen die Baker u. die Lanshoff
wie ein junges bildschönes Liebespaar umschlungen. Ich sagte: ich
würde für sie eine Pantomime nach den Motiven des Hohen Liedes
Salomonis schreiben, die Baker als Sulamith, die Lanshoff als Salomo
oder als der junge Liebhaber der Sulamith, die Baker im Kostüm
(oder nicht-Kostüm) orientalisch antik, Salomo im Smoking, eine
ganz willkürliche, modern-antike Phantasie nach halb Jazz- halb
orientalischer Musik, vielleicht von Richard Strauss.«4
Vollmoellers wiederentdeckte Aufnahmen von Josephine Baker
liefern gleichsam die Filmspur zu jenen orientalistischen Schwelgereien,
die Kessler wochenlang beschäftigen; wahrscheinlich nicht
35
36
zuletzt, weil er die erotische Ausstrahlung, die er Josephine Baker
abspricht, bei Vollmoellers junger Geliebten umso stärker empfindet.
Am 24. Februar sieht er die beiden Protagonistinnen seiner
erträumten Pantomime in großer Runde bei sich zu Hause wieder.
Ruth Landshoff wirkt auf ihn diesmal noch männlicher und noch
verführerischer: »im Smoking sehr hübsch, wie ein Junge aussehend,
was sie noch durch eine Hornbrille unterstrich und aufgeschminkte
Andeutung schwarzen Bartflaums«.5 Josephine Baker hingegen, die
gegen Mitternacht hinzustößt, enttäuscht ihn zunächst, denn sie
benimmt sich nur allzumenschlich: Die »kleine Negertänzerin«, für
die Kessler eigens »sein Bibliothekszimmer ausgeräumt« hat, wirkt
erschöpft und mag sich verständlicherweise nicht vorführen lassen
wie ein Automat. Kessler meint, sie sei »offenbar verschüchtert in
ihrer Nacktheit vor den ›Damen‹«, also den anderen anwesenden
Frauen.
Den Abend rettete, wenn wir Kessler glauben dürfen, der von
sich selbst ebenso hingerissen war wie von Josephine Baker, erst der
Entwurf für seine Pantomime. Flugs sei die Tänzerin von seinem
Szenario begeistert gewesen, ganz so, als hätte sie nur auf einen
Mann wie ihn gewartet, auf seinen erlösenden Impuls, mit dem er
sie zurück in ihr ureigenes Element stieß: »Die Baker war wie verwandelt;
drängte, wann sie das tanzen könne? Dann machte sie einige
Bewegungen, stark u. ausdrucksvoll grotesk, vor der grossen Maillol
Figur. Offenbar setzte sie sich mit dieser auseinander; sah sie lange
an; machte ihre Stellung nach, lehnte sich in grotesken Stellungen
an sie an, sprach mit ihr, sichtbar beunruhigt von der ungeheuren
Starre und Wucht des Ausdrucks, tanzte um sie in grotesk grandiosen
Bewegungen herum wie eine kindlich spielende, über sich selbst und
ihre Göttin sich lustig machende Priesterin. Man sah: der Maillol war
für sie viel interessanter und lebendiger als die Menschen, als Max
Reinhardt, Vollmoeller, Harden, ich. Genie (denn sie ist ein Genie
der Grotesk-Bewegung) sprach zu Genie. Dann brach sie plötzlich
ab und tanzte ihre Negertänze u. Karikaturen von allerlei Bewegungen.«6
– Gewissermaßen das gesamte kollektive Bildgedächtnis
amalgamierend, erinnerte ihn Baker in ihrer leidenschaftlichen
Improvisation zugleich an ägyptische Reliefs und an mechanische
Puppen von George Grosz.
Anderntags, am 28. Februar 1926, wirkt Kessler ernüchtert. Er
hatte ebenfalls mit ansehen müssen, wie Baker bei Vollmoeller ihrer
Leidenschaft für Bockwürste frönte, sie liebevoll »hot dogs« nannte
und das auch noch in einer Gesellschaft, »wo Niemand wusste, wer
der Andre war, und aus der nur seine sehr reizende Geliebte, Fräulein
Lanshoff (wieder in Männerkleidern) hervorragte«. Kessler schreckten
am Pariser Platz die »Frauen in allen Stadien der Nacktheit«
ab, von denen er nicht wusste, »ob es ›Freundinnen‹, Nutten oder
Damen«7 waren.
An diesem Tag erschien ihm die »Atmosphäre« um den Hausherrn
fast tragisch, zumal Vollmoeller seit Jahren sein großes dichterisches
Talent verspielt hätte. Dass Frauen wie Josephine Baker
und Ruth Landshoff eine neue Epoche der wirklichen Emanzipation
vorbereiteten, konnte Kessler nicht sehen. Es wäre ihm wohl auch
nicht in den Sinn gekommen. Doch immerhin hatte er ein Gespür
für die Kehrseite des Glitzerlebens, das Vollmoeller Ruth Landshoff
ermöglichte, immerhin ahnte er den Preis ihres Ruhms.
