religioesegemeinschaften
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Stefan Rademacher
Herausgeber
Religiöse
Gemeinschaften
im Kanton Bern
Ein Handbuch
Geleitwort
Unsere religiöse Gegenwart ist bunt und vielfältig. Das Schlagwort von der
Vielfalt meint nicht nur die Religionen, wie wir sie unter grossen Begriffen wie
«Christentum», «Islam», «Buddhismus» usw. kennen oder zu kennen meinen.
Die religiösen Gemeinschaften, die im Kanton Bern und durch die Zuwanderung
von Menschen aus aller Welt entstanden sind, gehen in diesen grossen Traditionen
bzw. Begriffen allein nicht auf. Es gibt wesentlich mehr verschiedene
Religionen, Strömungen, Traditionslinien, Verehrungsformen, Auslegungen,
Glaubenssysteme, Anbetungsstätten, Vorstellungen, Weltbilder und Arten von
Gebet und Meditation, als im Allgemeinen wahrgenommen wird.
Dieses Handbuch präsentiert zwei Dinge: Es ist zum einen eine allgemeine
Religionskunde, die – wenn auch notgedrungen sehr knapp – einführend grundlegende
Informationen über die Religionen wiedergibt: zentrale Glaubensinhalte
und Praxisformen, die allgemeine Geschichte usw. Zum anderen – und das ist der
eigentliche Schwerpunkt – ist es eine Berner Religionskunde, die die Religionen,
wie sie hier in der Region präsent sind, erfasst und beschreibt. Das Handbuch
entstand zwischen 2006 und 2008. Wenn wir auch bemüht waren, gegen Ende
alles noch einmal zu aktualisieren, stellt es natürlich eine Momentaufnahme dar,
bei der einiges bald veraltet. Die Grundinformationen zu den Glaubensinhalten
und auch die lokalen Geschichtsdarstellungen behalten natürlich ihren Wert,
sodass das Buch selbst dann, wenn die eine oder andere Adresse oder Mitgliederzahl
nicht mehr stimmen sollte, immer noch von Nutzen sein wird.
Fremdes und Unbekanntes erzeugt Verunsicherung und daher oft Angst.
Das Wissen um Fakten, Bedeutungen und Hintergründe trägt dazu bei, Ängste
zu überwinden; Wissen ist somit die Voraussetzung für Toleranz, Anerkennung
und Respekt. Ohne diese Eigenschaften ist ein friedliches Zusammenleben
schwierig. Und nicht zuletzt kann man sich auf einer soliden Wissensbasis auch
leichter klarmachen, wo man selber steht. Das zentrale Anliegen dieses Handbuches
ist es daher, Wissen zu vermitteln und aufzuzeigen, dass Stereotypisierungen,
wie sie in Umlauf sind, mit der Realität oft nicht viel zu tun haben.
Wenn Sie also, liebe Leserin und lieber Leser, auf den folgenden Seiten Bekanntes
bestätigt finden und – was unsere Hoffnung ist – viel Neues erfahren, so hat
das Buch seinen Zweck bereits erfüllt. Unser weitergehendes Anliegen, das von
einem Buch aber nicht eingelöst werden kann, besteht darin, dass das Verstehen
zu Verständnis wird. Verständnis äussert sich darin, wie man im Alltag miteinander
umgeht – und das liegt bei Ihnen.
Die Autorinnen und Autoren und der Herausgeber
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Über dieses Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Dank und Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Wie der Kanton Bern wurde, was er ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Interreligiöser Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Verzeichnis der religiösen Gemeinschaften im Kanton Bern . . . . . . . . . . . . . 36
Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Schulübergreifende buddhistische Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Theravada-Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Mahayana-Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Tibetischer Buddhismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Katholisches Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Protestantisches Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Evangelische Kommunitäten und Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . 167
Freikirchen und unabhängige christliche Religionsgemeinschaften
mit protestantischem Hintergrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
Orthodoxe Ostkirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Vorchalzedonensische bzw. altorientalische Kirchen. . . . . . . . . . . . . . . . . 361
Überkonfessionelle Werke, Zusammenschlüsse und Aktionen –
Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
Im Christentum wurzelnde neuoffenbarerische Gemeinschaften . . . . . . 385
Indische Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern
Sikhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Neuere indischstämmige Religionsbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
Sunniten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 488
Schia/Schiiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
Aleviten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510
Ahmadiyya/Ahmadiyya Muslim Jamaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
Exkurs: (Neo)Sufismus im Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518
Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521
Neue religiöse Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
Esoterikkultur als unorganisierte Religiosität − Überblick . . . . . . . . . . . . 574
Neuheidnisch-keltisch-naturreligiöse Szene − Überblick . . . . . . . . . . . . . 586
Parapsychologie – ein religiöses Thema? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
Rosenkreuzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
Satsang-Szene − Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605
Theosophie und ihre Ableger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610
UFO-Szene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634
Yoga-Szene − Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
Über dieses Buch
Religionswissenschaftliche Grundlegungen –
Grundlegendes zur Religionswissenschaft
Religionen zu erforschen und darzustellen, ist etwas, was von einigen für
unmöglich gehalten wird. Manche sprechen vom «Wesen der Religion», das nur
demjenigen zugänglich sei – jenseits der Worte und des rationalen Verstandes –,
der sich völlig öffnet, es erfühlt und der es wahrhaftig verstehen kann, kurz:
dem Gläubigen. Andere sind davon überzeugt, dass alle religiösen Vorstellungen
menschliche Fantasien und (Fehl-)Deutungen natürlicher Ereignisse sind. Die
Religionswissenschaft vertritt keinen dieser Ansätze. Als akademische Disziplin
ist sie wissenschaftlichen Grundsätzen verpflichtet und kann sich also nur mit
denjenigen Dingen sinnvoll beschäftigen, die mit wissenschaftlichen Methoden
zugänglich sind. Das sind zum Beispiel Verhaltensweisen, Dokumente und
materielle Artefakte, soziale und politische Strukturen, ästhetische Erscheinungen,
menschliche Aussagen und historische Prozesse. Nicht zugänglich sind
ihr die Dreieinigkeit Gottes, Baumgeister, das Nirwana, die Seelen der Lebenden
und der Toten, astrale Ebenen, die Zukunft, die absolute Wahrheit, die Natur
allen Seins oder eben das «Wesen der Religion». Da wir als Religionswissenschaftler
nur die Kommunikationen über diese Dinge untersuchen können –
diese, als kulturelle Leistung der Menschen, allerdings recht genau –, sind wir
also auch nicht in der Position zu entscheiden, wer über diese Dinge «richtig»
oder «falsch» spricht.
Kultur- und religionswissenschaftliche Wahrheit ist keine metaphysische
Wahrheit – was für eine Disziplin, die Religionen zum Gegenstand hat, also
Kulturleistungen, in denen metaphysische Aussagen eine zentrale Rolle spielen,
eine gewisse Schwierigkeit bedeutet. Diese wird dadurch gelöst bzw. umgangen,
dass die Religionswissenschaft sich in diesen Fragen grundsätzlich eines Urteils
enthält. Wir können zwar sagen, dass es verschiedene Interpretationen der Bibel
und vielfältige Deutungen des Weltenlaufs gibt – und auch, wie diese im Zusammenhang
mit ihrer jeweiligen Geschichte zu sehen sind, aber wir können nicht
entscheiden, welcher Interpret die richtige Lesart vertritt. Über die übersinn-
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern
lichen Dinge und Wahrheiten sprechen die Gläubigen – wir können sie nur
zitieren. Daher finden die Leserinnen und Leser in den Abschnitten, wo es um
die religiösen Lehrinhalte geht, meist die Zitatform oder die indirekte Rede.
Dies geschieht aus Gründen der wissenschaftlichen Distanz, nicht um Zweifel
anzuzeigen!
