Auszug aus: Solidaritätsnetz Ostschweiz und Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz (Hg.): «Mutter, mach dir keine Sorgen, das ist eine ganz andere Welt.»
Solidaritätsnetz Ostschweiz und Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz (Hg.) «Mutter, mach dir keine Sorgen, das ist eine ganz andere Welt» Unbegleitete minderjährige Asylsuchende in der Schweiz erzählen Limmat Verlag 2021
Solidaritätsnetz Ostschweiz und Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht Ostschweiz (Hg.)
«Mutter, mach dir keine Sorgen, das ist eine ganz andere Welt»
Unbegleitete minderjährige Asylsuchende in der Schweiz erzählen
Limmat Verlag 2021
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<strong>«Mutter</strong>, <strong>mach</strong> <strong>dir</strong><br />
<strong>k<strong>eine</strong></strong> <strong>Sorgen</strong>, <strong>das</strong> <strong>ist</strong> <strong>eine</strong><br />
<strong>ganz</strong> <strong>andere</strong> <strong>Welt</strong>.<strong>»</strong><br />
Unbegleitete minderjährige<br />
<strong>Asyl</strong> suchende in der Schweiz<br />
erzählen<br />
Elf Porträts <strong>und</strong> Gespräche<br />
Her<strong>aus</strong>gegeben von der <strong>Beobachtungsstelle</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>Asyl</strong>- <strong>und</strong> <strong>Ausländerrecht</strong> <strong>Ostschweiz</strong> <strong>und</strong> vom<br />
<strong>Solidaritätsnetz</strong> <strong>Ostschweiz</strong><br />
Mit Beiträgen von Annette Bossart, Bernhard Brack,<br />
Stefanie Ehrbar, H<strong>eine</strong>r Gantenbein, Luca Ghiselli, Silvia Maag,<br />
Sükran Magro, Peter Oberholzer, Ana Paredes, Donat Rade,<br />
Karsten Redmann, Kl<strong>aus</strong>franz Rüst, Angelica Schmid, Kaspar<br />
Surber <strong>und</strong> Barbara Weibel<br />
Mit Fotografien von Ahmad Motalaei<br />
Limmat Verlag<br />
Zürich
7 Ein Buch über die Hoffnung<br />
Einleitung von Ana Paredes <strong>und</strong> Barbara Weibel<br />
Im Gedenken an Hannelore Fuchs (1936 – 2020),<br />
<strong>eine</strong> unermüdliche Kämpferin <strong>für</strong> die Rechte der verletzlichsten<br />
Menschen in unserer Gesellschaft<br />
12 Abdulayaz<br />
«Von m<strong>eine</strong>r Familie könnte ich noch mehr erzählen.<strong>»</strong><br />
Von Stefanie Ehrbar<br />
36 Ahmad<br />
«Man muss in diesen schwierigen Situationen <strong>eine</strong>n Weg finden.<strong>»</strong><br />
Von Ana Paredes<br />
58 Alem<br />
«Wenn <strong>eine</strong>s Tages der Krieg fertig <strong>ist</strong>, will ich sofort<br />
in mein Land heimgehen.<strong>»</strong><br />
Von H<strong>eine</strong>r Gantenbein<br />
72 Ali<br />
«Man muss lernen, wie man sich selber helfen kann.<strong>»</strong><br />
Von Bernhard Brack<br />
94 Asef<br />
«Ich bin glücklich, die Sonne scheint, alles <strong>ist</strong> gut!<strong>»</strong><br />
Von Angelica Schmid<br />
110 Mamadou<br />
«Man muss positiv denken.<strong>»</strong><br />
Von Peter Oberholzer<br />
124 Aamina<br />
«Was soll ich <strong>mach</strong>en? Nur sitzen, da lerne ich nix.<strong>»</strong><br />
Von Annette Bossart<br />
152 Guled<br />
«Man wartet immer.<strong>»</strong><br />
Von Silvia Maag<br />
172 Mahmoud<br />
«Ich dachte, ich sterbe hier oder woanders. Aber ich dachte auch,<br />
<strong>das</strong>s ich studieren will <strong>und</strong> es überleben muss.<strong>»</strong><br />
Von Sükran Magro
186 Mehdi<br />
«Ich habe so viel Kraft in m<strong>eine</strong> Flucht investiert,<br />
so viel aufgegeben <strong>und</strong> erlebt.<strong>»</strong><br />
Von Luca Ghiselli<br />
200 Mohammad<br />
«Kann frei entscheiden, wer ich sein will.<strong>»</strong><br />
Von Karsten Redmann<br />
225 Fluchtwege <strong>und</strong> Fluchtländer<br />
Von Kaspar Surber<br />
230 Die Menschenrechte von asylsuchenden Kindern gemäss<br />
UN-Kinderrechtskonvention<br />
Von Kl<strong>aus</strong>franz Rüst<br />
239 Modell <strong>für</strong> die Unterbringung <strong>und</strong> Betreuung unbegleiteter<br />
minderjähriger <strong>Asyl</strong>suchender<br />
Von Donat Rade<br />
246 Glossar<br />
250 Mitwirkende<br />
253 Her<strong>aus</strong>gebende<br />
Ein Buch über die Hoffnung<br />
Dieses Buch stellt den zweiten Band <strong>eine</strong>r Reihe dar, die sich mit<br />
besonders vulnerablen Personen <strong>und</strong> Situationen im <strong>Asyl</strong>bereich<br />
beschäftigt. Der erste Band mit dem Titel «Das hier … <strong>ist</strong> mein <strong>ganz</strong>es<br />
Leben<strong>»</strong> <strong>ist</strong> 2013 ebenfalls im Limmat Verlag erschienen <strong>und</strong><br />
porträtiert abgewiesene asylsuchende Menschen, die in der Schweiz<br />
mit Nothilfe lebten.<br />
Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR waren Ende des Jahres<br />
2019 weltweit 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht. 26 Millionen<br />
dieser Menschen flohen <strong>aus</strong> ihrer Heimat vor Konflikten, Verfolgung<br />
oder schweren Menschenrechtsverletzungen. Etwas weniger<br />
als die Hälfte dieser Flüchtlinge sind Kinder unter achtzehn Jahren.<br />
