Die Zeitung des Studiengangs Mediapublishing an der Hochschule der Medien Stuttgart - www.mediapublishing.org
DIE ZEITUNG DES STUDIENGANGS MEDIAPUBLISHING
DER HOCHSCHULE DER MEDIEN STUTTGART
AUSGABE 01/2021 13.02.2021
media
kompakt
Utopie oder Ausweg Seite 4-5
Angsterfüllt? Angstbefreit! Seite 10-11
„Die wollen doch nur Sex!“ Seite 28-29
SOLVED
2 mediakompakt
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Mark Stein
Sof tware
01/ 2021 EDITORIAL, IMPRESSUM, INHALT 3
Liebe Leserinnen,
liebe Leser,
die aktuelle MEDIAkompakt, die vor Ihnen liegt, ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Bitte nicht falsch
verstehen, jeder der bisher 29 (!) Ausgaben ist etwas ganz Besonderes. Und doch ist es uns ein Anliegen,
in diesem Fall auf die ungewöhnlichen Umstände hinzuweisen, unter denen die Studierenden des
Studiengangs Mediapublishing die Zeitung erstellen mussten. Es war von A bis Z ein durchgängig digitaler
Workflow. Vom ersten Treffen in einer Video-Konferenz, der Themensammlung über Mail, erneuten
Video-Calls zur Abstimmung des Leitmotivs über die Recherche und die Interviews mit den
Gesprächspartnern für die Beiträge – bis zum guten Schluss, der Layoutphase. In Zoom wurde dazu
ein virtueller Newsroom eingerichtet, in dem die Studierenden gemeinsam – und doch räumlich getrennt
– die Seiten gestaltet haben.
Doch was am Ende dieses Prozesses steht, ist ein durch und durch analoges Produkt: 40 Seiten auf
Zeitungspapier gedruckt. Ein sehr gelungenes Beispiel für die Verknüpfung von alter und neuer Medienwelt,
wie wir finden. Dabei wollen wir das Wichtigste nicht vergessen, die Inhalte. Jede Menge
Lesestoff von der Analyse über das bedingungslose Grundeinkommen auf den Seiten 4–5 bis zum
Phänomen der ganz persönlich empfundenen Einsamkeit im Zeitalter der weltweiten Vernetzung auf
den letzten Seiten. Und zwischendrin jede Menge weitere hintergründige, spannende, lesenswerte Inhalte.
Ganz wichtig an dieser Stelle ist ein dickes Dankeschön an die Anzeigenpartner der MEDIAkompakt.
Denn ohne ihre Unterstützung gäbe es (auch) diese Zeitung nicht.
Viel Spaß beim Lesen!
Reimund Abel,
Chefredaktion Media Kompakt
INHALT
4 Utopie oder Ausweg
Bedingungsloses Grundeinkommen
6 „Und woher kommst du wirklich?“
Rassismus beginnt mit kleinen Dingen
8 Der beste Freund gegen die Einsamkeit
Besuchshund Lui im Pflegeheim
10 Angsterfüllt
Interview mit einer Betroffenen
11 Angstbefreit
Welche Wege führen aus dem Dilemma?
12 Ein Vermögen für die Abstellkammer
Wohnungssuche in Stuttgart
14 Der Plastikwahnsinn
Plastik verschmutzt die Welt
15 Splitternackt eingepackt!
Alternative Unverpackt-Läden
16 Zwischen Lust und Frust
Wie ist es pornosüchtig zu sein?
18 Raubt der Kommerz dem Fußball die Seele?
Im Fußball steckt immer mehr Geld
20 Was ist denn links?
Auch Links weiß nicht so richtig was links ist
21 Liebe deinen Rechten wie dich selbst
Vergiftete Meinungskultur?
22 Die Not und das Tier
Tier und Mensch auf der Straße
23 Das Glück auf vier Pfoten
„Mein Hund ist alles für mich“
24 Gesünder? Besser? Grüner!
Anteil der Naturkosmetik wächst
I M P R E S S U M
mediakompakt
Zeitung des Studiengangs Mediapublishing
Hochschule der Medien Stuttgart
HERAUSGEBER
Professor Christof Seeger
Studiengang Mediapublishing
Postanschrift:
Nobelstraße 10
70569 Stuttgart
REDAKTION
Reimund Abel (v.i.S.d.P.)
abel@hdm-stuttgart.de
TITELSEITE
Christin Falkenberg, Valerie Jung, Alexandra Kazik
Bild: Unsplash
ANZEIGENVERKAUF
Julia Fuchs, Kristina Maric, Oliver Pfander, Michelle Rapp,
Sascha Renz, Kathrin Weberndörfer
MEDIA-NIGHT
Edith Schwegler, Chiara Oelke
PRODUKTION
Eric Barth, Lea Bauer, Vanessa Dörr, Jana Falkner,
Bastian Fritz, Anna-Sophie Hartauer, Stephanie Haun,
Carla Kienzle, Lisa Kopp, Lena Körner, Carina Krug,
Victoria Krüger, Greta Kuch, Anastasia Kulenko,
Sandra Kutscher, Jessica Langer, Tabea Lehmann,
Anna Nill, Caroline Rohr, Lena Schneider,
Katharina Schulik, Elisa Seidel, Christian Traulsen,
Jennifer Wißmann
DRUCK
Z-Druck Zentrale Zeitungsgesellschaft GmbH & Co. KG
Böblinger Straße 70
71065 Sindelfingen
ERSCHEINUNGSWEISE
Einmal im Semester zur Medianight
Copyright
Stuttgart, 2021
26 Wie gut ist günstig?
Fleisch ist günstig, vielleicht zu günstig?
27 „Für die Tiere da draußen ist es nicht okay.“
Aus Tierliebe Veganerin
28 „Die wollen doch nur Sex!“
Ein Gespräch über Polyamorie
30 Schönheit kommt von innen
Nicht aufgeben trotz Schicksalschlag!
32 Fashion for Future
Absprung vom endlosen Konsum
34 Eine männliche Krankheit
Seit wann ist Männlichkeit toxisch?
35 „Emotionale Männer sind Waschlappen!“
Was tun gegen toxische Männlichkeit
36 Der Charme des Analogen
Onliner gegen Offliner
38 Einsam im Zeitalter der Vernetzung
Millionen Deutsche fühlen sich einsam
4 SOLVED
mediakompakt
Utopie
oder
Ausweg
Mehr als 17.600 Menschen
stimmten per Petition online
für die kurzfristige Einführung
des bedingungslosen Grundeinkommens.
Die Eingabe
wurde vom Bundestag abgelehnt,
doch die Diskussion ist
aktueller denn je.
VON VICTORIA KRÜGER
UND VALERIE JUNG
Bild: Robert Anasch
01/ 2021 SOLVED 5
Die Corona-Krise hat uns alle getroffen.
Vor allem die Kunstschaffenden,
die Kulturbetriebe und die Gastronomiebranche
sind finanziell
ins Straucheln geraten. Nicht wenige
Selbstständige sind in ihrer Existenz bedroht. Die
vom Staat versprochenen Corona-Soforthilfen
sind für viele nicht ausreichend und gelangen
zudem nicht immer an die richtigen Stellen, sagt
die Aktivistin Susanne Wiest.
Sie erläuterte ihre Petition für die kurzfristige
Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens
vor dem Bundestag, ohne Erfolg.
Susanne Wiest fordert „kurzfristig und zeitlich
begrenzt, aber solange wie notwendig“ ein
bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) und
sieht dies als einzige Lösung, die Menschen vor
der Insolvenz zu schützen. Nicht erst durch die
Corona-Pandemie ist das bedingungslose Grundeinkommen
im Gespräch. Viele bekannte Gesichter,
wie zum Beispiel DM-Gründer Götz W. Werner
oder der Philosoph Richard David Precht,
stellen sich seit Jahren in der Öffentlichkeit die
Frage, ob die Zeit nicht reif ist für ein Grundeinkommen,
welches nicht an Bedingungen
geknüpft ist.
Ist es angestoßen durch die Auswirkungen der
Pandemie vielleicht jetzt soweit, das BGE nicht
länger als realitätsferne Utopie zu sehen, sondern
als ernst zu nehmendes Modell für die gesicherte
Zukunft eines Jeden?
Die Idee dahinter, und wie sie
finanziert werden soll
Schon gewusst?
Um ein Haar hätte die USA in den 1970er Jahren
ein Grundeinkommen für amerikanische Familien
eingeführt – durch den damaligen Präsident
Richard Nixon! Doch falsch interpretierte
Ergebnisse aus einem ähnlichen Versuch in
England haben den Senat schlussendlich umgestimmt.
Bücher zu dem Thema
Einkommen für alle – Götz W. Werner
Utopien für Realisten – Rutger Bregman
Jeder Bürger erhält monatlich vom Staat einen
festgelegten Geldbetrag. Diese finanzielle Unterstützung
steht im Widerspruch zur aktuell
vorherrschenden Leistungsgesellschaft: Denn das
BGE setzt keine vorangegangene Leistung voraus
und wird bedingungslos ausgezahlt, wie schon
der Name ausdrückt. Es ist also nicht relevant, ob
man arbeitet oder nicht. Der Staat zahlt monatlich
das BGE aus und ersetzt somit auch alle Sozialleistungen.
Zunächst würde das Grundeinkommen alle
Steuervergünstigungen und Sozialleistungen wie
Hartz IV oder Kindergeld ersetzen, womit nach
Ansicht der BGE-Befürworter monatliche Summen
in Milliardenhöhe freigestellt werden. Die
Vereinfachung der Sozialleistungen würde unterdessen
zum Teilabbau der Bürokratie
führen, die von vielen als undurchdringlicher
Dschungel empfunden wird.
Bisher legt der Staat zudem jährlich eine
steuerfreie Summe fest, die das Existenzminimum
der Bürger gewährleisten soll. Da das Grundeinkommen
das Existenzminimum sichert,
entfällt auch dieser Freibetrag der Einkommensteuer.
Diese Summen reichen jedoch noch nicht
für eine vollständige Finanzierung des Grundeinkommens
aus. Für die Finanzierung gibt es
mehrere unterschiedliche Modelle, die sich
maßgeblich danach richten, welcher Betrag
monatlich als Grundeinkommen ausgezahlt werden
soll. Im Gespräch sind meistens Beträge
zwischen 600 und 1500 Euro im Monat.
Somit gibt es natürlich zahlreiche Lösungsansätze,
wie die unterschiedlich hohen Grundeinkommen
finanziert werden könnten. Die unterschiedlichen
Ansätze gleichen sich insofern, dass
der monatlich festgelegte Betrag dadurch finanziert
wird, dass jeder Bürger individuell nach seinen
Möglichkeiten mittels Steuern zu diesem Modell
beiträgt.
Ein erster Versuch die Theorie in
die Praxis umzusetzen
Schon jetzt gibt es Initiativen wie „mein-
Grundeinkommen“, welche mittels Crowdfunding
finanzierte Einkommen verlosen, um das
BGE sowie die Veränderungen, die dadurch im
Leben der Gewinner auftreten, zu erforschen.
Michael Bohmeyer, der Mitbegründer des Vereins
„meinGrundeinkommen“, hat zusammen mit
dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung
(DIW) ein Pilotprojekt auf die Beine gestellt. Es
wird die erste in Deutschland durchgeführte
Langzeitstudie zum Grundeinkommen und
dessen Folgen sein. In der dreijährigen Studie
werden 1500 Menschen teilnehmen, von denen
120 Personen je 1200 Euro monatlich zur
Verfügung gestellt bekommen. Die restlichen
1300 Personen werden als Kontrollgruppe keine
Finanzierung erhalten. „Diese Studie ist eine
Riesenchance, um die uns seit Jahren begleitende
theoretische Debatte über das bedingungslose
Grundeinkommen in die soziale Wirklichkeit
überführen zu können“, betont der Studienleiter
Jürgen Schupp vom DIW. Laut einer Umfrage des
DIW befürwortet knapp die Hälfte der Bundesbürger
die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.
Es hört sich ja geradezu paradiesisch an,
monatlich einen Geldbetrag vom Staat geschenkt
zu bekommen. Doch welche Probleme könnten
durch das BGE gelöst werden?
Die mögliche Abschaffung von
Armut und Obdachlosigkeit
Es wird generell angenommen, dass jeder, der
in Armut lebt, auch selbst daran schuld sei. Der
Staat fungiert als Hilfe zur Selbsthilfe und gibt mit
den finanziellen Mitteln einen Schubs in die
richtige Richtung. Daraufhin wird angenommen,
dass die Menschen mit dem Geld und den
Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung selbst einen
Weg aus der Armut herausfinden.
Wie soll das möglich sein? Eldar Shafir, ein
Psychologe der Princeton University, sagt, Menschen
verhielten sich anders, wenn sie das Gefühl
von Knappheit spüren. Dabei sei es egal, was
knapp sei – Geld, Zeit, Freunde oder Nahrung.
Und Menschen, die Knappheit empfinden, seien
gut darin ihre kurzfristigen Probleme zu lösen,
sagt er. Was dabei außen vor bleibe, ist die Perspektive
auf die Zukunft. Die Konzentration fixiere
sich vollständig auf das Lösen des Problems.
Der nächtliche Schlafplatz, die nächste Mahlzeit
oder das Bezahlen der Miete nehme so viele mentale
Kapazitäten in Anspruch, dass das Denken an
die eigene Zukunft keinen Stellenwert mehr hat.
Stellen wir uns nun vor, so ginge es einem jeden
Tag – die wenigsten würden in dieser Position
noch kluge und nachhaltige Entscheidungen für
die Zukunft treffen.
Wird den Armen und Obdachlosen die
existenzielle Angst genommen und ihre niedrigsten
Bedürfnisse werden gestillt, könnte jeder und
jede sein Leben selbstbestimmt leben. Die
Motivation, sich weiterzuentwickeln und einem
Beruf nachzugehen, wird befeuert.
Die Chance für mehr Glück und
Selbstverwirklichung?
Der Druck, der entsteht, nur um die physiologischen
Bedürfnisse abzudecken, zwingt viele
Menschen in Arbeit, die sie a) unglücklich macht,
b) ihnen Zeit und Kraft raubt und c) zumindest in
vielen Fällen nicht ausreichend bezahlt wird. Wie
sähe eine Welt aus, in der Menschen sich ihre
Arbeit nach Interessen aussuchen würden – und
nicht nach Entgelt?
Würde die Büroangestellte nicht lieber ihre
kranke Mutter pflegen? Aber die Care-Arbeit von
Privatpersonen wird nicht ausreichend finanziert?
Oder hätte der vom Lockdown getroffene
Selbstständige womöglich sein Geschäft nicht
schließen müssen, weil die laufenden Kosten
durch die niedrige Auftragslage nicht mehr
gedeckt werden konnten?
Gerade die Auswirkungen der Pandemie auf
Kunstschaffende und Geringverdiener haben
noch einmal deutlich gemacht, dass es an der Zeit
ist, das Grundeinkommen als realistische Zukunftsvision
auf die Agenda der deutschen Politik
zu befördern.
6 SOLVED
mediakompakt
„Und woher kommst
du wirklich?“
Rassismus kann laut oder leise sein, direkt oder subtil,
bewusst oder unbewusst, aber eines ist er für Betroffene
immer: schmerzhaft. Das muss nicht so bleiben, jeder
kann seinen Teil zur Veränderung beitragen.
Das Stuttgarter „Forum der Kulturen“ macht vor, wie es geht.
VON CARINA KRUG
UND ANNA NILL
Für viele Menschen in Deutschland ist
Rassismus Alltag. Manchmal steckt keine
Absicht dahinter, oft zielt er auf bewusste
Herabwürdigung ab. Mit der
Überzeugung, dass bestimmte Personen
aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Religion
weniger wert sind als andere, werden Diskriminierungen
bis hin zu Gewalttaten gegen ganz
normale Menschen gerechtfertigt. Damit ist nicht
nur das körperliche Wohl der betroffenen Personen
gefährdet, sondern auch das mentale, denn
dieser feindseligen Haltung täglich gegenübertreten
zu müssen, ist eine große Bürde.
Die gängige Bezeichnung der Betroffenen als
Minderheiten ist dabei recht irreführend, da diese
in Deutschland, laut dem Statistischen Bundesamt,
aus rund 11,1 Millionen Menschen bestehen.
Davon sind zwar sechs Millionen Menschen
in Deutschland geboren und aufgewachsen, aber
sie haben nichtsdestotrotz mit Fremdenfeindlichkeit
zu kämpfen.
Die gedankenlose Frage nach der „wahren“
Herkunft oder das vermeintliche Kompliment,
wie gut sie Deutsch sprechen, werden für sie zu
grundlegenden Gefühlen der Ausgrenzung und
Ablehnung. Es ist offensichtlich, dass Menschen,
die ein wenig anders aussehen oder eine dunklere
Hautfarbe haben, nicht als Teil des „Wir“ akzeptiert
werden.
Generell ist Rassismus ein Thema, das immer
akuter wird. Laut dem „Verband für Betroffene
rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“
(VBRG) wurden allein 2019 mindestens 1347
Menschen in Deutschland Opfer von rassistischer
Gewalt, was sich auf circa fünf Personen pro Tag
hochrechnen lässt. Und bei dem rassistisch motivierten
Anschlag in Hanau verloren vergangenes
Jahr zehn unschuldige Menschen ihr Leben. Extremfälle
wie diese lassen die Gesellschaft und die
Politik für kurze Zeit aufhorchen, doch die Betroffenen
fühlen sich vom Staat dauerhaft nicht ausreichend
geschützt. „Es wächst die Angst vor antisemitischer,
rassistischer und rechter Gewalt und
Terror“, so die Vorsitzende des VBRG bei einer
Pressekonferenz.
Auf Eskalationen zu reagieren, genügt nicht
mehr, denn sie sind Symptome eines viel tiefer liegenden
Problems.
Rassismus beginnt
mit kleinen Dingen
In vielen Fällen merken die Schuldigen gar
nicht, wie herabwürdigend ihr Verhalten gegenüber
ihren Mitbürgern ist.
Es geht vor allem um institutionellen Rassismus,
der aus Alltagsrassismus resultiert und als
harmlos betrachtet wird. Durch gelernte Vorurteile
entsteht ein generalisiertes Bild von ethnischen
Gruppen, welches weitergegeben wird.
Basierend darauf werden die Betroffenen in
der Job- und Wohnungssuche, in der Schule, im
Gesundheitssystem, von der Polizei und im öffentlichen
Leben benachteiligt. Es ist ein Problem
des Alltags, dessen Lösung in der Verantwortung
jedes Einzelnen liegt, weil es einen großen Teil der
Gesellschaft betrifft.
Allein in Stuttgart leben nach Angaben des
„Forums der Kulturen“ Angehörige von mehr als
170 verschiedenen Nationen. Rund vierzig Prozent
der Bewohner:innen sind in den letzten fünf-
Bild: Pixabay
01/ 2021 SOLVED 7
zig Jahren zugewandert oder haben ein Elternteil
mit Migrationserfahrung.
Die Unterschiede, die verschiedene Hintergründe
mit sich bringen, sollten aber kein Grund
für Hass und Ablehnung sein. Kulturelle Vielfalt
ist eine enorme Bereicherung für Stadt und Bewohner.
Um diese aufrecht zu erhalten, muss etwas
für die Träger dieser Kulturen getan werden.
Es gilt ein sicheres, gleichberechtigtes Miteinander
zu schaffen, in dem sich alle entfalten können.
Das „Forum der Kulturen“ ist ein wichtiger
Pfeiler für dieses Bestreben in Stuttgart.
Es wurde 1998 gegründet und hat heute mehr
als 130 Migrantenorganisationen in Stuttgart und
Umgebung als Mitglieder. Konkret setzen sich die
Mitarbeiter mit Beratung, Bildungsangeboten
und Möglichkeiten zum Erfahrungsaustausch aktiv
gegen Benachteiligung, Ausgrenzung und Rassismus
ein. Durch öffentlichkeitswirksame Aktionen
und Kampagnen geben sie Betroffenen eine
Stimme und mischen sich da ein, wo andere wegschauen.
Darüber hinaus sorgt das „Forum der Kulturen“
dafür, dass die Vielfalt Stuttgarts sichtbar
und erlebbar wird. Neben verschiedenen Kulturveranstaltungen
ist das wohl bekannteste Angebot
das Sommerfestival der Kulturen. Mit Konzerten
von internationalen Stars und kulinarischen
Köstlichkeiten aus der ganzen Welt, werden die
Besonderheiten von Kulturen zusammengebracht
und gefeiert.
Es muss Einrichtungen wie das „Forum der
Kulturen“ geben. Doch, um den Kampf gegen Rassismus
zu gewinnen, müssen alle an einem Strang
ziehen. Und das funktioniert nur, wenn sich jeder
mit dem Thema Rassismus beschäftigt. Es genügt
nicht gegen Rassismus zu sein, um wirklich etwas
zu verändern muss man selbst aktiv werden.
Im Folgenden wird gezeigt, wie man schon
mit kleinen Dingen im Alltag etwas verändern
kann:
Perspektivwechsel
Der erste Schritt, um die Problematik zu verstehen,
ist es sich in Betroffene hineinzuversetzen.