Um ihre Sicht angemessen zu berücksichtigen, wurde für dieses Buch, das ja
eines über die Religionen ist, mit den Vertreterinnen und Vertretern der Religionen
zusammengearbeitet. Es war uns ein Anliegen, die Artikel gemeinsam mit
den Gemeinschaften zu erarbeiten. Tatsächlich ist es uns fast immer gelungen,
kompetente Gesprächspartner zu finden und später auch die fertigen Artikel
von ihnen gegenlesen zu lassen. Dennoch blieb das letzte Wort bei uns; im Falle
von Meinungsverschiedenheiten haben wir entsprechend unserer fachlichen
(Aussen-)Position entschieden, wie etwas zu formulieren ist. Umso erfreulicher
ist es, dass es keine schwerwiegenden Differenzen gab und dass selbst
bei «heissen Eisen» Formulierungen gefunden werden konnten, denen sowohl
die Religionsgemeinschaften als auch wir Autorinnen und Autoren und unsere
fachkundigen Betreuenden zustimmen konnten.
Wie wurden die Informationen geordnet – und wie
kamen sie eigentlich zusammen?
Die Neutralität gegenüber religiösen Wahrheitsansprüchen findet in diesem Buch
ihren Ausdruck auch darin, dass die Religionen und Gemeinschaften ganz einfach
alphabetisch geordnet sind, wo immer dies inhaltlich zu vertreten war. Irgendeine
Form von Hierarchie – «wichtiger, wahrer, echter, besser als die anderen» – kann
und soll also hier nicht herausgelesen werden. Allerdings bleiben die Traditionen in
Sammelkapiteln (die wiederum meist alphabetisch angeordnet sind) vereint, da so
die geistesgeschichtliche Verwandtschaft und die historische Entwicklung erkennbar
sind und wir einfach Platz sparen konnten: Die jeweiligen Einleitungskapitel
geben knapp wieder, was allen darin eingeordneten Gemeinschaften gemeinsam
ist und wie wichtige Begriffe zu verstehen sind. Man sollte also ein Porträt einer
bestimmten Gruppe zusammen mit der jeweiligen Einleitung lesen. Übrigens gab
es auch bei diesen Zuordnungen nur ganz selten Meinungsverschiedenheiten. In
anderen Überblickswerken zu Religionen erfassen die Kategorienmodelle zur Einteilung
auch das (atheistische) Freidenkertum, Freimaurer und psychologisch-therapeutische
Gemeinschaften; wir haben darauf verzichtet, da es bei diesen mehr als
fraglich ist, ob für sie der Begriff «Religion» überhaupt angemessen ist.
10
Über dieses Buch
Religionsgemeinschaften, also organisierte Gruppen, bilden den Hauptbestandteil
der Darstellungen, jedoch gibt es sowohl innerhalb als auch ausserhalb
der religiösen Traditionslinien eine «unsichtbare», wenig oder gar nicht
organisierte Religiosität – das gilt besonders für religiöse Entwicklungen aus der
jüngeren Vergangenheit. Für diese haben wir in Form von Überblicksartikeln
«Szene»-Porträts verfasst. Manche dieser Überblicksartikel sind aber zugleich
auch Einleitungen, wo es innerhalb der Szenen doch feste Organisationen gibt.
Der allgemeine religionskundliche Teil – er macht einen mehr oder weniger
grossen Abschnitt der einzelnen Gruppenporträts, vorwiegend aber die Einleitungen
aus – stützt sich auf Darstellungen zu den Religionen, wie sie vielerorts
zugänglich sind, insbesondere auf Bücher und Internetquellen (sowohl von Religionsgemeinschaften
selbst wie auch von Aussenstehenden). Zugleich gaben uns
die lokalen Gemeinschaften zu diesen Grundlagen Auskünfte; das geschah zwar
nicht zentral, und es war ja auch nicht unser hauptsächliches Anliegen, aber im
Zuge des Gegenlesens der jeweiligen Porträtartikel sahen sie natürlich, was wir
neben der konkreten Berner Situation noch beschrieben hatten, und konnten so
Ergänzungen anbringen. Die Informationen über die Berner Gemeinschaften
und ihre konkrete Situation wurden mithilfe eines kleinen Fragebogens gesammelt.
In diesem fragten wir nach dem Namen der Gemeinschaft (allgemein und
speziell in Bern), nach dem Gründungsdatum und der Geschichte vor Ort, der
zahlenmässigen Grösse, der Organisationsform, besonderen Ereignissen und
Aktivitäten in der Region, dem Verhältnis zur Öffentlichkeit und nach Kontaktmöglichkeiten.
Den Fragebogen benutzten wir als Notizblatt bei den Gesprächen,
wir verschickten ihn per Mail, Fax oder Brief, und wir verteilten ihn zugleich als
Visitenkarte, denn unsere Adresse und unser Anliegen waren darauf ebenfalls
angegeben. Es ist also zu berücksichtigen, dass nicht alle Daten und Angaben
von uns anhand unabhängiger Quellen überprüft werden konnten. Wir haben
daher auf das vielerorts so beliebte Tabellenformat verzichtet, in dem Daten wie
Gründungsjahr, Zahl der Mitglieder und Geistlichen usw. auf den ersten Blick
sicht- und vergleichbar werden. Eine derartige Form hätte eine Exaktheit vorgetäuscht,
die wir nicht zu erbringen vermochten.
Kann man Religion zählen – und wie viele Religionen
gibt es nun im Kanton Bern?
Schon etwas so scheinbar Einfaches wie Mitgliederzahlen können ein Problem
sein: Kirchen haben zwar gut zugängliche Statistiken, viele andere Gruppen aber
11
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern
nicht. Mitglieder von Freikirchen gehören zum Beispiel oft gleichzeitig der Reformierten
Landeskirche an. Muslimische Vereine zählen mitunter nur Männer;
die aber können als Familienoberhäupter viele Angehörige repräsentieren oder
als Arbeiter mit einer zeitweiligen Aufenthaltsbewilligung auch alleinstehend
sein. Manche Gruppen erscheinen gerne grösser, als sie sind, andere geben nur
die formalen Vereinsmitglieder an und berücksichtigen sonstige Teilnehmende
nicht, einige zählen nur die überzeugten und aktiven Gläubigen als Mitglieder,
andere jeden, der einmal auf irgendeiner Liste stand, wieder andere Gruppen
wären am liebsten unsichtbar und zählen überhaupt nicht usw.
Dennoch gibt es in diesem Handbuch klare kategoriale Einteilungen und
Gruppenporträts. Diese wie auch die hier und da angeführten Zahlen und Statistiken
verführen dazu zu fragen, wie viele Religionen und Gemeinschaften es
denn nun im Kanton gibt. Dieses Handbuch enthält knapp 200 Gruppenporträts.
Aber: Lokale Gemeinden gibt es wesentlich mehr! Die Reformierte Landeskirche
hat zum Beispiel im Kanton Bern schon allein über 200 Gemeinden. Gezählt
wurde die Landeskirche von uns aber nur als eine einzelne Organisation, als
eine Religionsgemeinschaft, und so erklärt sich auch die so auffällige Schieflage
im Inhaltsverzeichnis gegenüber den rund 80 Freikirchen, die wir im Kanton
gefunden haben. Dennoch ist die reformierte Kirche allein mindestens ebenso
vielfältig wie die Freikirchen zusammen, viel grösser als diese alle zusammen ist
sie sowieso. Die römisch-katholische Kirche hat sogar verschieden viele lokale
Gemeinden, je nachdem, ob man landeskirchlich verfasste Kirchgemeinden oder
kirchenrechtliche Pfarreien zählt (dazu kämen dann noch Orden und Vereine).
Als Kirche versteht sie sich aber ganz eindeutig als eine Einheit – und so wurde
sie hier auch gezählt. Weitere Beispiele: Der Evangelische Brüderverein hat über
50 Versammlungsorte im Kanton, der Diyanet-Moscheen-Verband drei und die
Anthroposophische Gesellschaft vier – doch jeder dieser Namen steht über nur
einem Artikel für eine Religionsgemeinschaft. Würde man also nicht die Religionsgemeinschaften
zählen, sondern die lokal erkennbaren religiösen Gruppen
(wozu dann noch die ganzen speziellen Vereine und Organisationen innerhalb
der Religionsgemeinschaften zu addieren wären), so käme man im Kanton Bern
sicher auf eine vierstellige Zahl. So erklärt es sich auch, warum Claude Humbert
für die Stadt Zürich allein auf 370 und die Herausgeber des Freiburger Buches
für ihre Stadt und das nahe Umland auf über 100 Institutionen gekommen sind:
Sie haben anders, nämlich jede lokale Gruppe einzeln gezählt (in der grossen
Freiburger Zahl sind zum Beispiel allein rund 80 römisch-katholische Gruppen
verborgen). Will man dann noch berücksichtigen, dass Doppelmitgliedschaften
12
Über dieses Buch
in verschiedenen Gemeinschaften häufig sind, dieselben Menschen also mehreren
Gruppen angehören, oder viele Menschen sich nirgendwo zuordnen, wird
die religiöse Landschaft endgültig unzählbar.