Das Ungeheuer Zärtlichkeit nannte sie ihr erstes Buch, das nach
dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland verlegt werden konnte.
Der schmale Band mit Erzählungen eröffnete 1952 die von Alfred
Andersch herausgegebene Reihe ›studio frankfurt‹, in der er 1953
auch Die gestundete Zeit veröffentlichte, das Debüt von Ingeborg
Bachmann. Landshoffs Titelerzählung handelt – durchaus kafkaesk
und zugleich wie ein menschenfreundliches Vorspiel zu Ira Levins
Bestseller Rosemary’s Baby von 1967 – von einer »wunderschönen«
Frau, die eines Tages ein »Tier« zur Welt bringt und dieses beglückt
als ihr Baby annimmt, mitsamt seinen »langfingrigen« Greiffüßen.8
37
38
Das kleine, fremdartige Wesen wird auf den Namen »Zärtlichkeit«
getauft.9
Dieses zwischen Erfüllung und Katastrophe changierende, schwer
zu begreifende Ungeheuer »Zärtlichkeit« könnte als Sinnbild über
Ruth Landshoffs gesammelten Hinterlassenschaften stehen: über
den Liebesbriefen, Gedichtentwürfen und auch über den Fotografien,
die ihre unglaubliche Vergangenheit in Erinnerung rufen. Es sind
die Spuren einer Frau, die sich über lange Jahre hinweg von ihren
Gefühlen, von ihrer »Zärtlichkeit« lenken ließ, die sich stets auf ihre
Ausstrahlung, ihr jugendliches Charisma und ihre Schönheit verließ,
bis sie sich im Exil als politische Autorin neu erfand – einer öffentlichen
Person, die eine radikale erotische Befreiung zu verkörpern
schien und sich selbst zum Kunstwerk machte. Doch selbstverständlich
musste auch sie das Zerstörerische, Erniedrigende und Brutale
erfahren, das eine von allen Tabus befreite Sexualität mit sich bringt.
Nicht zuletzt dies machen Vollmoellers Aktaufnahmen anschaulich,
die dem Pornografischen keinesfalls ausweichen. Im Gegenteil: Dem
Dilettanten scheint es beim Fotografieren in erster Linie um das
entfesselte Begehren zu gehen. Die Posen seiner Modelle sind meist
stereotyp und erinnern an populäre Bildnisse des frühen 20. Jahrhunderts.
Momente künstlerischer Gestaltung bleiben die Ausnahme.
Und gerade in ihrer Hemmungslosigkeit, die den Fotografen nicht
weniger entblößt als seine Modelle, werden sie zu seltenen Dokumenten
aus dem Schattenreich einer frühen sexuellen Revolution,
die den Aufbrüchen um 1968 in nichts nachstand.
JOSEPHINE BAKER
Fotografien von Karl Vollmoeller
Berlin, 1926
1 Thea Sternheim, Tagebücher 1903–1971, hrsg. und ausgew. von Thomas Ehrsam
und Regula Wyss i. A. der Heinrich Enrique Beck-Stiftung, Bd. 2, Göttingen 2011, S. 18.
2 Géza von Cziffra, Kauf dir einen bunten Luftballon. Erinnerungen an Götter und
Halbgötter, München/Berlin 1975, S. 165. 3 Ruth Landshoff-Yorck, Klatsch, Ruhm und
kleine Feuer. Biographische Impressionen, Köln / Berlin 1963, S. 104. 4 Harry Graf
Kessler, Das Tagebuch, Bd. 8: 1923–1926, hrsg. von Angela Reinthal, Günter Riederer und
Jörg Schuster unter Mitarb. von Janna Brechmacher, Christoph Hilse und Nadin Weiß,
Stuttgart 2009, S. 727 f. 5 Ebd., S. 738. 6 Ebd., S. 739. 7 Ebd., S. 740. 8 Ruth
Landshoff-Yorck, Das Ungeheuer Zärtlichkeit, Frankfurt 1952, S. 83. 9 Ebd., S. 85.
WIE FOTOGRAFIERTE
VOLLMOELLER?
von Chris Korner
51
Von den meisten Fotos finden sich in Ruth Landshoffs Nachlass keine
Abzüge. Überliefert sind großformatige Negative zu Bildern, die in
den Jahren vor 1933 größtenteils von Karl Vollmoeller aufgenommen
wurden. Das von ihm bevorzugte Filmmaterial hat das Format
9 × 14,5 cm. Hierbei handelt es sich um so genannte Planfilme in
Form von einzelnen Negativblättern, die bei absoluter Dunkelheit
in spezielle Filmkassetten geladen wurden. Pro Kassette konnte ein
Bild aufgenommen werden. Anschließend musste eine neue Kassette
in die Kamera eingelegt werden.