Durch deren Berichte erfährt man die verschiedenen
Lebensrealitäten und bewegt sich
nicht nur in seiner eigenen Blase. Man ist sich
nicht immer bewusst welche Privilegien man besitzt.
Hinterfragen und nicht alles für selbstverständlich
zu halten, ist wichtig, um durch eigene
Vorteile andere zu stärken.
Zuhören
Wichtig ist, dass Betroffene gehört und ernstgenommen
werden. Und zwar ohne als Zuhörer
gleich in eine Verteidigungshaltung zu verfallen
oder einen Wettbewerb daraus zu machen, wer es
am schlimmsten hat. Stattdessen sollte man aufmerksam
zuhören und die neu gewonnenen Informationen
für sich reflektieren.
tanzen können, spricht ihnen jegliches Talent ab.
Wichtig ist es sich der eigenen Sprache bewusst zu
werden und daran zu arbeiten.
Toleranz
Jeder Mensch hat verschiedene Ansichten und
Meinungen. Diese sollten akzeptiert werden, so
gegensätzlich sie auch sein mögen. Auch kulturelle
Unterschiede sind keine unüberwindbaren Differenzen.
Bild: Pixabay
Natürlich ist diese Liste unvollständig. Es gibt
viele weitere Möglichkeiten das Miteinander zu
verbessern. Wer sich besonders engagieren möchte,
findet bei Organisationen wie dem „Forum der
Kulturen“ viele Angebote und Initiativen. Doch
auf dem Weg zu einer vorurteilsfreien Gesellschaft
genügen zunächst auch kleinere Schritte,
denn Veränderung beginnt beim Einzelnen.
Sprache
Man ist sich oft nicht bewusst, was unüberlegte
Worte oder Fragen bewirken. So löst die Frage
nach der tatsächlichen Herkunft ein Gefühl von
fehlender Zugehörigkeit aus. Und beispielsweise
das ausgesprochene Vorurteil, dass alle Schwarze
Zivilcourage
Wegschauen und weitergehen ist nie der richtige,
sondern immer der falsche Weg. Um Ungleichbehandlungen
entgegenzutreten, muss
man die Thematik Rassismus konkret ansprechen
und Betroffen Hilfe anbieten.
Wenn du aktiv werden willst:
www.verband-brg.de
www.forum-der-kulturen.de
8 SOLVED
mediakompakt
Bild: Pixabay, analogicus
Der beste Freund
gegen die Einsamkeit
Menschen sind soziale Wesen
und benötigen den Austausch
mit anderen. Besonders in
Pflegeheimen scheinen viele
unter sozialer Isolation zu
leiden und sehnen sich nach
Kommunikation und Nähe.
Können die Malteser-Hilfsdienste
dieses Problem lösen?
VON MICHELLE RAPP
UND STEPHANIE HAUN
Er ist schlank, hat weiches Fell und große
Ohren – richtig große Ohren, die
gerne gestreichelt werden. Die Rede ist
von Lui, einem spanischen Lauf- und
Jagdhund der Rasse Podenco. Als vier
Monate alten Welpen nahm Andrea Katzer ihn
aus dem Tierheim bei sich auf und erkannte das
Potenzial eines wunderbaren Besuchshundes in
ihm. Bereits seit zehn Jahren ist sie im Auftrag der
Malteser mit ihren Hunden in Stuttgarter Seniorenheimen
zu Besuch.
Rund 818.300 Pflegebedürftige leben laut dem
Statistischen Bundesamt in deutschen Pflegeheimen.
Manche sind bettlägerig oder zeigen kaum
noch Regungen. Oft sind die Bewohnerinnen und
Bewohner auch sehr einsam: Sie ziehen sich zurück,
verlassen ihr Zimmer nicht mehr und meiden
soziale Kontakte. Sie wirken niedergeschlagen
und antriebslos. Es fehlen Ansprechpersonen,
die den Menschen das Gefühl geben, gebraucht
zu werden.
Einen Weg aus der Einsamkeit bieten die
Malteser-Hilfsdienste. Die zahlreichen Helferinnen
und Helfer der Organisation engagieren sich
im Katastrophenschutz, im Sanitätsdienst, in der
Erste-Hilfe-Ausbildung oder in ehrenamtlichen
Sozialdiensten. Zu dem Team der Stuttgarter Malteser
gehören auch etwa 30 sogenannte Besuchshunde,
darunter Lui mit seinem Frauchen Andrea
Katzer. Die beiden sind spezialisiert auf demenzkranke
Bewohnerinnen und Bewohner.
Demenz ist eine allgemeine Bezeichnung für
eine Minderung der geistigen Fähigkeiten, die
schwerwiegend genug ist, um das tägliche Leben
01/ 2021 SOLVED 9
„Oft reicht
es schon, neben
dem Menschen
zu sitzen, damit
es ihm besser geht.
Es sind die
kleinen Erfolge,
die zählen.“
Lui, die den Bewohnerinnen und Bewohnern
wahre Freude schenken.
Ob die Seniorinnen und Senioren sich selbst
als einsam empfinden? „Besonders Demenzkranke
leben im Hier und Jetzt. Deshalb vergessen sie
manchmal bereits nach drei Stunden, dass Besuch
da war“, erläutert Andrea Katzer. An ihre Kindheit
könnten sie sich zwar gut erinnern und manchmal
an ihre eigenen Hunde von damals, aber: „Sie
haben ihr Zeitgefühl verloren“. Die Hundeführerin
vermutet darum, dass Demenzkranke ihre Einsamkeit
selbst nicht mehr wahrnehmen.
Es gibt Tage, an denen geht es den Heimbewohnern
schlecht und sie möchten keinen Besuch
empfangen, wenn sie zum Beispiel einen Demenzschub
haben. Manchmal haben sie dann
Angst vor dem Hund und der Besuch muss abgebrochen
werden. Die Privatsphäre der Menschen
zu respektieren ist mit das Wichtigste.
Auf die Frage, was die ehrenamtliche Tätigkeit
ihr zurückgibt, strahlt Andrea Katzer: „Ganz, ganz
viel zwischenmenschlicher Lohn.“ Sie liebt den
regelmäßigen Kontakt zu den Menschen und ist
dankbar für jedes Lächeln. Sie ist stolz, zusammen
mit Lui die Fortschritte und auch die Rückschritte
der Demenzkranken begleiten zu dürfen. Und das
kann sie auch sein. Respekt vor so viel Engagement.
Oder wie Lui sagen würde: „Wau!“
Neugierig geworden? Auch
Du kannst Dich engagieren!
Bist Du Hundebesitzer und hast Interesse daran,
ehrenamtlich bei den Maltesern mitzuarbeiten?
Dann melde Dich bei:
Debora Brasse
Soziales Ehrenamt
Malteser Hilfsdienst e. V.
Diözese Rottenburg-Stuttgart
Tel.: (0711) 92582–50
Mail: Debora.brasse@malteser.org
Auch ohne Hund freuen sich die älteren Menschen
auf regelmäßige Besuche: gemeinsam
spazieren gehen, Bücher vorlesen oder einfach
nur reden.
Lass uns gemeinsam gegen die Einsamkeit
vorgehen!
Weitere Informationen unter:
www.malteser-stuttgart.de/dienste-und-leistungen/
ehrenamtliche-mitarbeit.html
zu beeinträchtigen. Gedächtnisverlust ist ein Beispiel.
Die Alzheimer-Krankheit ist die am meisten
verbreitete Demenz-Art.
Andrea Katzer und Lui kommen jede Woche.
Immer als Mensch-Hund-Team und immer in Begleitung
einer Betreuungskraft. Lui weiß genau, in
welche Zimmer er gehen kann und heute zu Besuch
kommen darf oder nicht. Sobald Lui fröhlich
auf vier Pfoten den Raum betritt, sorgt er im
wahrsten Sinne des Wortes für Aufsehen.
So manch geschlossene, müde Augen öffnen
sich und werden plötzlich hellwach. „Mein bester
Freund ist da!“ Oder: „Ich habe schon so lange keinen
Besuch mehr bekommen“, gibt Andrea Katzer
im Gespräch die Freude der Seniorinnen und Senioren
wieder. Lui, mit seinem gepunkteten hellblauen
Halstuch, zaubert ihnen ein Lächeln ins
Gesicht. Der Hund wird gestreichelt, am Fell entlang
– besonders an den großen Ohren. Er läuft
neben dem Rollator her oder seine Leine darf gehalten
werden. Die Bewohner werden gezielt motiviert
und aktiviert, indem sie Lui beispielsweise
mit einer Futtertube füttern oder ihm andere
Leckereien geben dürfen. Im Beisein des Hundes
blühen sie auf.
Das findet auch Lui super. Geduldig macht er
alles mit, wie er es in seiner Ausbildung gelernt
hat. Dort wurde er an den Umgang mit fremden
Menschen, unkoordinierten Bewegungen und
lauten Geräuschen herangeführt. Ebenso an ungewohnte
Gegenstände wie Krücken, Rollstuhl
oder Rollator. Wichtiges Kriterium zum Bestehen
der Prüfung war, dass er niemals aus Unsicherheit
Aggressionen gegenüber den Besuchten zeigt. Lui
ist außerdem sehr sensibel und spürt sofort, wenn
es jemandem nicht gut geht. Oft reicht es schon,
neben dem Menschen zu sitzen, damit es ihm bessergeht.
Es sind die kleinen Erfolge, die zählen.
Besonders erinnert sich Andrea Katzer an einen
Senior, der drei Schlaganfälle hatte und zum
Schluss blind war. Er hat sein Bett nicht mehr verlassen.
Doch Lui motivierte ihn, sich anziehen zu
lassen. Er saß sogar am Tisch und hat lange gesprochen.
„Der Hund ist ein Türöffner“, stellt die
Ehrenamtliche fest und erzählt weiter: Eine der
Bewohnerinnen hatte ihren Ehemann verloren
und zog sich daraufhin sehr zurück. Durch die Besuche
öffnete sie sich dem Hund und konnte ihre
Trauer zulassen. Es seien die Besuchshunde wie
Bild: Andrea Katzer
10 SOLVED
mediakompakt
Bild: Pexels
Angsterfüllt
Herzrasen, kalter Schweiß und Atemnot. Symptome, die statistisch gesehen
mindestens jeder Vierte von euch selbst schon am eigenen Leib erfahren hat.
Denn diese Symptome sind Anzeichen der weitverbreitetsten psychischen
Erkrankung: der Angststörung.
VON TABEA LEHMANN
Wir haben uns vorgenommen, dem
Tabuthema Angst mit einer offenen
Konversation und Aufklärung
gegenüberzutreten und
haben uns dazu mit einer Betroffenen
unterhalten. Nathalie (Name geändert) ist
40 Jahre alt.
mediakompakt: Nathalie, wir sprechen heute mit
Dir, da Angstzustände seit einigen Jahren zu
deinem Leben gehören. Wann war das erste Mal?
Nathalie: Als ich ungefähr 32 war, sie kamen aus
dem Nichts. Zu dem Zeitpunkt war mein Leben
allerdings recht stressig mit Umzug, neuem Job
und anstehender Heirat. Es gab viele Änderungen
in meinen Leben, vielleicht entstanden meine
Angstzustände dadurch.
mediakompakt: Glaubst Du, die Angstzustände in
deinem Leben überstanden zu haben?
Nathalie: Die schlimmste Phase ist sicherlich
vorbei. Da stand hauptsächlich die Frage im
Raum: ‚Was habe ich überhaupt?‘. Man kann gar
nicht einordnen, was einem fehlt. Dann
bekommt man mehr Angst, weil man nicht weiß
was mit einem passiert. Wenn man irgendwann
zuordnen kann, dass es eine Angststörung ist, hat
man wenigstens Gewissheit. Aufgehört haben
diese Probleme allerdings nie. Man lernt nur mit
der Zeit besser mit ihnen umzugehen.
mediakompakt: Wer noch nie mit Angststörungen
zu tun hatte, kann sich das schwer vorstellen.
Kannst Du dies beschreiben?
Nathalie: Anfangs dachte ich, dass körperlich etwas
nicht mit mir stimmt. Ich habe in solchen
Momenten das Gefühl keine Luft zu bekommen.
Als würde ich ersticken. Ich dachte, ich hätte
Probleme mit der Lunge. Daraufhin bin ich zu
einigen Ärzten gerannt, keiner konnte mir helfen.
Natürlich nicht – ich hatte ja kein körperliches
Problem. Und ich denke jeder kann sich
vorstellen, dass man in Panik gerät, wenn man
keine Luft mehr bekommt und nicht den Grund
kennt.
mediakompakt: Viele Angststörungen bleiben
immer noch unerkannt. Wie hast Du erkannt,
dass Du mit einer Angststörung zu kämpfen hast.
Hat diese Erkenntnis etwas für Dich geändert?
Nathalie: Wie gesagt, ich bin zu gefühlt Tausenden
Ärzten gerannt, die mir alle nicht weiterhelfen
konnten. Nach einiger Zeit geriet ich glücklicherweise
an einen Arzt, der sofort eine Angststörung
diagnostizierte. Er sagte, ich solle mir keinen Kopf
machen und dass man manchmal einfach solche
Phasen habe im Leben. Er hat mich nicht als‚
verrückt‘ abgestempelt und mir genau den
Zuspruch gegeben, den ich brauchte. Endlich zu
wissen, was das Problem ist und einen guten
Ansprechpartner zu haben, hat mir wirklich
sehr geholfen. Er hat mir damit die Angst vor der
Angst genommen.
mediakompakt: Hattest Du vor allem zu Beginn
Deines Leidenswegs Unterstützung?
Nathalie: Ja, gerade anfangs war das alles sehr hart.
Da hat mir besonders mein Freund geholfen. Aber
irgendwann mit der Zeit lernt man das Gefühl
besser kennen und lässt sich nicht mehr so tief in
die Angst fallen. Mir hilft es immer am meisten,
wenn ich mich mit irgendetwas ablenke und mir
positive Gedanken mache.
mediakompakt: Psychische Erkrankungen werden
auch heute stigmatisiert. Wie siehst Du das?
Nathalie: Da gibt‘s definitiv Potenzial nach oben.
Ich bin der Meinung, dass das Thema nicht genug
Beachtung in der Gesellschaft findet. Der Umgang
mit psychischen Erkrankungen ist ausbaufähig,
sowohl in der Gesellschaft als auch in den Arztpraxen.
mediakompakt: Was würdest Du gerade jüngeren
Betroffenen noch mit auf den Weg geben?
Nathalie: Schämt euch auf jeden Fall nicht. Sucht
euch jemanden, mit dem ihr reden könnt. Fresst
die Angst nicht in euch hinein, denn sonst wird es
nur schlimmer. Und sucht euch einen Arzt, bei
dem ihr euch wohlfühlt, der euch versteht und
dem ihr euch anvertrauen könnt.
01/ 2021 SOLVED 11
Angstbefreit
Keiner will darüber sprechen, aber viele betrifft es. Angst.
Niemand will sich damit auseinandersetzen.
Und vor allem will sie niemand haben.
Welche Wege führen aus dem Dilemma?
VON KATHARINA SCHULIK
Die bittere Wahrheit ist, dass laut
Statistiken 27,8 Prozent der Deutschen
unter Angststörungen leiden.
Somit zählen Angststörungen zu der
weitverbreitetsten psychischen Erkrankung,
sie liegen damit sogar vor den weit
bekannteren Depressionen. Angststörungen
treten in vielen verschiedenen Arten auf. Zu den
meist verbreiteten Arten zählen unter anderem
die Panikstörungen, die generalisierte Angststörung
sowie und die spezifischen Phobien.
Gerade in akuten Momenten (etwa während einer
Panikattacke) wissen viele nicht, wie sie dem
Betroffenen helfen können.
Letztendlich sollte die professionelle Hilfe
über einen Arzt oder Therapeuten trotzdem
so schnell wie möglich erfolgen. Übliche
Behandlungsmöglichkeiten wie die Konfrontationstherapie
oder die mögliche Einnahme von
Medikamenten können den Alltag und die
Lebenssituation erheblich verbessern.
Erste Symptome bei Angststörungen können
Herzrasen und Schwindel, Atemnot, Zittern
und Konzentrationsschwierigkeiten sein. Darüber
hinaus können sich diese anfänglichen Symptome
in schwerwiegende Zustände entwickeln,
welche den normalen Alltag und das eigene Leben
stark beeinträchtigen. Zum Beispiel Isolation,
Schlaflosigkeit und Depressionen.
Besonders stark von Angststörungen sind
Frauen im Alter von 30 bis 49 Jahren betroffen,
aber auch immer mehr Männer leiden darunter
und suchen nach Hilfe. Die erste Anlaufstelle
sollte am besten ein spezialisierter Arzt oder
Therapeut sein. Doch nicht selten muss erst ein
passender Arzt gefunden werden und zudem
besitzt nicht jeder gleich den Mut sich einer
fremden Person oder sogar der eigenen Familie
und den engsten Freunden zu öffnen. Beratungsstellen
sind daher eine sehr gute Alternative, um
sich ersten Problemen und Ängsten zu stellen. So
haben es sich beispielsweise die Telefonseelsorge
Deutschland und die Deutsche Angst-Hilfe e.V.
zur Aufgabe gemacht Betroffene und Angehörige
zu unterstützen und rund um die Uhr abrufbereit
zu sein. Hier kann sich jeder melden und telefonisch
oder online Hilfe in Anspruch nehmen.
Auch für Angehörige der Betroffenen stehen
Beratungsstellen zur Verfügung und sie finden
dort Unterstützung. Denn die wenigsten sind
intuitiv in der Lage, richtig mit einer an einer
Angststörung erkrankten Person umzugehen.
Bild: Pexels
Neben einer Therapie können auch selbstbestimmte
Rituale helfen, um der Angst entgegenzuwirken.
Rituale wie zum Beispiel Tee trinken,
oder Ablenkung durch andere Beschäftigungen,
können einfach in den Alltag integriert werden.
So ist es möglich, kurze Entspannungstechniken
wie Meditieren, Yoga, Atemübungen, progressive
Muskelentspannung oder autogenes Training im
eigenen Zuhause anzuwenden. Ganz generell
kann es Betroffenen helfen herauszufinden,
welche Aktivität, welcher Ort oder welche
Menschen einem ein geborgenes Gefühl und
somit genug Halt vermitteln, um die Angst zu
bewältigen.
Wenn man das Gefühl hat, der Angst manchmal
unterlegen zu sein, dann wird es jetzt Zeit
etwas zu ändern. Dann ist es nötig, einen Arzt zu
finden, der einen versteht. Angst geht uns alle
etwas an und durch Schweigen löst sie sich nicht
in Luft auf – ganz im Gegenteil. In der Stille hat
die Angst Platz zum Wachsen. Wir sollten darüber
reden! Wir sollten laut sein!
Telefonseelsorge Deutschland
Unter dieser Nummer bekommt ihr Hilfe und
Beratung: 08 00 / 11 10 11 1
Deutsche Angst-Hilfe e.V.
Hier geht es zur Online Beratung:
www.angstselbsthilfe.de
12 SOLVED
mediakompakt
Ein Vermögen für
die Abstellkammer
Bild: Pixabay
Wohnungssuche in Stuttgart:
Selbst vermeintlich perfekte
Nichtraucher-Mieter ohne
Haustiere und mit festen, sehr
gut bezahlten Jobs suchen
ewig. Wie sehen Alternativen
aus, in der Wohnen
kein Wettbewerb ist?
VON JESSICA LANGER
UND LENA KÖRNER
Anna, 22, studiert in Stuttgart. Sie
möchte aus ihrem Elternhaus in eine
WG ziehen. Sie sucht ein Zimmer mit
mindestens 10 Quadratmetern und
für maximal 350 Euro. Anderswo
überhaupt kein Problem, in Stuttgart hingegen
äußerst schwierig.
Stuttgart ist nach Einwohnern die sechstgrößte
Stadt Deutschlands. Schaut man sich die Fläche
an, liegt die baden-württembergische Hauptstadt
Stuttgart gerade mal auf Platz 20. Damit hat Stuttgart
die drittgrößte Bevölkerungsdichte nach Berlin
und München. Zudem werden die Preise für
Mieten und Eigentum immer teurer.
Gleichzeitig leben die Menschen immer isolierter;
fast die Hälfte der Menschen in Großstädten
lebt allein. Insbesondere Alleinerziehende,
Menschen mit Haustieren und Geringverdiener
haben es bei der Wohnungssuche nicht leicht.
Ähnlich ist es für Menschen, die aus der Ferne herziehen
wollen. Wer nicht zu den oft sehr kurzfristigen
Besichtigungsterminen erscheinen kann, ist
nahezu chancenlos.
Anna hat es vergleichsweise gut: Sie wohnt bereits
in der Gegend, braucht das Zimmer nicht sofort
und kann es sich daher auch leisten, nicht das
erstbeste Angebot zu nehmen. Doch auch sie
stößt auf Hindernisse: „Prinzipiell weiß man natürlich
nie, was der genaue Grund für eine Absage
war“, sagt sie. Sehr wohl wurde sie aber nach einem
regelmäßigen Einkommen gefragt, wobei ihre
freiberufliche Tätigkeit dabei, wie sie glaubt, als
Nachteil empfunden wurde. „Mein Migrationshintergrund
könnte durchaus eine Rolle bei WG-
Castings gespielt haben, wenn vielleicht auch keine
so große.“
Wohnungssuchende beschleicht zuweilen das
Gefühl, dass Vermieter beliebige Anforderungen
stellen können und alles über sie erfahren wollen:
Sei es Alter, Geschlecht, Pendler-Status oder detaillierte
Informationen im Rahmen der Mieterselbstauskunft
– und das oftmals bevor sie Interessenten
überhaupt zur Besichtigung einladen.
