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Saargeschichten Ausgabe 58/59 (1/2-2020)

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Beginn der<br />

Besatzungszeit: Franz.<br />

Truppen zu Fuß und<br />

zu Pferde haben mit<br />

Geschützen und<br />

Fahrzeugen am 23.<br />

November 18 auf dem<br />

Großen Markt Aufstellung<br />

genommen.<br />

(StA SLS, Bildersammlung)<br />

Zwischen Compiègne und Versailles<br />

Als die französischen Truppen wenige Tage nach<br />

dem Waffenstillstand im Saarland einzogen,<br />

schienen diese Bataillone eher den alten Kräften<br />

in Paris zu gehorchen. Obwohl mit Georges<br />

Clemenceaus ein linksbürgerlicher Politiker die<br />

Regierungsgeschäfte lenkte, blieben rechtskonservative<br />

Kräfte mit oder ohne Regierungsamt<br />

einflussreich, sie waren es vor allem auch,<br />

die auf einen harten Kurs gegenüber dem Kriegsverlierer<br />

Deutschland drängten. Ganz davon<br />

abgesehen spielten die Militärs aller Nationen<br />

ohnehin oft gerne nach eigenen, nicht unbedingt<br />

auf friedliche Völkerversöhnung zielenden Regeln,<br />

ein kalter Nachkrieg, der nicht selten auf Kosten<br />

der Bevölkerung ging. Im Saargebiet, dessen<br />

besondere Rolle in der Nachkriegsordnung sich<br />

bereits in den ersten Monaten des Waffenstillstands<br />

abzeichnete, gab es derartige Übergriffe<br />

auch. Freilich hielten sie sich bei genauerem Hinschauen<br />

doch in sehr viel zivilisierteren Grenzen,<br />

als es die Zeitgenossen empfunden haben mochten<br />

und als es der propagandistische Nachhall<br />

der zwanziger Jahre nach außen vermittelte.<br />

Was dem Konflikt seine besondere Schubkraft<br />

gab, was ihn nachhaltig mit negativer Energie<br />

auflud und die öffentliche Meinung mit den<br />

schlimmsten Phantasien konfrontierte, das war<br />

vor allem die nationale Frage. Oder präziser die<br />

Frage des Nationalgefühls, jenes eigentlich erst<br />

im 19. Jahrhundert entstandenen Sentiments,<br />

das umso explosiver wirkte, je mehr es in einer<br />

gleichsam physisch aggregierten Form daherkam.<br />

Also buchstäblich körperlich spürbar war<br />

und dementsprechend aus und mit der Natur des<br />

Menschen begründet werden konnte. »Was denn<br />

für Blut eigentlich in seinen Adern rollt«, fragte<br />

der Leitartikler in der Saar-Zeitung mit einer<br />

damals überhaupt nicht anders als rhetorisch zu<br />

verstehenden Frage an die Adresse eines Kollegen<br />

im frankophilen Saarlouiser Journal, »Internationales?«<br />

[6] Weil Nationalität über Fleisch<br />

und Blut definiert wurde, war es auch »natürlich«,<br />

dass man nur eine einzige nationale Identität<br />

haben konnte, und zwar diejenige, die einem<br />

angeboren war, deren Wahrung aufs engste mit<br />

der persönlichen Ehre zusammenhing und die es<br />

notfalls unter Einsatz von Leib und Leben zu verteidigen<br />

galt. Umgekehrt gab es in einer solchen<br />

Gedanken- und Gefühlswelt, in einer buchstäblich<br />

verkörperten Nationalität, viele Gefahren<br />

der Verunreinigung und Infizierung mit Fremdkörpern,<br />

die bis hin zu jener »Perversion« führen<br />

konnten, die eigene Nationalität in Frage zu stellen<br />

oder gar zu wechseln.<br />

Um nationale Identität, um deren ehrenhafte<br />

Verteidigung und die vielfältigen Gefahren,<br />

denen sie ausgesetzt war, ging es auch in der<br />

saarländischen Besatzungszeit 1918/19 – gerade<br />

im preußisch-französischen Saarlouis. Am<br />

21. November 1918, so erzählen es die Quellen<br />

im Weißbuch der Regierung von 1921, verließen<br />

die letzten deutschen Truppen Saarlouis, verabschiedet<br />

von den Einheimischen mit Blumen,<br />

Girlanden und Ehrenpforten. Wenige Stunden<br />

später standen schon die Soldaten des französischen<br />

Kriegsgewinners vor den Toren der Stadt,<br />

um hier jedoch alles andere als einen triumphalen<br />

Empfang bereitet zu bekommen. Nur wenige<br />

Einheimische seien auf den Straßen gewesen, ein<br />

einziger habe es gewagt, Vive la France zu rufen<br />

– und der sei deshalb, so behauptete zumindest<br />

die vox populi später, verprügelt worden. Das<br />

Spiel um die Wahrung der nationalen Ehre, die es<br />

umso mehr aufrecht zu erhalten galt, als man um<br />

den militärischen Sieg scheinbar betrogen worden<br />

war, ging am nächsten Tag weiter. Der von<br />

den Franzosen geforderte Empfang von General<br />

Lecomte am Saarlouiser Stadttor durch Bürgermeister<br />

und Stadtverordnete wurde jedenfalls<br />

verweigert, mit der bauernschlauen Begründung,<br />

dass man auch preußischen Militärs niemals derart<br />

entgegen gekommen sei. Im Gobelinsaal des<br />

Rathauses standen Bürgermeister Dr. Peter Gilles,<br />

der an diesem Tag in sein Amt eingeführt worden<br />

war (nachdem tags zuvor die Amtszeit von<br />

Dr. Karl-August Kohlen abgelaufen war) sowie<br />

die Beigeordneten später aber doch zum Rencontre<br />

mit dem General bereit. Der sprach zwar<br />

demonstrativ von den ungezählten »Schandtaten<br />

der Deutschen« im vergangenen Krieg,<br />

[6] Saarlouis in Wahrheit – nicht Dichtung, in: Saar-Zeitung<br />

Nr. 83 v. 12. April 20, S.1.

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