Die Schreie der Fledermäuse DDR-Literatur nach 1961 Von Jörg B ...
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<strong>Die</strong> <strong>Schreie</strong> <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse<br />
<strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong> <strong>nach</strong> <strong>1961</strong><br />
<strong>Von</strong> <strong>Jörg</strong> B. Bilke<br />
<strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong>, für sich genommen ein scheinbar klarer Begriff, ist schwer einzugrenzen,<br />
chronologisch und geografisch! Bezogen nur auf das Gebiet des SED-Staats und auf den<br />
Zeitraum 1949/89, ergäbe das, zumindest bis zum Mauerbau <strong>1961</strong>, eine höchst langweilige<br />
und unglaubwürdige <strong>Literatur</strong>. Erst durch die seit 24. April 1959, <strong>der</strong> ersten „Bitterfel<strong>der</strong><br />
Konferenz“, vehement betriebene <strong>Literatur</strong>planung verschärfte sich das Spannungsverhältnis<br />
zwischen dem Selbstverständnis des Autors, <strong>der</strong> die Wirklichkeit unverstellt sah und<br />
beschreiben wollte, und dem angeblich „gesellschaftlichen Auftrag“, den er zu erfüllen hatte.<br />
<strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong> hat aber auch, deshalb die Ausweitung des Begriffs, eine Vorgeschichte und<br />
eine Nachgeschichte. <strong>Die</strong> Vorgeschichte besteht in einem gewaltigen Rekurs auf die deutsche<br />
<strong>Literatur</strong> im 18./19. Jahrhun<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> auch die linksorientierten Strömungen in <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong><br />
vom Ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik bis zum Exil 1933/45 einschließt. <strong>Die</strong>se<br />
zur Traditionsbildung genutzten <strong>Literatur</strong>strömungen waren von aufklärerischen und<br />
gesellschaftskritischen Tendenzen erfüllt (von den Schriften Georg Forsters und Heinrich<br />
Heines bis zu den Romanen Heinrich Manns und Lion Feuchtwangers) und deshalb denkbar<br />
ungeeignet beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung, die <strong>der</strong> Aufklärung über ihren<br />
Zustand nicht bedurfte und sie schließlich auch strafrechtlich verfolgte.<br />
Und sie hat eine Nachgeschichte, weil ehemalige <strong>DDR</strong>-Schriftsteller, beispielsweise Erich<br />
Loest und Reiner Kunze, aber auch Hermann Kant und Erik Neutsch, noch heute von dem<br />
Stoffvorrat zehren, den sie zu <strong>DDR</strong>-Zeiten angesammelt haben. Das galt auch schon für<br />
Gerhard Zwerenz und Uwe Johnson, die 1957 und 1959 emigrierten und eine „<strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong><br />
im westdeutschen Exil“ begründeten, <strong>der</strong>en Vertreter beim Mauerfall 1989 rund drei Dutzend<br />
Autoren umfasste. Das bedeutet, dass man ein zutreffendes und gültiges Bild von <strong>DDR</strong>-<br />
<strong>Literatur</strong> nicht nur aus den Buchveröffentlichungen gewinnt, die zwischen den Eckdaten 7.<br />
Oktober 1949 und 9. November 1989 in <strong>DDR</strong>-Verlagen erschienen sind, son<strong>der</strong>n dass man<br />
einbeziehen muss, was geflüchtete und ausgebürgerte <strong>DDR</strong>-Schriftsteller in Westdeutschland<br />
über <strong>DDR</strong>-Themen schrieben, auch noch zwei Jahrzehnte <strong>nach</strong> dem Mauerfall. Dazu gehören<br />
dann merkwürdigerweise auch einzelne Bücher, etwa Romane (Fritz Rudolf Fries, Jurek<br />
Becker) o<strong>der</strong> Gedichtbände (Christa Reinig, Wolf Biermann, Peter Huchel, Wolfgang Hilbig),<br />
die nur in Westverlagen erschienen, <strong>der</strong>en Verfasser aber noch <strong>DDR</strong>-Bürger waren.