Aber: Während der Corona-Pandemie haben
es Vermieter nicht immer leicht. So wurden Anna
oftmals günstigere Zimmerpreise angeboten: „Eine
Vermieterin ging mit dem Preis von 560 Euro
auf 350 Euro runter, da es zu Zeiten von Corona
schwer sei, jemanden zu finden. Dieses Angebot
beinhaltete ein Acht-Quadratmeter-Zimmer, das
nur aus einem Bett bestand.“ Nach langer Suche
fand Anna ein mehr als doppelt so großes Zimmer
zu einem ähnlichen Preis im Studentenwohnheim.
Doch nicht jeder hat so viel Glück wie Anna.
Wie kann ein Wohnungsmarkt aussehen, in der
auch der „unbeliebteste“ Mieter fündig wird? Neben
klassischen Ansätzen wie Nachverdichtung
01/ 2021 SOLVED 13
gibt es viele kreative Visionen, die angespannte Situation
zu lösen.
Eine davon sind sogenannte Cluster-Wohnungen.
Dabei handelt es sich um kleine Wohnungen,
gestaltet wie eine große WG. Neben den
Wohnflächen mit eigenem Bad und Kochnische
bieten sie viele Gemeinschaftsräume wie beispielsweise
große Küchen und Sportgelegenheiten
an. Hier leben oftmals verschiedene Generationen
zusammen, die sich gegenseitig unterstützen.
Dadurch können auch Einzelpersonen Teil
einer Gemeinschaft sein anstatt komplett isoliert
zu wohnen. Zudem sparen diese Konzepte oft
Platz. So kommt man dem großen Bedarf an kleinen
Wohnungen nach und bietet gleichzeitig
Menschen, die zuvor in großen Wohnungen lebten,
attraktive Alternativen.
Ähnlich wie bei Cluster-Wohnungen streben
die meisten Anhänger der Tiny-House-Bewegung
eine Gemeinschaft an, in der man sich gegenseitig
hilft, Gegenstände teilt und in der Bewohner unterschiedlichen
Alters vertreten sind. Dabei hat
aber jeder sein eigenes kleines Häuschen.
Tiny Houses ziehen insbesondere Menschen
an, die sich den Traum eines kleinen Eigenheims
verwirklich wollen, ohne dafür jahrzehntelang
verschuldet zu sein. Viele Tiny-House-Bewohner
haben sich ihr kleines Häuschen selbst gebaut
und kennen ihr Haus in- und auswendig. Zudem
legen viele von ihnen Wert auf ein nachhaltiges,
eher minimalistisches Leben und naturnahe Materialien
beim Hausbau.
Ein Haus auf Rädern
Johanna ist erste Vorsitzende des Vereins „Tiny
Houses Region Stuttgart e. V.“. Sie baut gerade
an ihrem eigenen kleinen Haus auf Rädern, in das
sie mit ihrem Freund einziehen will. „Wo es mal
stehen wird, wissen wir noch nicht“, gibt sie allerdings
zu, denn die Suche nach geeigneten Stellplätzen
gestaltet sich in Stuttgart schwierig. Darüber
spricht der Verein bereits mit Stuttgarter Gemeinden:
„Hier und da
stoßen wir durchaus
Tiny Houses
auf Interesse und führen
Gespräche fort.
Wir beobachten aber
auch, dass viele noch
sehr zögerlich sind,
was dieses Thema angeht.
Es gibt bisher
deutschlandweit keine
Vorzeigeprojekte, die
sich als Referenz eignen.
Zudem ist das
Thema Tiny House
noch mit sehr vielen
Vorurteilen und nicht
zuletzt auch baurechtlichen Hürden belastet.“
Die Mitglieder des Vereins wünschen sich „ein
Gelände, welches Platz für mehrere Tinys, ein Gemeinschaftshaus
und eventuell auch eine gemeinschaftlich
bewirtschaftete Gartenanlage
oder andere gemeinschaftsfördernde Einrichtungen
bietet.“
Der Begriff „Tiny House“ (dt.: „winziges
Haus“) kommt aus den USA und beschreibt
im engeren Sinn ein mobiles Haus mit einer
Grundfläche bis zu 37,1 Quadratmeter. Viele
Anhänger dieser Minihäuser möchten in einer
Gemeinschaft naturbezogen und nachhaltiger
leben und ihre geringe Wohnfläche
effizient nutzen, anstatt eine große Fläche
pflegen zu müssen.
Dieser Wunsch steht für die unterschiedlichen
Menschen des Vereins. So gibt es Eltern, die sich
nach dem Auszug der Kinder verkleinern sowie
junge Leute, die minimalistisch und nachhaltig
leben wollen.
Johanna kann sich auch das Leben mit Kindern
im Tiny House vorstellen: “Mit kleineren
Kindern ist das problemlos möglich und später
kann man dann über eine Erweiterung des Tinys
nachdenken.”
Johannas Vision für
einen entspannteren
Wohnungsmarkt sieht
vor, „dass wir weg gehen
vom zentralen Ballungsgebiet,
das sich
auf die Innen stadt und
die innersten Bezirke
richtet. Stadtbezirke
und ebenso die Gemeinden
ringsum müssen
daher so gestal tet
sein, dass alltägliche
Wege allein schon
deshalb autofrei zurückgelegt
werden können, weil sie kurz sind, weil
alle Dinge destäglichen Bedarfs fußläufig oder
mit dem Rad erreichbar sind. So dehnen
sich Städte vielleicht mehr in die Fläche aus,
das Leben dort wird aber attraktiver,
da die Abhängig keit von einem Zentrum geschwächt
wird.“
Bilder: Pixabay
14 SOLVED
mediakompakt
Der Plastikwahnsinn
Plastiküberschwemmte Meere und Strände. Meereslebewesen
mit Plastik im Magen. Müllhalden in der Dritten Welt. Bilder, die
jeder kennt. Und dennoch lässt das Umdenken auf sich warten.
VON JANA FALKNER
Im Jahr 2016 machte das Bild einer geschälten
plastikverpackten Orange der US-amerikanischen
Supermarktkette Whole Foods
auf Twitter die Runde. Die Twitter-Userin
kommentierte den Schnappschuss mit den
Worten: „Wenn die Natur nur einen Weg finden
würde, Orangen so zu verpacken, damit wir nicht
so viel Plastik für sie verschwenden müssten.“ Es
ist gar nicht nötig bis in die USA zu gehen, um die
Ausmaße des Verpackungsmülls zu begreifen. In
Deutschland sind im Jahr 2018 laut des Umweltbundesamts
18,9 Millionen Tonnen Verpackungsabfall
angefallen, im Vergleich zu 2010
sind das 18 Prozent mehr. Dies entspricht ungefähr
227 Kilogramm pro Kopf. Besonders problematisch
ist der Plastikmüll, weil dieser nicht
biologisch abbaubar ist. Auch weltweit nimmt die
Menge an Plastik zu. 1950 wurden nur 1,5 Millionen
Tonnen produziert, heute sind es jährlich etwa
407 Millionen Tonnen.
Kunststoffverpackungen haben ihre Vorteile,
besonders im Lebensmittelbereich. Das Plastik
kann dazu beitragen, dass weniger Lebensmittel
verschwendet werden, da diese durch die Verpackung
länger haltbar sind. Außerdem sichert das
Plastik die eingepackten Lebensmittel vor Keimen
oder mechanischen Einflüssen, sodass sie beispielsweise
beim Transport geschützt sind. Zudem
wird durch das geringe Gewicht Kohlendioxid
eingespart, da der Lkw zum Transport weniger
Kraftstoff verbraucht.
Allerdings verlieren diese Argumente an Kraft,
wenn man sich die gesamte Ökobilanz von Plastik
anschaut. So wird bereits bei der Herstellung Erdöl
benötigt, dessen Vorkommen auf der Erde begrenzt
ist. Außerdem ist Plastik extrem langlebig,
was bei der Entsorgung Probleme bereitet. Recycling
ist nur bedingt möglich. Zwar werden in
Deutschland etwa 90 Prozent aller Kunststoffabfälle
wieder eingesammelt, wiederverwertet
werden davon aber nur 43 Prozent, der größere
Teil wird verbrannt.
Millionen Tonnen Plastik landen in den Ozeanen,
sodass Meeresströmungen durchgängige
Oberflächen aus Abfällen entstehen lassen. Das
bekannteste dieser Gebilde ist das Great Pacific
Garbage Patch, das im Pazifik zwischen Kalifornien
und Hawaii treibt. Die Größe dieses Müllteppichs
wird auf 1,6 Millionen Quadratkilometer
geschätzt. Doch dies ist nur die Spitze des Eisberges,
denn 90 Prozent aller Abfälle sinkt auf den
Meeresboden und ist so gar nicht sichtbar. Das
Plastik ist im Meer nahezu unzerstörbar, es zersetzt
sich nur langsam durch das Salzwasser und
die Sonne und gibt so nach und nach kleine
Bruchstücke an die Umgebung ab.
Eine Lösung für all diese Probleme zu finden,
scheint beinahe unmöglich zu sein, denn Plastik
ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts zum Werkstoff
Nummer eins geworden. Zwar machen
Verpackungsmaterialien einen großen Teil des
Kunststoffmülls aus, doch auch in Kleidung aus
Polyester oder Kosmetik ist es enthalten.
Deswegen reicht es nicht beim Einkauf nur auf
die Verpackungsmaterialien zu achten, sondern
auch Inhaltsstoffe spielen eine nicht unbedeutende
Rolle.
Wenn man durch die Reihen eines gewöhnlichen
Supermarkts läuft, fällt auf, dass es gar nicht
so leicht ist, beim Lebensmittelkauf komplett auf
Plastik zu verzichten, da beinahe alles in dem Material
verpackt ist. Eine Lösung dafür kann der
Einkauf in einem Unverpackt-Laden sein, wo mitgebrachte
Behälter einfach aufgefüllt werden können,
sodass keine Verpackung nötig ist. Eine
andere Alternative sind Wochenmärkte oder Läden
mit Frischetheke.
Auch wenn all die erschreckenden Zahlen,
Fakten und Fotos über diese Probleme manchmal
ein lähmendes Gefühl der Hilflosigkeit hinterlassen
können, so kann doch jeder einzelne einen
Unterschied machen. Auf den ersten Blick scheint
es ergebnislos zu sein, Mehrwegtragetaschen statt
Plastiktüten zu verwenden, Müll zu trennen oder
Obst und Gemüse lose zu kaufen, doch Veränderung
beginnt im Kleinen.
Zahlen und Fakten
Mehr als 40 Prozent aller Kunststoffe wird nur
einmal verwendet und anschließend weggeworfen.
Weltweit werden pro Minuten 1 Million Plastikflaschen
verkauft.
Verpackungsmaterialien machen die Hälfte
des weltweit produzierten Plastikmülls aus.
Bild: Unsplash
01/ 2021 SOLVED 15
Splitternackt
eingepackt!
Bild: Bergerei | Lisa Maier Photographie
Unverpackt gegen den Plastikkonsum: In Deutschland existieren im Jahr 2020 rund 190 Unverpackt-Läden
und 180 weitere sind bereits in Planung. Vom Nischenkonzept zu einem gesellschaftlichen
Trend entwickeln sich die Unverpackt-Läden. Ein Interview.
VON ALEXANDRA KAZIK
Larissa Berger (28), Gründerin des
Schorndorfer Unverpackt-Ladens „Bergerei“,
erläutert, was sie als junger
Mensch dazu bewegt hat einen Unverpackt-Laden
zu gründen und wie man
ohne lästigen Verpackungsmüll der Umwelt
etwas Gutes tun kann.
mediakompakt: Warum hast Du einen Unverpackt-
Laden eröffnet?
Larissa: Da das Verpackungsproblem in unserem
Alltag eine große Rolle spielt, habe ich eine Lösung
gesucht, um dem entgegenzuwirken. Meine
Plastik-Mülltonne war so schnell voll, obwohl ich
versucht habe, viel auf dem Markt zu kaufen und
beim Einkauf darauf zu achten, so wenig Waren
wie möglich in Plastikverpackungen zu wählen.
Mir waren mehr oder weniger die Hände gebunden
komplett plastikfrei in meiner Heimatstadt
Schorndorf einzukaufen. Der nächste Unverpackt-Laden
befindet sich in Stuttgart oder
Schwäbisch Gmünd. Und da extra hinzufahren
macht ökologisch gesehen keinen Sinn. Deshalb
habe ich mich 2019 dazu entschieden einen Unverpackt-Laden
in Schorndorf zu gründen. Nachdem
ich die Idee konkretisiert hatte und auch
passende Räumlichkeiten gefunden habe, konnte
ich die „Bergerei“ im Mai 2020 eröffnen.
mediakompakt: Welche Voraussetzungen muss
man mitbringen, um einen Unverpackt-Laden zu
gründen?
Larissa: Ich habe zuvor Betriebswirtschaftslehre
mit Schwerpunkt Pädagogik studiert. Somit waren
die wirtschaftlichen Kenntnisse gegeben, die
man mitbringen sollte. Bei der Entwicklung des
Geschäftsmodells, der Konzipierung des Businessplans
oder auch der Perso nalkostenkalkulation
war das sehr hilfreich, denn die Wirtschaftlichkeit
ist von hoher Bedeutung. Außerdem sollte man
Interesse für die Lebensmittelbranche mitbringen
und selbst einen starken Willen und Engagement
zeigen. Ein gewisses Eigenkapital darf natürlich
auch nicht fehlen.
mediakompakt: Wie kommt die „Bergerei“ in
Schorndorf an?
Larissa: Auch wenn der Unverpackt-Laden zu einem
Nischenkonzept gehört und nicht die ganze
Bevölkerung meiner Heimatstadt in der „Bergerei“
einkauft, bekomme ich viel positives Feedback.
Die, die wirklich den Willen zeigen und der
Umwelt etwas Gutes tun wollen, kommen regelmäßig,
um ihren Großeinkauf komplett plastikfrei
zu tätigen. Als großen Vorteil, neben den
plastikfreien Produkten, sehen viele die individuelle
Portionierung der Mengen und die regionale
Produktvielfalt.
mediakompakt: Welche Zielgruppe sprichst du
nach deinen bisherigen Erfahrungen mit deinem
Unverpackt-Laden an?
Larissa: Die eine Zielgruppe gibt es nicht, meine
Käufer sind vom Alter her sehr gemischt. Tendenziell
ist meine Hauptkäufergruppe eher weiblich.
Viele junge Familien kommen regelmäßig. Aber
auch im Bereich 60plus gibt es einige interessierte
Käufer, die den Einkauf in der „Bergerei“ so wie
früher erleben, als es noch viele kleine Tante-
Emma-Läden gab.
mediakompakt: Schaffst du es deine Produkte ausschließlich
von regionalen Lieferanten zu beziehen,
wie sieht die Lieferkette aus?
Larissa: Primäres Ziel ist es, so viel wie möglich aus
der Region zu beziehen. Bei der Wahl meiner Produkte
achte ich zunächst darauf, wie weit der
Lieferant entfernt ist, ob es sich um ein saisonales
Bio-Produkt handelt und eine plastikfreie Belieferung
garantiert ist. Da es mir grundsätzlich sehr
wichtig ist, dass meine Käufer bei mir nicht nur
Lebensmittel bekommen, sondern alles, was sie
für den Alltag benötigen, weiche ich auch ab und
zu von den regionalen Lieferanten ab. Ausschlaggebend
ist immer die persönliche Überzeugung
des Produkts und eine unverpackte Lieferkette!
mediakompakt: Haben Unverpackt-Läden einen
großen Einfluss auf den Plastikkonsum?
Larissa: Obwohl die Unverpackt-Läden noch eine
Nische darstellen und die tägliche Versorgung mit
Bedarfsgegenständen nur ein kleiner Bereich einnimmt,
denke ich schon, dass die Summe einen
großen Einfluss hat. Das bestätigen Studien. Je
mehr Haushalte auf Unverpackt-Läden umsteigen
und weitere Haushalte inspirieren, desto weniger
Verpackungsmüll landet im Abfall.
INFO
Bergerei – Unverpackt-Laden & Tagescafé
Karlstraße 3
73614 Schorndorf
www.bergerei-schorndorf.de
16 SOLVED
mediakompakt
Zwischen
Lust und Frust
Bild: Pixabay
Pornos – Viele schauen sie regelmäßig, nur wenige reden
darüber. Noch heute sind die Sexfilme ein Tabuthema,
Aufklärung fehlt. Doch ihr Konsum kann süchtig machen.
Ein Betroffener gibt offen Auskunft.
VON LEA BAUER
UND CARLA KIENZLE
Simon (Name von der Redaktion geändert)
liegt im Bett und starrt seit Stunden
an die Decke. Es ist mitten in der
Nacht. Er kann nicht schlafen. Seine
Gedanken schweifen ab: Von seiner
Frau, die neben ihm schläft, zu den Bildern nackter
Frauen. Schon ist sie da, die Lust auf Pornos.
Simon ist süchtig. Wenn ihm langweilig ist, er
gestresst ist oder Ablenkung braucht, flüchtet er
sich in Pornos. Sie befriedigen ihn, schaffen einen
kurzen Moment des Glücks. Simon wirft einen
Blick auf die Uhr. Die digitale Anzeige verrät:
Inzwischen ist es 2:42 Uhr. Mit einem leisen
Rascheln der Decken erhebt er sich und schleicht
aus dem Schlafzimmer. Vor seinem geistigen Auge
hat er schon die Bilder blanker Beine, Brüste und
Hintern, die er gleich sehen wird.
Wie Simon geht es nach Schätzungen rund
500.000 Menschen in Deutschland. Sie sind pornosüchtig.
Erst im Jahr 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation
WHO zwanghaftes Sexualverhalten
als psychische Störung anerkannt. Gleichzeitig
verzeichnete Pornhub, das weltweit größte
Pornografie-Portal, einen Anstieg der Seitenbesuche
von rund 15 Prozent. Das Portal ist nach
X-Hamster der zweitbeliebteste Anbieter von pornografischen
Inhalten in Deutschland. Statistiken
zufolge sind vier der 20 meistbesuchten Internetseiten
der Deutschen Portale mit Sex-Inhalten.
Der Konsum von Pornos kann, muss aber nicht
zur Sucht führen. „Nicht jeder Mann ist heutzutage
pornosüchtig. Es ist eine Frage der Häufigkeit.
Süchtig ist, wer nicht mehr aufhören kann, und
wer Menge und Zeitpunkt des Konsums nicht
kontrollieren kann“, bestätigt der Stuttgarter
Psychologe Adrian Lenkner.
Simon sah mit 18 Jahren das erste Mal ein Sex-
Video. „Der Film fiel mir zufällig in die Hände.
Das war im Über-18-Bereich der Videothek, da
durften nur die Erwachsenen rein. Internet hatten
wir damals noch nicht“, erinnert sich der heute
54-Jährige. Schranken wie die einer Videothek
existieren heute nicht mehr – durch das Internet
steht die Tür zu Pornografie jedem offen. Die
Filme sind nur wenige Klicks entfernt. Jeder, der
ein Smartphone, ein Tablet oder einen Laptop
besitzt, kann von überall auf eine unzählbare
Menge an einschlägigen Inhalten zugreifen. Die
einzige Voraussetzung ist ein Internetzugang.
„Beim Anschauen des Films habe ich gemerkt,
wie heftig ich darauf reagiere. Der Hormonschub
war ein krasses Gefühl“, berichtet Simon. „Männer
können visuell schnell sexuell erregt werden.
Wenn sie eine schöne Frau oder nackte Haut sehen,
springt das ganze Sexualsystem an. Das fühlt
sich gut an. Verhaltensweisen können außerdem
mit sexuellen Empfindungen konditioniert, also
01/ 2021 SOLVED 17
gelernt und verstärkt werden. Und sexuelle
Gefühle sind sehr gute Verstärker“, erläutert Psychologe
Lenkner.
Simon verlor die Kontrolle über sich schleichend.
Nach seinem ersten Mal war sein Konsum
unregelmäßig – ab und zu am Wochenende, ein
Filmchen hier, ein Filmchen da. In seinen 30ern
und 40ern passte sich der Pornokonsum unbemerkt
an den getakteten Tagesablauf seines
Schichtdienstes an. Hinzu kamen Eheprobleme.
„Ich war in meiner Beziehung
unglücklich.
Vor allem im Hinblick
auf mein Sexleben. Mit
den Pornos konnte ich
meine Lust befriedigen.
Sie waren wie eine
Flucht und ich konnte
Stress abbauen. Dass die
Filme süchtig machen
können, war mir nicht
bewusst“, sagt er. Statistiken
zufolge spricht in
Deutschland nur jeder
Zweite mit dem Partner über Masturbation. Der
Rest schweigt. Auch Simons Frau wusste nichts
von seinem Problem. Als sie ihn nachts einmal
auf dem Sofa erwischte, schwiegen beide darüber.