Ungefähr dreih<strong>und</strong>ertt<strong>aus</strong>end davon sind nach Quellen der UNO<br />
unbegleitete minderjährige <strong>Asyl</strong>suchende (UMA).<br />
Das vorliegende Buch befasst sich mit UMA in der Schweiz. Nach<br />
den dramatischen Ausgangssituationen in den Herkunftsländern,<br />
der Flucht <strong>und</strong> schliesslich der Ankunft im neuen, unbekannten<br />
Land <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> qualifizierte <strong>und</strong> enge Begleitung besonders wichtig<br />
<strong>für</strong> die Entwicklung <strong>und</strong> die Integration der Jugendlichen in der<br />
neuen Realität. Sie sind vulnerabel, denn sie befinden sich in <strong>eine</strong>r<br />
entscheidenden Phase ihres Lebens, in der sie ihre Fähigkeiten <strong>und</strong><br />
Potenziale entwickeln sowie die emotionale Stabilität schaffen, die<br />
<strong>für</strong> die Zukunft notwendig <strong>ist</strong>. Diese Phase der Adoleszenz <strong>und</strong> der<br />
sek<strong>und</strong>ären Sozialisation, ohne die Begleitung <strong>eine</strong>r vertrauten<br />
Bezugsperson zu erleben, verstärkt ihre Verletzbarkeit noch. Diesen<br />
Kindern fehlen die Stütze der Familie <strong>und</strong> <strong>andere</strong> Unterstützungsnetze.<br />
Minderjährige sind leichte Ziele <strong>für</strong> Missbrauch aller Art.<br />
Ziel des Buches <strong>ist</strong> es, <strong>eine</strong>r breiten Öffentlichkeit die von Krieg,<br />
Trennung, Flucht <strong>und</strong> <strong>eine</strong>m Leben in der Fremde geprägte Erfahrungswelt<br />
von minderjährigen <strong>Asyl</strong>suchenden durch deren eigene<br />
7
Schilderung erfahrbar zu <strong>mach</strong>en. Die Jugendlichen erzählen ihre<br />
Geschichte mittels Interviews, die jeweils mit <strong>eine</strong>m Rahmentext<br />
reflektiert <strong>und</strong> kontextualisiert werden. Dabei spielen die Lebensumstände<br />
im jeweiligen Herkunftsland, die Flucht sowie die Ankunft<br />
<strong>und</strong> Integration in der Schweiz <strong>eine</strong> besondere Rolle. Die<br />
persönliche Begegnung wird durch fotografische Porträtaufnahmen<br />
vertieft.<br />
Elf Personen, die als unbegleitete Minderjährige in die Schweiz<br />
geflüchtet sind <strong>und</strong> in der <strong>Ostschweiz</strong> (vorläufige) Aufnahme gef<strong>und</strong>en<br />
haben, erhalten im vorliegenden Buch Gehör. Dabei handelt<br />
es sich <strong>aus</strong>schliesslich um Jugendliche, welche inzwischen die Volljährigkeit<br />
erreicht haben <strong>und</strong> sich autonom <strong>für</strong> <strong>eine</strong> Mitwirkung<br />
entscheiden konnten.<br />
Die Suche nach geeigneten Jugendlichen, die bereit waren, ihre<br />
Geschichte preiszugeben, gestaltete sich recht schwierig. Kontakte<br />
entstanden schliesslich über Organisationen, die <strong>für</strong> Flüchtlinge <strong>und</strong><br />
insbesondere <strong>für</strong> UMA zuständig sind, oder über private Begleitpersonen.<br />
Viele UMA sind traumatisiert durch Geschehnisse in<br />
ihrem Herkunftsland oder durch negative Erlebnisse <strong>und</strong> Strapazen<br />
während der Flucht. Es <strong>ist</strong> verständlich, <strong>das</strong>s manche von ihnen nicht<br />
gerne daran zurückdenken, geschweige denn, darüber erzählen wollen<br />
oder können. Auffallend – aber auch nicht sehr erstaunlich – <strong>ist</strong><br />
die Tatsache, <strong>das</strong>s es noch schwieriger war, weibliche UMA <strong>für</strong> ein<br />
Porträt zu gewinnen. Laut Stat<strong>ist</strong>ik gibt es eindeutig weniger Mädchen<br />
als Jungen, die sich all<strong>eine</strong> auf die Flucht begeben (Staatssekretariat<br />
<strong>für</strong> Migration SEM im Jahr 2015: 17,9 % gegenüber von<br />
82,1 %). Weitere Gründe <strong>für</strong> die Zurückhaltung der Mädchen mögen<br />
die kulturellen <strong>und</strong> traditionsbedingten patriarchalischen Strukturen<br />
in den Herkunftsländern sein. Und schliesslich werden auch viele<br />
Mädchen Opfer von Zwangsheirat, Vergewaltigung <strong>und</strong> Menschenhandel,<br />
was ihre Vulnerabilitätssituation zusätzlich verstärkt. Ins<br />
Auge sticht beim Lesen unseres Buches <strong>aus</strong>serdem die Überzahl von<br />
afghanischen Porträtierten: Sieben UMA <strong>aus</strong> Afghan<strong>ist</strong>an, zwei <strong>aus</strong><br />
Somalia sowie je <strong>eine</strong>r <strong>aus</strong> Syrien <strong>und</strong> <strong>aus</strong> Mali. Dies entspricht in<br />
etwa obengenannter SEM-Stat<strong>ist</strong>ik, gemäss welcher im Jahr 2015<br />
909 UMA <strong>aus</strong> Afghan<strong>ist</strong>an, 23 <strong>aus</strong> Somalia <strong>und</strong> siebzehn <strong>aus</strong> Syrien<br />
ein <strong>Asyl</strong>gesuch in der Schweiz stellten.<br />
Einige der Interviewten wollten mit ihrem Namen im Buch ersch<strong>eine</strong>n,<br />
<strong>andere</strong> nicht. Gewisse Jugendliche, deren Aufnahmeentscheid<br />
noch hängig <strong>ist</strong>, wurden zu ihrem Schutz bezüglich Name <strong>und</strong><br />
