Populismus der Mitte – Eine radikale ... - Linksreformismus
Populismus der Mitte –
Eine radikale Unterströmung im politischen Mainstream.
Marcel Lewandowsky & Jasmin Siri
im September 2010
Im Folgenden werden wir uns – angesichts und anhand der aktuellen
Debatte um die Thesen des SPD-Mitglieds und Bundesbankvorstandes
Thilo Sarrazin – mit der Frage nach populistischen Akteuren und ihrer
medialen Wirksamkeit befassen. Zunächst werden wir den Forschungs-
stand skizzieren und die Figur des „Populismus der Mitte“ einführen. Wir
werden dann die Debatte um Sarrazin exemplarisch einordnen und dazu
anregen, sich aus linksreformistischer Perspektive mit der Erarbeitung
politischer Kommunikationsstrategien zu befassen, die populistischen
Politikangeboten entgegenstehen.
1. Populismus-Forschung
Die politikwissenschaftliche Forschung hat sich – nach jahrzehntelanger
Nichtbeachtung – dem Thema „Populismus“ innerhalb der letzten zehn
Jahre intensiv genähert. 1 Dabei liegt der Fokus deutlich auf den Vertre-
tern des Rechtspopulismus (Pfahl-Traughber 1994; Decker 2004). Erst in
den letzten Jahren ist die Frage aufgetaucht, ob nicht auch linke Parteien
entweder sui generis oder durch die Übernahme bestimmter Versatz-
stücke in die populistische Parteienfamilie eingeordnet werden könnten
(vgl. Hartleb 2004; Decker/Hartleb 2006). Noch weniger Beachtung wur-
de bislang dem Phänomen geschenkt, dass nicht nur Parteien an den
„Rändern“, sondern gleichsam Großparteien in der Mitte des politischen
1 Vgl. als theoretische Arbeiten Canovan 2002, 2004; Mudde 2004; Taggart 2000, 2002 sowie
komparative Studien (Werz 2003; Decker 2006; Mény/Surel 2002), die inzwischen zu Standardwerken
avanciert sind.
1
Spektrums dazu neigen, populistische Techniken der Wähleransprache zu
adaptieren (vgl. Jun 2006).
Den Forschungsstand zusammenfassend können wir feststellen: Nahezu
alle Arbeiten in diesem Forschungsbereich neigen dazu, Populismus eher
als Stilmittel denn als konsistente Ideologie zu begreifen, welches von
den politischen Parteien aufgegrifen und bei der Wähleransprache ver-
wendet wird. Neben dem jahrelang schwelenden – und nicht abschlie-
ßend gelösten – Streit, ob Populismus als mehr oder minder eigenständig-
es politisches Programm klassifziert werden kann oder auf die Rolle eine
Stilmittels reduziert werden muss, hat sich die Forschung bislang kaum
von der Fokussierung auf die parteipolitische Erscheinungsform trennen
können.
2. Populismus der Mitte
Unserer Ansicht nach sieht sich die Demokratie mit einer neuen Form des
Populismus konfrontiert, der in der Forschung bislang zu wenig Beach-
tung geschenkt wurde (Ansätze bei Jun 2006; Mair 2000; Priester 2007;
Taggart 2004).
Populismus der Mitte 2 lässt sich als eine besondere Erscheinungsform
verstehen, die folgende Merkmale aufweist: Erstens die Selbstverortung
in der Mitte des politischen Spektrums; zweitens damit einhergehend die
rhetorische Abgrenzung von jeglichem politischen Extremismus; drittens
die Adressierung des „Normalbürgers“; viertens die Propagierung des
Pragmatismus gegenüber der Ideologie; fünftens die Formulierung politi-
scher Forderungen auf Grundlage von common-sense-Argumenten (Spar-
samkeit, Anständigkeit etc.) (vgl. Decker 2004: 35); sechstens Professio-
nalität im Umgang mit der massenmedialen Selektions- und Präsentati-
onslogik (vgl. Schulz 1990). Taucht Populismus in Form einer Parteiorga-
2 Peter Mair spricht im englischen Sprachraum mit Bezug auf Tony Blairs New Labour von „mainstream popu-
lism“ (vgl. Mair 2002: 92 f.).