Nach dem Belichten wurden die Planfilme im Dunkeln aus den
Kassetten genommen, in lichtdichte Pappschachteln verpackt und
dann zum Entwickeln gebracht. Dies übernahmen meist örtliche
Fotogeschäfte – Vollmoeller fühlte sich z. B. der namhaften Gesellschaftsfotografin
Frieda Riess freundschaftlich verbunden, die ihr
Berliner Atelier unweit der Gedächtniskirche hatte.
Das Filmmaterial – Schwarz-Weiß-Negativfilm mit relativ geringer
Lichtempfindlichkeit – hat aus heutiger Sicht einige Tücken: Die
Trägerschicht bestand seit Ende des 19. Jahrhunderts bis Anfang der
1950 er-Jahre aus Nitrozellulose, oft auch Zelluloid genannt. Nitrozellulose
wurde aus Schwefel- und Salpetersäure sowie Baumwollresten
hergestellt und ist auch als ›Schießbaumwolle‹ bekannt. Wie der
Name schon sagt, ist das Material hochexplosiv und zudem einem
latenten, unaufhaltbaren Zersetzungsprozess unterworfen. Deshalb
52
dürften in einigen Jahrzehnten überhaupt keine historischen Nitronegative
mehr existieren.
Vollmoeller fotografierte mit einer Laufbodenkamera, die durch
eine simple Mechanik zu einem kompakten Kästchen mit Handschlaufe
zusammengeklappt werden konnte. Im Volksmund hießen
diese Kameras ›Faltkamera‹. Sie gaben dem Amateurfotografen
die Möglichkeit, ohne umfangreiche Ausrüstung und mit geringem
Aufwand gute Ergebnisse zu erzielen. Die von zahlreichen Manufakturen
hergestellten Kameras bestehen aus einer Halterung für die
Filmkassette, die über einen Faltbalgen mit dem Objektiv verbunden
ist, einem Sucher und dem Laufboden, auf dem der gesamte Aufbau
hin und her bewegt werden kann.
Für die Aufnahmen in seinen Wohnungen in Berlin und Venedig
verwendete Vollmoeller ein Holzstativ (siehe Foto rechts) und
elektrische Lampen. Ohne diese Hilfsmittel wären Fotos ohne Verwackelungsunschärfe
fast unmöglich gewesen, denn die damaligen
Objektive verfügten über eine geringe Lichtstärke und zahlreiche
Abbildungsfehler. Die Kombination aus unzulänglicher Qualität der
Objektive und dem zur Verfügung stehenden Filmmaterial verschafft
den Aufnahmen allerdings eine ganz eigene Anmutung: Hauttöne
und Lichtverläufe erscheinen weicher. Mangels absoluter Tiefenschärfe
fehlt den Bildern die technische Oberflächlichkeit späterer
Fotos: Sie wirken authentischer.
Zwischen 1910 und 1930 wurden Laufbodenkameras vor allem
von ambitionierten Amateuren und Pressefotografen verwendet. Mit
dem von Oskar Barnack bei Leitz in Wetzlar entwickeltem Kleinbildsystem
(Leica), das die Verwendung von 35 mm-Kinofilm in Patronen
ermöglichte, endete die Ära dieses Kameratyps. Nur im Bereich der
professionellen Architekturfotografie werden auch heute noch technisch
weiterentwickelte Laufbodenkameras verwendet.
Die wahrscheinlich am Pariser Platz in Berlin entstandene
Spiegelaufnahme zeigt nicht nur die Schauspielerin Grit Haid,
sondern hinter der Kamera auch Karl Vollmoeller selbst. ›››
AUF DEN SPUREN EINER
AVANTGARDISTIN
Ein Gespräch mit Ruth Landshoff-Yorcks
Biografen Thomas Blubacher
55
Thomas Blubacher ist Regisseur, Buchautor und Theaterwissenschaftler.
Er arbeitete an Bühnen in der Schweiz, Deutschland, Österreich
und den USA, inszenierte Hörspiele und Radiofeatures.
Seine Feuilletons erschienen u. a. in der Süddeutschen Zeitung, der
Zeit und der Neuen Zürcher Zeitung. 2008 veröffentlichte er eine
Doppelbiografie über die Geschwister Eleonora und Francesco von
Mendelssohn, 2013 folgte eine umfangreiche Biografie über Gustaf
Gründgens, und zwei Jahre später publizierte er Die vielen Leben
der Ruth Landshoff-Yorck, die bislang einzige ausführliche Lebensbeschreibung
über die 1904 in Berlin geborene und 1966 in New York
verstorbene Schriftstellerin und Schauspielerin.
Die Fragen stellte Jan Bürger.
Wie sind Sie dazu gekommen, Biografien zu schreiben?