Und er schaute weiter Pornos: mehrmals in der
Woche, bis zu drei Stunden am Stück.
Mehr Alkohol, mehr Zigaretten oder mehr
Pornos – wie andere Süchte will die Abhängigkeit
von sexuellen Inhalten mehr und kann sich in Extreme
steigern. Auf der Suche nach mehr wechseln
Süchtige die Sexformate, suchen intensivere
Reize und schauen ausgefallenere Inhalte. „Wie
bei allen Süchten lässt die Wirkung nach und
„Mit den Pornos
konnte ich meine Lust
befriedigen. Sie waren
wie eine Flucht und
ich konnte Stress
abbauen.“
Pornosüchtige suchen nach dem größeren Kick.
Sie brauchen Abwechslung. Ein Extrem der Pornosucht
sind Livechats und Livecams, für die
Süchtige zahlen. Das andere sind extremere Inhalte
wie etwa Gewaltszenen oder Kinderpornografie”,
erläutert der Psychologe.
Simon schaute länger und mehr Pornos, die
Inhalte wurden heftiger. Durch die Sucht veränderte
sich sein Charakter. Er wurde egoistischer.
Seine Lust auf Sex wuchs. Und wollte seine Frau
nicht, wonach er begehrte,
fühlte er sich gekränkt.
In vielen Beziehungen
geht bei einer
Pornosucht die Intimität
und Nähe zum Partner
verloren. Ein Partner
kann zurückweisen,
Pornos sagen nicht
nein. Simon bemerkte
seine Sucht spät: „Ich
habe mich im Internet
über Pornos informiert
und versucht, sie wegzulassen.
Als ich nachts aufwachte und mein Körper
nach dem Dopamin verlangte, wurde mir klar,
dass ich ein Problem habe”.
Zu dem Zeitpunkt war Simon Anfang 50. Heute
weiß er, warum er seit seinem dreißigsten
Lebensjahr Pornos schaute: nicht mehr aus einer
Laune heraus, sondern zwanghaft. Und dass seine
Ehe beinahe an seiner Sucht zerbrochen wäre.
„Nachdem mir bewusst wurde, dass sich mein
Charakter negativ veränderte, hat etwas in mir
gesagt: ,Nein, ich will das nicht mehr‘.“ Simon zog
die Reißleine und machte einen Entzug, schlechte
Laune und extreme Stimmungsschwankungen
inklusive. Doch mit dem harten Entzug war
das Ende seiner Sucht nicht erreicht. Immer
wieder rutschte er zurück in die Spirale.
Potenzielle Auslöser für Rückfälle lauern
überall. Ob nackte Haut auf Werbebildern in
Mails, Sexszenen in Filmen oder freizügige
Fotos in sozialen Netzwerken. Wie lange der
Weg aus der Sucht ist, weiß niemand. „Bei neuem
Verhalten entstehen neue Spuren im
Gehirn. Ein Rückfall ist letztlich nur ein Wechsel
auf die alte Spur. Ist die neue Spur schon angelegt,
kann man wieder zurückwechseln. Wer
das weiß, hat es leichter”, sagt Adrian Lenkner.
Letztlich schaffte Simon den Ausstieg. Er reduzierte
die Menge der Pornos langsam, stieg
von harten auf leichten Filmstoff um: Anstelle
von Pornos schaute er Youtube-Videos. Kein
Sex, aber nackte Frauen. Bis er auch davon loskam.
„Stattdessen habe ich eine absolute Lust
auf Sex mit meiner Frau entwickelt. Manchmal
wird aus einer Sucht eine andere. Bei mir wurde
es eine Sucht nach Sex und Nähe. Es hat mehrere
Jahre gedauert, bis sich das ausgeglichen
hat”, erinnert sich Simon. Neben einer Eheberatung
mit seiner Frau half ihm ein Therapeut
aus der Sucht. Und in einer Männergruppe teilte
er mit anderen Betroffenen seine Probleme.
„Reden allein ist ein großer Schritt, um mit der
Sucht weiterzukommen”, sagt er.
Heute ist Simon fast vier Jahre suchtfrei.
Den Weg zum genussvollen Konsum ist er nie
zurückgegangen, zu groß ist die Angst vor
einem Rückfall. Er möchte auch keine Pornos
mehr schauen. Stattdessen genießt er den Sex
im realen Leben mit seiner Frau – Nähe und
Intimität an erster Stelle. Denn das können
Pornos nicht bieten.
Bild: Colourbox
18 SOLVED
mediakompakt
Bild: dpa/frei
01/ 2021 SOLVED 19
Raubt der Kommerz
dem Fußball die Seele?
Der deutsche Fußball hat sich
längst zu einem Millionengeschäft
entwickelt. Doch der
Sport muss aufpassen, nicht
den wichtigsten Bestandteil zu
verlieren: seine Fans.
VON OLIVER PFANDER
UND SASCHA RENZ
Geld regiert die Welt. In der Politik, in
der Wirtschaft, in der Gesellschaft
und seit einigen Jahren auch im Fußball.
Die Strukturen und Interessen
der Fußballvereine entwickeln sich
immer mehr in die von Wirtschaftsunternehmen.
Die Fans können sich mit dieser Entwicklung allerdings
nur schwer anfreunden. Der Slogan „Gegen
den modernen Fußball“ ist mittlerweile zu einem
weit verbreiteten Motto der Fans geworden,
die sich nicht mit der zunehmenden Kommerzialisierung
im Profifußball identifizieren können.
Der steigende Einfluss finanzieller Interessengruppen,
explodierende Transfersummen und die
Verteilung der TV-Gelder sind einige Beispiele für
die momentan stattfindende Entwicklung im
Fußballgeschäft. Speziell die Verteilung der Fernseh-Gelder
steht in diesem Zusammenhang besonders
im Fokus. Sie stellt für die meisten Vereine
die Haupteinnahmequelle dar und verursacht
so eine erhebliche Abhängigkeit. Die Deutsche
Fußball Liga (DFL) erwirtschaftete als Organisator
und Vermarkter des deutschen Profifußballs in
der vergangenen Saison 1,16 Milliarden Euro
durch nationale TV-Gelder. Zum Vergleich: in der
Saison 2016/17 waren es noch 628 Millionen Euro,
was einem Zuwachs von etwa 85 Prozent entspricht.
Durch den Anstieg an finanziellen Mitteln
und die leistungsorientierte Verteilung dieser,
ist ein besseres Abschneiden in der Saison von
noch höherer Bedeutung. „Durch langjähriges
gutes Wirtschaften gewinnt man als Verein heutzutage
keinen Blumentopf mehr“, kritisiert Jost
Peter, Vorstandsmitglied im Fanbündnis „Unsere
Kurve“, in dem sich 21 Fanorganisationen unter
einem Dach vereinigt haben. Der Verein repräsentiert
nach eigenen Angaben eine rund sechsstellige
Anzahl von aktiven Anhängern.
Dass das viele Geld seinen Preis hat, wird
durch die Pandemie wie unter einem Brennglas
ans Tageslicht gebracht. Infolge der fehlenden
TV-Einnahmen durch die Spielpause, drohte einigen
Vereinen bereits nach wenigen Wochen der
finanzielle Kollaps. Die „Fanszenen Deutschlands“,
ein bundesweiter Zusammenschluss von
Fan- und Ultraszenen, bemängeln, die Strukturen
des Sports seien vollkommen vom Fluss der Fernsehgelder
abhängig. Die Vereine existierten demnach
nur noch in totaler Abhängigkeit der Geldgeber.
Ein möglicher Lösungsansatz wäre ein anderes
System zur Verteilung der Gelder. Würden
diese gleichmäßig an alle Vereine ausgezahlt werden,
könnten vermutlich alle Vereine Krisen besser
überstehen. Gleichzeitig gäbe es einen gerechteren
und spannenderen Wettbewerb, so die
Überzeugung.
Stichwort gerechter Wettbewerb: Kopfschütteln
lösen auch die in den vergangenen Jahren in die
Höhe geschossenen Transfersummen. Die Ablöse,
die Vereine heutzutage für Spielerwechsel bezahlen,
übersteigen die Summen von vor einigen Jahren
um ein Vielfaches. Lag der Transferrekord
kurz nach der Jahrtausendwende noch bei 77,5
Millionen Euro (Zinédine Zidane), kletterte er seit
dem Jahr 2017 auf die unglaubliche Summe von
222 Millionen Euro, die für den brasilianischen
Superstar Neymar gezahlt werden, als er zu Paris
St. Germain wechselte. Das entspricht knapp einer
Verdreifachung in etwa 20 Jahren. Vor allem
kleinere Vereine geraten durch diese Entwicklung
immer mehr ins Hintertreffen – man kann sagen,
die Kluft zwischen finanzkräftigeren und finanzschwächeren
Vereinen klafft immer weiter auf.
Wo soll das noch hinführen?
Die Transfersummen
im Profifußball
explodieren
Neben der Verteilung der TV-Gelder und den explodierenden
Transfersummen zählt der steigende
Einfluss finanzieller Interessengruppen zu den
aktuell größten Baustellen des deutschen Profifußballs.
Der Sport wird vermehrt von Außenstehenden
als Werbeplattform genutzt. Die Vereine
entwickeln sich dadurch immer mehr zu Unternehmen,
bei denen allein Profit im Fokus steht.
Das kann zum einen durch das Einsteigen eines
Investors als alleinstehende Person erfolgen,
wie es beispielsweise mit dem Multimilliardär
Dietmar Hopp bei 1899 Hoffenheim der Fall ist.
Zum anderen können auch Teile eines Vereins in
eine Kapitalgesellschaft ausgegliedert werden, so
geschehen bei der Lizenzspielerabteilung von RB
Leipzig und dem Unternehmen Red Bull. Beides
ging mit einer enormen Finanzspritze einher. Diese
Entwicklung hat einen bedeutenden Einfluss
auf den sportlichen Wettbewerb, was einigen
Fans missfällt. Sie bangen sowohl um die Identität
ihres Vereins als auch um die Kultur der Fanszene.
Um dem zunehmenden Einfluss von Geld im
Fußball entgegen zu wirken, muss sich einiges ändern.
Ein Ansatz für das Transfergeschehen wäre
die Einführung einer finanziellen Obergrenze bei
Transfersummen und Spielergehältern. Um den
Einstieg von Sponsoren und Investoren weiterhin
zu erschweren, ist die Erhaltung der 50+1-Regel
im deutschen Fußball unausweichlich. So wird
verhindert, dass Kapitalgeber die mehrheitlichen
Anteile an einem Verein erwerben können. Die
Fans sind ein elementarer Bestandteil der Vereine,
sie sollten auch in Zukunft eine wichtige Rolle
spielen. Laut Jost Peter wäre ein vernünftig aufgebauter
Dialog in den Vereinen, in Form von regelmäßigen
Treffen mit den Fanbeauftragten oder
mittels Online-Veranstaltungen mit Mitgliedern,
ein Schritt in die richtige Richtung. „Es würde von
alleine dazu kommen, dass Geld zwar Beachtung
findet, aber nicht an erster Stelle steht. Sehr viele
Dinge, seit Jahren kritisiert werden, wurden durch
Corona wie unter die Lupe gehalten.“ Dass ein
völlig verschuldeter Verein wie Schalke 04 weiter
in der Ersten Liga spielen dürfe, wäre früher nicht
möglich gewesen. Heutzutage bestehe durch die
Ausgliederung (Schalke 04 ist aufgeteilt in mehr
als 30 Gesellschaften) die Möglichkeit, Schulden
zu verstecken. Generell sei der Fußball schon immer
der Kommerzialisierung ausgesetzt gewesen.
Angefangen von Geldflüssen für Spielertransfers,
über die Verdienstmöglichkeiten der Vereine, bis
hin zu Werbung, Sponsorings und Investoren.
Die Kommerzialisierung im Fußball muss als
Teil des Wandels akzeptiert werden, da sich der
Sport – genau wie Gesellschaft und Wirtschaft –
immer weiterentwickeln wird. Den Fans fällt diese
Akzeptanz schwer, sie leisten Widerstand in Form
von Protesten. „Die Proteste haben sich zugespitzt“,
urteilt Jost Peter. Die Fans votieren nach
seiner Aussage allerdings nicht gänzlich gegen
Veränderungen, sie wollten nur Teil des Sports
bleiben und verbinden damit weniger Geld und
Profit, sondern vielmehr Leidenschaft, Wettbewerb
und Gemeinschaft. „Die Kommerzialisierung
hat ein Ausmaß angenommen, welches den
Fußball kaputt macht“, bemängelt der Fan-Beauftragte.
Und: Es braucht eine Lösung, die über
Deutschland hinausgeht. Andernfalls besteht die
Gefahr, dass Spieler ins Ausland wechseln. Generell
sollten sich Spieler wieder mehr mit den Vereinen
und den Fans identifizieren und weniger das
Geld in den Vordergrund stellen. Auch für Jost Peter
sind Veränderungen unerlässlich: „Fußball ist
ein Sport, bei dem es um Fairness und Wettbewerb
geht und diese beiden Dinge müssen wieder ins
Zentrum rücken. Es ist keine Option, so weiterzumachen
wie bisher.“
20 SOLVED
mediakompakt
Was ist
denn
links?
Obwohl gern verkündet wird,
die Begriffe „links“ und
„rechts“ seien überholt und
hätten ihre Bedeutung verloren,
scheint die Unterscheidung
bedeutungsvoller zu
werden. „Links“ führt einen
politischen, kulturellen und sozialen
Kampf gegen „rechts“.
VON KRISTINA MARIC
Bild: Freepik
Befragt man den Bekanntenkreis, die
Familie oder die Kollegen am Arbeitsplatz,
so lässt sich schnell feststellen,
dass die Antworten auf die
Frage, was denn nun links sei, sehr
unterschiedlich ausfallen. Viele antworten, links
sei eben das, was viele auch für links halten: „Die
Linke“, „linke Meinungen“, vielleicht die Gewerkschaften
oder die Antifa-Bewegung. Andere
bringen in ihre Antwort das Wort „eigentlich“
ein: Links heute sei „so und so“, aber eigentlich
müsste links heute „das und das“ bedeuten.
Und wieder andere denken überhaupt nicht
an Politik, sondern an Menschen, ihre Haltung zu
sich, zum Leben, der Umwelt und zu Anderen.
Hier eine kurze Vorgeschichte zur eigentlichen
Bezeichnung: Die Bezeichnung „Linke“ und
„Rechte“ entstand in der Französischen Revolution
von 1789. In der zweiten Nationalversammlung
nahmen die Anhänger, die mit den Resultaten
der ersten Etappe der Revolution zufrieden
waren, auf den Sitzen rechts vom Parlamentspräsidenten
Platz. Andere dagegen, die umfassendere
demokratische und soziale Ziele anstrebten, und
die Revolution weiter antreiben wollten, suchten
sich ihren Platz woanders. Links.
Beide Lager waren von Anfang an direkt auf
die Fragen von Eigentum und Macht fokussiert.
Wie wird Eigentum und politische Macht verteilt?
In welchem Verhältnis stehen Freiheit und
Gleichheit zueinander? Nach welchen Grundsätzen
soll die Bevölkerung leben? Doch die Frage
wie man die linken Positionen zu den jeweiligen
Themen definiert, ist nicht nur im Alltag, in der
Politik und in der Meinungsforschung sehr verschieden.
Sie unterscheiden sich auch nach kultu-
rellem und sozialem Kontext, nach Traditionen
und Erwartungen.
Das linke politische Spektrum erstreckt sich
vom demokratischen Sozialismus über den Linkssozialismus
und die radikale Linke bis hin zum
Kommunismus. Selbst die Fronten zwischen
rechts und links verschwimmen heute manchmal:
Für direkte Demokratie werben nicht nur
Linke und Grüne, sondern auch eine rechtsnationale
Partei wie die AfD. Dass es legale Wege zur
Einreise nach Deutschland braucht, sagen nicht
nur Flüchtlingshelfer, sondern auch die FDP.
Und es war Angela Merkel, eine CDU-Kanzlerin,
die 2015 Hunderttausende Geflüchtete ins
Land ließ – und damit den Beifall der Linken und
gleichzeitig den Hass der Rechten auf sich zog. Die
Linksparteien untereinander bleiben von dem
heutigen „Chaos“ nicht verschont und müssen
sich neu sortieren. Der „Spiegel“-Kolumnist Sascha
Lobo kritisiert die Haltung vieler Linken und
weist anhand eines Beispiels auf eine aus seiner
Sicht vorhandene Verwirrtheit hin: „Es ist eine
Form von Verniedlichungsrassismus, wenn man
zum Beispiel Islamisten und ganzen Ländern die
Verantwortung für ihr eigenes Handeln abspricht
und stattdessen glaubt, alles, was auf der Welt geschieht,
sei ausschließlich eine Reaktion auf den
bösen Kapitalismus der weißen Europäer und
Amerikaner.“ Gab es früher klare Linien zwischen
Radikalen und Pragmatikern, Regierungswilligen
und Oppositionellen, zwischen den Ost- und
Westverbänden, so verlaufen die Fronten nun
zum Teil quer durch diese Lager. Ist man also auf
der Suche nach einer Antwort auf die Frage, was
links eigentlich bedeute, wird einem schnell klar:
Auch Links weiß nicht so richtig was links ist.
01/ 2021 SOLVED 21
Liebe deinen Rechten
wie dich selbst
Ein mutiges Plädoyer für
einen fairen politischen
Meinungsaustausch in den
Staaten und der Welt.
VON EDITH SCHWEGLER
Wir leben, gehen und denken in
den drei Dimensionen einer
Welt, die sich zweidimensional
auseinander zu bewegen droht.
Die politischen Pole lassen nicht
nur jene mit Rechts-Links-Schwäche vor den gesellschaftspolitischen
Kreuzungen der Zeit stocken.
Inzwischen ist das Tönen der Verkehrsteilnehmer
derart laut geworden, dass ein Verordnen
der Richtungen selbst dem mit Unterscheidungskraft
gesegneten Menschen nur auf Abstand möglich
ist. Denn: Die Rhetorik hat ihre Fäuste geballt.
Von Übersee, ein bezeichnendes Beispiel:
„Wenn Sie unschlüssig darüber sind, ob Sie für
mich oder Trump sind, dann sind Sie nicht
schwarz.“ Verlauten ließ dies Demokrat Joe Biden
im Wahlkampf um die Präsidentschaft der Vereinigten
Staaten gegen den Republikaner Donald
Trump, den erklärten Antihelden des progressiven
Menschen von heute. Inzwischen ist Biden
der neue Chef im Weißen Haus.
Die Botschaft ist klar: Auf keinen Fall Trump,
andernfalls verriete man seine gesamte ethnische
Gemeinschaft. Das ist harsch und vor allem nicht
hilfreich, wenn es darum geht, sich eine eigenständige
politische Meinung zu bilden. Nicht in
Frage zu stellen ist natürlich die Fragwürdigkeit
persönlicher und politischer Entscheidungen des
abgewählten republikanischen Präsidenten. Was
allerdings unbedingt diskutiert werden sollte, ist
der Umgang mit konträren politischen und weltanschaulichen
Positionen, in seinem Negativbeispiel
zuvor zitiert. Was das macht, ist nicht,
Schlechtes als schlecht zu benennen, sondern den
Schwarzen auf Identitätsebene seiner gedanklichen
Selbstbestimmung zu berauben. Abzuerkennen,
dazuzugehören, wenn anderer Meinung,
stellt eine Form von gesellschaftlicher Gewalt dar,
die in anderem Kontext, etwa dem der Schutzforderung
von ungeborenem Leben, einem grundkonservativen
Motiv, ähnlich formuliert zu
höchster Empörung auf progressiver Seite führen
würde. Soll heißen? Der politische Diskurs ist infiziert,
die Krankheit trägt den Namen Intoleranz.
Offensichtlich ist das sicherlich in der ab- und
ausgrenzenden Rhetorik der AfD, der NPD und
ebenso Donald Trumps, die Grenzen zieht, wo
Grenzen rettendes Aufnehmen verhindern. Offensichtlich
ist auch die Stigmatisierung des konservativen
Gedankenguts mit dem Stempel der
XY-Feindlichkeit. Offensichtlich ist aber nicht,
wie genau diese bewirkt, dass ein rechtes Feindbild
geschaffen wird, welches in seiner extremen,
der fremdenfeindlichen Form nicht annähernd
dem ursprünglich rechten, also dem konservativen,
Wollen entspricht. Dieses Wollen ist nämlich
ein Bewahrendes, wie das Wort schon beschreibt.
Ein Bewahren von Leben, gerade ungeborenem,
ein Bewahren von Bewährtem und von
Werten, darunter auch solchen, die verfassungsprägend
aus dem jüdisch-christlichen Weltbild
entlehnt sind. Punkte, die natürlich streitbar sind
und auch bestritten werden sollen, dabei aber in
einer Kultur der freien Meinungsäußerung, die
Freiheit nicht nur jenen gewährt, die Gleiches
denken und glauben. Doch genau eine solche Kultur
wird verhindert, wenn Aussagen wie zitierte
fallen und hintendrein inflationär mit dem Suffix
„-phob“ bezeichnet wird. Nicht, um lebensfeindliches
Sprechen zu verdecken, wo lebensfeindliches
Denken herrscht, sondern um das Feuer zu
löschen, dass über unsere politischen Landschaften
gefegt ist und ebenso den Namen der progressiven
Linken trägt.
