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DIE LINDE
Ihre Geschichte und
Geschichten
Ein botanisch-kultur historischer Essay
von Ruth Schneebeli-Graf
Inhalt
6 Vorbemerkung und Dank
10 Die Sage von Philyra
12 Klingt meine Linde, singt die Nachtigall
Astrid Lindgren
24 Linden
Adelbert von Chamisso
26 Die Gattung Tilia
Carl von Linné
28 Linde und Tilia
Herkunft und Wortbedeutung
36 Die Linde – systematisch, morphologisch
Lindengewächse – Gattung Linde – Sommer-Linde – Winter-Linde –
Same und Keimling – Blatt – Schleimbehälter – Blüte – Blütengeheimnis
der Winter-Linde von Georg Worgetzky – Frucht – Wuchsform
und Verzweigung – Holz – Bast – Wurzelsystem, Innenwurzeln,
Langlebigkeit – Verbreitung – Standortsansprüche – Krankheiten und
Schädlinge – Gefährdung – Waldbauliche Förderung
56 … wo wir uns finden, wohl unter Linden …
Gedichte und Lieder
74 Die Linde: Rohstoff, Nutz- und Heilpflanze
Lindenbast – Lindenblätter – Lindenblüte – Lindenfrucht – Lindenholz
– Lindenholzkohle – Bienennährgehölz – Lindenrinde – Der klassische
Strassen-, Park- und Alleebaum – Technisch verwendet – Im
Waldbau – In der Landschaft
100 Die älteste Linde Europas
102 Alte Linden und eine junge in Deutschland
110 Alte Linden in Frankreich
116 Alte Linden in der Schweiz
124 Von Gerichts- und Femlinden
130 Über Tanzlinden und geleitete Linden
138 Die Linde im Volksglauben
Von Auf er stehungs-, Friedens-, Marien-, Totenvögel- und Verkehrt -
linden
144 Im Web angeklickt
Lind, Lindau, Linde. Lindelius, Linden, Lindigkeit, Linn, Linné u. a. m.
152 Die Sage von Philemon und Baucis nacherzählt
158 Literatur
162 Ganzseitige Abbildungen
163 Abbildungsnachweis
Vorbemerkung und Dank
Ungefähr zehnjährig war sie, die Sommer-Linde, mit wissenschaftlichem
Namen Tilia platyphyllos, die in meiner Anwesenheit frühmorgens von
Gärtner Burri und seinem Gehilfen gepflanzt wurde, auf der Son nen -
berg-Hügelrippe, genau an der Wegkreuzung Amlehn / Kriens – Son -
nenberg / Malters – Obergütsch / Luzern mit den Koordinaten 664.200 /
210.600. Im Alp-Transporter wurde der junge Lindenbaum vom Amlehnhof
heraufgekarrt und wunschgemäss gesetzt hinter der alten Sitzbank.
Für das schon ansehnliche Wurzelwerk wurde ein tiefes Pflanzloch
ausgegraben. Heimlich, oder doch fast heimlich, legte ich ein silbernes
Fingerhütchen mit einem Zettelchen hinein, auf dem stand:
Ici, en ta faveur, je plante cet arbre, Cybèle,
Que l’été ne le brûle que l’hiver ne le gèle.
Ronsards Zauberspruch übersetzend, nickten beide Männer zustimmend,
bedeckten mit guter Erde den Wurzelballen, der mit gestandenem
Wasser reichlich begossen wurde. Ein Stützpfahl beim jungen
Stamm, breite schützende Bretter davor, beides gab mir ein gutes Gefühl
für den Lindenbaum, das sich durch Mutter Burris lautem Zuruf:
«I luege de, dass er gnue Wasser het!» noch verstärkt hat.
Das war Ende März 2004.
Seither sind mehr als vier Jahre vergangen; seither hat mich die Linde,
haben mich Linden verzaubert, mein Denken drehte sich fast nur noch
rund um diesen beliebtesten unserer Bäume, der zudem auch botanisch
höchst interessante Merkmale aufweist. Ganz konkrete Fragen drängten
sich auf und die Suche nach Antworten begann.
Einige meiner Fragen seien erwähnt:
· Ursache der auffallend formschönen Krone?
· Ihre sprichwörtliche Langlebigkeit, wo versteckt sie sich?
6
· Wie sieht der Lindenkeimling aus?
· Wie keimen die erbsengrossen Früchtchen mit dem charakteristischen
Flugapparat?
· Wie weit fliegen sie?
· Weshalb findet man spontan gewachsene Linden im Wald oft neben
einer Stiel-Eiche?
· Und diese ganz besondere Verzweigungsart?
· Und der Lindenbast, der «Nähfaden» der Pfahlbauer?
· Welche Bedeutung hatte der Lindenbaum bei den germanischen Völkern?