Thomas Blubacher: Am Anfang stand 1999 ein schmales Bändchen
über Gustaf Gründgens in der Edition Colloquium. Der Umfang
war extrem begrenzt, aber diese Arbeit führte mich zu meinen
späteren Projekten. Durch Gründgens stieß ich auf Francesco von
Mendelssohn und merkte, dass es über ihn keine Literatur gab, dass
man nicht mal sein Todesdatum kannte, obwohl er doch als Regisseur
zwei Stücke von Ödon von Horváth uraufgeführt und Brechts
Dreigroschenoper erstmals am Broadway inszeniert hatte. Francesco
von Mendelssohn wiederum gehörte zu den engsten Freunden von
Ruth Landshoff-Yorck.
56
Es war also theatergeschichtliche Pionierarbeit zu leisten.
Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, zum 100. Geburtstag von Francesco
ein größeres Feuilleton zu schreiben. Daraus entstand 2002 ein
Radiofeature, das von zahlreichen Rundfunkanstalten ausgestrahlt
wurde. Und nach insgesamt acht Jahren Recherche konnte ich dann
eine Biografie über die Geschwister Mendelssohn veröffentlichen,
also auch über Eleonora. In beider Leben spielte Ruth Landshoff
eine wesentliche Rolle: Francesco verlobte sich einst zum Spaß mit
Ruth, die sich später wiederum in Eleonora verliebte.
Sie verlobten sich?
Ach, das gab man halt so bekannt. Francesco und Ruth waren
ein zwillingshaftes Paar. Sie zogen zusammen als Crossdresser durch
Berlin, während Eleonora wohl wirklich eine große Liebe von Ruth
Landshoff war, wenn auch eine unerwiderte. Zu Ruth Landshoffs
50. Todestag, das war der äußere Anlass, habe ich dann eine Biografie
über sie im Insel Verlag herausgebracht.
Ruth Landshoffs Freundes- und Bekanntenkreis war Ihnen also
schon vorher präsent: Gründgens und die Mann-Kinder, die
Mendelssohns, die Sternheims – und Kurt Weill winkte sozusagen
auch schon aus der Ferne. Erscheint Ihnen Ruth Landshoff vor
diesem Hintergrund vor allem eine Projektionsfigur zu sein?
Sind ihre eigenen Werke überhaupt so wichtig?
Angesichts ihres Lebens hatte ich anfangs an den Grafen Kessler
gedacht, dem man nachsagt, 10.000 Prominente gekannt zu haben.
Ruth Landshoff konnte ihm da durchaus Konkurrenz machen; nicht
zufällig war Klatsch, Ruhm und kleine Feuer das einzige große, umfangreiche
Buch, das sie nach 1945 in Deutschland publizieren konnte,
also ihre biografischen Impressionen prominenter Freunde. Ihr
Netzwerk hat für ihre Selbstvermarktung eine große Rolle gespielt.
Aber im Zuge der Arbeit an ihrer Biografie habe ich mich natürlich
auch für ihre eigenen literarischen Arbeiten interessiert – die mich
mehr und mehr fasziniert haben.
Was sollte man von ihr lesen?
Die Feuilletons aus den zwanziger Jahren haben Esprit; sie sind
amüsant und auch heute noch lesenswert, nicht zuletzt wegen ihres
unkonventionellen Blickes auf die Geschlechter. Die Exilromane stellen
in ihrem politischen Engagement wichtige Zeitdokumente dar.
Aber am meisten begeistern mich persönlich der 1948 erschienene
Roman So Cold the Night und die literarisch ambitionierten Kurzgeschichten
der fünfziger Jahre. Mit meinem Background als Theaterregisseur
interessiert mich Ruth Landshoff natürlich nicht zuletzt
als – wenn ich jetzt sage Übermutter, hätte sie wahrscheinlich laut
aufgeschrien –, also sozusagen als Spiritus Rector des Off-Off-Broadway
der sechziger Jahre, des Caffe Cino und des La MaMa Experimental
Theatre. Einerseits war sie als Autorin mit dabei, andererseits
hat sie mit ihrem außerordentlichen Gespür für Talent unbekannte
junge Autoren gefördert, von denen einige später weltberühmt wurden.
Das finde ich wirklich aufregend. Nicht zuletzt aber ging es mir
um die Frage: Wie bringt jemand, der die Avantgarde der zwanziger
Jahre in Berlin miterlebt, um nicht zu sagen mitgeprägt hat, sich in
die Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre in New York ein?
Gleichzeitig scheint es mir auch bemerkenswert, dass sie sich beide
Male im Zentrum von Homosexuellen-Bewegungen wiederfindet.
Absolut. Wobei man im Berlin der zwanziger Jahre in Künstlerkreisen
das Kokettieren mit schwulen und lesbischen Vorlieben
trotz des Paragrafen 175 geradezu zum Ideal erhob, im New York der
fünfziger und sechziger Jahre hingegen Razzien in schwulen Lokalen
und Verhaftungen wegen des Austauschs von Zärtlichkeiten in der
Öffentlichkeit noch an der Tagesordnung waren. Die Stonewall-Unruhen
hat Ruth Landshoff ja gar nicht mehr erlebt.
57
58
Versuchte sie, die Liberalität der zwanziger Jahre in Berlin nach
New York zu tragen?