Formale Hinweise
· Lehrinhalte und Glaubensgrundsätze können nur in knapper Form wiedergegeben
werden. Auf die Tiefe der Theologien, Lehrtexte, Ritualformen,
Lebensweisen, Traditionen und Erlebniswelten können wir nur hinweisen,
adäquat abbilden können wir sie hier nicht. Zudem mussten wir sie manchmal
«übersetzen», da häufig ein ganz spezifischer interner Sprachgebrauch vorherrscht.
Zudem werden diese Glaubensaussagen von uns nur in indirekter
Rede oder in Zitatform wiedergegeben. Wer tiefer in die Materie eindringen
will, sollte sich an die Gemeinschaften selbst wenden.
· Wir verwenden eine einfache und einheitliche Schrift. Die einzelnen Sprachen
erfordern bei ihrer Übertragung ins Deutsche zwar häufig Sonderzeichen
und Umschriften, doch haben wir darauf der flüssigen Lesbarkeit
wegen verzichtet. (Die philologisch Gebildeten an unserem Institut waren
entsetzt …) Wir hoffen, dass es dadurch nicht zu sinngemässen Verschiebungen
gekommen ist.
· Durchgängig wurde – ab jetzt – die männliche Form gewählt. In der Regel
meint das beide Geschlechter, doch wir haben uns da an die Konventionen
der deutschen Sprache gehalten. Wenn Geschlechter unterschiedlich
zu beschreiben sind, weil sie zum Beispiel von der jeweiligen Gemeinschaft
oder Lehre verschieden gesehen werden, so haben wir das explizit ausgeführt.
· Den Begriff «Sekte» wird man in diesem Buch – zumindest als von uns
gebrauchte Kategorie – vergeblich suchen. Das Wort ist emotional aufgeladen,
wirkt stigmatisierend und ist wissenschaftlich schlicht unbrauchbar.
Oft versteht man darunter eine kleine, strenge, fest organisierte, recht junge
und irgendwie wunderlich oder gar gefährlich erscheinende Gruppe. Schaut
man sich die hierzulande «üblichen Verdächtigen» an, stellt man fest, dass
derartige Zuschreibungen aber nie genau passen. Und umgekehrt: Weitet
man den Rahmen, so sieht man schnell, dass irgendwann in der Geschichte
und irgendwo auf der Welt wohl jede religiöse Tradition derartige Kriterien
mal erfüllt hat oder heute noch erfüllt. Was nicht heisst, dass nicht einzelne
Gemeinschaften durchaus kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert werden.
13
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern
Das haben wir dann jeweils auch erwähnt.
· Kontaktangaben zu den Gemeinschaften geben die zentrale Stelle im Kanton
an. Fast immer gibt es ohnehin nur wenige Treffpunkte und häufig sogar nur
einen. In den Fällen, wo es viele Orte sind, wie zum Beispiel bei grösseren
Kirchen, kann nur ein zentraler Kontakt angegeben werden. Adressangaben
beziehen sich auf die im Titel genannte Gemeinschaft, ein gesonderter Name
wird in «Kontakt» nur dann angegeben, wenn dieser vom Gemeinschaftsnamen
(= Titel des Artikels) abweicht. Ein komplettes Adressbuch der kantonalen
Religionen haben wir also nicht erstellt. Ein Tipp: Die Homepages
vieler Gruppen geben oft alle Adressen an, sie sind zudem ohnehin die aktuellen
Stellen für Auskünfte.
· Einige längere Artikel – die Einleitungen sowieso, doch auch manche Gruppenporträts
– sind der guten Lesbarkeit wegen durch Zwischenüberschriften
unterteilt, bei kürzeren ist das nicht der Fall. Ausser zur optischen Strukturierung
der Texte verfolgte dieses Vorgehen keinen weiteren Zweck; es
geschah daher auch nicht durchgehend oder einheitlich.
14
Über dieses Buch
Dank und Literaturhinweise
Dieses Handbuch wäre ohne die Unterstützung vieler wohlmeinender und kompetenter
Menschen nicht möglich gewesen. Da es schwer ist, sie in einer vernünftigen
Reihenfolge aufzuzählen, sei hier mit denen begonnen, die namenlos
bleiben müssen, weil es so viele sind und weil sie uns mitunter auch gar nicht
persönlich bekannt sind.
Unser Dank gilt zuallererst den vielen Informanten in den religiösen Gemeinschaften
selbst. Mit grosser Geduld und lebhaftem Interesse haben sie in Telefonaten,
Faxen, E-Mails und bei persönlichen Gesprächen die Informationen
geliefert, die den Grundstock bilden. Bei den Gemeinschaften haben wir uns
nicht nur zu bedanken, wir haben uns auch bei ihnen zu entschuldigen, wenn
wir Informationen aus ihren Druckschriften und Internetseiten entnommen
haben, ohne diese Quellen – der Lesbarkeit wegen – immer exakt zu belegen.
Beratend und unterstützend haben uns viele Menschen geholfen, die einen
prüfenden Blick auf das Entstehende warfen oder anderweitig Informationen
lieferten: Martin Baumann, Stefan Bittner, Sven Bretfeld, Maya Burger, Saara
Folini-Kaipainen, Eva Funk, Wilf Gasser, Nils Grübel (und die anderen Kollegen
aus Berliner Tagen), Gerda Hauck, Sabine Jaggi, Karénina Kollmar-Paulenz,
Silvia Liniger, Christian Münch, Albert Rieger, Christine Saxer, Benz Schär, Jens
Schlieter, Hugo Stamm, Oliver Steffen und Jörg Stolz. Die Mitwirkung der Kollegen
sowie der Studierenden und Absolventen am Institut zeigte immer wieder,
dass fachliche Kompetenz durch nichts zu ersetzen ist.
Insbesondere aber sind die Namen derjenigen zu nennen, die einzelne
Abschnitte der Arbeit ganz übernahmen, die als Rechercheure «ins Feld gingen»
und eigenständig Artikel erarbeiteten: Ananda von Aesch-Shaked, Carole
Berthoud, Philipp Eyer, Judith Hess, Simon Kuerth, Susanne Leuenberger,
Melanie Meichle, Mary Ann Miller, Nadine Plachta, Claudia Rehmann, Hildi
Thalmann, Yildiz Helena Ünver, Ursina Wälchli, Sarah Werren und Florine
Zingre. Es war ein grosses Vergnügen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Ihre
Beiträge sind mit ihrem Namen gekennzeichnet (nicht gekennzeichnete Beiträge
oder solche mit dem Vermerk S. R. in der Autorenzeile stammen ganz oder
teilweise vom Herausgeber).