Und welche im christlichen Mittelalter?
· Karl der Grosse erklärte die Linde zum Haus- und Schutzbaum –
was hat ihn dazu veranlasst?
· Woher kommt der Name Linde?
· Und die zahlreichen Wortbildungen mit der Stammsilbe lind?
· Und die Wörter Linde, Linn und Linné, lindern usw.?
· Weshalb wurde Lindenholz zum lignum sacrum, zum heiligen Holz?
· Wo stehen und grünen sie heute noch, diese ehrwürdigen alten Lindenbäume
mit ausgehöhlten Stämmen?
· Und die Gerichtslinden und Tanzlinden und Marienlinden, was erzählen
sie?
· Und der Duft der Lindenblüte, wo liegt seine Quelle?
So fragte ich. Und allmählich bekam mein Alltag einen lindengrünen
Anstrich. Freundinnen, Freunde, Bekannte und kaum Bekannte haben
meine «Lindelei» etwas verwundert, aber stets teilnehmend begleitet;
sie vertrauten mir ihre Linden-Erlebnisse an; sie alle sind mir mit Rat
und Tat beigestanden. Für bibliografische, botanische, kulturhistorische
und literarische Hilfeleistungen und linde Hinweise danke ich insbesondere
herzlichst:
Muriel Bendel, Maja Beutler, Josef Brun-Hool, Michel Brunner, Martin
Buchmann, Adrian Bürgi, Max Chanson, Stefan Eggenberg, Joseph
Egli, Werner Egli, Felix Furrer, Esther Gerber, Barbara Gschwind, Bar -
ba ra Guyer, Marie-Louise Hildbrand, Rosmarie Honegger, Monika
7
Hug, Corinna Jäger-Trees, Adrian Kempf, Vera und Hans de Leeuw-
Ruegger, Heidi Lüdi, Käthi und Emil Manser, Beat Mazenauer, Cornelia
Meyer, Adrian Möhl, Walter Morgenthaler Matthias Moser, Pius
Mühlebach, Ruth Murer, Peter Peisl, Bruno und Vreni Pfäffli, Elsbeth
Pulver, Judith Rohrer-Amberg, Rolf Rutishauser und Frau Brigitte,
Irene Salzmann-Wandeler. Ruth Schärli-Graf, Hans Rudolf Schneebeli,
Martin und Gabi Schneebeli-Stadler, Thomas Schneebeli, Albert Sommerhalder,
Monika Sommerhalder, Vreni und Xandi Sperisen, Isabell
Trueb, Daniel Tschirren, Maria und Josef Vogel, Xaver Vogel, Jessica
Wilker.
Für die kritische Durchsicht meines Manuskripts danke ich Dr. Muriel
Bendel, Bern, Prof. Dr. Rosmarie Honegger, Zürich, und Prof. Dr. Rolf
Rutishauser, Zürich. Ohne ihr Mitdenken und Mithelfen hätte ich meinen
Wunschtraum, einen eingehenden Text über die Linde zu verfassen,
nie realisieren können; an sie alle denke ich mit grosser Dankbarkeit.
Folgende Publikationen erwiesen sich als nützlichste Hilfsmittel:
Martin Buchmanns Monographie über die Gattung Tilia, Georg Eisenhuts
Blühen, Fruchten und Keimen in der Gattung Tilia, Gustav Hegis
Linden-Kapitel in der Flora Mitteleuropas, Christian Küchlis Kapitel
über die Linde in Auf den Eichen wachsen die besten Schinken und K.
Rudloffs Die Linde in Geschichte und Dichtung.
Für bibliografische Suchdienste danke ich ganz besonders Pius Mühlebach,
Leiter zhb Luzern, Fernleihe.
Für die wunschgemäss speziellen Lindenbaum- und Lindenblütenzeichnungen
danke ich herzlichst Adrian Möhl. Ebenso geht mein Dank an
Esther Gerber, Scherenschnitterin, und an alle, die mir Fotos zu Verfügung
gestellt haben:
Muriel Bendel, Michel Brunner, Adrian Bürgi, Werner Egli, Rosmarie
Honegger, Claudia Jolles, Hans Kern, Ulrich Kneise, Priska Ketterer,
Adrian Möhl, Peter Peisl und Irene Salzmann-Wandeler.
8
Geraldine Blatter, Lektorin beim hep und ott verlag, danke ich für ihre
kompetente und verständnisvolle Arbeitsbegleitung.
Wiederum hat Monika Sommerhalder zu meiner grossen Freude die
grafische Gestaltung übernommen und diese kreativ geleitet und betreut,
auf Anfrage ist Bruno Pfäffli, Paris, beratend beigestanden.
Danke, merci de tout cœur.