Als sich die Schwulen in New York noch längst nicht befreit
hatten, gab es im Zentrum der Subkultur, der Künstlerszene von
Greenwich Village, eine Frau, die sagen konnte: Das kenn’ ich alles,
das hatten wir vor 40 Jahren in Berlin. Das trifft auch noch auf Anderes
zu, etwa die Emanzipation, die geistige und materielle Unabhängigkeit
berufstätiger Frauen, aber auch auf höchst Problematisches
wie den Umgang mit Drogen … Diesen Link zwischen zwei Welten,
zwei Epochen fand ich aufregend, und das war für mich ein weiterer
Grund, über Landshoff zu schreiben.
Bleiben wir einen Moment bei Ihren Recherchen. Wie haben
Sie das Leben dieser dann doch recht vergessenen Frau
rekonstruiert?
Natürlich habe ich mich für Ruth Landshoffs Nachlass in Boston
interessiert, im Howard Gotlieb Archival Research Center. Er ist
erschlossen, aber in einem relativ beklagenswerten Zustand. Vieles,
was man dort in die Hand nimmt, zerfällt einem unter den Fingern,
Kopien darf man mittlerweile nur noch in bescheidenem Umfang
anfertigen. So war es eine unschätzbare Hilfe für mich, dass mir
Christine Pendl, die als eine der ersten über Landshoff geforscht hat,
zu Beginn meiner Arbeit großherzig ein paar Tausend Kopien zur
Verfügung gestellt hatte, die sie 15 Jahre zuvor noch hatte machen
können. Bei meinem Aufenthalt in Boston konnte ich mich also auf
das wenige mir unbekannte Archivmaterial konzentrieren. Anschließend
habe ich mich auf die Suche nach weiteren Quellen gemacht.
Ich stieß zum Beispiel auf den Briefwechsel mit Kenward Elmslie,
der in San Diego aufbewahrt wird, oder den Nachlass von Bryan
Guinness, der sich in Familienbesitz in Großbritannien befindet. Parallel
habe ich nach Leuten gesucht, die Landshoff noch kannten. Ich
traf z. B. in Amsterdam Andreas Landshoff, den Sohn des Verlegers
Fritz H. Landshoff, eines Cousins von Ruth. Er hat dann den Kontakt
zu Gisela Fischer hergestellt, der Enkelin von Ruths Onkel Samuel
Fischer, die in Zürich lebte – wie viele andere, die ich befragt habe,
ist sie inzwischen verstorben. Auch zu weiteren Familienangehörigen
wie Ruths Nichte Diana Celenza habe ich Kontakt aufgenommen.
In New York konnte ich etliche Autoren treffen, die Ruth Landshoff
gut kannten, wie etwa Paul Foster, den Initiator von La MaMa, Bob
Heide und Edward Field.
Unerwartet wichtig wurde dann der Kontakt zu Robert Patrick,
einem Schauspieler, Regisseur und Autor, vor allem der Off-Off-
Broad way-Szene, der für kurze Zeit eine Art Sekretär von Ruth
Landshoff war und einen Teil ihrer Autobiografie, die noch immer
unveröffentlicht ist, getippt und redigiert hat. Mit Robert, der jetzt
gerade 80 geworden ist, habe ich mich stundenlang per Skype unterhalten,
vor allem aber hat er auf meine Bitte hin seine Facebook-Freunde
gefragt: »Does anyone know a man named Kenward
Elmslie?« – Elmslie war eine ganz wichtige Person im Leben von
Ruth Landshoff: ein junger Schriftsteller, den sie für wahnsinnig
begabt hielt, den sie eigentlich von ihrem engen Freund John Latouche
geerbt hatte, als dieser auf tragische Weise ums Leben kam …
Sie hat ihn mit auf ihre Europareisen genommen und sich auch in
Deutschland erfolgreich für ihn eingesetzt. Elmslie wiederum war für
Ruth eine Art Mäzen – er ist ein Enkel des wohlhabenden Zeitungsverlegers
Pulitzer. Ich wusste nur, dass Elmslie noch lebt, aber nicht,
wie ich ihn erreichen kann. Und dann meldete sich Ron Padgett,
der bekannte Lyriker, und sagte mir, ich könne Elmslie sprechen,
er könne das arrangieren. Er müsse mich begleiten, Elmslie leide
an Alzheimer, habe aber durchaus lichte Momente. Übrigens lägen
auf Elmslies Dachboden auch noch ein paar Briefe, die für mich
vielleicht interessant wären.
59
60
Ein paar Briefe? Hat Padgett absichtlich untertrieben?