Foto anonymisiert. Alle Porträtierten haben <strong>eine</strong> Einverständniserklärung<br />
unterschrieben <strong>und</strong> konnten die Texte gegenlesen.<br />
Die fotografischen Porträts ermöglichen es, die Schilderungen<br />
auf <strong>eine</strong> konkrete Person zu beziehen. Für die Aufnahmen konnte<br />
derselbe Fotograf gewonnen werden, der bereits beim ersten Buch<br />
mitwirkte. Aufgr<strong>und</strong> s<strong>eine</strong>r eigenen Migrationsgeschichte konnte<br />
er die Botschaft, welche die Her<strong>aus</strong>geber <strong>und</strong> Her<strong>aus</strong>geberinnen zu<br />
vermitteln beabsichtigen, perfekt miteinbinden. Die me<strong>ist</strong>en Fotos<br />
wurden Anfang 2020 an zwei verschiedenen Orten in der Stadt<br />
St. Gallen aufgenommen. Es war <strong>eine</strong> Freude zu beobachten, wie sich<br />
die jungen Menschen mit Offenheit <strong>und</strong> Selbstvertrauen fotografieren<br />
liessen.<br />
In den Interviews erzählen die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen<br />
ihre Geschichte. Der Erzählstrang umfasst Erinnerungen<br />
ans Herkunftsland, die Erfahrungen vor <strong>und</strong> während der Flucht<br />
<strong>und</strong> mündet in der Ankunft in der Schweiz mit allen Facetten von<br />
Chancen, Unterstützungen <strong>und</strong> Hindernissen bei der Integration<br />
sowie zukunftsgerichteten Vorstellungen. Persönliche Prägungen<br />
<strong>und</strong> Veränderungen, Selbstwahrnehmungen, Emotionen <strong>und</strong> Beziehungsgeschichten<br />
erhalten besondere Aufmerksamkeit. Die Stimme<br />
der Betroffenen <strong>ist</strong> zentral <strong>und</strong> soll möglichst authentisch übermittelt<br />
werden.<br />
8 9
Die Interviews wurden auf Deutsch (teilweise auch auf Schweizerdeutsch)<br />
geführt. Sie wurden transkribiert (<strong>aus</strong>ser bei <strong>eine</strong>m Jugendlichen,<br />
der <strong>k<strong>eine</strong></strong> Ton-Aufnahme wünschte) <strong>und</strong> zur besseren Verständlichkeit<br />
mit Sorgfalt überarbeitet. Dabei wurden die Sprache<br />
<strong>und</strong> die Ausdrucksweise möglichst im Originalton belassen <strong>und</strong> durch<br />
dezente Änderungen der Stil <strong>und</strong> Gehalt der Aussagen bewahrt.<br />
Zu den Autorinnen <strong>und</strong> Autoren gehören Engagierte in sozialen<br />
Bewegungen, die über praktische Erfahrungen im Migrationsbereich<br />
<strong>und</strong> persönliche Kontakte zu Betroffenen verfügen, sowie<br />
auch Schriftsteller <strong>und</strong> Journal<strong>ist</strong>en. Einige kannten ihre Gesprächspartner<br />
bereits sehr gut, <strong>andere</strong> noch nicht. Um Vertrauen aufbauen<br />
zu können, fanden me<strong>ist</strong> mehrere Treffen statt.<br />
Wie schon im ersten Band orientierten sich die Interviews am<br />
Prinzip des «methodischen Verstehens<strong>»</strong> nach dem Soziologen Pierre<br />
Bourdieu. Zentrales Element der Befragung <strong>ist</strong> dabei <strong>eine</strong> Begegnung<br />
auf Augenhöhe. Ein qualitativer Leitfaden diente als Orientierungsinstrument,<br />
um die freie Erzählung nach Bedarf lenken zu können.<br />
Um Raum zur Selbstdarstellung zu lassen, wurden die Fragen nicht<br />
zielgerichtet gestellt. Diese qualitativen Methoden erlauben es, die<br />
Situationen, Konflikte, Erfahrungen, Perspektiven <strong>und</strong> Positionen<br />
der Befragten in Erfahrung zu bringen <strong>und</strong> zu verstehen.<br />
Zur Einführung gibt es als Ergänzung zu den Interviews <strong>eine</strong>n<br />
Rahmentext mit Hintergr<strong>und</strong>informationen, die im Interview nicht<br />
zur Sprache kommen, aber zur Verständlichkeit beitragen, <strong>und</strong> in<br />
dem Schwerpunkte her<strong>aus</strong>kr<strong>ist</strong>allisiert werden. Die Situation der<br />
jungen Menschen, die als minderjährige, allein reisende Flüchtlinge<br />
in die Schweiz gekommen sind, wird möglichst objektiv reproduziert,<br />
kontextualisiert, analysiert <strong>und</strong> resümiert. Ein besonderes Augenmerk<br />
gilt den Integrationserfahrungen der Jugendlichen in der Schweiz.<br />
Ergänzt <strong>und</strong> vertieft wird die Thematik mittels Fachtexten. Zur<br />
Kontextualisierung <strong>und</strong> zur Vermeidung von Wiederholungen werden<br />
im ersten Fachtext die politischen, sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />
Besonderheiten der Herkunftsländer – Afghan<strong>ist</strong>an, Mali, Somalia<br />
<strong>und</strong> Syrien – sowie aktuelle Informationen zu den Transitländern<br />
auf der Fluchtroute dargestellt <strong>und</strong> in <strong>eine</strong>n integrationspolitischen<br />
Zusammenhang gestellt. Die Menschenrechte von asylsuchenden<br />
Kindern gemäss der UN-Kinderrechtskonvention werden in <strong>eine</strong>m<br />
zweiten Fachtext beleuchtet, in <strong>eine</strong>m dritten die Thematik der Betreuung<br />
<strong>und</strong> Unterbringung von UMA anhand der «Komponenten<br />
<strong>ganz</strong>heitlicher Betreuung<strong>»</strong>, wie sie der internationale Sozialdienst<br />