2
nisation auf, so ist siebtens von einer Reform der Strukturen auszugehen,
von der das strategische Zentrum hinsichtlich der Kontrolle des Mei-
nungsbildungsprozesses und der Außendarstellung proftiert (vgl. Lewan-
dowsky 2010).
2.1 Mediale Inszenierung und Diskursmacht
Die jüngste Debatte um Thilo Sarrazin hat deutlich gemacht, dass die bis-
lang angestellten Studien und Erklärungsmodelle für den Ursprung und
Erfolg für bestimmte Erscheinungsformen nicht ausreichen. Obwohl das
Phänomen „Sarrazin“ in seiner Rhetorik, seinem kalkulierten Tabubruch
und seinem Appell an Vulgärökonomismen und rassistische Ressenti-
ments für die Populismus-Forschung nicht neu sein dürften, so stellt es
uns dennoch vor zwei zentrale Herausforderungen.
Erstens: Thilo Sarrazin agierte nicht als Anführer einer Protestpartei,
sondern als fachlich angesehenes Mitglied einer Volkspartei, die auf der
moderaten Linken des politischen Spektrums verortet werden kann. Es
ist anzunehmen, dass er von seiner SPD-Mitgliedschaft in mehrfacher
Hinsicht proftieren konnte.
Zweitens: Aus normativer Sicht zeigt sich, dass die Populismus-For-
schung, so sie sich in letzter Konsequenz auch als politisch-normative
Forschung versteht, einem Akteur wie Sarrazin bislang mit einem stump-
fen Schwert gegenüber steht. Konnte man sich bislang noch an parteipoli-
tischen Phänomenen abarbeiten, deren Zuordnung innerhalb des politi-
schen Spektrums eine Argumentation „gegen Rechts“ erleichterten, stel-
len uns die jüngeren Ereignisse auf die Probe. Sarrazin beharrt darauf,
auf Grundlage sozialdemokratischer Überzeugungen zu agieren, lehnt die
Gründung einer Protestpartei ab und besteht zum Zeitpunkt der Nieder-
schrift dieser Überlegungen auf seinem Verbleib in der sozialdemokrati-
schen Partei. Die Paralyse der SPD spiegelt dieses Dilemma.
3
3. Linksreformismus und Populismus
Warum ist es sinnvoll, sich aus linksreformistischer Perspektive mit die-
sem Thema zu befassen? Ist es nicht denkbar, dass Populismus eine Ne-
benerscheinung anderer Prozesse ist und durch die Umsetzung von Re-
formen auf diesen Gebieten (etwa in der Ökonomie) obsolet würde? In
der Tat kommen die meisten Autoren zu dem Schluss, dass sozio-ökono-
mische wie kulturelle Modernisierungsprozesse zumindest einen Nährbo-
den für Populisten liefern (vgl. Rensmann 2006).
Nach unserer Ansicht ist es aber gerade die oben ausgeführte neue Quali-
tät des Populismus der Mitte, der eine Antwort aus linksreformistischer
Richtung geradezu herausfordert. Hierzu sind zwei Gründe anzuführen.
Zum einen besteht ein Erfolgsfaktor des Populismus der Mitte in einem
Nebenefekt gesellschaftlicher Modernisierung, den etwa Roland Ingle-
hart (vgl. 1974) ausführlich studiert hat und dessen Konsequenzen immer
noch auf das politische System ausstrahlen. Populismus der Mitte kann
überhaupt erst deshalb erfolgreich sein, weil es den etablierten Parteien
nicht gelingt, die Fragen der Globalisierung ausreichend zu beantworten
– weder programmatisch noch identitätspolitisch. Im Grunde zehrt er von
den gleichen Erfolgsfaktoren wie seine (zumeist) rechten Gefährten: So-
ziale Verunsicherung aufgrund ökonomischen Wandels, kulturelle und re-
ligiöse Verunsicherung aufgrund von Migration. Populisten beantworten
dies durch die Reduktion sozialer Komplexität auf Schuldige, die mithin in
der politischen Klasse, der EU, der „Wirtschaft“ sowie unter bestimmten
Gruppen mit Migrationshintergrund lokalisiert werden (vgl. Rensmann
2006: 65).