Ich weiß es nicht. De facto handelte es sich um einen umfangreichen
Bestand, darunter neben Notizbüchern, Taschenkalendern,
Bankauszügen und Belegexemplaren etwa 1.000 Briefe, aufschlussreiche
Korrespondenz mit der Familie und mit Karl Gustav Vollmoeller,
aber auch mit Leuten wie Klaus Mann und Francesco von
Mendelssohn, Thornton Wilder, Truman Capote und Carson Mc-
Cullers. Dazu faszinierende Fotografien – die für mich aber nebensächlich
waren. Ich bin dankbar, dass ich etliche Tage von morgens
bis abends in Elmslies Haus in Greenwich Village verbringen durfte,
überwacht von Ruth Landshoff – über dem Schreibtisch hing Oskar
Kokoschkas berühmte Lithografie Ruth II aus dem Jahr 1922.
Elmslies Pfleger wussten: Morgens um neun kommt der Mann aus
Deutschland, arbeitet selbstständig, braucht eigentlich nichts, außer
vielleicht mal einen Kaffee, und geht abends wieder. Natürlich habe
ich zwischendurch mehrmals mit Elmslie gesprochen. Es war nicht
unergiebig, aber tatsächlich so, dass er sich von Tag zu Tag nicht
erinnern konnte, dass wir uns bereits kennengelernt hatten. Dass
ich in Ruhe die Dokumente sichten und auswerten durfte, war für
mich ein großes Geschenk. Als Ron mich am letzten Tag fragte, was
meiner Meinung nach mit ihnen geschehen solle, riet ich ihm, sie
nach Marbach zu geben.
Ein Jahr später vermittelte Padgett diesen Bestand für Elmslie
dann tatsächlich nach Marbach. Eine besondere Pointe war dabei,
dass wir aufgrund der Memorabilien unseres früheren Direktors
Bernhard Zeller festgestellt haben, dass Elmslie Ruth Landshoff
1959 auf die Schillerhöhe begleitet hat.
Ruth Landshoff wollte damals etwas für Vollmoeller bewegen,
z. B. in Marbach. So entstand 1960 die kleine Ausgabe von Vollmoellers
nachgelassenen Gedichten. Als seine literarische Nachlassverwalterin
suchte sie Rat beim Stuttgarter Urheberrechtsexperten
Ferdinand Sieger, der mit Vollmoellers Nichte Christine Purrmann
verheiratet war, und entschied dann auch, dass Vollmoellers Nachlass
nach Marbach gehen sollte.
Das mag auch damit zusammenhängen, dass Zellers Vorgänger
Erwin Ackerknecht bereits unmittelbar nach Vollmoellers Tod 1948
den Kontakt zur Familie suchte. Ackerknecht kannte Vollmoeller
schon vom Stuttgarter Karls-Gymnasium, hatte dort aber erst zwei
Jahre nach ihm Abitur gemacht.
Ruth Landshoff hat sich auf verschiedensten Kanälen für Vollmoellers
Werk eingesetzt, bis hin zum Plan einer Mirakel-Tournee
mit Ingrid Bergman, Hildegard Knef und Roberto Rossellini. Das
ließ sich natürlich nie realisieren, trotz ihrer guten Beziehungen.
Einerseits klingt das hochtrabend, andererseits gehörte sie nicht
zu denjenigen, die mit ihren prominenten Freunden angeben.
Sie kannte ja wirklich alle, und viele sehr gut.
Ruth Landshoffs Aufzeichnungen sind einerseits sehr verlässlich,
andererseits mitunter auch ein bisschen frisiert – mit Sinn für
dramatische Wirkungen und gute Pointen. Wenn man ihr wirklich
glauben darf, hat sie Vollmoeller und Francesco von Mendelssohn an
ein und demselben Abend des Jahres 1921 kennengelernt. Just diese
beiden haben ihr dann mit ihren Kontakten die große Welt eröffnet
und so Landshoffs Leben ganz wesentlich geprägt.
Mit dem entscheidenden Unterschied, dass Mendelssohn homosexuell
war und Vollmoeller wesentlich älter. Was war das aus
Ihrer Sicht für eine Beziehung mit Vollmoeller?
Ruth Landshoff beschreibt sie eigentlich sehr ungeniert. Mit 17
Jahren wurde sie seine Geliebte, da war Vollmoeller 42. Das ging
ungefähr zwei Jahre, dann war sie ihm zu alt. Nun fiel ihr die Aufgabe
zu, junge Mädchen herbeizuschaffen, für die er sich interessieren
61
62
könnte. Aber es blieb eine ganz enge Bindung, eine Freundschaft, die
mehr als ein Vierteljahrhundert Bestand hatte, bis zu Vollmoellers
Tod. Doch die sexuelle Beziehung muss sich auf die erste Zeit, als
sie noch sehr jung war, beschränkt haben.
Welche Rolle spielte Harry Graf Kessler für das Leben in
Vollmoellers Wohnung am Pariser Platz, in dieser Mischung aus
erotischen Beziehungen, Film- und Theaterbesetzungen und
diversen künstlerischen Projekten?
Hinreichend bekannt ist ja seine oft zitierte Schilderung der
Treffen mit Josephine Baker. Mich hat an seinen Aufzeichnungen
aber weniger die Beschreibung der Baker interessiert als die der
»kleinen Landshoff« im Smoking, die »wirklich wie ein bildschöner
Junge aussieht«. Mir ging es dabei nicht um Kesslers erotische
Neigungen, sondern darum, dass er ganz klar etwas Spezifisches
für Ruth Landshoff benennt: eben diese Überschreitung der Geschlechtergrenzen.