(ISS) vorschlägt, <strong>und</strong> durch ein <strong>Ostschweiz</strong>er Beispiel illustriert.<br />
Dass die Betreuung <strong>und</strong> die Begleitung der Jugendlichen auf<br />
ihrem Weg in die Integration nicht immer dem Idealfall <strong>aus</strong> dem<br />
Fachtext entsprechen, <strong>ist</strong> evident – die Aussagen der Jugendlichen<br />
sprechen <strong>für</strong> sich.<br />
Verantwortlich <strong>für</strong> Konzept, Inhalt, Finanzierung <strong>und</strong> Durchführung<br />
des Projekts <strong>ist</strong> ein Redaktionsteam der <strong>Beobachtungsstelle</strong><br />
<strong>für</strong> <strong>Asyl</strong>- <strong>und</strong> <strong>Ausländerrecht</strong> <strong>Ostschweiz</strong> <strong>und</strong> des <strong>Solidaritätsnetz</strong>es<br />
<strong>Ostschweiz</strong>. Die Durchführung <strong>und</strong> Transkription der einzelnen<br />
Interviews sowie die Kontextualisierung durch die Rahmentexte<br />
lagen in der Hand der jeweiligen Autorinnen <strong>und</strong> Autoren. Die Porträts<br />
wurden sowohl im Redaktionsteam als auch in Autorenteams<br />
diskutiert <strong>und</strong> die Interpretationen <strong>für</strong> die Rahmentexte gemeinsam<br />
erarbeitet. Die Herkunft der Autorinnen <strong>und</strong> Autoren <strong>aus</strong> verschiedenen<br />
praktischen <strong>und</strong> wissenschaftlichen Bereichen erlaubte<br />
es, Schilderungen der Betroffenen unter objektiven Aspekten zu<br />
ergänzen.<br />
Im Namen der <strong>Beobachtungsstelle</strong> <strong>für</strong> <strong>Asyl</strong>- <strong>und</strong> <strong>Ausländerrecht</strong><br />
<strong>Ostschweiz</strong> <strong>und</strong> des <strong>Solidaritätsnetz</strong>es <strong>Ostschweiz</strong>,<br />
Ana Paredes, Barbara Weibel<br />
10 11
«Von m<strong>eine</strong>r Familie könnte<br />
ich noch mehr erzählen.<strong>»</strong><br />
Abdulayaz flüchtete 2015 als Fünfzehnjähriger<br />
all<strong>eine</strong> <strong>aus</strong> Afghan<strong>ist</strong>an in die<br />
Schweiz. Er lebt mit <strong>eine</strong>r vorläufigen Aufenthaltsbewilligung<br />
im Kanton Appenzell<br />
Ausserrhoden.<br />
Von Stefanie Ehrbar
Abdulayaz <strong>ist</strong> Afghane <strong>und</strong> neunzehn Jahre alt. Mit fünfzehn Jahren<br />
musste er all<strong>eine</strong> <strong>aus</strong> Afghan<strong>ist</strong>an flüchten <strong>und</strong> gegen s<strong>eine</strong>n Willen<br />
s<strong>eine</strong> Familie <strong>und</strong> s<strong>eine</strong> Heimat hinter sich lassen. Es war <strong>das</strong> erste<br />
Mal, <strong>das</strong>s er sein Heimatland verliess. Er sollte nach Europa flüchten,<br />
in <strong>eine</strong> Gegend, die sich gr<strong>und</strong>legend von s<strong>eine</strong>r Heimat unterscheidet<br />
– ohne zu wissen, was ihn dort erwarten würde. Zwei Monate<br />
lang re<strong>ist</strong>e er mit Schleppern unter menschenunwürdigen<br />
Bedingungen durch ihm fremde Länder <strong>und</strong> durchlebte lebensbedrohliche<br />
Situationen. Besonders eindrücklich <strong>ist</strong>, wie Abdulayaz<br />
mit fünfzehn Jahren s<strong>eine</strong> Flucht von Griechenland <strong>aus</strong> selbständig<br />
fortsetzte.<br />
S<strong>eine</strong> Ankunft in der Schweiz brachte ihm zwar Sicherheit, jedoch<br />
nicht die Beständigkeit, die ein Mensch, insbesondere ein Jugendlicher,<br />
braucht. Nachdem er die erste Nacht in <strong>eine</strong>r Zelle auf der<br />
Polize<strong>ist</strong>ation in Zürich verbracht hatte, wurde er ins Empfangs- <strong>und</strong><br />
Verfahrenszentrum nach Kreuzlingen gebracht. Daraufhin wurde<br />
er dem Kanton Appenzell Ausserrhoden (AR) zugeteilt. In den<br />
darauffolgenden drei Jahren musste er mehrmals die Unterkunft<br />
wechseln. Im Sommer 2019 hat Abdulayaz ein Praktikum als Pfleger<br />
im Spital Herisau begonnen <strong>und</strong> lebt seither im Personalh<strong>aus</strong> des<br />
Spitals.<br />
Kennengelernt habe ich Abdulayaz durch dieses Buchprojekt. Abdulayaz<br />
wollte nicht, <strong>das</strong>s s<strong>eine</strong> Stimme aufgenommen wird, weshalb<br />
ich unsere Aussagen während des Interviews schriftlich protokollierte.<br />
In der anschliessenden Überarbeitung <strong>und</strong> Reinschrift des<br />
Interviews wurden einzelne Formulierungen in Absprache mit Abdulayaz<br />
leicht überarbeitet, weshalb <strong>das</strong> Interview teilweise nicht<br />
die originalgetreue sprachliche Ausdrucksweise von Abdulayaz<br />
wiedergibt. Wesentliche Umformulierungen wurden jedoch nicht<br />
ge<strong>mach</strong>t <strong>und</strong> waren auch nicht erforderlich, da Abdulayaz über<br />
hervorragende Deutschkenntnisse <strong>und</strong> beeindruckende Rede-<br />
gewandtheit verfügt. Nach weniger als vier Jahren in der Schweiz<br />
spricht er fast fehlerloses Deutsch <strong>und</strong> weiss sich in der ihm bis vor<br />
einiger Zeit noch unbekannten Sprache sehr differenziert <strong>aus</strong>zudrücken.<br />