Und eine dritte, wenn auch heute kaum noch wahrnehmbare Variante von <strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong><br />
muss erwähnt werden. Das sind Gedichte und Prosatexte, die in oppositionellen Zirkeln<br />
vorgetragen und im „Ringtauschverfahren“ weitergereicht wurden. Solche Texte sind heute<br />
entwe<strong>der</strong> verschollen, wenn sie nicht <strong>nach</strong> 1989/90 doch noch in Sammelbänden<br />
veröffentlicht wurden. Aber auch sie sind literarischer Ausdruck und Deutung einer<br />
Gesellschaftsordnung, die offiziell so nicht interpretiert werden wollte.<br />
<strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong> <strong>nach</strong> <strong>der</strong> Bitterfel<strong>der</strong> Konferenz<br />
Wenn man die <strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong>, die <strong>nach</strong> <strong>der</strong> Bitterfel<strong>der</strong> Konferenz von 1959 geschrieben<br />
wurde, genauer betrachtet, so wird man feststellen, dass die Autoren durch und <strong>nach</strong> dem<br />
Mauerfall mit einer Realität konfrontiert wurden, die sie vorher in ihrer Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit<br />
nicht gekannt hatten. Wer in <strong>der</strong> eingemauerten Republik lebte und schrieb, für den verlor <strong>der</strong><br />
bislang verordnete Dualismus zwischen westdeutschem Kapitalismus und <strong>DDR</strong>-Sozialismus<br />
zunehmend an Bedeutung. <strong>Die</strong> Wirklichkeit, auf die man jetzt stieß in den volkseigenen<br />
Betrieben und Industriekombinaten, auf den Bauplätzen und in den Landwirtschaftlichen<br />
Produktionsgenossenschaften, das war die des eigenen Staates, die es nun literarisch zu<br />
erforschen und zu bewältigen galt. In Bitterfeld wurden am 25. April 1959 die<br />
Berufsschriftsteller, in <strong>der</strong> Mehrzahl Autoren, die den Krieg nur als Kin<strong>der</strong> und Jugendliche<br />
erlebt und erst da<strong>nach</strong> zu schreiben begonnen hatten, verpflichtet, ihre Schreibtische zu<br />
verlassen, damit sie in <strong>der</strong> Arbeitswelt, an <strong>der</strong> „ökonomischen Basis“, neue Erfahrungen<br />
sammeln konnten. Was sie dort aber entdeckten, war keineswegs das vielbeschworene<br />
Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Partei, son<strong>der</strong>n eine in heftige Wi<strong>der</strong>sprüche<br />
aufgespaltene <strong>DDR</strong>-Gesellschaft, wie sie von Brigitte Reimann, die damals im<br />
Industriekombinat „Schwarze Pumpe“ bei Hoyerswerda arbeitete, in ihrem „Offenen Brief“<br />
vom 8. Dezember 1962 geschil<strong>der</strong>t wurde.<br />
Im Jahr zuvor schon, als die Mauer noch nicht stand, war Karl-Heinz Jakobs´ Roman<br />
„Beschreibung eines Sommers“ (<strong>1961</strong>) erschienen, eine unglaublich schöne Liebesgeschichte,<br />
die auf <strong>der</strong> fiktiven Großbaustelle Wartha spielt. Der Held ist unverheiratet und verliebt sich<br />
in eine verheiratete Genossin. <strong>Die</strong> Liebe zerbricht an den strengen Normen <strong>der</strong> sozialistischen<br />
Moral, die die Partei vertritt. <strong>Die</strong> Romanhandlung ist eingebettet in den rauhen Arbeitsalltag<br />
<strong>der</strong> Baustelle, es gibt Plandiskussionen, Überstunden, Materialverschwendung, Sabotage. <strong>Die</strong><br />
Bitterfel<strong>der</strong> Vorgaben, die Realität an <strong>der</strong> „Basis“ zu beschreiben, wurden zwar aufgegriffen,<br />
diskutiert aber von den Lesern wurde die an <strong>der</strong> Unerbittlichkeit <strong>der</strong> Partei gescheiterte Liebe.