Verkleidet als Junge, flirtete »René«, wie sie
sich nannte, mit Mädchen. Sie zog im Smoking mit Francesco, der
ein Abendkleid trug, herum. Und manchmal wechselten beide tatsächlich
ihre Identitäten. Es gab einige Berühmtheiten, die Ruth
Landshoff vernaschen wollten. Im letzten Moment hat sie dann, im
Halbdunkeln, sozusagen mit Francesco getauscht, und beide haben
sich schrecklich amüsiert, wenn dann irgendwann der Moment kam,
an dem der Partner entdeckte, dass er mit Francesco im Bett lag und
nicht mit Ruth …
Wie haben Sie so etwas recherchiert? Stochert man als Biograf
da nicht im Nebel des Unzuververlässigen? Dieser Rollentausch
mit Francesco – gibt es dafür überprüfbare Quellen oder nur
die Aufzeichnungen der beiden?
Das Crossdressing ist nicht nur durch Briefe, sondern auch durch
zeitgenössische Veröffentlichungen belegt. Im Anekdotischen musste
ich mich aber letztlich auf das verlassen, was die beiden über solche
intimen Dinge zu Papier brachten.
Und erstaunlicherweise blieb Ruth Landshoff ja meist bei der
Wahrheit.
Sie hat meines Erachtens nichts erfunden. Es gibt nur ganz
wenige Punkte, bei denen sie schummelte. Nachdem sie sich für die
Öffentlichkeit um ein paar Jahre jünger gemacht hatte, wurde ihr
klar, dass das Konsequenzen hatte. Also musste sie z. B. erzählen,
sie wäre auf dem Schulweg von Murnau für den Film Nosferatu entdeckt
worden, was nicht einmal ganz gelogen war, weil es auf dem
Weg zur Schauspiel-Schule war. Aber sie erzählte die Geschichte
natürlich so, dass sich jeder Leser ein Kind auf dem Weg zur Schule
vorstellt. Sonst aber flunkerte sie nur wenig und verfälschte nichts
grundlegend.
Wie kam Ruth Landshoff zum Schreiben?
Durch Vollmoellers und Mendelssohns Kontakte erlangte sie
früh eine gewisse Popularität. Zugespitzt könnte man sagen, sie
war eines der ersten It-Girls der Geschichte. Berühmt, ohne dass
man wusste, wofür. Oder vielmehr einfach dafür, dass sie ist, wie
sie ist: wie sie sich kleidet, wie sie sich gibt, wie sie aussieht; diese
androgyne Erscheinung, dieses freie Leben. Sie war sehr fotogen,
und für ihre Zeit als junge Frau avantgardistisch. Man sprach sogar
von einer Ruth-Landshoff-Mode. Junge Mädchen haben sie kopiert,
sie fanden diesen Typ Frau toll und wollten auch so sein. Das hat
dazu geführt, dass sie für die Unterhaltungspresse immer interessanter
wurde und nach eigenen Beiträgen gefragt wurde. Sie kam
also durch ihre Prominenz als Society-Girl zum Schreiben. Und
natürlich wurden die Feuilletons meist zusammen mit einem Foto
der hübschen Autorin abgedruckt, mal neben dem eigenen Auto, mal
mit ihrem Hund. Sie verfasste amüsante Plaudereien über Themen
63
wie Reisen, Autos, Mode. Dabei zeigte sich ihre schriftstellerische
Ausgewählte Literatur
Begabung, sie wagte sich an ihre ersten Unterhaltungsromane, und
sukzessive stiegen die literarischen Ambitionen. Auch ihre Gedichte
sind absolut lesenswert!
Blubacher, Thomas: »Gibt es etwas Schöneres als Sehnsucht?« Die Geschwister
Eleonora und Francesco von Mendelssohn. Berlin 2008.
– Die vielen Leben der Ruth Landshoff-Yorck. Berlin 2015.
64
Sie haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten sehr viele
Lebensläufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rekonstruiert.
Was ist für Sie das Typische an Ruth Landshoff, was das
Besondere?
Typisch ist, wie dieses exzeptionelle Leben eingebettet ist in die
Zeitläufte und verstrickt in die große Politik. Das Besondere ist,
dass dieses Leben fast wie ein klassischer Entwicklungsroman verläuft.
Pointiert ausgedrückt: vom kapriziösen, verantwortungslosen,
ziemlich selbstsüchtigen It-Girl zur engagierten Antifaschistin, zur
ambitionierten Literatin und Mentorin junger Talente, zu einer
Frau, die gesellschaftlich etwas bewegen wollte, die für die Rechte
Homosexueller und gegen Rassismus kämpfte. Im Grunde ist es doch
unglaublich, wie es jemand über Epochen und Kontinente hinweg
Cziffra, Géza von: Kauf dir einen bunten Luftballon. Erinnerungen an Götter und
Halbgötter, München / Berlin 1975.