Abdulayaz <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> interessierte, lernfreudige <strong>und</strong> ambitionierte<br />
Person, die sich alle Mühe gibt, die ihr offenen Bildungswege <strong>und</strong><br />
Berufschancen in der Schweiz zu nutzen. Nebst s<strong>eine</strong>m Spitalpraktikum<br />
absolviert er die Handelsschule <strong>und</strong> träumt davon, in den<br />
kaufmännischen Beruf einzusteigen. Sein Zukunftstraum <strong>ist</strong>, später<br />
in <strong>eine</strong>m Reisebüro zu arbeiten. Selbstverständlich <strong>ist</strong> der Weg <strong>für</strong><br />
ihn kein einfacher <strong>und</strong> s<strong>eine</strong> tatsächlichen Möglichkeiten sind beschränkt.<br />
Abdulayaz hat sich in ein ihm unbekanntes Bildungssystem<br />
einzufinden <strong>und</strong> einzubinden. In der Handelsschule sieht sich Abdulayaz<br />
mit verschiedenen Her<strong>aus</strong>forderungen konfrontiert; <strong>eine</strong>rseits<br />
mit sprachlichen Hürden, <strong>andere</strong>rseits fehlt ihm <strong>das</strong> branchenspezifische<br />
Vorwissen. Diesen Her<strong>aus</strong>forderungen begegnet<br />
Abdulayaz mit Fleiss <strong>und</strong> Disziplin – indem er sehr viel lernt während<br />
s<strong>eine</strong>r Freizeit.<br />
Allgemein fordert sich Abdulayaz in der ihm unbekannten Umgebung<br />
<strong>und</strong> Kultur stets selber her<strong>aus</strong>. Obschon er auch Fre<strong>und</strong>schaften<br />
<strong>und</strong> Beziehungen zu Afghanen pflegt, sucht er bewusst den<br />
Kontakt zu «Nicht-Afghanen<strong>»</strong>, vor allem zu Schweizerinnen <strong>und</strong><br />
Schweizern, weil er s<strong>eine</strong> Deutschkenntnisse verbessern <strong>und</strong> die<br />
Schweizer Kultur näher kennenlernen <strong>und</strong> verstehen möchte.<br />
Es erstaunt nicht, <strong>das</strong>s ich mich auf Anhieb gut mit Abdulayaz<br />
verstehe. S<strong>eine</strong> offene, kontaktfreudige, herzliche <strong>und</strong> humorvolle<br />
Art weckt sofort Sympathie. So bildete sich zwischen uns rasch <strong>eine</strong><br />
gute Vertrauensbasis, die <strong>für</strong> <strong>das</strong> Buchinterview nötig war. Dabei<br />
erzählte Abdulayaz bewegende Erinnerungen <strong>aus</strong> s<strong>eine</strong>r Heimat,<br />
erschütternde Erlebnisse während s<strong>eine</strong>r Flucht <strong>und</strong> positive sowie<br />
negative Erfahrungen von s<strong>eine</strong>r Ankunft <strong>und</strong> Integration in der<br />
14 15
Schweiz. Seit er fünfzehn Jahre alt <strong>ist</strong>, <strong>ist</strong> Abdulayaz auf sich gestellt<br />
<strong>und</strong> lebt fern von s<strong>eine</strong>r Familie, Verwandten, Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Bekannten.<br />
Gleichzeitig freudig <strong>und</strong> traurig erzählt Abdulayaz von<br />
s<strong>eine</strong>r erfüllten Kindheit <strong>und</strong> von s<strong>eine</strong>m harmonischen Familienheim.<br />
Er erinnert sich gerne an <strong>das</strong> Aufwachsen mit s<strong>eine</strong>n Geschw<strong>ist</strong>ern<br />
<strong>und</strong> an die liebevolle Beziehung zu s<strong>eine</strong>r Mutter <strong>und</strong><br />
s<strong>eine</strong>m verstorbenen Vater. Diese kommt beispielsweise zum Ausdruck,<br />
als Abdulayaz vom Spitznamen erzählt, den ihm sein Vater<br />
gegeben hat: Ahmadzai.<br />
Leider änderte sich die Lebenssituation von Abdulayaz schlagartig<br />
während s<strong>eine</strong>r Jugend <strong>und</strong> zwang ihn zur Flucht. Die Gründe, die<br />
zu s<strong>eine</strong>r Flucht geführt haben, möchte Abdulayaz im Rahmen dieses<br />
Buches nicht teilen. Bei s<strong>eine</strong>n Erzählungen wird immer wieder<br />
deutlich, wie sehr ihn die anhaltende Trennung von s<strong>eine</strong>r Familie<br />
schmerzt. Unvorstellbar <strong>ist</strong> die quälende Ungewissheit, wann er s<strong>eine</strong><br />
Familie wiedersehen wird.<br />
In der Schweiz bemüht sich Abdulayaz sehr, sich zu integrieren,<br />
Kontakte zu knüpfen <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>schaften zu gewinnen. Dankbar<br />
erzählt er von wertvollen Unterstützungen, die er von Betreuerinnen<br />
<strong>und</strong> Betreuern oder von Personen, die er zufällig kennengelernt<br />
hatte, erhalten hat. So auch von <strong>eine</strong>m s<strong>eine</strong>r Betreuer, welcher ihm<br />
half, nach <strong>eine</strong>m Jahr in der Schweiz endlich Kontakt zu s<strong>eine</strong>r Familie<br />
in Afghan<strong>ist</strong>an aufzunehmen. Abdulayaz schildert auch zufällige<br />
Begegnungen, die ihm in schwierigen Situationen geholfen<br />
oder s<strong>eine</strong> Lebensumstände verbessert haben, unter <strong>andere</strong>m auf<br />
der Flucht. Er berichtet von freudigen Erlebnissen in der Schweiz,<br />
wie s<strong>eine</strong>r ersten Weihnachtsfeier im Thurhof oder s<strong>eine</strong>m dreiwöchigen<br />
Aufenthalt bei <strong>eine</strong>m Paar in L<strong>aus</strong>anne. Jedoch musste<br />
Abdulayaz auch negative Erfahrungen <strong>mach</strong>en <strong>und</strong> ertragen. Seit<br />