Mit an<strong>der</strong>en Worten: <strong>Die</strong> mutige Behauptung <strong>der</strong> Rechte des Individuums gegenüber den<br />
Ansprüchen von Staat und Gesellschaft wurde verteidigt!<br />
Brigitte Reimanns Brief und dieser unkonventionelle Roman gehören zusammen, weil hier<br />
Wi<strong>der</strong>spruch artikuliert wurde. Buch und Brief wurden publiziert und diskutiert, weil hier wie<br />
dort Missstände aufgegriffen wurden, die auch die Partei beseitigt wissen wollte. Beide<br />
Publikationen waren aber auch frühe Anzeichen dafür, dass <strong>der</strong> „Bitterfel<strong>der</strong> Weg“ in eine<br />
ganz an<strong>der</strong>e Richtung führte, als es geplant war. Zwei weitere Beispiele mögen das<br />
bestätigen: Im Jahr 1963, als die Mauer schon zwei Jahre stand und eine Flucht über die<br />
innerdeutsche Grenze nur unter Lebensgefahr möglich war, erschienen von Brigitte Reimann<br />
und Christa Wolf die beiden Romane „<strong>Die</strong> Geschwister“ und „Der geteilte Himmel“. Auch<br />
hier wurden die Requisiten des sozialistischen Aufbaus, das Schiffsbaukombinat und die<br />
Waggonfabrik, vorgezeigt, waren aber nur Kulisse für das nie auszudiskutierende Thema<br />
„Republikflucht“, woran auch hier die Liebe zerbrach. <strong>Die</strong>se beiden Prosatexte sind auch<br />
deshalb nicht als die Vorzeigestücke des „Bitterfel<strong>der</strong> Weges“ betrachtet worden, weil in<br />
ihnen Konfliktstoffe angehäuft waren, die die Substanz <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Gesellschaft berührten.<br />
Paradigma einer <strong>Literatur</strong>gattung<br />
Zum Paradigma dieser neuen <strong>Literatur</strong>gattung dagegen wurde 1964 Erik Neutsch´s 911-<br />
Seiten-Roman „Spur <strong>der</strong> Steine“, <strong>der</strong> pünktlich zur zweiten „Bitterfel<strong>der</strong> Konferenz“ (24./25.<br />
April 1964) erschien und 1966 auch verfilmt wurde. <strong>Die</strong> Wirklichkeitsnähe dieses Romans,<br />
<strong>der</strong> immerhin als Erfüllung einer staatlich verordneten <strong>Literatur</strong>bewegung und als Illustrator<br />
des sozialistischen Aufbruchs angesehen wurde, war erstaunlich! Da wurden Wirtschaftspläne<br />
als Fehlkonstruktionen bezeichnet; falsche Planvorgaben führten zu Materialverschwendung;<br />
die „Weisheit <strong>der</strong> Partei“, in einer Hörfunkrede angesprochen, wurde „hohles Getön“ genannt;<br />
ein Bauer, <strong>der</strong> 1960 <strong>der</strong> Produktionsgenossenschaft nicht beitreten wollte, erfror <strong>nach</strong>ts auf<br />
seinem Acker; eine sozialistische Brigade badete nackt im Dorfteich, während im<br />
Lautsprecher zu hören war: „<strong>Die</strong> Verantwortung, die wir tragen, ist von wahrhaft<br />
geschichtlicher Größe.“ Am schlimmsten aber war das Verhalten des Brigadiers Hannes<br />
Balla, <strong>der</strong> mit seinen Leuten auf Nachbarbaustellen Material klaute, um das Plansoll erfüllen<br />
zu können, und des Parteisekretärs Werner Horrath, <strong>der</strong> verheiratet war, dennoch die ledige<br />
Ingenieurin Katrin Klee schwängerte und die Partei belog, als er <strong>nach</strong> dem Vater des Kindes<br />
befragt wurde. <strong>Die</strong>ses drastische Spektrum einer Gesellschaft, das nur durch eine vage<br />
„Parteilichkeit“ gebändigt werden konnte, zeigte deutlich, dass auch ein staatstreuer Autor<br />
wie Erik Neutsch die unglaublichen Erfahrungen, die er an <strong>der</strong> „Basis“ machen musste, nicht
negieren konnte. Gegen Ende des Romans fragte Katrin Klee, die wegen des Vaters ihres<br />
Kindes schamlose Verhöre hatte erdulden müssen, wobei sie auf ihr Herz deutete: „Aber hier<br />
drinnen? Wie sieht <strong>der</strong> Kommunismus hier drinnen aus?“ <strong>Die</strong> Frage blieb unbeantwortet.<br />