Denn wenn ein Mensch verstummt, um nicht
Opfer der Cancel Culture zu werden, wenn also
der CEO des Konservenherstellers Goya, Robert
Unanue, für sein Lob an Trumps Führungsqualität
als Präsident mit der Zerstörung seines Lebenswerkes
durch Boykott rechnen muss, dann können
wir von einer politischen Meinungskultur
sprechen, die vergiftet ist und an der sich eine der
wichtigsten Säulen der Demokratie zersetzt: die
freie Meinungsäußerung. Denn eben dadurch,
dass Meinung geäußert werden darf und in ihrer
Äußerung verfassungsrechtlich geschützt ist, ist
freies und selbstbestimmtes Denken im Sinne der
Aufklärung möglich. Und dieses Denken schließt
links wie rechts, oben wie unten, und natürlich
auch die Mitte ein. Nur dann ist ein Miteinander
der Richtungen möglich und das Gegeneinander
darf bleiben, wo die Richtungen noch ins Koordinatensystem
gezeichnet werden.
Bild: Pexels
22 SOLVED
mediakompakt
Die Not
und das
Tier
Viele Menschen, die auf der
Straße leben, haben einen
Hund als Begleiter.
Sie geben den Wohnsitzlosen
Halt – und ein Stück Wärme.
VON CHIARA OELKE
Bild: Adobe Stock
Für die meisten ist Stuttgart eine beliebte
Stadt zum Shoppen auf der Königstraße,
um zu spazieren und zu joggen
im Schlosspark, ein Bierchen am Palast
der Republik zu trinken oder gemütlich
ein Eis am Marienplatz zu schlecken. Für viele
sind diese Plätze nicht temporäre Freizeit-Hotspots,
sondern ihr Zuhause. Auf den Stuttgarter
Straßen leben rund 4200 Obdachlose und kämpfen
um ihre Existenz. Auf der Königstraße wird ein
Exemplar der „Trottwar“-Zeitung der Wohnsitzlosen
angeboten oder an den Straßenseiten um
Nahrung sowie um Geldspenden gebeten.
Das ist meist der einzige Berührungspunkt,
den wir Durchschnitts-Stuttgarter mit ihnen haben.
Die Obdachlosen leben meist unter sich, haben
keinen oder kaum Kontakt zu Personen aus
anderen Gesellschaftsschichten. Auch der Kontakt
untereinander reicht für viele nicht aus und
führt zur Einsamkeit. Daher ist es nicht verwunderlich,
dass man häufig auf Obdachlose mit einem
oder mehreren Hunden stößt. Für diese Menschen
sind es nicht einfach nur Tiere, sondern
vollwertige Familienmitglieder. Sie geben ihnen
Halt, Wärme und Lebensfreude.
Die Stadt Stuttgart hat zahlreiche Anlaufstellen
und Hilfen für Obdachlose, doch meist sind
Hunde nicht berücksichtigt. Einige wenige Einrichtungen,
wie die Evangelische Gesellschaft
Stuttgart (Eva), bieten verschiedene Begegnungsstätten
sowie eine Versorgung der Grundbedürfnisse
von Obdachlosen. Dort ist die Mitnahme
der Tiere zwar gestattet, jedoch sind sie lediglich
der Begleiter und werden nicht selbst betreut oder
unterstützt. Das Übernachtungsangebot in der
kalten Jahreszeit ist in Stuttgart nur getrennt vom
eigenen Tier möglich.
Manche Einrichtungen bieten einen Zwinger
für Sie an, in dem sie alleine in der klirrenden Kälte
schlafen können. Das kommt für die meisten
Besitzer jedoch nicht in Frage. Diese Lücke im System
will der Tierschutzverein Esslingen u. U. e. V.
bewusst schließen und setzt sich für obdachlose
Tierhalter ein. Hier ist es den Betroffenen nicht
nur gestattet, ihre Tiere über Nacht bei sich zu haben,
sondern auch tagsüber in der warmen Stube
gibt es ein freies Plätzchen für die Hunde. Zudem
werden ein voller Futter- und Wassernapf angeboten.
Ebenso wird ihnen mit Beteiligungen an tierärztlichen
Kosten geholfen.
Um all das zu finanzieren, ist der Tierschutzverein
auf Mithilfe angewiesen. Neben Geldspenden
sind vor allem Sachspenden wie Kleidung,
Decken, Tiernahrung und Spielzeug gern gesehen
und werden dringend benötigt. Wer etwas Gutes
tun möchte innerhalb von Stuttgart, findet auch
hier zahlreiche Möglichkeiten für Sach- und Geldspenden.
Nach einem Eis am Marienplatz bietet
sich ein kleiner Spaziergang zum Gabenzaun an,
an diesem können sowohl Lebensmittel, Tiernahrung
als auch andere Geschenke, um bedürftigen
Menschen und Tieren eine Freude zu machen,
platziert werden.
Wer lieber von Zuhause tätig werden möchte,
kann ganz bequem online mit wenigen Klicks unterschiedliche
Anlaufstellen und deren Bankverbindungen
finden.
01/ 2021 SOLVED 23
Das Glück auf vier Pfoten
Das Leben als wohnungslose Person ist nicht einfach.
Viele besitzen auch Haustiere. Oft sind diese der letzte treue Wegbegleiter,
allerdings bringt ein Haustier auf der Straße auch Probleme mit sich.
VON ANASTASIA KULENKO
Bild: Adobe Stock
Laut Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe
e.V. gab es 2018 in Deutschland
rund 678.000 wohnungslose Personen –
wie viele davon Haustiere besitzen, ist
unbekannt. Auch diese Menschen haben
normale Bedürfnisse, wie ausreichend Nahrung,
Hygiene, Wärme, soziale Kontakte und gesundheitliche
Versorgung. Alleine die Diakonie
bietet rund 800 Angebote für wohnungslose Menschen
an. Selbstverständlich gibt es viele staatliche
Einrichtungen, die sich um Menschen in dieser
Notlage kümmern.
Was viele nicht wissen: Die Haustiere der
Wohnungslosen werden in vielen Hilfsangeboten
nicht berücksichtigt und sind in der Regel in Notunterkünften
verboten. Das stellt ein großes Problem
dar, da die Tiere den Menschen unendlich
viel bedeuten. Der einzige Ausweg ist das Übernachten
auf der Straße.
„Mein Hund ist alles für mich“, antwortet Petje.
Der 64-Jährige lebt seit zwölf Jahren auf der
Straße. Und sein Labrador-Mischling Rico bedeutet
alles für ihn. Petje war früher Technischer
Zeichner in Stuttgart, nach der Insolvenz der Firma
fand er aufgrund seines Alters keinen neuen
Arbeitsplatz mehr. Das führte ihn schlussendlich
in die Wohnungslosigkeit. Petje berichtet, dass er
bereits zwei Jahre wohnungslos war, bevor er Rico
von einer Bekannten geschenkt bekommen habe.
Während der gesamten Unterhaltung streichelte
Petje Ricos Kopf. Der sitzt ruhig neben ihm
auf einer Isomatte und einer warmen Decke, da er
mit seinen fast zehn Jahren bereits leichte Nierenprobleme
hat. Auf die Frage, was die beiden zusammen
unternehmen, antwortet Petje: „Früher
sind wir noch viel Laufen gegangen, heute geht
das nicht mehr. Wir sind beide viel zu alt.“ Ansonsten
verbringen sie jede Minute zusammen.
Ob es schwieriger ist, mit oder ohne Hund auf der
Straße zu überleben, ist für Petje ganz klar: „Auf jeden
Fall mit Hund.“
Er erzählt von Obdachlosenheimen, die keine
Haustiere erlauben, von Tierärzten, die Rico nicht
untersuchen wollten und der Belastung, Nahrung
für zwei Münder zu beschaffen. Hundefutter kann
man zwar relativ günstig im Discounter erwerben,
für Petje ist allerdings auch das auf Dauer zu teuer.
Es gibt Menschen, die ihm Hundefutter schenken,
allerdings bedenken diese oft nicht, dass Petje weder
einen Acht-Kilo-Sack Futter transportieren
kann, noch einen festen Lagerort besitzt. Leider
wird auch unter Wohnungslosen viel geklaut und
geplündert. Hundefutter ist keine Ausnahme.
Über Kleinigkeiten und nette Worte freuen sich
allerdings beide.
Ein weiterer Nachteil sei, sagt Petje, dass staatliche
Hilfen und oft auch private Hilfsangebote
keine Haustiere in ihren Einrichtungen erlauben.
Als Gründe werden Hygienevorschriften und die
mögliche Angst der Bewohner angeführt. „Mein
Hund ist sauberer als die Hälfte der Besucher“,
sagt Petje. Er glaubt nicht, dass Hygiene oder
Angst Gründe für die abweisende Haltung der Einrichtungen
ist. Seiner Meinung nach geht es vielmehr
darum, den Hilfsbedürftigen nicht zu lange
Obdach gewähren zu müssen. Auch hier sind die
Ressourcen begrenzt. Vielen fällt es schwer, sich
von ihrem Haustier zu trennen. Ihre treuen Wegbegleiter
sind ihnen wichtiger als ein Zimmer in
einem Obdachlosenheim oder einer finanzierten
Wohngemeinschaft.
Petjes Hund Rico war trotz seines Alters und
der Nierenprobleme nur einmal bei einem richtigen
Tierarzt. Selbst mit einem festen Einkommen
müssen viele für einen Besuch beim Tierarzt tief in
die Tasche greifen. Eine einfache Untersuchung
und Beratung kann bereits bis zu 50 Euro kosten.
Für Petje ist das eine Summe, die er unmöglich
aufbringen kann. Oft müssen sich die Besitzer
selbst um die Leiden ihrer Haustiere kümmern.
Doch ohne das richtige Wissen bleiben viele Tiere
krank, oder sie sterben an den Folgen ihrer Verletzungen
oder Krankheiten.
Trotzdem würde Petje, ebenso wie viele andere
Wohnungslose alles für ihr Haustier geben. Petje
sagt, sie seien kein Mittel, um Mitleid zu erregen
oder ein Vorteil beim Betteln zu haben, wie viele
denken. Dafür sind die Nachteile einfach zu groß.
Sie sind jedoch Freund und Wegbegleiter, manchmal
auch Beschützer. Mit dem Herrchen oder
Frauchen zusammen bilden sie eine kleine Familie
und sind sehr wichtig für das Wohlbefinden
und die Psyche ihrer Besitzer.
24 SOLVED
mediakompakt
Gesünder?
Besser?
Grüner!
Bild: Unsplash
Wie gesund ist herkömmliche Kosmetik? Was macht Naturkosmetik besser?
Wie grün sind die Produkte in Zukunft? Ein Blick in die Branche.
VON JULIA FUCHS UND ELISA SEIDEL
Die Haut ist unser größtes Organ. Über
sie gelangen die Inhaltsstoffe ins
Blut und damit in unseren Körper,
auch und gerade von Kosmetikprodukten.
Nicht immer sind alle Inhaltsstoffe
ganz unbedenklich. Immer wieder finden
sich hormonell wirksame Stoffe in Kosmetika.
Sogenannte endokrine Disruptoren wie zum
Beispiel Parabene stehen im Verdacht, Hormonstörungen
auszulösen. Parabene dienen als Konservierungsstoffe.
In den Kosmetika sollen sie verhindern
das dort Keime entstehen und sorgen so
für eine gute Haltbarkeit.
Das ZDF hat dazu den Hormonforscher Josef
Köhrle befragt: „In der Literatur und auch in den
entsprechenden Forschungsprojekten werden
zurzeit eine Reihe von Krankheitsbildern diskutiert:
Störungen der Pubertät, Beeinflussung der
Geschlechtsdifferernzierung bei Jungs und Mädchen,
späteres Auftreten von verschiedenen Tumorformen“,
erläuterte er in dem Beitrag. Diskutiert
würden zudem das Auftreten von Brust- oder
Gebärmutterkrebs, zum Teil auch Hodenkrebs bei
Jungen sowie Adipositas, also Übergewichtigkeit.
In einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) ist dies zu lesen: „Endokrine Disruptoren
stellen eine globale Bedrohung dar und müssen
reguliert werden.“ Das Bundesamt für Risikobewertung
(BfR) schreibt, die Höchstmengen an
möglicherweise gefährlichen Substanzen seien so
festgelegt, dass gesundheitliche Risiken ausgeschlossen
werden könnten.
Doch: Wenn mehrere solcher Kosmetika verwendet
werden und sich die Mengen somit summieren,
wäre ein sogenannter „Cocktail-Effekt“
denkbar, bei dem es zu einer gesundheitsgefährdenden
Dosis kommen könnte. Laut Industrieverband
Körperpflege- und Waschmittel e.V. (IKW)
dürfen nur Produkte auf den Markt gebracht werden,
die für die menschliche Gesundheit sicher
sind.
App zeigt Risiken von Kosmetik an
Auch das Bundesamt für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit versichert: „Kosmetik
muss in der Anwendung sicher sein. Die Sicherheit
muss vor dem Verkauf von einschlägigen Experten
geprüft werden. Zu dieser Prüfung gehören
01/ 2021 SOLVED 25
der Nachweis der angepriesenen Wirkungen oder
Verträglichkeiten und die Prüfung der Haltbarkeit.“
Und weiter heißt es: „Kosmetikprodukte,
die in den Verkehr gebracht wurden, werden kontinuierlich
stichprobenartig von den für die Überwachung
zuständigen Behörden der jeweiligen
Bundesländer untersucht.“
Wer selbst sicherstellen möchte, welche Inhaltsstoffe
das Kosmetikprodukt enthält, kann
sich die kostenlose „CodeCheck“ App oder die
ToxFox-App des Bundes für
Umwelt und Naturschutz
Deutschland (BUND) herunterladen.
Die Apps bewerten
Inhaltsstoffe nach
wissenschaftlichen Quellen
und zeigen mögliche
Risiken an. Dazu kann einfach
der Barcode des Produkts mit der App gescannt
werden.
Ein Blick auf dem Markt zeigt, dass sich auch
konventionelle Kosmetikfirmen immer mehr Gedanken
machen und ihre Kosmetika weiterentwickeln.
Tierversuche sind seit sieben Jahren gesetzlich
verboten, auch viele konventionelle Kosmetikfirmen
bieten natürliche und vegane Produkte
an. Der Hersteller Essence schreibt, eine Vielzahl
der Produkte sei bereits vegan. „Clean Beauty“
werde hier gelebt. Artdeco geht noch einen Schritt
weiter in Sachen Nachhaltigkeit und bietet nachfüllbare
Puder-Dosen und Lidschatten-Stifte mit
Refill-Patrone an. Catrice hat eine eigene Produktfamilie
„Catrice ID“ entwickelt, die frei von Parabenen,
Silikonen, Mikroplastik, Mineralöl, reinem
Palmöl, exotischen und tierischen Inhaltsstoffen
sein soll. Dennoch bleibt die Frage: Sollte
man nicht gleich besser auf Naturkosmetik umsteigen?
Anteil der Naturkosmetik wächst
Laut dem Statistischen Bundesamt Statista
stieg der Marktanteil von naturnaher Kosmetik
und Naturkosmetik in Deutschland zwischen
2012 und 2019 von 12,8 Prozent auf 18,3 Prozent
an. Der Marktanteil der klassischen Produkte ist
um 5,5 Prozent gesunken. In diesem Zeitraum ist
auch der weltweite Umsatz der Weleda-Gruppe,
Hersteller für anthroposophische Arzneimittel
und Naturkosmetik mit Sitz in Schwäbisch
Gmünd in Süddeutschland, von 322,5 Millionen
„Kosmetik muss in
der Anwendung
sicher sein.“
Bild: Pixabay
Euro auf 429,3 Millionen Euro angestiegen. Allerdings:
Der Begriff Naturkosmetik ist nicht geschützt,
daher kommt es immer öfters zum sogenannten
Greenwashing. Der Begriff bezeichnet
die Absicht dem Konsumenten, durch gezielte
Marketingmaßnahmen, Nachhaltigkeit und Natürlichkeit
vorzutäuschen. Damit der Verbraucher
sicher sein kann, dass ein Unternehmen
wirklich nachhaltig produziert, gibt es verschiedene
Gütesiegel. So sind die Produkte von Weleda
und von Dr. Hauschka, einer
Marke des Arznei- und
Naturkosmetik Herstellers
Wala mit Sitz in Bad Boll/
Eckwälden, mit dem Nature-Gütesiegel
für echte Natur-
und Biokosmetik zertifiziert.
Zu den Standards des
Gütesiegels gehören ein sanfter Herstellungsprozess,
sowie umweltfreundliche Praktiken. Ausgeschlossen
wird die Verwendung von synthetischen
Duft- oder Farbstoffen, Hormonen, Inhaltsstoffen
aus der Erdölchemie, Tierversuche und die
Bestrahlung von Endprodukten oder pflanzlichen
Inhaltsstoffen.
Aus Rücksicht auf Natur und Umwelt
Laut einer Umfrage von Splendid Research aus
dem Jahr 2020 gaben 81 Prozent der Nutzer von
Naturkosmetik in Deutschland an, die Produkte
zu verwenden, um so auch Rücksicht auf die Natur
und Umwelt zu nehmen. Die dabei verwendeten
Rohstoffe werden oft nachhaltiger angebaut
und stammen zum Großteil aus kontrolliert biologischem
Anbau. Demnach gelangen auch bei
der späteren Verwendung der Produkte keine
Schadstoffe in die Umwelt. Die Pressesprecherin
von Dr. Hauschka, Inka Bihler-Schwarz, sagte dazu
in einem Interview mit dem Magazin „LifeVER-
DE“, es sei ein Ziel von Wala, Umsatzwachstum
Bild: Pixabay
Bild: Sasin Pixabay Tipchai
Bild: Pixabay
und Ressourcenverbrauch kontinuierlich zu entkoppeln.
Ein Trend, der aus dem Wunsch nach mehr
Nachhaltigkeit entstanden ist, sind alternative
Verpackungen. Denn nur wenn nicht nur der Inhalt,
sondern auch die Verpackung stimmen,
kann dem Verbraucher ein rundum nachhaltiges
Produkt geboten werden. Solche Verpackungen
können recycelbare Glas- oder Metallbehälter
sein. Aber auch Bioplastik, auf das zum Beispiel
Weleda in Zukunft setzen möchte, basiert auf biologischen
Materialien wie Zuckerrohr.
Ein anderer nachwachsender Rohstoff, auf
den das Unternehmen ZAO Make-up setzt, ist
Bambus. Dieser ist laut der Unternehmenswebsite
ökologisch, da er ein einzigartiges Wachstum ohne
Düngemittel und Pestizide aufweise. Bambus
brauche nur vier bis fünf Jahre, um sich zu regenerieren,
ein Baum dagegen mindestens 30 Jahre.
Weitere nachhaltige Möglichkeiten sind Zerowaste-Verpackungen,
dabei wird zum Beispiel bei
festem Shampoo vollständig auf die Verpackung
verzichtet.
Schutz vor noch mehr Plastikmüll
Eine Möglichkeit, um auch bei flüssigen Produkten
komplett auf Verpackungsmüll verzichten
zu können sind auch sogenannte Refill-Systeme.
Die Produkte werden so hergestellt, dass die leeren
Produktgefäße vom Verbraucher selbst mit sogenannten
nachkaufbaren Refills aufgefüllt werden.
Vorteil: Der Preis für die Verpackung kann
gespart werden, gleichzeitig wird die Natur vor
noch mehr Plastikmüll geschützt.
Kosmetik geht unter die Haut, deshalb lohnt
es sich immer genau hinzuschauen. Sei es mithilfe
von Apps wie „CodeCheck“. Oder durch eine Information
über Gütesiegel und Verpackungen. Jeder
kann einen wichtigen Teil zu einer grünen Zukunft
beitragen.
26 SOLVED
mediakompakt
Bild: Eric Barth
Wie gut ist günstig?
Fleisch – das gehört dazu. Zumindest für die meisten Menschen.
Im Schnitt isst jeder Deutsche etwa 60 Kilogramm davon im Jahr.
Das Ganze ist dabei längst kein Luxus mehr, denn Fleisch ist
günstig, vielleicht zu günstig. Aber warum ist das so und weshalb
ist das ein Problem?
VON ERIC BARTH
Neunzig Prozent der Schweine kommen
heute nicht von kleinen, regionalen
Bauernhöfen, sondern aus
industriellen Mastfabriken – Stichwort
Massentierhaltung. Die Massentierhaltung
hat viele Namen, wird auch als industrielle,
intensive oder konventionelle Tierhaltung
bezeichnet. Man spricht davon, wenn viele
Tiere einer Art auf engem Raum gehalten werden,
mit dem Ziel, möglichst viele tierische Produkte
zu möglichst geringen Kosten herzustellen.
Viele Tiere zu halten, ist zunächst nicht
zwangsläufig etwas Schlechtes. Die großen Mengen
und die Automatisierung, die solche Betriebe
ausmachen, ergeben den großen Vorteil, den wir
alle im Supermarkt spüren: ein Kilogramm
Schweinekotelett kostet im Durchschnitt nur etwa
6,32 Euro.