Wir haben natürlich auch so manches abgeschrieben. Gerade Hintergrundinformationen
konnten wir gar nicht alle erfragen, das hätte jeden zeitlich vernünftigen
Rahmen gesprengt. In den Recherchegesprächen und -korrespon-
15
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern
denzen haben wir uns auf die Berner Situation konzentriert. Vor allem aus
folgenden Quellen haben wir viele Informationen übernommen (neben den im
Text genannten). Sie seien hiermit zentral aufgeführt, um der wissenschaftlichen
Belegverpflichtung wenigstens ansatzweise nachzukommen und um sie zugleich
auch allen Interessierten zum weiteren Studium zu empfehlen:
Historisches Lexikon der Schweiz (2002 ff.), Basel/Hauteville/Locarno
(www.hls-dhs-dss.ch)
Der Kanton Bern in Zahlen 2004/05, hrsg. von der BEKB/BCBE in Zusammenarbeit
mit der bernischen Kantonsverwaltung
Schmid, G./Schmid, G. O. (Hrsg.): Kirchen – Sekten – Religionen. Religiöse
Gemeinschaften, weltanschauliche Gruppierungen und Psycho-Organisationen
im deutschen Sprachraum, Zürich 2003 (7., überarbeitete Auflage des
«Eggenberger»)
Guggisberg, K.: Berner Kirchengeschichte, und ders.: Berner Kirchenkunde,
beide Bern 1958
Gerber, E.: Sekten, Kirche und die Bibel im neuen Jahrtausend, Bern/Langnau/
Murten 1999
Campiche, R. J. (Hrsg.): Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung,
Zürich 2004 (Fortsetzung der Studie: Croire en Suisse(s)/Jede(r)
ein Sonderfall?, hrsg. 1993 von A. Dubach und R. J. Campiche)
Baumann, M./Stolz, J. (Hrsg.): Eine Schweiz – viele Religionen, Bielefeld 2007
(siehe auch www.religionenschweiz.ch).
Es sei hier auch auf die anderen regionalen «Religionsführer» verwiesen, die
inzwischen für Städte und Regionen erschienen sind:
Baumann, C. P. (Hrsg.): Religionen in Basel-Stadt und Basel-Landschaft, Basel
2003
Bleisch-Bouzar, P./Rey, J./Stoffel, B./Walser, K.: Kirchen, Wohnungen, Garagen.
Die Vielfalt der religiösen Gemeinschaften in Freiburg, Freiburg 2005
Humbert, C.-A.: Religionsführer Zürich: 370 Kirchen, religiös-spirituelle Gruppierungen,
Zentren und weltanschauliche Bewegungen der Stadt Zürich,
Zürich 2003
Grübel, N./Rademacher, S. (Hrsg.): Religion in Berlin. Ein Handbuch, Berlin
2003
Religionswissenschaftliches Seminar der Universität Luzern: Religionsvielfalt
im Kanton Luzern, Faltprospekt, Luzern 2. Auflage 2005 (Erstauflage 2004)
16
Über dieses Buch
Wertvoll waren auch folgende Internetseiten:
www.inforel.ch, www.relinfo.ch, www.remid.de, www.religionen-luzern.ch,
www.unil.ch/ors
Die materielle Unterstützung der Projektarbeit erfolgte durch die Universität
Bern und insbesondere durch das Institut für Religionswissenschaft; den Druck
des Buches haben die UniBern Forschungsstiftung, die Reformierten Kirchen
Bern-Jura-Solothurn und das Amt für Kultur des Kantons Bern/Swisslos mit
einer finanziellen Gabe unterstützt. Ihnen sei hiermit herzlich gedankt!
17
Einführung
Wie der Kanton Bern wurde, was er ist
Wann die Religionsgeschichte der Region Bern beginnt, ist unbekannt. Besiedelt
ist die Gegend schon seit mindestens 50 000 Jahren. Die Römer, die kurz
vor Beginn unserer Zeitrechnung hierher kamen und mit denen so etwas wie
Geschichtsschreibung einsetzt, trafen auf seit vielen Jahrhunderten hier siedelnde
Kelten und auf im ersten vorchristlichen Jahrhundert eingewanderte
Helvetier (ein keltischer Stamm) mit je eigenen religiösen Vorstellungen und
Bräuchen. Über diese gibt es mehr Vermutungen und Legenden, als die rudimentären
Berichte (von Aussenstehenden; über eine eigene Schrift verfügte
diese «Ur-Schweizer» nicht) und archäologische Funde an Informationen hergeben.
Das keltisch-römische Wort «Dunum» verweist auf die vorrömischen
Siedlungskerne von Thun und Solothurn; keltische Burganlagen sind vielerorts
gefunden worden. Der «Vicus», die römische Siedlung nördlich von Bern,
umfasste Tempel, die das religiös-kulturelle Zentrum für die ganze Region bildeten,
allerdings wohl im 3. Jahrhundert verschwanden. Zwei weitere römische
Kultzentren befanden sich nahe Muri und am Thunersee im heutigen Allmendingen.
Viele kulturelle und religiöse Elemente vermischten und ergänzten sich
im Laufe der Zeit. Auf der Engehalbinsel nördlich von Bern entstand die christliche
St.-Ägidius-Kapelle über den Ruinen eines römischen Tempels, der wiederum
ein keltisches Heiligtum überdeckt – Zeichen für eine kulturelle Kontinuität,
die Orte «heilig» bleiben lässt, auch wenn der Glaube ein anderer wird. In
neueren Vorstellungen tauchen als Erklärung für derartige «Kraftorte» geheimnisvolle
energetische Linien und ihre Kreuzungspunkte auf – auch eine Art von
religiöser Kontinuität.
Im 6. Jahrhundert erfolgte die allmähliche Einwanderung von Alemannen
aus dem süddeutschen Raum, während die Region kulturell aber eigentlich nach
Westen, ins Burgundische orientiert war. Damit wurden kulturelle Weichen
gestellt und u. a. die Sprachgrenze zwischen dem Deutschen/Alemannischen
und dem Romanischen fixiert.
Ein christlicher Einfluss war auch schon bemerkbar, bevor im 6. Jahrhundert
irische Mönche in die Gegend kamen. Doch erst sie missionierten erfolgreich
und errichteten die ersten Kirchen und Kapellen, von denen wir heute
noch Zeugnis haben. In den folgenden Jahrhunderten schritt die Christianisierung
stetig voran, Ansiedlungen von Klöstern und Orden folgten, überall entstanden
Kirchen. Für das Mittelalter kann man von einem intensiven religiösen
21
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern
Leben sprechen, das – nach heutigen Begriffen – im katholischen Bekenntnis
und Ritual bestand. Von jüdischem Leben gibt es indirekte Zeugnisse, so zum
Beispiel einen stadtbernischen Grabstein aus dem späten 13. Jahrhundert. Es
spricht allerdings einiges dafür, dass hierzulande zum jüdischen Gott schon
früher gebetet wurde als zu seinem Sohn.
Die Stadt Bern wurde offiziell im Jahre 1191 von den Zähringern gegründet,
allerdings bestand eine Ansiedlung an der Spitze der Aarehalbinsel bereits
vorher. Die Stadt erlangte bald Reichsunabhängigkeit und verwaltete sich selbst.
Durch eine geschickte Machtpolitik wuchs ihr Einflussbereich stetig. Religiös
war die Region den Bischöfen in Konstanz, Basel und Lausanne unterstellt; die
stadtbernische Region gehörte zu den Bistümern Lausanne und Konstanz, die
hier am Aarelauf aneinandergrenzten. 1276 löste sich Bern kirchlich von Köniz,
wo eine Komturei des Deutschritterordens ein wichtiges ökonomisches und religiöses
Zentrum bildete, und wurde damit zu einer eigenständigen Kirchengemeinde.
Neben einem stattlichen Kirchen- und Klosterbau und einer ausgeprägten
Freude an Reliquien sollen aber auch Verfallserscheinungen bemerkbar gewesen
sein; besonders um die Sittlichkeit der Kleriker schien es schlecht bestellt zu
sein.
1528 wurde die Reformation nach Zwinglis Muster durchgeführt. Innerhalb
kurzer Zeit verschwand die katholische Form des Christentums. Schon zu Reformationszeiten
verlief die Grenze zwischen Deutsch und Welsch durch das Bernbiet.
Mancherorts sollte sie auch zur Bekenntnisgrenze werden. Bestand anfangs
noch eine gewisse Toleranz in Glaubensdingen, verschwand diese bald. Während
des sog. Konfessionalismus gab es offiziell nur noch zwinglianisch Reformierte
in der Region. Allerdings trügt der Schein der Einheitlichkeit: Von Reformationsbeginn
an sollte das Täuferwesen eine erhebliche Wirkung entfalten. Die
Regionen, in denen es besonders aktiv war, Oberland und Emmental, blieben
ein Hort besonders bibelfester Religiosität. Über die Pietisten und weitere Erweckungswellen
reicht die Tradition – trotz Verfolgung bis ins 18. Jahrhundert
hinein – bis in die Gegenwart: Im Süden und Osten des Kantons erstreckt sich
auch heute noch ein «Bible Belt» engagierter Freikirchlichkeit.