Der „Bitterfel<strong>der</strong> Weg“ war mit Erik Neutschs Roman „Spur <strong>der</strong> Steine“ schon beendet,<br />
kaum, dass er begonnen hatte! <strong>Die</strong> <strong>Literatur</strong> konnte die ihr zugewiesenen Aufgaben nicht<br />
erfüllen, weil die Autoren von an<strong>der</strong>en Prämissen ausgingen, trotz aller verbaler Zustimmung<br />
zur <strong>Literatur</strong>politik <strong>nach</strong> 1959/61. <strong>Die</strong> Bitterfel<strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> hatte in <strong>der</strong> Nacht des 12./13.<br />
August <strong>1961</strong> eine an<strong>der</strong>e Richtung eingeschlagen, nicht Verklärung <strong>der</strong> bestehenden<br />
Verhältnisse, wie von <strong>der</strong> Partei eingefor<strong>der</strong>t, war ihr Thema, son<strong>der</strong>n Aufklärung über<br />
Defizite aller Art in <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Gesellschaft, auch wenn beide Begriffe nicht verwendet<br />
wurden.<br />
Kritik an Missständen, staatlicher Willkür und Machtmissbrauch<br />
Alles, was in den 28 Jahren bis 1989 geschrieben und veröffentlicht wurde, entwe<strong>der</strong> offiziell<br />
in <strong>DDR</strong>-Verlagen o<strong>der</strong> inoffiziell in Westdeutschland, <strong>nach</strong>dem die Manuskripte über die<br />
innerdeutsche Grenze geschmuggelt worden waren, ist erfüllt von Kritik an Missständen wie<br />
staatlicher Willkür und Machtmissbrauch durch Funktionäre. Selbst in <strong>der</strong> systemaffirmativen<br />
<strong>Literatur</strong>, wie sie Günter Görlich, Hermann Kant, <strong>Die</strong>ter Noll lieferten und in <strong>der</strong><br />
„Parteilichkeit“ waltete, waren diese kritischen Akzente, beispielsweise in <strong>der</strong> Erzählung „Der<br />
dritte Nagel“ (1981), unüberhörbar. Man musste diese Texte nur „gegen den Strich“ lesen, um<br />
den realen Kern aus <strong>der</strong> ideologischen Kruste herausschälen zu können.<br />
<strong>Die</strong>se realistische und nicht mehr ideologische Komponente in <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>nach</strong> <strong>1961</strong> sorgte<br />
schließlich auch dafür, dass Romane und Erzählungen, seltener Gedichte, zu einer Art von<br />
Zeitungsersatz wurden. So erklärte <strong>der</strong> <strong>nach</strong> München emigrierte Autor Manfred Bieler,<br />
dessen Roman „Maria Morzeck o<strong>der</strong> Das Kaninchen bin ich“ (1969) wegen seines<br />
realistischen Zuschnitts nur in Westdeutschland erscheinen konnte, in einem Interview 1969<br />
die <strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong> zu einem „wesentlichen Informationsträger“, denn sie „durchlöchert die<br />
Käseglocke zwischen Rennsteig und Rostock“. <strong>Die</strong>ses Urteil wurde 1978 von Klaus Poche,<br />
<strong>der</strong>, seinem exilierten Roman „Atemnot“ (1978) <strong>nach</strong>reisend, ausgebürgert worden war,<br />
bestätigt: „In unseren Zeitungen wird vorwiegend ein Leben geschil<strong>der</strong>t, wie es sein soll,<br />
nicht, wie es wirklich ist. <strong>Die</strong> Leute mit ihren Nöten, Sorgen und Problemen finden sich nicht<br />
wie<strong>der</strong>. <strong>Die</strong>se Diskrepanz zwischen <strong>der</strong> Realität und den kosmetisch aufbereiteten Berichten
auszufüllen, das erwarten sich die Leser in irgendeiner Form von <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong>.“ Und ein Jahr<br />
später griff <strong>der</strong> inzwischen auch ausgebürgerte Karl-Heinz Jakobs diese Einschätzung noch<br />
einmal auf: „Wir haben den beklagenswerten Zustand, dass unsere Presse nicht das schreibt,<br />
was den Bürger interessiert. Es gibt keine tiefgehenden Auseinan<strong>der</strong>setzungen über Prozesse<br />