Auf der anderen Seite lassen sich die Nachteile
an der Kühltheke nicht so einfach erkennen wie
das Preisschild. Ein kurzer Blick auf drei davon soll
auch die oft unsichtbare Seite der Massentierhaltung
offenlegen.
Zunächst wäre da das „Tierwohl“. Ein Begriff,
der immer wieder auftaucht, wenn es um die
Nutztierhaltung geht. Betrachtet man Lebensqualität
und Wohlergehen der Schweine, Rinder oder
Hühner, sind die Bedingungen allerdings längst
nicht ideal. Laut Gesetz reicht einem Huhn die
Fläche von einem DIN-A4-Blatt, für ein Schwein
weniger als ein Quadratmeter. Auslauf ist nicht
üblich. Häufig sehen die Tiere nie die Sonne.
Damit die frustrierten und gelangweilten
Schweine sich nicht gegenseitig blutig beißen und
verletzen, wird ihnen in vielen Fällen vorsorglich
der Schwanz abgeschnitten – eine Praxis, die eigentlich
verboten ist. Alles ist der Wirtschaftlichkeit
unterworfen, auch die Reproduktion der Tiere
ist komplett optimiert. Durch künstliche Befruchtung
und einen routinemäßigen Einsatz von Hormonen
wird das Maximum aus jeder Sau herausgeholt.
Das geht drei Jahre lang, danach sind die
Tiere ausgelaugt. Die Ferkel werden dann innerhalb
von acht Monaten auf 120 Kilogramm gemästet
und geschlachtet. Mit Natur hat das nicht
viel zu tun.
Dieser optimierte Prozess kann nur durch große
Mengen eiweißhaltigen Futters am Laufen gehalten
werden. Ein Drittel des weltweit produzierten
Getreides wird für die industrielle Tierhaltung
benötigt. Dieser Futterbedarf stellt ein zweites
Problem dar, besonders Soja spielt dabei eine
wichtige Rolle. 70 bis 75 Prozent der weltweiten
Sojaernte landet in Futtertrögen, die Hälfte davon
stammt aus Südamerika.
Es könnten deutlich mehr Menschen ernährt
werden, wenn das Getreide nicht erst den Umweg
über die Fleischproduktion nehmen würde, aber
das Hauptproblem sind die Umweltschäden. Neben
langen Transportwegen ist besonders der Anbau
von Soja in riesigen Monokulturen, denen Regenwälder
und Grasland zum Opfer fallen, problematisch.
Diese Abholzung bedroht das Weltklima
und die Artenvielfalt.
Haben die Tiere das Futter verdaut, müssen sie
es auch wieder ausscheiden, was zum nächsten
Problem führt: Gülle. 300 Milliarden Liter – so viel
fällt in Deutschland jährlich an. Was in Maßen
ein guter Dünger ist, belastet die Böden und das
Grundwasser in Massen allerdings stark. Weil
Mastbetrieben häufig die Fläche für die Gülle
fehlt, sind viele Felder überdüngt und die Böden
können nicht alle Nährstoffe aufnehmen. In der
Folge steigt der Nitratgehalt des Grundwassers an.
Durch Überschreitung der Grenzwerte an vielen
Messstellen verstößt Deutschland seit Jahren gegen
EU-Vorgaben. Wasserversorger stellen zwar
sicher, dass Trinkwasser fast überall unbelastet
bleibt, doch dafür zahlen die Verbraucher: die
Grundwasserpreise steigen.
Günstige Preise gibt es nicht geschenkt. Ob
man Fleisch isst oder nicht, kann jeder selbst entscheiden.
Zu wissen, welche Auswirkungen die
Fleischproduktion hat, kann allerdings helfen, bewusster
zu konsumieren.
Mehr Infos unter:
www.bund.net/massentierhaltung
www.boell.de/fleischatlas
www.nabu.de
www.initiative-tierwohl.de
01/ 2021 SOLVED 27
„Für die Tiere da draußen
ist es nicht okay.“
Tanja Hauser ist Veganerin, Tierrechtsaktivistin und Foodbloggerin.
Sie teilt auf https://ihana.life/ nicht nur vegane Rezepte,
sie interviewt auch Personen mit einem besonderen Verhältnis
zu Tieren oder erklärt, wie Veganer proteinreich essen können.
VON ANNA-SOPHIE HARTAUER
Mediakompakt: Warum lebst Du
vegan?
Tanja: Ich möchte vor allem die
Tierindustrie nicht unterstützen,
die aus Tieren Dinge macht und
ihnen großes Leid antut. Es gibt aber keinen Unterschied
zwischen Nutztieren und Haustieren. Es
sind Tiere – wir haben sie zu Nutztieren gemacht.
Und: Fleischkonsum schadet der Umwelt. Auch
Zoonosen werden begünstigt. Beispiele sind die
Spanische Grippe, Ebola, Covid-19 – alles Krankheiten,
die vom Tier auf den Menschen übertragen
wurden. Fleischkonsum erhöht auch die Gefahr
von antibiotikaresistenten Erregern. 70 bis 80
Prozent der Antibiotika werden in der Tierhaltung
eingesetzt – die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) warnt seit Jahren davor. Covid-19 hat aber
auch offenbart, wie schlimm die Zustände in den
Schlachthäusern sind. Jeder, der diese Produkte
kauft, bezahlt dafür. Zudem brauchen wir keine
tierischen Produkte, um gesund zu bleiben, man
kann sich rein pflanzlich ausgewogen ernähren.
mediakompakt: Fühlt sich für Dich vegane Ernährung
wie eine Einschränkung an?
Tanja: Gar nicht. Dieses Gefühl von Verzicht ist
nur dann da, wenn ich denke „Oh Gott, jetzt darf
ich das nicht mehr essen.“ Wenn ich aber die Tiere
in den Fokus stelle, dann verzichte ich gerne. Es
ist ein schönes Gefühl, an der Fleischtheke vorbeizugehen
und kein Geld da reinzustecken. Man
muss sich nur bewusst machen, was das für Produkte
sind: ein Steak ist Gewebe eines toten Tiers,
ein Ei die Periode eines Huhns und Milch ein Eutersekret.
Wir wurden darauf getrimmt, diese Produkte
als völlig normal anzusehen – da hat die Industrie
ganze Arbeit geleistet. Es gibt so viele
Pflanzen auf der Erde, aus denen man leckere Sachen
machen kann, die sind mir echt lieber.
mediakompakt: Was könnten „Baby steps“ sein für
Menschen, die immer noch eine zu hohe Hürde
darin sehen, auf tierische Produkte zu verzichten?
Tanja: Als erstes: offen sein! Es gibt mehr als das
Nackensteak im Sommer oder die Milch im Cappuccino.
Klar ist es bequemer, zu sagen: Es ist okay
wie es ist und ich lass es so. Für die Tiere da draußen
ist es aber nicht okay. Informiert euch. Es gibt
so viele Dokumentationen: „Dominion“ (auf
Youtube verfügbar) oder „Das System Milch“.
Hinterfragt das System an sich.
mediakompakt: Wie meinst Du das?
Tanja: Die Tierindustrie zeigt uns Kühe auf der
Weide, lächelnde Schweine, gesunde Hühner –
nie, wie es in einem Schlachthaus wirklich aussieht.
Wir sind als Verbraucher gefragt, etwas zu
ändern. Man kann als Einzelner etwas bewegen.
Die Regale sind voll mit veganen Produkten, weil
sich viele einzelne Menschen entschieden haben,
sich vegan zu ernähren. Wir müssen raus aus der
Komfortzone und sagen: „Ich kann was tun“.
Wenn mehr Menschen so denken, dann können
wir auch ganz viel erreichen.
mediakompakt: Gab es einen Auslöser, mit veganer
Ernährung zu starten?
Tanja: Das war ein Prozess. Ich bin seit 17 Jahren
Vegetarierin und habe mich irgendwann damit
beschäftigt und gemerkt, wie viel Leid hinter dem
Konsum von Milch und Eiern steckt. Dass da auch
Tiere für sterben, dass Kälber ihren Müttern entrissen
und Küken getötet werden. Mein Mann
und ich haben mit schlechtem Gewissen eingekauft
und so haben wir unseren Kühlschrank leer
gemacht. Das war vor sechs Jahren und seither
kam uns nichts Tierisches mehr ins Haus. Keiner
findet Massentierhaltung oder Tierquälerei cool,
aber wir unterstützen das, wenn wir Fleisch oder
Milch kaufen. Vegan zu leben bringt mich in Einklang
mit meinen moralischen Werten.
Bild: Tanja Hauser
28 SOLVED
mediakompakt
Bild: Bastian Fritz
„Die wollen doch nur Sex!“
Christopher Gottwald lebt polyamor. Wir haben mit ihm über Vorurteile, Ängste
und Selbstentfaltung gesprochen und dabei festgestellt, dass Polyamorie und
Monogamie eigentlich ziemlich gleich sind – nur eben ein bisschen anders.
VON CAROLINE ROHR
UND BASTIAN FRITZ
Die wollen doch nur Sex. Die haben
Angst, richtige Beziehungen einzugehen.
Vorurteile, die einem immer
wieder zu Ohren kommen, wenn es
um das Thema Polyamorie geht.
Doch das ist viel mehr, als ein Mann mit vielen
Frauen. „Wenn wir von Polyamorie als Beziehungsform
sprechen, geht es dabei um langfristige
Beziehungen“, sagt Christopher Gottwald.
Er weiß, wovon er spricht. Christopher Gottwald
ist Sexological Bodyworker und hält regelmäßig
Workshops zu den Themen Polyamorie,
Tantra und Sexualität. Seit 1989 lebt er in Mehrfachbeziehungen.
Der Begriff bezeic hnet einen
Menschen, der romantische Beziehungen zu
mehreren Partnern gleichzeitig unterhält. Dabei
wissen alle Beteiligten von allen anderen Beziehungen.
Was viele an dieser Beziehungsform abschreckt,
ist die Assoziation eines Harems oder der
Kommune 1, die es zur Zeit der Studentenbewegung
gab und bei der jeder wild mit jedem ins Bett
geht. Doch inwieweit ist Polyamorie der Wunsch
nach mehreren sexuellen Partnern?
Es gibt ganz verschiedene Gründe für einen
polyamoren Lebensstil, darunter sind bestimmt
auch Menschen, die die Vielfalt genießen. Vielleicht
besteht der Wunsch dazuzulernen, da der
Sex mit der einen Person den mit einer anderen
inspiriert. Christopher möchte in seiner Beziehung
frei sein, aber auch seinen Partnern Freiheit
schenken. „Ich will den anderen Menschen frei
lassen, so dass er sich entwickeln kann, wie er will
und möchte ihn dabei unterstützen.“
Sex ist mehr als Lust
Doch das Tabuthema mehrerer sexueller Partner
und die damit einhergehende Stigmatisierung
der Schande kennt auch Christopher: „Früher habe
ich meine eigene Lust auf andere Menschen
verurteilt, wenn ich bereits in einer Beziehung
war.“ Ein starkes Bedürfnis nach sexueller Erfüllung
gilt als unanständig, das ist tief in unserer
01/ 2021 SOLVED 29
Gesellschaft verankert. Jedoch ist das Thema Sex
mit viel mehr aufgeladen, als unserem Lustempfinden.
Es ist stark mit unserer Psyche verbunden
und ist nicht immer nur Zärtlichkeit und Ekstase,
sondern beinhaltet auch Empfindungen wie Unterdrückung,
Missbrauch oder Beschämung und
Grenzen. Berührungen, die uns unangenehm
oder sogar zu viel sind fallen uns oft schwer zu äußern.
Häufig sind diese negativen Eindrücke mit
einem Gefühl der Scham verbunden, die wir uns
nicht zu benennen trauen.
Zudem wird der sexuelle Trieb in jungen Jahren
bereits häufig mit Schuld aufgeladen. „Fass
dich da nicht an!“, heißt es manchmal zu Kindern.
Dabei ist Sexualität etwas, das sehr viel Lebendigkeit
und Freude birgt, jedoch muss man
sich mit dem ganzen Spektrum auseinandersetzen
und dazu gehört auch, zu verstehen, was man
möchte und was nicht.
Keineswegs beziehungsunfähig
Christopher bezeichnet sich zwar als körperlichen
Menschen, jedoch führt er nicht mit allen
Personen, denen er sich nahe fühlt, eine sexuelle
Beziehung. Von Liebe spricht er trotzdem. Für ihn
zählt: „Begegnen wir uns wirklich auf einer tiefen
Ebene, zeigen wir, was in uns los ist und können
wir eine Verbindung herstellen?“ Das Vorurteil,
polyamore Menschen seien beziehungsunfähig,
ist falsch, es entspricht also eher dem Gegenteil:
Vielleicht sind sich diese Menschen ihrer Sexualität
viel bewusster und können auch ihre Grenzen
besser benennen. Christopher ist der Ansicht,
dass man bestimmten Themen wie Liebe, Eifersucht
und Sex ausweicht. Das sei sowohl in einer
polyamoren, als auch in einer monogamen Beziehung
möglich. Auch wir gehen einander aus dem
Weg, was bestimmte Themen angeht. Über Eifersucht
zu reden ist verpönt, da in einer monogamen
Beziehung auch das Fremdgehen ein No-Go
ist. Doch vielleicht sollte man gerade darüber in
jeder Beziehung mehr reden. Über die hypothetischen
Fälle, über das Was-wäre-wenn? Was, wenn
der andere sich verliebt? Was, wenn ich mit jemand
anderem schlafe?
fragt er sich, was er selbst braucht. Ist es die Nähe
zu einer anderen Person oder der Wunsch, eine
mögliche Konstellation zu finden, wie die Beziehung
aufrechterhalten werden kann?
Die Angst aus früheren Tagen, aus der auch die
Eifersucht resultierte, hat er jetzt nicht mehr. Warum?
Weil er seine Ängste und Eifersucht so genau
beobachtet habe.
Transparenz. Ehrlichkeit. Treue.
In der Polyamorie sind Transparenz und Ehrlichkeit
der Treue vorangestellt. Und vielleicht
sollte es auch in der Monogamie ein bisschen
mehr so sein, zumindest was die Ehrlichkeit über
seine Bedürfnisse und Fantasien angeht. Dem
Partner zu erzählen, dass man jemanden attraktiv
findet, erzeugt Nähe und Verbundenheit, was in
der Beziehung zusammenschweißt. Diese Gefühle
zu benennen und auch benennen zu dürfen,
nimmt das Gefühl der Scham, sie nicht empfinden
zu dürfen.
In diesem Punkt bereichern sich verschiedene
Beziehungsmodelle gegenseitig. Ein tieferer Blick
in den Beziehungsstil anderer Menschen kann also
nie falsch sein, gerade in einer Zeit des Wandels,
wie wir sie erleben. Nicht nur, was das Ausleben
unserer Sexualität angeht, sondern auch, weil
Info
Bild: Robert-Enke Stiftung
Der Begriff „Polyamorie“ tauchte erstmals
1990 in dem Text „A Bouquet of Lovers“ auf.
Dabei wurde nicht nur der Begriff gefestigt,
sondern auch die drei Grundregeln dieser Beziehungsform:
Einvernehmlichkeit, Transparenz
und Verbindlichkeit. In Deutschland
wurde 2008 das Polyamore Netzwerk (PAN)
gegründet und hat derzeit circa 170 Mitglieder
aus Deutschland, Österreich und der
Schweiz (Stand 2016).
wir Sexismus in Beziehungen immer mehr in Frage
stellen. Früher ging der Mann arbeiten und die
Frau kümmerte sich um die Kinder, heute fragt
man sich: Was will ich eigentlich wirklich, was
willst du und wie können wir das vereinen?
Christopher sagt: „Es ist nicht mein Ziel, andere
nicht zu brauchen. Aber es ist mein Ziel, dass
ich in mir stabil bin.“ Schlussendlich ist keine Beziehungsform
die bessere, sondern die Frage, ob
man sich darin so frei entfalten und entwickeln
kann, wie es einem guttut. Denn jede Beziehung
ist auch eine Reise zu sich selbst.
Mit der Eifersucht auseinandersetzen
Die Angst, verlassen zu werden ist in jeder Beziehungsform
vertreten, doch bei der Polyamorie
kommt das Thema Eifersucht zwangsläufig irgendwann
auf den Tisch. Man muss lernen, sich
damit auseinanderzusetzen. Christopher war in
seiner Jugend sehr eifersüchtig, doch er hat sich
eingehend mit diesem Gefühl beschäftigt und gefragt,
was dahintersteckt. Wut: Dass jemand sich
etwas traut, was ich mich selbst nicht traue. Neid:
Weil jemand etwas hat, was ich nicht habe. „Es
hat was mit mir zu tun. Damit zu tun, dass ich
mich noch nicht vollständig selbst liebe. Ich denke,
das hat alles etwas mit Selbstliebe zu tun.“
Für ihn geht es in seinen Beziehungen weniger
um die Angst, ausgetauscht zu werden, als um die
Angst der Veränderung. Wenn man auf einmal
merkt: „Vielleicht sind wir uns jetzt nicht mehr so
nah.“ Diese Gefühle haben viel mit der Frage nach
den eigenen Ängsten zu tun. Vom Festhalten hält
Christopher jedoch nichts. Wenn es dazu kommt,
dass jemand seinen eigenen Weg gehen möchte,
Bild: Bastian Fritz
30 SOLVED
mediakompakt
Bild:Angie Berbuer
Schönheit kommt von innen
Liebe deinen Körper, fordert die Body-Positivity-Bewegung.
Was das konkret bedeutet, kann Angie Berbuer eindrücklich berichten.
Sie hat bei einem Unfall beide Beine verloren – und ist dennoch voller Lebensmut!
VON LISA KOPP
01/ 2021 SOLVED 31
Das Frauenbild in den Medien lässt einen
häufig mit dem Gefühl zurück:
Du bist fett, du bist hässlich, du bist
wertlos. Nur eine von drei Frauen in
Deutschland ist mit ihrem Aussehen
zufrieden, jede zweite will abnehmen – und dass,
obwohl wir in Zeiten von Female Empowerment
und Body Positivity leben. Zum Glück scheint
sich die allgemeine Herangehensweise an das
Thema Schönheit langsam zu ändern. Die Body
Positivity Bewegung steht hoch im Kurs und ihr
haben wir auch viel zu verdanken. Allerdings setzt
Body Positivity nicht an der Wurzel des Problems
an. Sie kritisiert zwar die enge Definition, welche
Körper als schön gelten. Die Überzeugung, dass
man sich schön fühlen muss, um glücklich zu sein
im Leben, wird nicht infrage gestellt. Und genau
da setzt Body Neutrality an.
Dabei geht es darum, die Bedeutung, die wir unserem
Aussehen geben, zu reduzieren. Schönheit
hat in der Gesellschaft einen viel zu hohen Stellenwert.
Anders als bei Body Positivity ist das Ziel
nicht, den eigenen Körper oder seine Pickel schön
zu finden. Das Ziel von Body Neutrality ist, das
Selbstwertgefühl deutlich weniger
an die äußere Erscheinung
zu binden. Dabei geht es
um die Akzeptanz seines Körpers.
Das bedeutet, die Realität
so anzunehmen, wie sie ist. Neben
Akzeptanz ist die Bewusstmachung
eine der wichtigsten
Aspekte. Das heißt, die Seele, die in einem Körper
steckt, als wertvoll anzuerkennen. Das Aussehen
ist nur ein kleiner und dazu noch ziemlich uninteressanter
Teil eines Menschen. Wir sind so viel
mehr. Unser Körper ist nur eine Hülle, denn wahre
Schönheit kommt tatsächlich von innen!
Im Interview mit Angie Berbuer
Es ist der 5. November 2019, der Angie Berbuers
Leben schlagartig verändert. Beim Absichern
einer Unfallstelle passiert das Unfassbare: Ein Rettungswagen
übersieht die Unfallstelle und fährt
ungebremst auf sie zu. Die 21-Jährige wird zwischen
den Autos eingequetscht und verliert beide
Beine. Mit der „mediakompakt“ hat sie über ihr
Erlebtes und ihre neugefundene Selbstliebe gesprochen
und mehr als deutlich gezeigt, dass sie
so schnell nicht ihre Lebensfreude verliert.
mediakompakt: Was waren Deine ersten Gedanken,
als Du feststellen musstest, dass Du beide Beine
verloren hast? Wie hast Du reagiert und wie hast
Du dich im ersten Moment gefühlt?
Angie: Meine Reaktion darauf war relativ gelassen
und positiv. Ich habe gefragt, ob ich noch Sport
machen und Kinder bekommen kann. Und als die
Antwort „Ja“ war, war das für mich kein Problem.
Es ist ein großer Verlust, aber solange es mich in
meiner Lebensqualität nicht so groß einschränkt,
ist ja alles okay. Keiner hätte gedacht, dass ich damit
so cool umgehe. Es war damals einfach eine
Entscheidung. Entweder ich entscheide mich für
diesen Weg und bin positiv, mache mein Leben
weiter. Oder ich gehe den negativen Weg und verliere
mich selbst.
mediakompakt: Wie hat sich Dein Leben und Deine
Einstellung zum Leben dadurch verändert?