Hübner, Friedrich M. (Hrsg.): Die Frau von morgen wie wir sie wünschen.
Mit einem Vorw. von Silvia Bovenschen. Frankfurt a.M. 1990 [erstmals Leipzig 1929].
Kessler, Harry Graf: Das Tagebuch. Bd. 8: 1923–1926. Hrsg. von Angela Reinthal,
Günter Riederer und Jörg Schuster unter Mitarb. von Janna Brechmacher,
Christoph Hilse und Nadin Weiß. Stuttgart 2009.
– Tagebücher 1918–1937. Hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt a. M. 1961.
Landshoff-Yorck, Ruth: Das Mädchen mit wenig PS. Feuilletons aus den zwanziger
Jahren. Hrsg. und mit einem Nachw. von Walter Fähnders. Berlin 2015.
– Das Ungeheuer Zärtlichkeit. Frankfurt a. M. 1952.
– Die Schatzsucher von Venedig. Hrsg. und mit einem Nachw. von Walter Fähnders.
Berlin 2004.
– Die Vielen und der Eine. Roman. Hrsg. und mit einem Nachw. von Walter Fähnders.
Berlin 2001 [erstmals Berlin 1930].
65
schafft, sich immer weiter zu entwickeln, sich immer wieder neu zu
– Klatsch, Ruhm und kleine Feuer. Biographische Impressionen. Köln / Berlin 1963.
erfinden. Und dabei war Ruth Landshoff oft ganz vorneweg: Sie hat
– Lili Marlene, an Intimate Diary. New York 1945.
ans Radio geglaubt, als das Medium noch in den Kinderschuhen
– Roman einer Tänzerin. Hrsg. und mit einem Nachw. von Walter Fähnders. Berlin 2002.
steckte, sie hat vom Fernsehspiel geschwärmt, als in Deutschland
noch kein Mensch irgendwas davon hören wollte. Ruth Landshoff
war immer Teil der Avantgarde und, wenn man das so sagen kann,
bis ins Alter hinein jung.
– Sixty to Go. Roman vom Widerstand an der Riviera. Hrsg. und übersetzt von
Doris Hermanns. Berlin 2014 [erstmals New York 1944].
Sternheim, Thea: Tagebücher 1903–1971. Hrsg. und ausgew. von Thomas Ehrsam
und Regula Wyss. Göttingen 2011.
Tunnat, Frederik D.: Karl Vollmoeller. Dichter und Kulturmanager. Eine Biographie.
Hamburg 2008.
Vollmoeller, Karl: Gedichte. Eine Auswahl. Hrsg. und mit einem Nachw. von
Herbert Steiner. Marbach a. N. 1960.
– Das Wunder (The Miracle). Große Pantomime in zwei Akten und einem Zwischenspiel.
Musik von Engelbert Humperdinck. Regie Max Reinhardt. [Textbuch] Berlin 1912.
Zeller, Bernhard: Marbacher Memorabilien. Vom Schiller-Nationalmuseum zum
Deutschen Literaturarchiv. 1953–1973. Marbach a. N. 1995.
© 2017 Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar
Herausgeber : Deutsches Literaturarchiv Marbach
Redaktion : Dietmar Jaegle
Ausstattung : Pauline Altmann, nach einem Reihenentwurf von
Diethard Keppler und Stefan Schmid
Gesamtherstellung : Offizin Scheufele Druck und Medien, Stuttgart
ISBN 978-3-944469-29-4
Die Deutsche Schillergesellschaft wird gefördert
durch die Bundesrepublik Deutschland,
das Land Baden-Württemberg, den Landkreis Ludwigsburg
und die Städte Ludwigsburg und Marbach am Neckar.
Umschlag : Pauline Altmann unter Verwendung zweier Fotos
von Karl Vollmoeller.
Frontispiz : Karl Vollmoeller am Lido di Venezia.
Vor- und Nachsatz : Negative von Vollmoellers Fotos
(Fotos: DLA, Chris Korner).
Fotoarbeiten : DLA.
Die Urheberrechte von Karl Vollmoeller und damit auch an den
hier veröffentlichten Fotos wurden 1994 auf die Deutsche
Schiller gesellschaft übertragen.
Besonderer Dank gilt Kenward Elmslie für die Schenkung des
New Yorker Teilnachlasses von Ruth Landshoff-Yorck sowie
Ron Padgett und Thomas Blubacher, ohne die das vorliegende
Marbacher Magazin nicht möglich gewesen wäre.
Darüber hinaus möchte ich Susanna Brogi, Anja Gomm, Anna
Katharina Hahn, Alexa Hennemann, Dietmar Jaegle, Chris Korner,
Diana Layman, Karin Müller, Ulrich Raulff und Veronika Weixler
für ihre vielfältige Unterstützung danken. jb