Viele Denker schlossen aus den konfessionell begründeten Gewaltexzessen
des Dreissigjährigen Krieges, dass Religion sich zur Integration des Staates nicht
gut eigne. Sie dachten über andere Mechanismen nach, und die Französische
Revolution kann als Versuch betrachtet werden, solche Mechanismen, wie sie
von den Aufklärern formuliert wurden, in Funktion zu setzen. Muss dieses
22
Einführung
Experiment auch als gescheitert betrachtet werden, so war dennoch die Idee der
religiösen Toleranz und der Freiheit des Bürgers in Glaubensdingen nicht mehr
zurückzuzwingen unter den geistlichen Baldachin eines einzelnen, staatlich
sanktionierten Bekenntnisses. Napoleons Truppen hatten 1798 nicht nur das
patrizische Bern unwiderruflich untergehen lassen, im Gefolge dieser Ereignisse
implementierte man auch neue Ideen darüber, wie ein Staatswesen zu organisieren
ist und wie es sich zur Religion zu verhalten habe. Mit der Mediationsakte
von 1803 erhielten dann die Kantone wieder die Zuständigkeit für die kirchlichen
Angelegenheiten, wobei in der Folge neuer Grenzziehungen eine oder
zwei Staatsreligionen (die reformierte, die katholische oder beide) festgesetzt
wurden. Mehr als die Hälfte der Kantone besassen nun Territorien mit unterschiedlicher
(oder paritätischer) konfessioneller Tradition. Dieser Umbruch, der
in der ganzen Schweiz die weltlichen und kirchlichen Verhältnisse durcheinanderwirbelte,
traf im Kanton Bern nur die reformierte Kirche – sie war in der Zeit
davor schliesslich die einzige anerkannte Religionsgemeinschaft gewesen. Und
sie sollte es – zumindest formal – auch danach wieder sein. Jedoch liess sich
die Anerkennung der Tatsache, dass die religiöse Landschaft eigentlich bunt ist,
zum Beispiel durch die angegliederten Katholiken im Jura, durch Freikirchler
und Juden sowie durch Einwanderer (Hugenotten, Lutheraner, Anglikaner) und
Reisende nicht mehr zurückhalten. Und bei immer mehr gebildeten Bürgern
keimte der Wunsch, selbst zu entscheiden, was der eigene Glaube ist. Das alles
brachte im Laufe des 19. Jahrhunderts den mehr und mehr religionstoleranten
modernen Schweizer Bundesstaat hervor. In Bern wurde 1831 eine repräsentativdemokratische
Verfassung installiert. Weitere Fortschritte brachte die Bundesverfassung
von 1848, so zum Beispiel die Glaubens- und Kultusfreiheit für anerkannte
christliche Kirchen. Die Berner Staatsverwaltung musste dann durch das
mächtigere Bundesrecht erst dazu gezwungen werden, nun auch anderen religiösen
Gruppen minimale Rechte einzuräumen. Erst die revidierte Version von
1874 erweiterte diese Rechte auch auf andere Religionen, sodass auch die lang
unterdrückten Juden endlich eine Art Gleichberechtigung erlangen konnten.
Diese aufklärerische Haltung, ebenso die Erkenntnisse der Naturwissenschaften,
welche gerade im 19. Jahrhundert von Erfolg zu Erfolg schritten und
die fundamentale Lehren der Bibel infrage stellten, riefen Gegenbewegungen
hervor. Eine war die Romantik, sie prägte zwischen 1790 und 1830 eine ganze
Generation europäischer Künstler und Denker. Neue christliche Erweckungsbewegungen
erlangten eine herausragende Bedeutung für die weitere Entwicklung
des Christentums. Sie brachten eine grosse – mehr oder weniger anerkannte –
23
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern
innerchristliche Vielfalt hervor: 1884 nannte ein kirchlicher Bericht die Zahl von
6000 «Sektierern» verschiedenster Couleur im Kantonsgebiet; sie waren allerdings
alle Angehörige christlicher Gruppen. Doch vereinzelt, fast noch unbeachtet
bzw. nur als seltsame Exotik beäugt, tauchten fremde «morgenländische»
Lehren auf. Die multireligiöse Gegenwart kündigte sich an.
Im Laufe der Geschichte hat sich übrigens der Grundriss des Kantons mehrfach
verändert. Beispielsweise war das Berner Oberland zwischen 1789 und
1802 ein völlig eigenständiger Kanton. Zugleich sank Bern von einer autonomen
politischen Einheit zu einem von 18 Verwaltungsterritorien der zentralistischen
«Helvetischen Republik» herab. Die Stadt Bern wurde dafür erstmalig
die Hauptstadt der ganzen Schweiz. Der Jura dagegen gehörte bis 1815 zum
Fürstbistum Basel, wurde also auch nicht reformiert bzw. war gar zwischenzeitlich
ein Bestandteil des französischen Staates. Dann gliederte man den Jura
dem reformierten Bern an – doch er blieb katholisch. Auseinandersetzungen
mit jurassischen Separatisten begannen 1947, und 1979 erfolgte die Abtrennung
des grössten Teils als eigener Kanton. 1994 wechselte das Laufental zum Kanton
Basel-Landschaft und 1996 die Gemeinde Vellerat zum Kanton Jura – jedes Mal
nahm so v. a. die Zahl der Katholiken im Kanton Bern wieder ab.
Die heutige Situation
Am 1. Januar 2003 lebten 950 209 Personen im Kanton Bern. Selbstverständlich
herrscht die christliche Religion deutlich vor: 83 Prozent der Menschen gehörten
einer der drei Landeskirchen an. Doch zunehmend ist eine Abwendung vom
christlichen Glauben festzustellen, sichtbar an sinkenden Mitgliederzahlen, verursacht
durch Kirchenaustritte, eine sich vermindernde Zahl der Taufen, aber
auch durch Wegzüge und erkennbar an den sich leerenden Kirchen. So sank die
Zahl der Angehörigen der reformierten Kirche allein in der Stadt Bern zwischen
1990 und 2000 von 77 400 auf 60 500 (= 47 Prozent der Einwohner) – ein Rückgang
um über ein Fünftel in nur zehn Jahren. Sie ist somit zwar noch immer die
grösste Religionsgemeinschaft in der Stadt, jedoch nicht mehr die Kirche der
Bevölkerungsmehrheit. Im ganzen Kanton allerdings gehören ihr 607 000 Menschen,
also 67 Prozent der Einwohner an.
Auch die römisch-katholische Kirche, in der Stadt Bern mit ca. 25 Prozent
Bevölkerungsanteil die zweitgrösste Religionsgemeinschaft, hat im selben Zeitraum
in der Stadt einen Rückgang um über 5000 Personen zu verzeichnen.
Im Kanton sind 16 Prozent der Bewohner Katholiken. Unter ihnen sind viele
24
Einführung
Zuwanderer: Rund ein Drittel der Katholiken im Kanton sind Ausländer (zum
Vergleich: bei den Reformierten machen sie nicht einmal 5 Prozent aus).
Wie bereits erwähnt, besteht eine lebendige Szene der Freikirchen. Es handelt
sich dabei um ein Milieu, in dem ständig neue Gemeinschaften entstehen;
manche verschwinden aber auch. Insbesondere jüngere Freikirchen verzeichnen
Zulauf, einige ältere müssen dagegen einen Rückgang ihrer Mitgliederzahlen
verzeichnen. Untersuchungen aus anderen Regionen zeigen, dass junge Freikirchen
oft von den alten leben (das heisst, dass ihre Neumitglieder von dort
kommen) und in kleinerem Masse von den Landeskirchen; eine Missionierung
zuvor nicht christlicher Menschen ist bei ihnen eine Ausnahme. Nominell gibt
es allein in der Stadt Bern rund 2600 Freikirchler. Von diesen gehören aber viele
gleichzeitig zur Reformierten Landeskirche (bzw. viele nur in der Landeskirche
gezählte Menschen engagieren sich zugleich in einer Freikirche). Der Protestantismus
ist damit intern ein besonders deutliches Zeichen religiöser Pluralität.