Ausschlaggebend ist jedoch zum anderen die Beobachtung, dass das Auf-
tauchen von Populismen ofensichtlich mit einer Phase programmatischer
Orientierungslosigkeit der Sozialdemokratie zusammen fällt. Hypothe-
tisch gesprochen, ist der enorme innerparteiliche impact der Sarrazin-De-
4
atte nur deshalb möglich gewesen, weil der SPD derzeit eine Identität
fehlt, die ein Verfangen von Rassismen und die daraus resultierende stra-
tegische Verwirrung von vornherein abfedern könnte. Aus einer medien-
politischen Perspektive wird deutlich, dass populistische Angebote in der
Bedienung medialer Selektionskriterien sehr erfolgreich sind und auch
linke politische Akteure kokettieren immer wieder mit dieser Form politi-
scher Kommunikation. Eine Selbstvergewisserung hinsichtlich des Um-
gangs mit Populismen scheint uns daher hilfreich.
Zudem scheinen „alte“ zivilgesellschaftliche Abwehrmechanismen (wie
die Ächtung von NPD-PolitikerInnen durch Medien) gegen den Populis-
mus der Mitte wirkungslos. Moralische Appelle und Abwertungen schei-
nen ihn eher zu befördern als zu behindern, scheinen die populistischen
Rollennehmer gar in die Position des „Underdog“ oder des sympathischen
Anarchisten zu versetzen 3 . Die Entwicklung medialer Gegenstrategien
und eine gemeinsame medienpolitische Praxis könnte sich als ein mögli-
ches Betätigungsfeld für ganz unterschiedliche linksreformistische Akteu-
rInnen anbieten.
Literatur
________________________________________
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Gefahr für die Demokratie oder nützliches Korrektiv?, 191-215.
Hartleb, Florian (2004), Rechts- und Linkspopulismus. Eine Fallstudie anhand von
Schill-Partei und PDS, Wiesbaden.
3 Ein Vergleich mit der Debatte um den Autor Peter Sloterdijk drängt sich auf (vgl. Siri 2010): Sloterdijk hat sich
einerseits auch der Provokation als Methode bedient, andererseits spielte auch hier die Bedienung medialer Selektionskriterien
eine besondere Rolle.
5
Inglehart, Roland (1974): The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles
Among Western Publics, Princeton.
Jun, Uwe (2006): Populismus als Regierungsstil in westeuropäischen
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Mair, Peter (2000): Partyless Democracy. Solving the Paradox of New Labour?, in: New
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Mudde, Cas (2004): The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition 39 (4), S.
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Priester, Karin (2007): Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen,
Frankfurt a.M./New York.
Rensmann, Lars (2006): Populismus und Ideologie, in: Decker, Frank (Hg.): Populismus.
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Schulz, Winfried (1990): Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse
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Werz, Nikolaus, Hrsg. (2003): Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen.
Marcel Lewandowsky, M.A. ist Dozent an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-
Universität Bonn und Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Seine Forschungs-
interessen liegen im Populismus, in politischer Strategie sowie auf Theorie und
Geschichte der Sozialdemokratie. Derzeit arbeitet er an seiner Promotion über
die Bedeutung der Bundespolitik in Landtagswahlkämpfen.
Jasmin Siri, Dipl. Soz., ist Dozentin an der Ludwig-Maximilians-Universität
München und Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie arbeitet an ihrer
Dissertation zum Formwandel von Parteimitgliedschaft und Parteiorganisation.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie der Politik und der politischen
Organisation.
Kontakt:
marcel.lewandowsky@uni-bonn.de
jasmin.siri@soziologie.unimuenchen.de
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