s<strong>eine</strong>r Ankunft in der Schweiz musste er oft die Unterkunft wechseln.<br />
Und nicht jede Unterkunfts- respektive Betreuungsform bot ihm <strong>das</strong><br />
Zuh<strong>aus</strong>e, in dem er sich als Jugendlicher geborgen gefühlt, <strong>und</strong> die<br />
Unterstützung, die er benötigt hätte. Auch war es nicht immer einfach<br />
<strong>für</strong> ihn, in der Schweiz Kontakt zu knüpfen, Fre<strong>und</strong>schaften zu<br />
schliessen <strong>und</strong> Beziehungen aufzubauen.<br />
All diese Erfahrungen <strong>mach</strong>en Abdulayaz wohl zu dem reifen<br />
Menschen, den ich kennenlernen durfte. Bemerkenswert finde ich<br />
die Willensstärke, die Abdulayaz aufwe<strong>ist</strong> <strong>und</strong> die Lebensfreude, die<br />
er <strong>aus</strong>strahlt.<br />
Herkunftsland<br />
Wie hast du gewohnt? Kannst du mir erzählen, wo du<br />
aufgewachsen b<strong>ist</strong>?<br />
Ich bin in <strong>eine</strong>m kl<strong>eine</strong>n Dorf namens Chilar in Afghan<strong>ist</strong>an aufgewachsen.<br />
Das liegt in der Provinz Baghlan, im D<strong>ist</strong>rikt Tala Wa Barfak.<br />
Das Dorf <strong>ist</strong> etwa so gross wie Trogen. M<strong>eine</strong> <strong>ganz</strong>e Familie<br />
lebte dort, sie sind immer noch dort. Ich bin all<strong>eine</strong> geflüchtet.<br />
Was hat <strong>dir</strong> als Kind Freude bereitet? Was hast du besonders gerne<br />
ge<strong>mach</strong>t?<br />
Als Kind habe ich am häufigsten mit m<strong>eine</strong>n Cousins <strong>und</strong> Cousinen<br />
gespielt. Am me<strong>ist</strong>en Freude hat mir bereitet, bei m<strong>eine</strong>r Mutter,<br />
m<strong>eine</strong>m kl<strong>eine</strong>n Bruder <strong>und</strong> dem Rest der Familie zu sein. Ich bin<br />
mit <strong>eine</strong>m Cousin aufgewachsen, der in m<strong>eine</strong>m Alter war.<br />
Wie b<strong>ist</strong> du aufgewachsen? Wie hat d<strong>eine</strong> Familie gelebt?<br />
Ich bin mit m<strong>eine</strong>r Familie in <strong>eine</strong>m H<strong>aus</strong> aufgewachsen. Ich habe<br />
sechs Geschw<strong>ist</strong>er, zwei Brüder <strong>und</strong> vier Schwestern. Eine Schwester<br />
war jedoch bereits verheiratet <strong>und</strong> hatte selbst Kinder.<br />
Woran erinnerst du dich gerne, wenn du an die Zeit in d<strong>eine</strong>m<br />
Herkunftsland denkst?<br />
Am besten erinnere ich mich an m<strong>eine</strong> Mutter. Sie hat mir <strong>und</strong> m<strong>eine</strong>n<br />
Geschw<strong>ist</strong>ern immer Geschichten erzählt. Am häufigsten hat<br />
sie uns Geschichten vor dem Zubettgehen erzählt.<br />
16 17
Die schönste Erinnerung, die ich habe, <strong>ist</strong>, als ich zum ersten Mal<br />
mit m<strong>eine</strong>m Bruder in die Stadt gegangen bin. Wir sind durch die<br />
Stadt spaziert <strong>und</strong> mein Bruder hat mir Dinge gekauft. Es war <strong>das</strong><br />
erste Mal in <strong>eine</strong>r Stadt <strong>für</strong> mich. Ich wusste nicht, was da <strong>ist</strong>, <strong>und</strong><br />
als ich die vielen Leute gesehen habe, die alles Denkbare verkauften,<br />
wollte ich immer mehr Dinge kriegen. Und mein Bruder konnte<br />
m<strong>eine</strong> Wünsche nicht ablehnen.<br />
Auch an m<strong>eine</strong>n Vater habe ich sehr viele schöne Erinne rungen.<br />
Leider lebt er nicht mehr. Er hatte <strong>eine</strong>n kl<strong>eine</strong>n Laden in <strong>eine</strong>m<br />
<strong>andere</strong>n Dorf. Früher <strong>ist</strong> er all<strong>eine</strong> in den Laden gegan gen, <strong>und</strong> als<br />
ich älter wurde, durfte ich ab <strong>und</strong> zu mitgehen. Jeden Mittag ging<br />
er schlafen. Bei uns im Dorf haben wir nicht so viele K<strong>und</strong>en. Als er<br />
schlafen ging, war der Laden aber trotzdem offen. Er schlief dr<strong>aus</strong>sen<br />
auf <strong>eine</strong>m Bett. Einmal bin ich unters Bett gekrochen <strong>und</strong> hab ihn<br />
von unten mit <strong>eine</strong>r Nadel gestochen. Er <strong>ist</strong> dabei aufgewacht, hat<br />
mich aber nicht gesehen unter dem Bett. Er hat daraufhin <strong>eine</strong> St<strong>und</strong>e<br />
lang nach mir gesucht, da ich mich so lange versteckt habe. Als<br />
ich hervorgekrochen bin, hat er mich gefragt, ob ich <strong>das</strong> war mit der<br />
Nadel. Ich habe es eingestanden, <strong>und</strong> trotzdem hat er mir <strong>eine</strong> Schokolade<br />
geschenkt. Wir hatten damals auch kein Auto, <strong>und</strong> er hat mich<br />
auf dem Weg zum Laden immer auf den Schultern getragen. Später<br />
durfte ich dann jeden Tag mit in den Laden, <strong>und</strong> manchmal habe ich<br />
nicht so gehorcht, aber er war mir nie böse.<br />
Eine weitere schöne Erinnerung <strong>ist</strong>, wie ich zu H<strong>aus</strong>e mit m<strong>eine</strong>r<br />
Mutter <strong>und</strong> m<strong>eine</strong>m jüngeren Bruder zusammen in <strong>eine</strong>m Bett geschlafen<br />
habe.<br />
Ich war <strong>aus</strong>serdem der Lieblingssohn m<strong>eine</strong>s Vaters, obwohl er<br />