Dafür verantwortlich sind die immer wieder aufbrechenden Erweckungsbewegungen,
Missionsaktivitäten der bestehenden Freikirchen selbst sowie der
Zuzug von Ausländern, die ihre spezielle Kirchlichkeit zum Beispiel aus Afrika
mitbringen.
Die verstärkte Zuwanderung seit dem 19. Jahrhundert hat hier nicht nur den
katholischen Glauben in Erscheinung treten lassen und den protestantischen
vervielfältigt, sie brachte auch noch andere Religionen ins Land. Angehörige
orthodoxer Kirchen leben rund 10 000 im Kanton, bei deutlich steigender Tendenz.
So ist in der Stadt Bern die Zahl der Orthodoxen zwischen 1990 und 2000
um über 80 Prozent auf fast 2000 angewachsen. Die Zahl der Muslime ist im
Kanton Bern auf 28 400 (3 Prozent) gestiegen; in derselben Zeit ist ihre Zahl in
der Stadt Bern auf rund 5000 (4 Prozent) angewachsen, was fast eine Verdoppelung
darstellt. Das sind einzig Effekte der Zuwanderung und von Geburten,
nicht solche von Mission oder Übertritten. Ob es im Laufe des Übergangs von
der ersten zur zweiten, dritten usw. hier lebenden Generation bei einem Engagement
in der von den Eltern mitgebrachten Religion bleibt, ob man zum «Feiertagsgläubigen»
wird oder ob die Jugend gar – integriert und angepasst wie ihre
Altersgenossen mit schweizerischem Hintergrund – ebenso wie viele von diesen
fern der Religion stehen wird, kann erst die Zukunft zeigen.
Überhaupt hinterlässt die Immigration die deutlichsten Spuren, wenn diese
auch bisher kaum architektonisch auffällig sind. Im ganzen Kanton leben heute
über 100 000 Ausländer (knapp 12 Prozent der Bevölkerung) aus 167 Ländern,
dazu kommen noch eingebürgerte Menschen mit einem nicht schweizerischen
25
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern
kulturellen Hintergrund. Gerade in Städten besteht inzwischen eine vielfältige
kulturelle Szenerie. In Biel allein zum Beispiel, einer Stadt mit knapp 50 000 Einwohnern,
leben Menschen aus 120 Nationen mit ca. 60 Sprachen.
Neue religiöse Bewegungen zeigen als Kategorie widersprüchliche Entwicklungen:
Einige «klassische», ältere Gemeinschaften, wie zum Beispiel Christian
Science (die aber eher dem christlichen Spektrum zuzurechnen ist) oder die
Anthroposophie, stagnieren oder verzeichnen sogar einen Rückgang. Selbst bei
den einst gerade für junge Menschen so attraktiven Gemeinschaften aus Fernost
gibt es kaum mehr Wachstum. Scientology und manch jüngere Gruppen – v. a.
solche, die sich mit Therapien und Selbstverwirklichung befassen – können hingegen
durchaus Zuwächse verzeichnen. Fast immer ist die Zahl der ihnen angehörenden
Menschen verschwindend gering; so manche ist einige Jahre nach
ihrem Auftauchen nicht mehr auffindbar. Doch kleine, um mitunter eigenartig
anmutende Ideen gescharte Gruppen sind für viele Menschen weiterhin, vielleicht
sogar zunehmend attraktiv. Die Zahl kleiner und kleinster neureligiöser
Gruppen wird heute schweizweit auf über 200 bis 800 geschätzt, sie kann aber
auch – da stark fluktuierend und kaum find-, benenn-, abgrenz- und zählbar –
höher sein.
Die Abwendung von fest organisierten Formen der Religion geht oft einher
mit einer Zuwendung zu formlosen, sehr persönlichen und auch stärker wandelbaren,
den eigenen Bedürfnissen sich anpassenden Vorstellungsmustern.
Man spricht dann eher von Religiosität oder (alternativer) Spiritualität als von
Religion. Derart interessierte Menschen scheint es nicht wenige zu geben. Konkrete
Zahlen gibt es nicht, aber eine ganze Anzahl auf ihre Bedürfnisse ausgerichtete
Geschäfte, sich erfolgreich verkaufenden esoterische Zeitschriften oder
die jährliche, gut besuchte Messe «Esoterik und Gesundheit» scheinen die Vermutung
zu stützen, dass es sich dabei um eine bemerkenswerte «dritte Konfession»
handelt – neben den Angehörigen der «klassischen» Religionen und den
Nichtreligiösen.
Die Zahl der Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, nimmt
deutlich zu. Bei der Volkszählung 2000 gaben allein in der Stadt Bern über 24 000
Menschen (= 19 Prozent; im Kanton 110 000 = 12 Prozent) an, «keine Zugehörigkeit»
zu haben (13 Prozent) bzw. sie machten keine Angabe (6 Prozent). Wie
gross die Zahl der tatsächlich Nichtreligiösen aber wirklich ist, lässt sich so nicht
sagen, denn nicht jeder, der aus einer Religionsgemeinschaft austritt, legt auch
seinen Glauben ab. Andererseits ergaben Befragungen auch, dass in den Kirchen
viele Menschen den Glauben anscheinend völlig verloren haben.
26
Einführung
Interreligiöser Dialog
Seit einigen Jahrzehnten oder – je nach Standpunkt – seit dem Beginn der Religionsgeschichte
gibt es Versuche, Religionen, d. h. religiöse Gemeinschaften und
ihre Repräsentanten, in einen friedlichen und gleichberechtigten Austausch zu
bringen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird dieses Ziel verstärkt und auch systematischer
angegangen. Es gab dazu Grossereignisse mit weltweiter Ausstrahlung,
wie das Weltparlament der Religionen in Chicago 1893 (seither gab es drei
weitere derartige Treffen, das nächste findet 2009 statt) oder die Gebetstreffen
in Assisi sowie viele lokale Aktivitäten. Wie es der Name schon sagt, wird dieser
Dialog von den Religionen selbst geführt; es handelt sich dabei nicht um eine
von politischen, kulturellen oder sonstigen aussenstehenden Instanzen getragene
Angelegenheit. Dialogaktivitäten können, je nach ihren Initianten, unterschiedlich
motiviert sein: Meist besteht das Ziel ganz grundsätzlich darin, das
gegenseitige Kennenlernen zu befördern, sich besser zu verstehen und Vorurteile
und Missverständnisse auszuräumen; manchmal wird versucht, Friedensbestrebungen
eine religiöse Basis zu geben; einige Dialogakteure streben eine
totale Verschmelzung und Vereinheitlichung, eine gemeinsame Spiritualität
oder gar eine Art Metareligion aller Menschen an; teilweise beschränken sich
die Bemühungen auf genau abgesteckte Teilbereiche wie etwa eine praktische
Ethik (zum Beispiel das «Projekt Weltethos» von Hans Küng); und gelegentlich
kann man auch Missions- und Rechtfertigungsversuche darin erkennen.
Manchmal gehen Dialogbestrebungen von engagierten Einzelpersonen aus, ab
und an von marginalisierten religiösen Gruppen, und häufig engagieren sich die
etablierten grossen Religionsgemeinschaften. Die Wichtigkeit einer friedlichen
Kommunikation zwischen den Religionen wird inzwischen weltweit anerkannt,
nur wenige Religionsgemeinschaften lehnen diese von vornherein ab.
Insbesondere vonseiten der Kirchen wird der interreligiöse Dialog auch als
«vertikale Ökumene» (Othmar Keel, s. u.) bezeichnet, was auf den Zeitpfeil und
auf eine historische Verschränkung der Religionen (besonders der «abrahamitischen»
Religionen Judentum, Christentum und Islam) verweist, während die
klassische christliche Ökumene «horizontale Ökumene» ( Christentum – Einleitung)
genannt wird. Eine andere Nutzung des ursprünglich rein christlichen
Begriffs «Ökumene» stellt die Nebeneinanderstellung einer «grossen Ökumene»
(interreligiöser Dialog) und einer «kleinen Ökumene» (innerchristlicher Dialog)
dar.