Angie:„Everything happens for a reason“ ist meine
Lebenseinstellung. Alles passiert aus einem
Grund, und wenn dir Scheiße passiert, kannst du
immer noch was Gutes daraus machen. Man kann
definitiv sagen, dass sich durch den Unfall mein
ganzes Leben verändert hat. Doch keinesfalls im
negativen Sinne. Ich habe gelernt, was es heißt,
bedingungslos zu lieben und mich selbst wertzuschätzen.
Mein neues Leben fühlt sich nach Leben
an. Ich habe noch nie so viel Liebe in meinem
Körper gespürt wie heute.
Meine Prothesen bringen
mir noch ein Stück mehr
Freiheit zurück!
mediakompakt: Wie hast Du es geschafft, nach so einem
Schicksalsschlag nicht in ein Loch zu fallen?
Angie: Meine beste Therapie ist Social Media.
Bereits kurz nach dem Unfall entschied ich mich,
als @angieberbuer mit meiner Geschichte an die
Öffentlichkeit zu gehen. Ich wollte anderen Menschen
Hoffnung machen und ihnen zeigen, dass
man nach so einem Schicksalsschlag nicht aufgeben
sollte. Niemals hätte ich damit gerechnet,
dass ich mit meiner Geschichte einmal mehr als
80.000 Follower auf Instagram und auf TikTok sogar
mehr als
130.000 erreichen
würde. Ich
finde es unglaublich!
Aber noch
viel krasser finde
ich, dass ich
nicht allein bin.
Die Interaktion mit den Menschen ist für mich die
beste Therapie. Es ist unbeschreiblich toll zu spüren,
dass ich damit andere Menschen motivieren
kann.
mediakompakt: Was war Dein positivstes Erlebnis
seit dem Unfall, an das Du dich erinnerst?
Angie: Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen
wurde, bin ich erst mal zu meiner Mama gezogen.
Ich habe mich eher gefühlt wie eine Last und
das war kein schönes Gefühl. Aus diesem Grund
habe ich mich entschieden, auszuziehen. Das war
die beste Entscheidung meines Lebens.
mediakompakt: Wie und vor allem wann hast Du
Deine körperliche Veränderung wahrgenommen
und akzeptiert? Wie hast Du dich dabei gefühlt?
Angie: Gut drei Monate nach dem Unfall bin ich in
der harten Realität angekommen. Am Anfang war
es sehr schwer, mich anzuschauen. Ich musste
dann doch lernen, es so zu akzeptieren wie es ist.
Ich dachte nach dem Unfall, so ohne Beine, dass
man mich nicht mehr schön findet, weil ich dem
Idealbild nicht mehr entspreche.
mediakompakt: Wie hast Du es geschafft, Deinen
Körper wieder zu lieben und lieben zu lernen? Haben
Deine Prothesen dazu beigetragen?
Angie: Ich finde das enorm wichtig, dass wir uns
immer noch hübsch fühlen. Und dass wir den
Menschen zeigen, stolz zu sein, diese Prothesen
tragen zu dürfen. Auch wenn wir vielleicht aus einem
gewissen gesellschaftlichen „Idealbild“ fallen,
sind wir immer noch wir und auf eine gewisse
Weise eben besonders.
mediakompakt: Wie nimmst Du die Reaktionen der
Leute wahr, wenn sie realisieren, dass dir beide
Beine fehlen? Wie fühlst Du dich dabei?
Angie: Manchen siehst du es schon von weitem direkt
an. Sie sind völlig erschüttert und können
mich nicht mal richtig anschauen. Ja, das hat
mich auch echt verletzt am Anfang.
mediakompakt: Bist Du schon mal Opfer von Body-
Shaming geworden, sowohl im Alltag als auch auf
Social Media? Wie bist Du damit umgegangen?
Angie: Generell ist es so, vor allem auf Social
Media, dass andere immer glauben zu wissen, was
das Beste für einen ist. Auch blöde Kommentar
können sich die ein oder anderen nicht verkneifen.
Aussagen wie: „Hast du zugenommen?“,
„Deine Arme sind zu kräftig“, „Deine Augenbrauen
sind zu dick“, „Lern erst mal dich zu schminken“
oder „Die Prothesen sehen unvorteilhaft
aus, das würde ich nicht tragen. Da quillt ja alles
raus.“ Das sind nur ein paar Beispiele von unerwünschter
„Kritik“, die ich in den letzten Wochen
unter meinen Bildern auf Instagram lesen durfte.
Wie soll es einem bei solchen Kommentaren
schon gehen? Es ist zutiefst verletzend. Hin und
wieder fängt man dann doch wieder an, an sich
selbst zu zweifeln. Doch dann bin ich wieder
dankbar. Dankbar dafür, dass ich überlebt habe
und mein Leben weiterleben darf. Die Prothesen
sind für mich keine Einschränkung, sie sind neugewonnene
Freiheit!
mediakompakt: Wie stehst Du zu den sehr aktuellen
Themen Body positivity und Body neutrality?
Angie: Ich sage immer „Das was du bist, das
strahlst du aus und das ziehst du auch an“. Das
heißt, wenn du mit dir unzufrieden bist und immer
an dir rum meckerst, ziehst du Menschen an,
die ständig negative Aussagen tätigen. Du musst
dich auf dich selber verlassen können, du musst
dich selber akzeptieren und respektieren. Nur
wenn du mit dir selber zufrieden bist und sagen
kannst „ich bin gut so wie ich bin“, dann können
andere das genauso sehen!
mediakompakt: Wie wichtig sind Dir die Themen?
Angie: Für mich hat sich besonders das Wort
Selbstliebe verändert. Es geht nicht mehr darum,
die Beste oder Schönste zu sein. Sondern morgens
aufzustehen und dankbar dafür zu sein, dass man
lebt. Es geht darum, anderen Liebe zu schenken,
ohne etwas von ihnen zurückzuerwarten. Geben,
ohne zu nehmen.
mediakompakt: Was würdest Du jungen Frauen mit
auf den Weg geben, wenn sie an sich zweifeln?
Welche Worte hätten Dir in solche Momenten geholfen
wieder an dich zu glauben und nach vorne
schauen zu können?
Angie: Hört nicht auf zu lächeln, genießt das Leben
und schätzt das Leben! Ihr seid gut so wie ihr
seid und müsst nicht perfekt sein. Egal wer was zu
meckern hat. Egal wer besser weiß, was gut für
euch ist und was nicht. Nehmt euch mal nen Augenblick
und überlege was ihr wollt. Vergesst wie
andere euch gern hätten und macht mal nur das
was euch guttut. Ihr werdet merken, das Glück
kommt von ganz allein!
32 SOLVED
mediakompakt
Fashion for Future
Bild: Unsplash
Der Kleiderschrank platzt aus
allen Nähten. Neue Trends
und günstige Preise verleiten
dazu, ihn immer weiter zu füllen.
Doch wie gelingt der Absprung
vom endlosen Konsum
minderwertiger Kleidung hin zu
nachhaltigen Alternativen?
VON CHRISTIN FALKENBERG
UND LENA SCHNEIDER
Wir leben in einer Konsumgesellschaft,
die uns ständig zum Kaufen
drängt. Wir wollen immer
mehr. Immer billiger. Durchschnittlich
werden in Deutschland
60 neue Kleidungsstücke pro Jahr gekauft.
Davon werden rund 40 Prozent nur selten oder
kaum getragen, ergab eine Umfrage von Greenpeace
im Jahr 2015. In der Haute Couture erscheinen
innerhalb eines Jahres lediglich zwei Kollektionen.
Dagegen heizen Billig-Labels wie Primark
mit nahezu monatlich erscheinenden Kollektionen
den Konsum immer weiter an.
Ihre Zielgruppe sind vor allem junge Menschen
und Frauen, die anfällig für Trends sind. Eine
beschleunigte Produktion ermöglicht diesen
schnellen Wechsel. Laut Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
KPMG dauert es heutzutage nur noch
zwischen 12 bis 15 Tagen, bis ein Produkt in den
Handel gelangt. Im Gegensatz dazu brauchte es
früher zwei bis drei Monate. Die Massenproduktion
hat sowohl ökologische als auch ökonomische
Auswirkungen, die fatale Folgen mit sich bringen.
Sei es die Ausbeutung der Arbeitskräfte in ausländischen
Produktionsstätten oder die Grundwasserverunreinigung
durch Mikroplastik oder Chemikalien.
Und was passiert eigentlich mit den
Kleidungsstücken, die wir nicht mehr anziehen
und aussortieren?
Blick in die Kleiderstube des DRK
Birgit Kralisch ist Leiterin der Kleiderstube in
Schorndorf im Rems-Murr-Kreis. Betrieben wird
die Einrichtung von ehrenamtlichen Helfern vom
Ortsverein des Deutschen Roten Kreuzes (DRK).
Dort werden Menschen mit geringem Einkommen
durch gut erhaltene Kleidung unterstützt.
Über einen Hausschacht an der Wand können
Bürger*innen Kleiderspenden abgeben. Von Altkleidercontainern
erhält die Kleiderstube keine
Spenden, worüber Kralisch auch froh ist, denn
„dort ist nur Schrott drin“. Die Qualität der Ware
habe sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich
verschlechtert und besteht hauptsächlich aus
Mischgewebe, das nicht wiederverwertet werden
kann.
01/ 2021 SOLVED 33
Pro Kopf wirft jeder Deutsche jährlich etwa 4,7
Kilogramm Kleidung weg, nur 500 Gramm davon
werden recycelt. Doch nicht nur das, viele missbrauchen
die Altkleidersammlungen und entsorgen
dort ihren Restmüll. „Die Zeiten, in denen die
Leute etwas in den Altkleider-Container schmeißen,
um etwas Gutes zu tun, sind schon lange vorbei“,
erklärt Birgit Kralisch betrübt.
Nur gewaschene Altkleider abgeben
Durch die Corona-Pandemie habe das Problem
zugenommen. Die Menschen sind vermehrt
zu Hause, viele arbeiten im Home-Office und misten
aus. Von dreckigen Unterhosen bis Toilettenpapier
habe sie schon alles unter den Spenden gefunden.
Jeden Monat muss die Kleiderstube die
Entsorgungskosten für einen bis oben hin gefüllten
Restmüllcontainer tragen. Daher ihr Appell:
„Diejenigen, die wirklich etwas spenden wollen,
sollen nur Sachen abgeben, die sie auch selbst
noch tragen würden. Und diese bitte auch gewaschen.
Es tut in der Seele weh, wenn man Sachen
gespendet bekommt, die schön, aber dreckig
sind.“ Mittlerweile erhält die Kleiderstube fast 70
Prozent Neuware von Sponsoren aus der Modeindustrie,
weil die Spenden größtenteils unzumutbar
geworden seien.
Die Kehrseiten der Fast Fashion sind für viele
Menschen keine Neuheit. Trotzdem fällt ihnen
der Umstieg auf einen nachhaltigeren Modekonsum
nicht leicht. Das Image und die vermeintlich
höheren Preise sind nur zwei Aspekte, die die Verbraucher*innen
abschrecken. Rund 59 Prozent
der Deutschen sehen laut einer Studie von Statista
aus dem Jahr 2019 ein weiteres Hindernis im fehlenden
Angebot. Hinzu kommt, dass viele Konsumierende
nicht wissen, was sich tatsächlich alles
hinter dem Begriff „Slow Fashion” verbirgt.
Grundsatz: Klasse statt Masse
Slow Fashion berücksichtigt nicht nur Konsumierende
und Produzierende, sondern auch die
Umwelt und die Innovation von nachhaltigen Fasern
und Produktionstechniken. Der Grundsatz
lautet: Klasse statt Masse. Kleidungsstücke sind
hochwertig verarbeitet, lange haltbar und bestehen
aus nachwachsenden Ressourcen. Die Produktion
ist oftmals regional. Angestellte werden
fair vergütet und arbeiten unter menschenwürdigen
Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus zählt
auch das Kaufen von Second-Hand-Kleidung und
das Tauschen und Leihen unter Freund*innen
und Familien dazu.
Die Bandbreite der Slow Fashion ist groß. Dass
sich Fast Fashion Konsumierende wie Lisa Bezdiczka
oftmals überfordert fühlen, ist daher nachvollziehbar.
„Es ist gar nicht so einfach zu beurteilen,
was genau „fair” oder „nachhaltig“ ist.”, bemängelt
Bezdiczka und äußert den Wunsch nach
einer Orientierungshilfe. Folgende Kriterien können
als Anhaltspunkt dienen: Grundsätzlich sollten
entlang der durchgehend transparenten Produktionskette
gute Arbeitsbedingungen herrschen.
Außerdem sollte die Produktpalette des Labels
ausschließlich aus Slow-Fashion Artikeln bestehen.
Aussagekräftig sind zudem zertifizierte
Siegel. Allen voran das GOTS, BEST-Siegel, Blue
Sign oder FWF Siegel.
ALTERNATIVEN ZUR
FAST FASHION
Second Hand Stores in Stuttgart
Vintage Markt, Second Dreams, Oxfam
Nachhaltige Fashion Labels aus Stuttgart
[eyd], Greenality, Wiederbelebt
Nachhaltige Fashion Labels allgemein
Armed Angels, Patagonia, ehrlich Textil
Online Shops Trading Plattformen
Vinted, eBay, Mädchenflohmarkt
Wichtige Fragen beantworten
Den Aufwand, den Lisa Bezdiczka mit der Recherche
über Slow Fashion habe, schreckt sie jedoch
ab. Dass man aber bereits mit kleinen Taten
viel bewirken kann, erklärt Domenico Miceli.
Seit zwei Jahren konsumiert der Berufseinsteiger
hauptsächlich Slow Fashion Produkte. Vom simplen
Prinzip Reduce, Reuse, Recycle macht er vor
allem von Ersterem Gebrauch. Reduce steht für
den bewussten und reduzierten Konsum.
Bevor Miceli neue Kleidung kauft, stellt er sich
selbst eine Auswahl an Fragen:
• Brauche ich dieses Kleidungsstück wirklich?
• Lässt sich das Kleidungsstück mit meinen anderen
Klamotten kombinieren?
• Muss ich dem neusten Trend folgen oder kann
ich stattdessen ein zeitloses Kleidungsstück
kaufen?
• Wie viel ist mir das Kleidungsstück wert (soziale
und ökologische Aspekte)?
• Kann ich das Produkt auch aus zweiter Hand
oder in einer nachhaltigen Version kaufen?
Reuse bedeutet alte Kleidung wiederzuverwenden
bevor sie im Mülleimer oder Altkleidersack
landet. Das T-Shirt mit Fleck eignet sich hervorragend
als neuer Putzlappen. Und die Jeanshose mit
Loch behält ihren Platz im Kleiderschrank als
Shorts für den nächsten Sommer. Recycling
zeichnet sich neben der Entsorgung in Altkleidercontainern
auch durch das Tauschen oder Leihen
und dem Verkauf auf Second-Hand-Plattformen
oder Flohmärkten aus.
Den Konsum von Fast Fashion auf Slow Fashion
umzustellen, ist schon mit wenig Aufwand
möglich. Die Wege sind dabei nahezu grenzenlos.
Es geht nicht darum, von heute auf morgen
perfekt zu handeln, sondern sich ein Bewusstsein
über den Konsum zu schaffen. Im Endeffekt
zählt jeder Kassenbon, denn jeder Kauf eines
nachhaltigen Kleidungsstücks ist ein Stimmzettel.
Ein Stimmzettel, der die Unternehmen zwingt zu
handeln – und Organisationen wie die Kleiderstube
des DRK künftig entlasten.
Bild: Unsplash
34 SOLVED
mediakompakt
Eine
männliche
Krankheit
Was bedeutet es, ein Mann zu
sein? Und seit wann ist Männlichkeit
toxisch? Nicht erst seit
der Debatte um #metoo erhält
das klassische Bild des starken
Geschlechts Risse.
VON VANESSA DÖRR
Bild: Unsplash
Trotz des Umbruches in unserer Gesellschaft,
was die traditionellen Rollen
von Mann und Frau betrifft, bleiben so
manche Vorstellungen, wie ein „echter
Mann“ zu sein hat, in den Köpfen der
Menschen haften. Der echte Mann ist wortkarg,
Ernährer der Familie und heizt im Sommer ordentlich
den Grill an. Er liebt Fußball, lacht mit
seinen Kumpels bei einem Bier über sexistische
Witze, Emotionen sind für ihn ein Fremdwort.
Klingt überspitzt? Ja, aber noch heute gelten solche
Ansprüche an Jungen und Männer.
Toxische Männlichkeit finden wir nicht nur
im Alltag: Sie begegnet uns in Medien, im Beruf
und in der Politik. Schon als Kinder werden wir
dazu erzogen, Männer als erfolgreiche Alpha-Tiere
zu sehen. Männlich sein, heißt mutig und vor
allem stark zu sein. Für Anzeichen von Schwäche
oder Emotionen ist kaum Platz. Ausgenommen
der Wut, nimmt jedes andere Gefühl, wie Verletzlichkeit
oder Traurigkeit, dem Mann die
Glaubwürdigkeit. Deshalb muss Männlichkeit
oft unter Beweis gestellt werden. Zur Not mit Gewalt
als adäquatem Mittel. Es ist ein sich ständig
wiederholendes Kräftemessen – beruflich und
privat.
Doch warum ist diese Auffassung von Männlichkeit
so gefährlich? Die American Psychological
Association (APA) erklärte in den 2019 veröffentlichen
Richtlinien für Psycholog:innen zum
Umgang mit Jungen und Männern, dass die traditionelle
Männlichkeit, mit der schon die Jüngsten
aufwachsen, psychisch schädlich sei. Mit Aussagen
wie „Männer weinen nicht“ oder „Sei doch
keine Pussy!“ wird früh in den Charakter von Kindern
eingegriffen. Dadurch wird ihnen vorgeschrieben,
wie sie am besten zu sein, beziehungsweise
nicht zu sein haben.
Ein Leistungsdruck, der zu Homophobie,
Mobbing und Aggressionen führen kann. Männer
sind bei Gewaltdelikten jedoch nicht nur die
wahrscheinlicheren Täter, sondern auch die verschwiegeneren
Opfer. Schwäche zeigen, passt
eben nicht in das Bild des starken Mannes. Und
das ist in konkreten Zahlen messbar: Die Suizidrate
bei Männern ist in Deutschland dreimal so
hoch wie bei Frauen, sie gehen seltener und erst
bei fortgeschrittenen Symptomen zum Arzt und
sind häufiger in gefährlichere Unfälle verwickelt.
Toxische Männlichkeit schadet jedoch nicht
nur Männern, auch Frauen leiden täglich unter
männlicher Gewalt. Jeden zweiten bis dritten Tag
wird in Deutschland eine Frau durch ihren (ehemaligen)
Partner getötet. Deutschlandweit hatten
2018 rund 114.000 Frauen Gewalt in der Partnerschaft
zur Anzeige gebracht. Bei Männern waren
es hingegen 26.000.
Natürlich sind nicht alle Männer toxisch.
Aber solche Ansichten sind in vielen Denkmustern
verhaftet. Der plakative Hashtag #NotAllMen
in sozialen Medien erscheint zuerst wie ein Beschwichtigungsversuch.
Doch das ist er nicht,
denn er erfasst das Problem nicht. Es stimmt,
nicht alle Männer üben zwangsläufig Gewalt gegen
sich und andere aus. Aber ein beachtlicher
Teil tut es, wie aus diesen Zahlen ersichtlich ist.
Die extremsten Auswüchse von toxischer
Männlichkeit finden sich im Internet. Sogenannte
„Incels”, die Kurzform von „involuntary celibate”,
also „unfreiwillig enthaltsam“, schließen sich
in Foren zusammen und tauschen sich über ihre
sexuelle Frustration aus. Schuld daran sind aus
ihrer Sicht Frauen, die ihnen ihren Körper und
somit ihr Recht auf Sex verwehren, und der Feminismus
als solcher. Als besonders gefährlich ist
diese Bewegung deshalb einzustufen, da sie tatsächlich
schon Menschenleben gefordert hat. Beispielsweise
ließ der antisemitische Attentäter von
Halle ein frauenfeindliches, szenebekanntes Lied
während des gestreamten Anschlags am 9. Oktober
2019 laufen.
Offenkundig haben wir haben ein Problem.
Es zieht sich durch unsere gesamte Gesellschaft
und endet nicht selten in Gewaltexzessen. Kein
Mann sollte heutzutage mehr dazu gezwungen
sein, bestimmte Eigenschaften erfüllen zu müssen.
Männer dürfen sein, wie sie sind. Emotional,
verletzlich, wütend. Kindergärtner und Investmentbanker.
Gefühle verschwinden nicht, wenn
man sie unterdrückt. Es liegt nun an uns allen,
toxische Männlichkeit als Problem zu erkennen
und sexistische Strukturen in unserer Gesellschaft
aufzulösen.
01/ 2021 SOLVED 35
„Emotionale Männer
sind Waschlappen!“
Der Umgang mit toxischer
Männlichkeit in unserer Gesellschaft
ist unterschiedlich.