in unserem Land. Und nun kommen die Schriftsteller und versuchen das, was in <strong>der</strong> Presse<br />
nicht geleistet wird, in ihre Bücher reinzunehmen.“<br />
Vom Schönschreiben <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Wirklichkeit<br />
Eine solche Befragung <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> durch ihre Leser <strong>nach</strong> Realitätspartikeln aus dem <strong>DDR</strong>-<br />
Alltag, was die sozialistische Presse verweigerte, hatte weitreichende Folgen. <strong>Die</strong> Kalligrafie<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Wirklichkeit durch Ausmerzung aller Schwarz- und Grautöne konnten den Leser,<br />
<strong>der</strong> diese Wirklichkeit aus täglicher Erfahrung kannte, nicht überzeugen. Begehrt waren<br />
deshalb nicht Romane wie „Kippenberg“ (1979) von <strong>Die</strong>ter Noll, auch wenn er in <strong>der</strong><br />
<strong>Literatur</strong>zeitschrift „Sinn und Form“ von „Bücherminister“ Klaus Höpcke mit ausuferndem<br />
Lob bedacht wurde, son<strong>der</strong>n Volker Brauns „Unvollendete Geschichte“ (1975) o<strong>der</strong> Jurek<br />
Beckers Roman „Schlaflose Tage“ (1978), <strong>der</strong> im SED-Staat nicht gedruckt wurde.<br />
Manchmal fühlten sich die <strong>DDR</strong>-Leser sogar beim Lesen o<strong>der</strong> Hören literarischer Texte aus<br />
dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t an die <strong>DDR</strong>-Gegenwart erinnert. So wurde 1977 im „Deutschen<br />
Theater“ in Ostberlin Heinrich Heines Dichtung „Deutschland, ein Wintermärchen“<br />
vorgetragen. <strong>Die</strong> Kritik an preußischen Zuständen, die den eigenen so ähnlich waren,<br />
erheiterte die Zuhörer sichtlich. Als <strong>der</strong> Dichter eine preußische Grenzkontrolle beschrieb,<br />
spendeten sie aufbrausenden Beifall, <strong>der</strong> nicht enden wollte, als die Zensur erwähnt wurde:<br />
„Und viele Bücher trag` ich im Kopf. Ich darf es Euch versichern, mein Kopf ist ein<br />
zwitscherndes Vogelnest von konfiszierten Büchern.“<br />
<strong>Literatur</strong> als Zeitungsersatz<br />
Schließlich kam es 1979 im Leipziger <strong>Literatur</strong>institut unter sieben Studenten des dritten<br />
Studienjahrs zu einer erregten Diskussion über verordnete „Zeitungswahrheit“ und<br />
unverstellte „<strong>Literatur</strong>wahrheit“, die in <strong>der</strong> Zeitschrift „Weimarer Beiträge“ dokumentiert<br />
wurde. Das zeigt, dass dieser offiziell bestrittene Komplex „<strong>Literatur</strong> als Zeitungsersatz“<br />
sowohl Schriftstellern, <strong>der</strong>en Selbstverständnis darunter litt, wie Germanisten und<br />
<strong>Literatur</strong>studenten durchaus bekannt war.
Es waren vor allem zwei Prosatexte, die die Grenzen des vom Staat gesetzten Rahmens<br />
zwischen noch geduldeter und schon verbotener <strong>Literatur</strong> ausloteten: Volker Brauns<br />
„Unvollendete Geschichte“ (1975) und Reiner Kunzes Miniaturen „<strong>Die</strong> wun<strong>der</strong>baren Jahre“<br />
(1976). Volker Brauns Erzählung wurde im Dezemberheft 1975 in <strong>der</strong> Zeitschrift „Sinn und<br />
Form“ gedruckt, als Wilhelm Girnus Chefredakteur war. Das Heft war heiß begehrt und rasch<br />
vergriffen, die westdeutsche Taschenbuch-Ausgabe wan<strong>der</strong>te konspirativ durch die Republik,<br />
als Buch gedruckt wurde <strong>der</strong> aufrührerische Text erst <strong>nach</strong> dem Mauerfall, als er nur noch<br />
historischen Wert hatte. <strong>Die</strong>se Erzählung, <strong>der</strong>en Titel sowohl das unglaubliche Schicksal von<br />
Karin und Frank in Magdeburg meint als auch den <strong>DDR</strong>-Geschichtsverlauf , <strong>der</strong> eines Tages<br />
in die klassenlose Gesellschaft einmünden soll, wurde im „Spiegel“ vom 22. Dezember 1979<br />