27
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern
Schweiz
Viele der heute bestehenden Dialoginstitutionen sind aus Einrichtungen der
(sozio-kulturellen) Integrationsarbeit für Migranten hervorgegangen. Das war
ein durchaus natürlicher Prozess der ökumenischen Erweiterung: Die früheren
Immigranten kamen meist aus katholischen Ländern, sodass die Arbeit mit
ihnen und für sie den Rahmen des Christentums nicht überschritt. Die neuen
Dialogeinrichtungen verkörpern dagegen die Anerkennung der Tatsache, dass
es inzwischen nicht mehr nur eine christliche, sondern eine viel umfassendere
religiöse Vielfalt in der Schweiz gibt. Häufig sind im Dialog Christen von der
Basis engagiert – meist solche, die das interreligiöse Leben auf der Strasse, am
Arbeitsplatz oder auch in sozialen Spannungsfeldern aktiv erleben und die es
gestalten wollen. Eine ganze Reihe von lokalen interreligiösen und interkulturellen
Aktionen wurde so bereits ins Leben gerufen, und ständig entstehen neue.
Auch die kirchlichen Führungsebenen sind engagiert, sie sind in nahezu allen
landesweiten und lokalen interreligiösen Organisationen vertreten. Statt die
neue Situation als Verlust ihres religiösen Monopols aufzufassen, betrachten die
Landeskirchen die religiöse Vielfalt als Bereicherung und treten für das Recht
der religiösen Selbstentfaltung aller ein.
Und auch für manch kleinere Religionsgemeinschaften – insbesondere
zu erwähnen sind hier die Baha’i – ist der Dialog ein wichtiges Anliegen. In
jüngster Zeit beteiligen sich auch immer mehr Hindus, Buddhisten und Muslime.
In den grossen Städten gibt es neben den Migrantengemeinschaften und
den Konvertiten noch die spezielle multireligiöse Gruppe der Mitarbeitenden
internationaler Organisationen, der Geschäftsleute und der Universitätsangehörigen,
die ganz eigene Bedürfnisse und Netzwerke haben. Unter den neuen religiösen
Gemeinschaften gibt es verschiedene Positionen: Manche sprechen sich
für den Pluralismus aus und versuchen sich zu beteiligen, so manche aber polemisieren
scharf gegen alle anderen Religionen.
Nicht immer funktioniert die Arbeit reibungslos: Sprachliche Probleme
behindern die Verständigung, verschiedene Interessen divergieren: Die einen
wollen philosophieren, die anderen sich in ihrer Eigenart präsentieren, und
Dritte suchen schlicht Räume und Mittel, um überhaupt minimal aktiv werden
zu können. Die Kapazitäten der beteiligten Personen (oft handelt es sich um
unbezahlte Freiwilligenarbeit) sind beschränkt, manchmal herrscht Unklarheit
über die konkreten und realistisch erreichbaren Ziele usw.
In einem 2007 von der römisch-katholischen Bischofskonferenz herausgegebenen
Nachschlagewerk (welches auch die ökumenischen, also innerchristli-
28
Einführung
chen Einrichtungen berücksichtigt) sind sieben nationale Foren und Kommissionen
verzeichnet und 19 lokale, dazu kommen sechs bilaterale Arbeitskreise
und – inklusive der universitären – 38 Bildungs- und Forschungsinstitutionen.
Hier seien nur einige wichtige, direkt dem weiten interreligiösen Dialog verschriebene
Einrichtungen genannt:
· Die älteste interreligiöse Organisation in der Schweiz ist wohl die Christlich-
Jüdische Arbeitsgemeinschaft (CJA), sie wurde 1946 gegründet. Die in den
Fünfzigerjahren abgehaltenen Seelisberger Gespräche trugen viel zum Verständnis
des Judentums und zur Überwindung der Judenfeindschaft in der
Schweiz bei. In enger Verbindung zur CJA steht das 1981 gegründete und
heute an der dortigen Universität angesiedelte Institut für Jüdisch-Christliche
Forschung in Luzern.
· Die Interreligiöse Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz IRAS-COTIS wurde
1992 gegründet. Das Büro befindet sich in Basel. Ihr Ziel ist die Integrationsförderung
und die Verständigungsarbeit zwischen den Religionsgruppen,
wobei sich IRAS-COTIS besonders als Forum kleiner Religionsgemeinschaften
versteht. Seit 2004 richtet sich die Gemeinschaft verstärkt auf die
interreligiöse Bildung aus. Ende 2006 gehörten über 100 religiöse Institutionen
der IRAS-COTIS an. Im November 2007 lancierte die Vereinigung
unter dem Motto «Verstehen kann so einfach sein, wenn man sich kennt»
erstmalig eine schweizweite Woche der Religionen, die jährlich stattfinden
wird (www.woche-der-religionen.ch).
· Eine Abteilung für interreligiöse Beziehungen des Ökumenischen Rats der
Kirchen (ÖRK) in Genf ist vorwiegend international ausgerichtet. Zweimal
jährlich erscheint dort die Publikation «Current Dialogue».
· Ein wohl einmaliges Projekt ist das 1997 gegründete Centre de liaison et
d’information concernant les minorités spirituelles (CLIMS). In ihm sind
vorwiegend neue religiöse Bewegungen vertreten; das Zentrum soll – von
einem reformierten Pfarrer begründet – Information über sie vermitteln,
Möglichkeiten zu Gesprächen mit ihnen schaffen, Kontakte knüpfen, gegen
Diskriminierungen der Gemeinschaften angehen, aber auch durch diese –
oft immer noch als «Sekten» titulierte Gemeinschaften – geschädigte Personen
beraten.
· Ebenfalls interessant ist das in Zürich gegründete Institut für interkulturelle
Zusammenarbeit und Dialog, das 2004 von vorwiegend türkischen Intellektuellen
und Unternehmern gegründet wurde: Es ist die bisher einzige von
muslimischer Seite initiierte Dialogeinrichtung im Land.
29
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern
· Diverse lokale Einrichtungen haben einen überregionalen Vorbildcharakter
erlangt, wie zum Beispiel das schon 1968 in der Romandie entstandene
Comité consultatif des religions, das 1992 durch die Plateforme interreligieuse
de Genève ersetzt wurde. Das Zürcher Forum der Religionen versammelt
nicht nur diverse religiöse Gemeinschaften, sondern auch öffentliche
Stellen, insbesondere solche, die mit der Integrationsarbeit zu tun haben.
In Freiburg ist ein Bibel+Orient-Museum geplant, das sich dem Trialog
Judentum–Christentum–Islam widmen soll. Die Idee erwuchs aus dem
Engagement des Theologen Othmar Keel seit den Sechzigerjahren und aus
mehreren inzwischen erfolgten Schenkungen archäologischer Artefakte. Das
Ziel ist das Bewusstmachen der «Vertikalen Ökumene» durch das Aufzeigen
historischer Wachstumsprozesse und Beeinflussungen zwischen den Religionen
im Orient; es soll zur Heilung der Beziehung zwischen ihnen beitragen.
Weitere lokale Institutionen sind zum Beispiel der Aargauer Interreligiöse
Arbeitskreis AIRAK, der Verein Inforel – Information Religion in Basel, die
Groupe cantonal de dialogue et de réflexion interreligieux (Neuchâtel), der
Runde Tisch der Religionen in St.Gallen, das L’Azillier – Maison du dialogue
(Lausanne), die Christlich-Jüdischen Projekte (CJP) in Basel und das Zürcher
Forum der Religionen. Die Gemeinschaft von Christen und Muslimen
in der Schweiz (GCM) entstand 1991 in Bern (1994 gesamtschweizerisch
gegründet) und versucht, für die Integration zu arbeiten, wobei insbesondere
die Gesprächsgruppe christlicher und muslimischer Frauen sehr aktiv
ist.