noch zwei weitere Söhne hatte. M<strong>eine</strong> Brüder sagen mir heute noch,<br />
<strong>das</strong>s ich der Lieblingssohn m<strong>eine</strong>s Vaters war. M<strong>eine</strong> Mutter vermisst<br />
mich sehr. M<strong>eine</strong> Mutter liebte mich damals auch, aber nicht so sehr<br />
wie mein Vater. Jetzt <strong>ist</strong> es so, <strong>das</strong>s m<strong>eine</strong> Mutter mich sehr vermisst.<br />
Wenn ich mit ihr telefoniere, dann weint sie me<strong>ist</strong>ens. Dann sagen<br />
m<strong>eine</strong> Brüder jeweils, <strong>das</strong>s ich weiterhin der Lieblingssohn in m<strong>eine</strong>r<br />
Familie bin.<br />
Ich lebte nicht die <strong>ganz</strong>e Zeit in diesem Dorf. M<strong>eine</strong> Schwester<br />
hat die Ausbildung zur Lehrerin ge<strong>mach</strong>t. Da<strong>für</strong> zog sie in die Stadt.<br />
Bei uns <strong>ist</strong> es so, <strong>das</strong>s immer <strong>eine</strong> männliche Person die Frau begleiten<br />
muss. Daher habe ich sie begleitet. Ich war damals sehr jung.<br />
Ich ging zur Schule, sie ging zur Uni <strong>und</strong> am Abend waren wir immer<br />
zusammen. Sie hat mir bei m<strong>eine</strong>n H<strong>aus</strong>aufgaben sehr geholfen,<br />
obwohl sie selbst viele H<strong>aus</strong>aufgaben hatte. Wir lebten damals in<br />
<strong>eine</strong>m H<strong>aus</strong> von Bekannten unserer Familie. Wir lebten zusammen<br />
mit der Familie. Deren Kinder waren etwa in m<strong>eine</strong>m Alter.<br />
B<strong>ist</strong> du während dieser Zeit hin <strong>und</strong> wieder nach H<strong>aus</strong>e zu d<strong>eine</strong>r<br />
Familie gegangen?<br />
Ja, wir gingen ungefähr alle sechs Monate nach H<strong>aus</strong>e zu unserer<br />
Familie. Das war etwa <strong>eine</strong> vierstündige Fahrt entfernt. Das <strong>ist</strong> <strong>das</strong><br />
erste Mal hier in der Schweiz, <strong>das</strong>s ich m<strong>eine</strong> Familie so lange nicht<br />
gesehen habe.<br />
Wonach hast du Heimweh?<br />
Nach m<strong>eine</strong>r Mutter. Ich vermisse sie die <strong>ganz</strong>e Zeit. Auch m<strong>eine</strong><br />
Ge schw<strong>ist</strong>er. Und m<strong>eine</strong> Cousins. Am me<strong>ist</strong>en habe ich Heimweh<br />
nach m<strong>eine</strong>r Familie. Das Land fehlt mir auch. Ich vermisse beispielsweise<br />
<strong>das</strong> leckere Essen in Afghan<strong>ist</strong>an sehr. Die Natur vermisse ich<br />
auch.<br />
Wir hatten damals ein Spiel, es heisst «Buzkaschi<strong>»</strong>. Es <strong>ist</strong> ein Spiel<br />
mit Pferden, <strong>das</strong> vermisse ich auch sehr. Ich habe nicht selber gespielt,<br />
aber wir sind oft an solche Spiele gegangen, um zuzuschauen.<br />
Ich schaue es auch jetzt manchmal auf Youtube, aber <strong>das</strong> <strong>ist</strong> nicht<br />
<strong>das</strong>selbe.<br />
Wie lange b<strong>ist</strong> du in Afghan<strong>ist</strong>an zur Schule gegangen?<br />
Ich bin bis zur neunten Klasse in die Schule gegangen. Sechs Jahre<br />
18 19
ging ich mit m<strong>eine</strong>r Schwester in m<strong>eine</strong>m Dorf zur Schule. An dieser<br />
Schule war mein Bruder Lehrer. Ich ging dann nochmals vier<br />
Jahre in die Schule, nachdem ich mit m<strong>eine</strong>r Schwester in die Stadt<br />
gezogen bin.<br />
Hattest du Unterricht bei d<strong>eine</strong>m Bruder?<br />
Ja, er war unser Mathelehrer. Dann hat er aber wieder studiert, <strong>und</strong><br />
nun <strong>ist</strong> er Arzt. Von m<strong>eine</strong>r Familie könnte ich noch mehr erzählen.<br />
Du b<strong>ist</strong> also bis zur zehnten Klasse in die Schule gegangen?<br />
Nein, im ersten Schuljahr in der Stadt konnte ich dem Unterricht<br />
nicht richtig folgen <strong>und</strong> bestand nicht alle Prüfungen. Ich musste<br />
daher <strong>das</strong> Jahr wiederholen. Danach war ich aber gut in der Schule,<br />
ich war Klassenbester. Die Stadt, in der wir lebten, heisst Pol-e<br />
Chomri, <strong>das</strong> <strong>ist</strong> der Hauptort von Baghlan.<br />
Möchtest du mir nun von d<strong>eine</strong>r Familie erzählen?<br />
Ja, ich habe zwei Brüder <strong>und</strong> vier Schwestern <strong>und</strong> m<strong>eine</strong> Mutter.<br />
Mein Vater <strong>ist</strong> verstorben.<br />
Ich habe zwei Namen. Mein Vater hat mich immer «Ahmadzai<strong>»</strong><br />
genannt, weil ich so gut in der Schule war. Ahmadzai <strong>ist</strong> die Bezeichnung<br />
<strong>für</strong> die klügste Person in Afghan<strong>ist</strong>an. Ahmad <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> Art<br />
«Gottbezeichnung<strong>»</strong>. Ahmadzai <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> Person, die sehr intellektuell<br />
<strong>ist</strong> <strong>und</strong> schnell schreiben kann. Es hat <strong>eine</strong> sehr gute Bedeutung.<br />
Mein Name hat auch <strong>eine</strong> gute Bedeutung.<br />
Was <strong>ist</strong> die Bedeutung d<strong>eine</strong>s Namens?<br />