als „ungewöhnlich kritisches und pessimistisches“ <strong>DDR</strong>-Bild bezeichnet . Sie spielt in<br />
Funktionärskreisen des Bezirks Magdeburg, wo <strong>der</strong> Vater <strong>der</strong> 18jährigen Heldin Karin SED-<br />
Kreissekretär ist. Er for<strong>der</strong>t seine Tochter am 23. Dezember eines ungenannten Jahres<br />
ultimativ auf, sich von ihrem Freund Frank zu trennen, <strong>der</strong> vorbestraft und jetzt auch noch in<br />
eine dunkle Sache verwickelt sei. Karin kündigt telefonisch das Liebesverhältnis auf,<br />
verbringt ein unruhiges Weih<strong>nach</strong>tsfest und fährt am 2. Januar <strong>nach</strong> Magdeburg, um ein<br />
Volontariat in <strong>der</strong> SED-Bezirkszeitung „Volksstimme“ anzutreten. Sie trifft sich heimlich mit<br />
Frank, von dem sie ein Kind erwartet und <strong>der</strong> ihr erzählt, er würde vermutlich von <strong>der</strong><br />
„Staatssicherheit“ überwacht, weil er mit einem Freund korrespondiere, <strong>der</strong> über die<br />
„Staatsgrenze West“ geflohen sei und ihm von einem sicheren Fluchtweg geschrieben habe.<br />
Der Autor, <strong>der</strong> geschickt mit dem Spannungsverhältnis zwischen <strong>der</strong> „Volksstimme“, die nur<br />
gefilterte Realität bietet, und des realen Volkes Stimme arbeitet, zeigt in überzeugen<strong>der</strong><br />
Weise, wie Karins sozialistisches Weltbild <strong>nach</strong> und <strong>nach</strong> zerbröckelt. Nachdem sie ihrem<br />
Parteisekretär Franks Liebesbriefe ausgehändigt hat, wird sie mit Berufsverbot bestraft und<br />
zur „Bewährung in die Produktion“ geschickt, während Frank einen Selbstmordversuch<br />
unternimmt.<br />
Selbstheilungsversuche vs. Beobachtungen über Mangel, Entwürdigungen und<br />
Demütigungen<br />
Volker Braun freilich war überzeugter Kommunist und glaubte an die Selbstheilung <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong>-Gesellschaft, während Reiner Kunze diese Grenze längst überschritten hatte. Er bietet<br />
keine fiktiven Texte, son<strong>der</strong>n verdichtete Beobachtungen über Entwürdigungen und<br />
Demütigungen einfacher Menschen, oft nur in wenigen Zeilen wie <strong>der</strong> Fluchtgeschichte<br />
„Schießbefehl“, die den Staat insgesamt in Frage stellte. Das hatte zur Folge, dass <strong>der</strong> Autor
von Greiz, wo er wohnte, <strong>nach</strong> Ostberlin ins höchste Parteigremium einbestellt und bedroht<br />
wurde („Das überleben Sie nicht!“), ein halbes Jahr später wurde er ausgebürgert.<br />
Auch Reiner Kunze war in seiner Jugend Kommunist gewesen und dann „Renegat“<br />
geworden. Ähnlich verlief die Entwicklung auch bei Kurt Bartsch, <strong>der</strong> aus einer<br />
altkommunistischen Familie stammte und wegen seines 1979 in Hamburg erschienen Buches<br />
„Ka<strong>der</strong>akte“ ausgebürgert wurde. Er hatte in seinen Kurzerzählungen einen Tatbestand<br />
aufgegriffen, <strong>der</strong> streng tabuisiert war: die von <strong>DDR</strong>-Frauen gegen Westgeld betriebene<br />
Prostitution. Und selbst <strong>der</strong> Dramatiker Peter Hacks, <strong>der</strong> 1955 als Kommunist von München<br />
<strong>nach</strong> Ostberlin übergesiedelt war, konnte sich die „klassenlose Gesellschaft“ nur durch den<br />
Umsturz gegenwärtiger Verhältnisse vorstellen, wenn er in seinem schließlich verbotenen<br />
Stück „<strong>Die</strong> Sorgen und die Macht“ (1962) schreibt: „Kollegen, Kommunismus, wenn Ihr<br />
Euch den vorstellen wollt, dann richtet Eure Augen auf das, was jetzt ist, und nehmt das<br />
Gegenteil; denn wenig ähnlich ist dem Ziel <strong>der</strong> Weg. Nehmt so viel Freuden, wie Ihr Sorgen<br />
kennt, nehmt so viel Überfluss, wie Mangel ist und malt Euch also mit den grauen Tinten <strong>der</strong><br />