Folgende Institutionen haben in grosszügiger Weise mit namhaften Bei -
trä gen Drucklegung und Layout ermöglicht. Mein grosser Dank geht
an:
Kulturförderung des Kantons Luzern; fuka-Fonds der Stadt Luzern;
Kulturkommission der Gemeinde Kriens; Naturforschende Gesellschaft
Luzern; Zunft zu Mittellöwen Bern.
Bei meinem Rund-um-die-Linde-Tanz, beim Fragen und Antworten
Suchen, wurde mir klar, dass die Linde ein Zauberbaum ist, der sein
Geheimnis nicht preisgibt und sich dem Porträtieren entzieht. So blieb
es beim Versuch, beim Essay.
Doch die junge Sommer-Linde oben auf dem Sonnenberg, sie wächst
und gedeiht: Möge sie, wie es zu ihr gehört, «dreihundert Jahre kommen,
dreihundert Jahre stehen und dreihundert Jahre gehen.»
Kriens, Frühjahr 2008
Ruth Schneebeli-Graf
9
DIE SAGE VON PHILYRA
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Damals, als noch das Geschlecht der Titanen die Welt beherrschte, geschah
es, dass die schöne Philyra, Tochter von Okeanos und Thetys,
vom Titanen Kronos, dem Kinderfresser, verfolgt und zum Beischlaf gezwungen
wurde. In diesem Augenblick spürte der Verführer die zornigen
Blicke seiner Gattin Rhea, da verwandelte der Gewaltige sich in
einen Hengst und galoppierte davon.
Philyra gebar einen missgestalteten Sohn, halb Mensch, halb Pferd; sie
nannte ihn Cheiron. Das monströse Neugeborene, das sie nähren sollte,
erfüllte sie mit Scham und Ekel. Ausser sich vor Verzweiflung, bat sie
ihren Vater Okeanos um Erlösung; voller Mitgefühl gab er ihr eine
neue Gestalt und verwandelte sie in einen Lindenbaum. Philyra nährte
ihren Sohn mit heilkräftiger, göttlicher Lindenmilch. Cheiron, der
sanfte Kentaur, war der erste Heiler seiner Zeit. Von weither suchten
ihn Gebrechliche und Kranke auf, dessen ärztliche Kunst Heilung versprach.
Auch heute noch heissen die Griechen die Linde Philyra.
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KLINGT MEINE LINDE, SINGT DIE NACHTIGALL
Astrid Lindgren
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Und rings an den Wänden hockten die Armenhäusler und starrten
Malin trübsinnig an, und sie dachte: Wer möchte hier wohl toben und
tollen, ich nicht und auch niemand sonst.
Sie kannte sie gut, die Armenhäusler von Norka, denn sie zogen ja tagtäglich
mit ihren Bettelsäcken im Kirchspiel umher und baten und flehten
um Gottes Barmherzigkeit willen um ein Stückchen Brot. Ja, sie
kannte sie alle. Da war Schiefmaul, der Hässlichste im ganzen Dorf,
mit dem man die Kinder gruseln machte, obwohl er so harmlos und gut
war und niemandem etwas zuleide tat. Da war Jocke Kis, dem der liebe
Gott den Verstand genommen hatte, und Ola auf Jola, der zehn Wecken
essen konnte, ohne satt zu werden. Da war Sommer-Nisse mit seinem
Holzbein und Hühner-Hilma mit ihrem Plierauge und Krücken-
Anna und Liebe Güte und Keif-Marja und über ihnen allen die grossmächtige
Pompadulla, vom Kirchspiel ausersehen, im Armenhaus zu
herrschen.
Malin stand an der Tür und sah sich um in der Not und im Elend des
Armenhauses und dachte, dass sie hier ihr junges Leben verbringen
müsse, bis sie alt genug sei, irgendwo als Magd zu dienen. Da wurde
ihr das Herz schwer, denn sie wusste nicht, wie sie es ertragen sollte,
hier zu leben, wo es nichts Schönes gab und keine Freude. Auch daheim
waren sie arm gewesen, aber ganz gewiss hatte es dort Schönes gegeben
und Freude. Ach, der Apfelbaum vor dem Fenster, wenn er im Frühling
blühte, ach, die Maiglöckchen im Wald, ach, der Schrank mit den gemalten
Rosen auf der Tür und der grosse blaue Leuchter mit den Talgkerzen
darin, ach, Mutters braune Brotlaibe, wenn sie frisch gebacken
aus dem Ofen kamen, und ach, die Küchendielen am Samstagabend,
weiss gescheuert und mit gehacktem Wachholder bestreut! Ja, alles war
schön und froh gewesen daheim, ehe die Krankheit kam.
Aber hier im Spittel war es so hässlich, dass man weinen konnte, und
vor dem Fenster lag nur ein karger Kartoffelacker, da war kein Mai -
glöck chenwald und kein blühender Apfelbaum.
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