· Im Jahre 2006 entstand auf Initiative des Schweizerischen Evangelischen
Kirchenbundes (SEK) der Schweizerische Rat der Religionen (SCR). Er setzt
sich aus leitenden Persönlichkeiten der Schweizer Bischofskonferenz, des
Rates des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, der Christkatholischen
Kirche der Schweiz, des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes
und Islamischer Organisationen der Schweiz zusammen. Erweitert
um drei Expertinnen, umfasst der anfangs rein männlich zusammengesetzte
Rat heute neun Personen. Er will einen Beitrag zur Vertrauensbildung unter
den Religionsgemeinschaften und zur Förderung des religiösen Friedens
leisten.
· Als Beiträge zum interreligiösen Dialog kann man auch die Stadtporträts
über die lokale religiöse Vielfalt verstehen, die inzwischen für Zürich, Basel,
Freiburg und Luzern erschienen sind. Weitere derartige Publikationen sind
in Arbeit.
30
Einführung
Bern
· Das Projekt Haus der Religionen – Dialog der Kulturen ist inzwischen ein
weit über die Grenzen der Stadt und auch des Landes hinausstrahlendes Vorhaben.
Das Projekt war bei den Herrnhutern untergebracht, dann residierte
es im PROGR, dann in der Schwarztorstrasse – all das sind Zwischenstationen.
2006 konnte die Stiftung Europaplatz – Haus der Religionen gegründet
werden, und die Baubewilligung für den Europaplatz in Bern-Ausserholligen
wurde im April 2007 erteilt. Bis anhin hat das Team viele Treffen, Besuche,
Vorträge und sonstige Veranstaltungen organisiert, darunter die Fête KultuRel
als interreligiöses und interkulturelles Strassenfest. 2008 findet sie zum
vierten Mal statt, und sie entwickelt sich zu einem wichtigen Event im Berner
Festkalender. 2007 wurde in den Räumen in der Schwarztorstrasse zudem
die Ausstellung Feste im Licht gezeigt, die für das Museum der Kulturen
Basel gestaltet und dort gezeigt worden war und in Bern um lokale Bezüge
erweitert werden konnte. Im dereinst fertiggestellten Haus der Religionen
sollen für sechs Religionsgemeinschaften feste Räume bestehen, gruppiert
um einen gemeinsamen Begegnungs- und Veranstaltungsraum – ein wohl
weltweit einmaliges Projekt.
· Der Runde Tisch der Religionen Bern, als erste derartige Einrichtung in der
Schweiz 1993 gegründet (mit einem Vorläufer seit Anfang der Achtzigerjahre),
kann als Ursprungsort des Hauses gelten. Zugleich ist er ein eigenständiger
Gesprächskreis und organisiert die Zusammenarbeit in kulturellen
und insbesondere in sozialen Dingen. Hierbei liegt das Schwergewicht bei
der Reformierten Landeskirche und der Römisch-katholischen Landeskirche.
Der Runde Tisch vermittelt bei den kleinen, aber störenden interkulturellen
Problemen im Alltag und war zum Beispiel die entscheidende
Kraft bei der Einrichtung des muslimischen Gräberfeldes auf dem Berner
Bremgartenfriedhof. In den Neunzigerjahren konnten seine Mitglieder viele
Handreichungen erarbeiten, die Schulen, Pfarrämter, soziale und medizinische
Einrichtungen bei ihrer Arbeit unterstützten, wo sie auf die damals
neuen interkulturellen Situationen stiessen. Der Runde Tisch arbeitet eng
mit den Integrationsbeauftragten zusammen und umfasst heute Vertreter
des Christentums (reformiert, katholisch und orthodox), des Islam, des
Judentums, des Buddhismus, des Hinduismus und der Baha’i.
· Einen Runden Tisch der Religionen gibt es im Kanton inzwischen auch in
Biel, er trat erstmals 2002 bei der Expo an die Öffentlichkeit.
· Zum interreligiösen Dialog, besonders auf der pragmatischen, die Integra-
31
Religiöse Gemeinschaften im Kanton Bern
tion fördernden Ebene, tragen – meist eher indirekt, dafür aber lebensnah
– eine ganze Reihe von Aktivitäten bei: die Informationsstelle für Ausländerinnen-
und Ausländerfragen isa, sie kooperiert eng mit dem Runden Tisch
Bern; das sich der Migrantenarbeit widmende Zentrum 5 im Breitenrain;
die Offene Heiliggeistkirche; der kleine Raum der Stille im Inselspital u. a. m.
In Biel ist das Schweizerische Institut für Entwicklung/Swiss Academy for
Developement SAD als professionelle Einrichtung u. a. mit der interkulturellen
Arbeit befasst. Der Verein Multimondo Biel (gegründet 2000) ist seit
2007 Träger des Kompetenzzentrums Integration, und auf seiner Homepage
findet sich ein Verzeichnis religiöser und kultureller Migrantengemeinschaften
in und um Biel.
· Als interreligiöse Aktivität kann auch die in unregelmässigen Abständen
erscheinende Zeitschrift «zVisite» verstanden werden. Sie wird als Kooperation
von den Redaktionen des «saemanns» (reformierte Kirche), des «Pfarrblatts»
(römisch-katholische Kirche), des «Christkatholischen Kirchenblatts»,
des «JGB-Forums» (Zeitung der jüdischen Gemeinden von Bern und
Biel) und von Mitgliedern der muslimischen Glaubensgemeinschaft in Bern
herausgegeben.
· Auch dem interreligiösen Dialog ist der Studiengang Religious Studies –
Interreligiöse Studien gewidmet, der seit dem Wintersemester 2005/2006 an
der theologischen Fakultät der Universität Bern studiert werden kann. Mit
ihm wurde über die klassische Ökumene hinausgegangen. Der Studiengang
soll grundlegendes religionskundliches Orientierungswissen anbieten. Teilweise
werden dabei Religionen – wie bei der Religionswissenschaft auch –
«von aussen», also mit methodischer Distanz und als kulturell-historische
Hervorbringungen behandelt, teilweise werden sie aber auch «von innen»,
d. h. mit Engagement und unter Beachtung des eigenen Wahrheitsanspruches
betrachtet; in diesem Aspekt ähnelt das Fach der Theologie. Das Studium
wendet viel Zeit für das Christentum auf, doch sollen die Absolventen speziell
zu interreligiöser Reflexion und Kommunikation befähigt werden.
32
Einführung
Kontakt und Information
Verein Haus der Religionen – Dialog der Kulturen, Schwarztorstrasse 102, 3007
Bern, www.haus-der-religionen.ch
Runder Tisch der Religionen, c/o A. Rieger, Fachstelle OeME, Ref. Kirchen
Bern-Jura-Solothurn, Speichergasse 29, 3011 Bern
Table ronde/Runder Tisch der Religionen, c/o Arbeitskreis für Zeitfragen und
Interreligiösen Dialog der Ref. Gesamtkirchengemeinde Biel, Oberer Quai
12, 2503 Biel
Sekretariat des Schweizerischen Rates der Religionen, c/o Schweizerischer Evangelischer
Kirchenbund, Sulgenauweg 26, 3000 Bern 23
Literatur
Institutionen des interreligiösen Dialogs in der Schweiz, hrsg. von der Pastoralplanungskommission
der Schweizerischen Bischofskonferenz, St.Gallen
2007
Fierz, G./Schneider, M. (Hrsg.): Feste im Licht – Religiöse Vielfalt in einer Stadt,
Basel 2004
Vischer, G./Könemann, J. (Hrsg., im Auftrag von IRAS-COTIS und dem Schweizerischen
Pastoralsoziologischen Institut): Interreligiöser Dialog in der
Schweiz: Grundlagen – Brennpunkte – Praxis, Zürich 2008
Links und Internetadressen
www.iras-cotis.ch
www.arzillier.ch
www.bible-orient-museum.ch
www.forum-der-religionen.ch
www.cpwr.org
www.clims.ch
www.airak.ch
www.interreligieux.ch
www.cjp.ch
www.g-cm.ch
www.religionenlu.ch
www.inforel.ch
www.multimondo.ch
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