Gegenwart <strong>der</strong> Zukunft buntes Bild.“<br />
<strong>Die</strong> spannungsreiche und diskussionswürdige <strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong> wurde <strong>nach</strong> dem Mauerbau<br />
ohnehin in Westdeutschland veröffentlicht, wobei Christa Wolfs unkonventioneller und stark<br />
pessimistischer Roman „Nachdenken über Christa T.“ (1968/69) in <strong>der</strong>art niedriger Auflage<br />
erschien, dass er die Öffentlichkeit kaum erreichte und zudem sofort von<br />
<strong>Literatur</strong>funktionären wegen angeblicher Verzerrung <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-Wirklichkeit nie<strong>der</strong>gemacht<br />
wurde. Das gleiche Verdikt traf Jurek Beckers Lehrerroman „Schlaflose Tage“ (1978) und<br />
Monika Marons Umweltverschmutzungsroman „Flugasche“ (1981), die beide <strong>nach</strong> jenem<br />
Stichdatum 17. November 1976, als Erich Mielkes „Ministerium für Staatssicherheit“ die<br />
<strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong>politik übernommen hatte, nur in Westverlagen erschienen. Zu den verbotenen<br />
Büchern zählte auch <strong>der</strong> Bericht Joachim Seyppels „Ich bin ein kaputter Typ“ (1982). Der<br />
Westberliner Autor wurde 1973 <strong>DDR</strong>-Bürger und reiste sechs Jahre später, vom SED-Staat<br />
bitter enttäuscht, <strong>nach</strong> München aus. <strong>Von</strong> dort fuhr er heimlich mit seinem noch gültigen<br />
<strong>DDR</strong>-Pass <strong>nach</strong> Leipzig, um <strong>nach</strong> gedruckten, aber nie veröffentlichen Büchern zu fahnden.<br />
Im Schweinestall eines LPG-Bauern im Leipziger Umland fand er Hun<strong>der</strong>te von verbotenen<br />
Büchern, darunter auch seine eigenen, die dort von <strong>der</strong> Kulturbürokratie eingelagert worden<br />
waren. Nichts wirft ein dunkleres Licht auf die Behandlung von Schriftstellern, wenn sie nicht<br />
im Zuchthaus saßen wie Erich Loest und Jürgen Fuchs, als dieser Vorgang!
Offizielle <strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong> als literarischer Ausdruck einer sozialistischen<br />
Gesellschaftsordnung<br />
So ergibt sich abschließend ein höchst wi<strong>der</strong>sprüchliches Bild: <strong>Die</strong> offizielle <strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong><br />
hielt nicht, was sie versprach, nämlich literarischer Ausdruck einer sozialistischen<br />
Gesellschaftsordnung zu sein, die es schließlich bis 1989 nirgendwo zwischen Rennsteig und<br />
Rostock gegeben hatte; die inoffizielle <strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong> im westdeutschen Exil durfte ihre<br />
Leser nicht erreichen o<strong>der</strong> erst dann, als das düstere Kapitel <strong>DDR</strong> von <strong>der</strong> Geschichte<br />
abgeschlossen war. Schönstes Beispiel eines zu spät gekommenen Buches ist Werner<br />
Bräunigs <strong>nach</strong>gelassener Roman „Rummelplatz“ (2007), <strong>der</strong> uns vorführt, was <strong>DDR</strong>-<strong>Literatur</strong><br />
hätte sein können, jenseits aller Verheißungen.<br />
Was diese <strong>Literatur</strong> hätte leisten können, hat Günter Kunert, damals schon ausgereist, in<br />
seinem Essay „<strong>Die</strong> <strong>Schreie</strong> <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse“ (1979) beschrieben. Fle<strong>der</strong>mäuse stoßen zur<br />
Orientierung <strong>Schreie</strong> aus, die <strong>der</strong> Mensch nicht hört. Hierin sind sich Fle<strong>der</strong>mäuse und<br />
Schriftsteller ähnlich: „Nimmt man ihnen die Stimme, finden sie keinen Weg mehr; überall<br />
anstoßend und gegen Wände fahrend fallen sie tot zu Boden. Ohne sie nimmt, was sonst sie<br />
vertilgen, überhand und großen Aufschwung: das Ungeziefer.“<br />
<strong>Jörg</strong> B. Bilke | Germanist | Coburg