Die einen distanzieren sich aktiv,
die anderen ignorieren sie
vollkommen. Drei Männer und
eine Frau zeigen ihre Sichtweise
und präsentieren individuelle
Lösungsvorschläge.
VON KATHRIN WEBERNDÖRFER
Um der Ursache der toxischen Männlichkeit
auf den Grund zu gehen
und Lösungsansätze zu finden, haben
wir mehrere Menschen gebeten
sich zu diesem Thema zu äußern.
Dabei wurde es aus verschiedenen Blickwinkeln
betrachtet, doch ein Punkt blieb immer gleich:
Toxische Männlichkeit betrifft jeden, egal ob
Mann oder Frau.
„Emotionale Männer sind Waschlappen”,
sagt Alexander (22) und spricht den Druck, dem
Männer ausgesetzt sind, konkret an. Bei Männern
wird nicht davon ausgegangen, dass sie Hilfe
brauchen. Man(n) muss alles selbstständig lösen –
und dabei stets der Beste sein. Er sieht den Grundstein
für das Problem in der Erziehung. Schon
früh wurde dem kleinen Jungen erklärt, dass er
mit Baggern zu spielen hat, nicht mit Barbies. Babys
werden sogar in „männlichen“ Farben gekleidet.
So ein rosa Strampler könnte ja dem Ego schaden.
Vor allem dem des Vaters. Mit der traditionellen
Erziehung werden Normen und feste Geschlechterrollen
in unserem Denken etabliert.
Später daraus auszubrechen, ist schwer und verlangt
eine Menge Selbstkritik. Ein Schritt wäre,
traditionelle Sichtweisen nicht blind auf die Erziehung
der eigenen Kinder zu übertragen, sondern
einen modernen Weg zu wählen und damit den
Männern den Weg frei zu machen, Gefühle zeigen
zu dürfen.
Philipp (26) ist homosexuell. Als queere Person
spricht er von ähnlichen Erfahrungen: „Ich
habe immer lieber getanzt und gesungen als Fußball
gespielt, was mir nur blöde Sprüche eingebracht
hat.“ Er zeichnet ein Bild von unterdrückten
Gefühlen und Zurückhaltung. Öffentliche
Liebesbekundungen mit seinem Partner seien bis
heute ein Problem für die beiden. Das Risiko, öffentlich
homophoben Kommentaren ausgesetzt
zu sein, ist einfach zu groß. Deswegen wäre ihm
eine gesellschaftliche Aufklärung wichtig. Damit
der Umgang mit Männern, die ihre Gefühle und
Verletzlichkeit zeigen, normalisiert wird.
Nur indirekt betroffen ist die Studentin Katharina
(21), trotzdem ist sie sich den Auswirkungen
bewusst. „Gerade, weil wir diese Art der Männlichkeit
für normal halten, ist es so schwer sich
von der Vorstellung zu lösen.“ Deswegen wäre es
ihrer Meinung nach wichtig, schon in den Schulen
und im Elternhaus über die toxische Art der
Männlichkeit zu reden und mit den Kindern alternatives
Verhalten durchzuspielen.
Die frühkindliche Aufklärung der Gesellschaft
macht den Unterschied. Lehrer:innen, Erzieher:innen
und nicht zuletzt Eltern sollten schon
mit den Kindern üben, sich von klischeebelastetem
Denken zu lösen und einen kritischen Blickwinkel
auf Rollenbilder zu erhalten. So kann die
weitere Entwicklung der Kinder nachhaltig beeinflusst
werden. Gerade in der Pubertät, in der sich
die Persönlichkeiten ausprägen, kann ein klischeebefreites
Denken einen großen Unterschied
machen.
Einen Schritt weiter will Christian (24) gehen.
Er votiert für eine geschlechtsneutrale Erziehung,
die Mann-Frau-Klischees ganz auflösen soll. Den
Kindern wird nicht beigebracht, was als typisch für
ihr biologisches Geschlecht gilt, sondern die Geschlechter
werden gleichberechtigt und ebenbürtig
erzogen. Jedes Kind entscheidet frei, ob es lieber
mit Puppen oder Bauklötzen spielen will. So sollen
Phänomene wie toxische Männlichkeit direkt aus
der Denkweise der Menschen gestrichen werden.
In der deutschen Bildungspolitik fehlen solche
Maßnahmen noch. Aber in Island werden geschlechtsneutral
ausgerichtete Kindergärten immer
beliebter. Die Kinder können sich frei als Individuum
entwickeln, heißt es in einem Beitrag
aus der „Süddeutschen Zeitung“.
Die Akzeptanz in der deutschen Gesellschaft
dafür steht aus. Das Bild der toxischen Männlichkeit
scheint für viele unausweichlich mit dem eigenen
Weltbild verknüpft zu sein. Auch wenn es
vielen gar nicht bewusst ist, da die klassischen
Rollenbilder als „normal“ gelten. Nötig wäre ein
fundamentaler Richtungswechsel des Denkens.
Aber so etwas braucht Zeit, Geduld und vor allem
den nötigen Antrieb.
Bild: Unsplash
36 SOLVED
mediakompakt
Bild: C.Traulsen
Der Charme
des Analogen
Der technische Fortschritt
boomt. Doch in einer vernetzten
Welt gibt es eine
Bewegung, die ihren Fokus
ganz bewusst auf die Beständigkeit
des herkömmlichen
Lebens legt. Ein Vergleich
zweier Parteien.
VON CHRISTIAN TRAULSEN
UND JENNIFER WISSMANN
Morgens vibriert das Smartphone
und spielt den eigenen Lieblingssong.
Im 21. Jahrhundert klingt
dies nach absoluter Normalität.
Mit dem ersten Blick auf unseren
Alltagsbegleiter wissen wir sofort, wie das Wetter
wird oder erfahren die aktuellen Nachrichten von
Freunden und aus der ganzen Welt. Eine Studie
aus dem Jahr 2018 belegt, dass zwei Drittel aller
Befragten innerhalb der ersten und letzten 15 Minuten
nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen
aufs Handy schauen. Besonders die Generation
Z hat damit kein Problem, denn sie ist
mit dem digitalen Zeitalter aufgewachsen. Das Internet
ermöglicht eine dauerhafte Vernetzung,
doch durch die Masse an Informationen und deren
Schnelllebigkeit wird das Gehirn dauerhaft
mit Reizen überflutet.
Aktiv gegen den Wandel
Daher beginnt der Start in den Tag nicht bei jedem
mit der digitalen Welt. „Wenn ich mich
nicht gleich fertigmachen muss, gehe ich in die
Küche, mache mir etwas zu essen und lese nebenher
die Fellbacher Zeitung”, sagt Oliver Pfander,
Student an der Hochschule der Medien. Obwohl
sich die Digitalisierung immer stärker ausweitet,
gibt es eine Gegenbewegung, die sich aktiv gegen
diesen Wandel ausspricht, die sogenannten Offliner.
Dabei wollen sie nicht das Internet generell
ablehnen. Sie wehren sich gegen die Undurchsichtigkeit
und den selbstverständlichen Umgang
mit Daten und deren Verarbeitung. „Für die Offliner
ist nicht die digitale Zukunft störend, sondern
die Art und Weise, wie uns die Herrscher des digitalen
Raums in eine hyperdigitale Zukunft führen“,
sagt der Autor Joël Luc Cachelin. „Die Bewe-
01/ 2021 SOLVED 37
gung richtet sich weniger gegen die Digitalisierung
an und für sich, als vielmehr gegen deren
technische, soziale, ökonomische und ökologische
Nebenwirkungen.”
Kritiker und Romantiker
Dabei kann es ganz unterschiedliche Gründe
geben, sich gegen die Digitalisierung zu verschreiben.
Während die Kapitalismuskritiker die Digitalisierung
als Bedrohung für das herkömmliche
Konsumverhalten sehen, kritisieren Datenschützer
den leichtsinnigen Umgang mit Daten und
den damit immer weiterwachsenden digitalen
Fußabdruck. Mehr auf der emotionalen Ebene
sind die Romantiker unterwegs, die den Zeiten
nachtrauern, als noch nicht jede zwischenmenschliche
Interaktion digital beeinflusst wurde.
Hinzu kommen die Nachhaltigen, die befürchten,
mit dem stetig wachsenden Energiebedarf
und gleichzeitig immensen Mengen an Elektroschrott
werde die Lebensgrundlage für künftige
Generationen zerstört. Folgt man den Aussagen
des Autors Joël Luc Cachelin, lassen sich Offliner
in insgesamt 16 differenzierte Kategorien einteilen,
wobei eine Person mehrere Interessen vertreten
kann.
Sachen in die Hand nehmen
Während nun die Onliner den Großteil ihres
Alltags mit der digitalen Welt vereinfachen und
sich nicht einmal für neue Kleidung aus dem Haus
bewegen müssen, wissen Offliner den Wert des
Einzelhandels weiterhin zu schätzen. Ein Internetzugang
verleitet nun mal automatisch dazu,
die bequemen Vorzüge auszunutzen und online
zu bestellen. „Ich finde es schöner, Sachen noch
in die Hand zu nehmen und im Laden zu kaufen.
Vor allem, weil ich damit Amazon nicht unterstütze“,
erläutert Oliver Pfander weiter. Für ihn ist
es wichtig, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen
digitaler und realer Welt einzuhalten und
sich dabei bewusst Zeit für die wichtigen Dinge
abseits des Bildschirms zu nehmen.
Doch bereits die Arbeitswelt macht es vielerorts
unmöglich, gänzlich die digitale Vernetzung
zu ignorieren. In vielen Unternehmen findet bereits
die Datenarchivierung und der Austausch derer
über zentrale Server statt. Auch die Kommunikation
wird immer weiter auf die digitale Ebene
verlegt. Erst dadurch ist eine Globalisierung, wie
wir sie heute kennen und vorfinden, möglich. Eine
Bewegung, wie sie seit Jahren auch in der privaten
Kommunikation stattfindet.
„Ich finde es
schöner, Sachen
noch in die
Hand zu nehmen
und im Laden zu
kaufen.“
Mit der zunehmenden Reizauslastung sinkt
gleichzeitig die Aufmerksamkeitsspanne. Aufgrund
der Vielfalt an Unterhaltungsmedien können
wir selbst bestimmen, was wir wann, wo und
wie lange schauen wollen. Diese Flexibilität
macht uns nicht länger von festen Sendeprogrammen
oder bestimmten Ausstrahlzeiten abhängig.
Je jünger die Generation, umso wichtiger wird
dieser Aspekt. Daher sind auch Plattformen wie
YouTube oder Streamingdienste wie Twitch, Netflix
und Co. so erfolgreich. Grund genug, warum
die regulären TV-Sender versuchen, mit ihren Online-Mediatheken
nachzuziehen, um die ursprüngliche
Relevanz nicht zu verlieren. Ihr größtes
Problem ist, dass das lineare Fernsehprogramm
nur noch bei der Altersgruppe der über Fünfzigjährigen
Zuwachs findet.
Nicht nur auf ein Medium fokussiert
Die Nutzung der Massenmedien geht sogar so
weit, dass die Konsumierung eines Mediums alleine
nicht mehr für eine ausreichende Befriedigung
sorgt. Der laufende Film wird zum Passivmedium,
während man am Smartphone die neuste Onlinebestellung
aufgibt oder sich mit der endlosen Bilderflut
auf Instagram die Zeit vertreibt. Menschen
in der modernen Welt haben einfach nicht mehr
die Zeit sich auf ein Medium alleine zu fokussieren,
weswegen diese häufig parallel zueinander
konsumiert werden.
Dieses Nutzungsverhalten macht es auch für
Medienunternehmen unumgänglich, ihre Informationen
für verschiedene Kanäle gleichzeitig
aufzubereiten. Nur so kann die größtmögliche
Zielgruppe, von Jugendlichen bis hin zu Personen
im Rentenalter, erreicht werden. Wissenschaftler
der Universität Stanford haben allerdings bewiesen,
dass sich intensives Medien-Multitasking negativ
auf das Gedächtnis auswirkt.
Am Ende ist es jedem selbst überlassen, in welche
Welten man seine Zeit investiert. Fakt ist jedoch:
Im Zeitalter der Digitalisierung behalten die
analogen Medien ihren ganz eigenen Charme
und sind noch lange nicht wegzudenken.
Erste Anlaufstelle für Unterhaltung
Angefangen in den späten 90ern machen Messenger
und Chatportale den Austausch von persönlichen
Nachrichten zunehmend einfacher.
Laut einer Statistik erreichte WhatsApp Anfang
2020 als erster Nachrichtendienst mehr als zwei
Milliarden monatliche Nutzer weltweit. Alleine in
Deutschland nutzen rund 95 Prozent der Befragten
den Dienst regelmäßig. Hinzu kommen die
Social-Media-Kanäle, welche nicht auf den ausschließlichen
Nachrichtenaustausch ausgelegt
sind. Längst sind Facebook, Instagram und Tik-
Tok die erste Anlaufstelle für persönliche Unterhaltungszwecke.
Bild: Pixabay
38 SOLVED
mediakompakt
Bild: Unsplash
01/ 2021 SOLVED 39
Einsam im Zeitalter
der Vernetzung
Alte Schulfreunde findet man
plötzlich bei Facebook wieder,
die große Liebe womöglich
über Tinder. Noch nie waren
die Menschen so vernetzt wie
heute. Trotzdem fühlen sich
Millionen Deutsche einsam.
Eine Spurensuche.
VON SANDRA KUTSCHER
UND GRETA KUCH
Jana Zeh, 19 Jahre alt, kennt das Gefühl
von Einsamkeit. Aus der Not heraus, entwickelte
sie die Idee eine alternative
Selbsthilfegruppe für diejenigen zu gründen,
denen es genauso geht. Im Gespräch
berichtet Jana, sie hätte ihren ersten Aufruf anonym
über Facebook gestartet. Das Besondere an
den Zusammentreffen sei, dass alle Krankheitsbilder
und Altersgruppen vertreten sind: von Menschen
mit Lebenskrisen bis hin zu schweren psychischen
Erkrankungen. Viele von ihnen hielten
die Einsamkeit nur schwer aus, sagt Jana.
In Deutschland leiden laut einer Umfrage von
Splendid Research aus dem Jahr 2019 rund ein
Viertel der 18 bis 39-Jährigen ständig, beziehungsweise
häufig an Einsamkeit. Je älter die Befragten,
desto seltener fühlen sie sich einsam. Unter den
60-69-Jährigen sind es nur noch elf Prozent. Betroffen
sind also nicht nur Erwachsene, sondern
zunehmend auch Jugendliche.
Aber was genau unterscheidet Einsamkeit vom
Alleinsein? Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl,
auf sich allein gestellt zu sein. Wir können uns
auch dann einsam fühlen, wenn wir von Menschen
umgeben sind. In der Psychologie unterscheidet
man seit den 70er Jahren dieses Phänomen
in zwei Arten: die soziale und die emotionale
Einsamkeit. Laut dem Soziologen Robert Weiss erfasst
die soziale Einsamkeit einen Mangel an sozialer
Integration, während die emotionale Einsamkeit
den Mangel an festen Vertrauenspersonen
definiert. Alleinsein beschreibt dagegen den
physischen Zustand, keine anderen Menschen
um sich herum zu haben.
Einsamkeit ist zum großen Thema unserer Zeit
geworden. Und dass, obwohl unser Alltag von der
Kommunikation durch soziale Medien geprägt
ist. In den sozialen Netzwerken werden wir mit
dem vermeintlich perfekten Leben anderer Menschen
konfrontiert. Das digitale Sozialleben und
die Art und Weise, wie wir uns selbst in den sozialen
Medien präsentieren, wird immer wichtiger.
Dafür rücken die persönliche Kommunikation
und enge soziale Bindungen immer mehr in den
Hintergrund. Beziehungen und Verabredungen
werden unverbindlicher, Freundschaften schnelllebiger.
Insbesondere bei jungen Menschen spielt sich
das soziale Leben immer mehr im digitalen ab.
Dabei kann dies vor allem im jungen Alter zu Problemen
führen. Eine Studie der Université de
Montréal und des Kinderkrankenhauses CHU
Sainte-Justine hat ergeben, dass Jugendliche, die
mehr Zeit auf sozialen Medien verbringen, schwerere
Symptome einer Depression aufweisen. Im
Zuge der vierjährigen Studie wurden fast 4000 Jugendliche
im Alter zwischen 12 und 16 Jahren befragt.
Die Symptome traten insbesondere dann
auf, wenn die Jugendlichen sich vermehrt auf
Plattformen aufhielten, auf denen der Vergleich
mit anderen eine große Rolle spielt. Da psychische
Krankheiten noch immer ein Tabuthema
in unserer Gesellschaft sind, fällt es Betroffenen
oft schwer sich Hilfe zu suchen. Sie ziehen sich
stattdessen meist zurück und verbringen noch
„Unsere Gruppe
lebt von dem
Persönlichen,
dem Vertrauten“
mehr Zeit alleine und auf sozialen Medien, was
die Symptome nur weiter verschlimmert.
Auch im Online-Dating lässt sich ein Widerspruch
zwischen unserer vernetzten Gesellschaft
und der Einsamkeit erkennen. Dating Apps geben
uns die Möglichkeit, innerhalb von wenigen Minuten
von der Couch aus Kontakt zu einem neuen
potentiellen Partner aufzunehmen. Die meisten
Kontakte bleiben jedoch eher unverbindlich
und können unser Bedürfnis nach tiefgründigen,
sozialen Kontakten nicht stillen. In einem Interview
mit dem Online-Frauenmagazin „Libertine“
spricht die deutsche Psychologin, Therapeutin
und Autorin Stefanie Stahl über das Thema Beziehungsunfähigkeit
im Zusammenhang mit Dating-Plattformen.
Der Grund für die Unverbindlichkeit
in vielen Beziehungen und die Beliebtheit
von Dating Apps sei, dass es in unserer Gesellschaft
immer mehr akzeptiert sei, seine Beziehungsängste
auch offen auszuleben. Dating-Apps
sehe sie deswegen eher als „Unterstützer und
nicht als Auslöser“.
Dating Apps und soziale Netzwerke kratzen
nur oberflächlich an dem, wonach wir uns in einem
glücklichen und erfüllten Leben sehnen. Das
Liken und Kommentieren bleibt eine Illusion von
echten sozialen Kontakten und können diese
nicht ersetzen. Die Teilnehmer haben in Zeiten
von Corona keine Lust auf ein digitales Treffen.
„Unsere Gruppe lebt von dem Persönlichen, dem
Vertrauten, dem gemeinsamen herzlichen Lachen
und dem gemeinsamen Tanzen, wenn ich
spontan Musik anmache und anfange durch den
Raum zu springen – online ist das einfach nicht
das Gleiche“, erläutert Jana.
Für einige Menschen kann die Vernetzung
durch digitale Medien jedoch auch ein Weg aus
der Einsamkeit heraus sein. Gerade für ältere Menschen
bieten sich hier viele Möglichkeiten. Sie
können sich durch soziale Medien mit ihren Enkelkindern
in Verbindung setzen, sich in Online
Gruppen mit Gleichgesinnten vernetzen oder
auch Gottesdienste online besuchen. Minderheiten
und Personen mit speziellen Vorlieben können
sich in Foren mit anderen austauschen und
sich als Teil einer Gruppe sehen: Wer beispielsweise
Angststörungen hat und nicht vor die Tür
kann, findet im digitalen Raum Gehör.
Die digitale Vernetzung bietet im richtigen
Maß eine Möglichkeit, um soziale Kontakte zu
pflegen und sich dadurch weniger einsam zu fühlen.
Die Kontaktpflege über große Distanzen fällt
leichter und ein „Gefällt mir“ kann zu einem
wichtigen Symbol der Zuwendung werden. Für Jana
sind soziale Netzwerke eine Möglichkeit mit
ihrer Community zu interagieren. Sie fühle sich
damit nicht mit ihren Problemen alleine und bestärkt
in dem, was sie tue. Durch soziale Netzwerke
habe sie viele Freunde und Mitstreiter für die
gleichen Ziele kennengelernt, die sie auch im echten
Leben getroffen hat.
Das richtige Maß und die richtige Intensität
für die Nutzung von sozialen Medien zu finden,
ist nicht leicht. Wichtig ist es, die Medienkompetenz
schon von klein auf bei Kindern zu fördern
und ihnen einen bewussten Umgang mit digitalen
Medien zu vermitteln. Dabei ist das Trennen
von analoger und digitaler Welt ein wichtiger
Aspekt. Jana erzählt, wie sie bei ihrem Treffen versuchen
das Thema Einsamkeit zu enttabuisieren,
ihm Raum zu geben. Sie selbst sehe die Selbsthilfegruppe
nicht als „goldenen Schlüssel zur Lösung”,
sondern lediglich als Unterstützung. Gegen die
Einsamkeit helfe bei jedem etwas anderes. Sie habe
versucht, den Grund für ihre Gefühle zu finden
und Initiative zu ergreifen, indem sie mehr von
dem macht, was ihr Freude bereitet.
Laut Jana Zeh sei es nicht immer leicht aus der
Einsamkeit herauszukommen. Jedoch lohne sich
die Anstrengung. „Auch heute fühle ich mich
noch oft einsam.“ Jedoch habe sie gelernt damit
umzugehen, „und ich weiß, was ich tun kann, um
mich besser zu fühlen“.
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