«Abdul<strong>»</strong> bedeutet Knecht, Diener <strong>und</strong> «Ayaz<strong>»</strong> bedeutet «Trockene<br />
<strong>und</strong> strenge Kälte während der hellen Winternächte<strong>»</strong>. Als ich klein<br />
war, habe ich m<strong>eine</strong>r Mutter vorgeworfen, <strong>das</strong>s sie mir diesen Namen<br />
gegeben hat. Aber sie hat ihn mir nicht gegeben, sondern mein<br />
Onkel. Mein Vater hat mich immer Ahmadzai genannt. Er sagte<br />
m<strong>eine</strong>r Mutter, ich sei sehr klug, gut in der Schule <strong>und</strong> er liebe mich<br />
sehr, deshalb nenne er mich Ahmadzai. M<strong>eine</strong> Lieblingsschwester<br />
<strong>ist</strong> auch sehr intelligent, deshalb hat mein Vater auch sie immer wie-<br />
der Ahmadzai genannt. Mein ältester Bruder stritt immer wieder<br />
mit m<strong>eine</strong>m Vater <strong>und</strong> fragte, wieso er uns Ahmadzai nannte <strong>und</strong><br />
ihn nicht.<br />
Was hat zu der Entscheidung geführt, Afghan<strong>ist</strong>an zu verlassen?<br />
Ich wollte mein Land <strong>und</strong> m<strong>eine</strong> Familie nicht verlassen. Ich musste<br />
flüchten, als ich etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war. Ich<br />
möchte aber nicht näher über m<strong>eine</strong>n Fluchtgr<strong>und</strong> sprechen.<br />
Flucht<br />
Möchtest du darüber reden, wo du durchgere<strong>ist</strong> b<strong>ist</strong>?<br />
Ja, ich bin mit <strong>eine</strong>m Schlepper <strong>aus</strong> unserem Dorf geflüchtet. Zuerst<br />
nach Kabul. Dort haben wir <strong>eine</strong> Nacht verbracht, dann sind wir mit<br />
dem Auto weitergefahren. An der Grenze zu Pak<strong>ist</strong>an war es sehr<br />
schlimm. Ich bin mit etwa zehn oder zwölf <strong>andere</strong>n Personen nicht<br />
über die Strasse, sondern über die Berge gegangen. Da gab es auch<br />
Poliz<strong>ist</strong>en, die uns kontrolliert haben, ob wir etwas Verbotenes, Drogen<br />
oder so, nach Pak<strong>ist</strong>an bringen würden. Sie haben uns mit den<br />
Händen abgetastet. Wir sind versteckt nach Pak<strong>ist</strong>an eingedrungen.<br />
Die Schlepper kannten die Poliz<strong>ist</strong>en, sie haben bezahlt, damit die<br />
uns nicht melden würden. In Pak<strong>ist</strong>an waren wir etwa drei Tage<br />
lang. Wir sind mit dem Auto durch Pak<strong>ist</strong>an gere<strong>ist</strong>, aber wir sind<br />
nur in der Nacht gefahren. Wir mussten uns tagsüber verstecken.<br />
Wenn sie uns erwischt hätten, hätten sie uns zurückgeschickt. Ich<br />
hatte mehrere Schlepper. Ich bin sozusagen immer wieder verkauft<br />
worden. Ich habe nur den ersten Schlepper bezahlt <strong>und</strong> der hat mich<br />
weiterverkauft. In Pak<strong>ist</strong>an hatte ich <strong>eine</strong>n pak<strong>ist</strong>anischen Schlepper.<br />
An der Grenze zum Iran konnten wir nicht mehr mit dem Auto<br />
fahren. Noch vor der Grenze hatte ich <strong>eine</strong>n iranischen Schlepper.<br />
Der pak<strong>ist</strong>anische Schlepper <strong>ist</strong> auch mit uns bis zur Grenze gekommen.<br />
Im Iran sind wir auch in der Nacht geflüchtet, tagsüber haben wir<br />
20 21
Warte, ich muss erst überlegen. Also – wenn ich du wäre, würde ich<br />
mich fragen, warum ich bei dem Buchprojekt mit<strong>mach</strong>e.<br />
Und d<strong>eine</strong> Antwort darauf?<br />
Damit ich <strong>andere</strong>n helfen kann. Wenn jemand m<strong>eine</strong> Geschichte<br />
liest, dann kann er oder sie verstehen, was Flucht in etwa bedeutet.<br />
Wie es sich anfühlt, in <strong>eine</strong>m <strong>Asyl</strong>heim zu wohnen. Oder als Jugendlicher<br />
allein auf sich gestellt zu sein. Und <strong>das</strong>s sich Dinge bessern.<br />
Dass es Zeit braucht.<br />
Die Gespräche fanden am 17. <strong>und</strong> 26. Oktober 2019 statt.<br />
Mohammad erhielt die Lehrstelle als Log<strong>ist</strong>iker bei der Schweizer<br />
Post. Die Ausbildung war jedoch wegen Nachtarbeitszeit nicht<br />
mit der Schule vereinbar, <strong>und</strong> er brach sie nach kurzer Zeit ab.<br />
Fluchtwege <strong>und</strong> Fluchtländer<br />
Von Kaspar Surber<br />
Die Luftd<strong>ist</strong>anz von St. Gallen nach Damaskus, der syrischen Hauptstadt,<br />
beträgt 2732 Kilometer. Bis nach Bamako in Mali sind es 4193<br />
Kilometer, nach Kabul in Afghan<strong>ist</strong>an 5089 <strong>und</strong> nach Mogadischu<br />
in Somalia sogar 6119. Auf dem Land- <strong>und</strong> dem Seeweg führt die Reise<br />
oft noch T<strong>aus</strong>ende von Kilometern weiter. Wie sie diese zurückgelegt<br />
haben, oft über Monate, manchmal über Jahre, erzählen Asef, Aamina,<br />
Mamadou <strong>und</strong> die <strong>andere</strong>n jungen Geflüchteten in diesem Buch<br />
auf eindrückliche Weise: von den Risiken, denen sie <strong>aus</strong>gesetzt waren,<br />
von den Hoffnungen, die sie begleitet haben, <strong>und</strong> auch von den<br />
Zufällen, die sie über Zürich oder München letztlich in die <strong>Ostschweiz</strong><br />
geführt haben. Immer klingen in den Gesprächen auch die<br />
politischen oder gesellschaftlichen Gründe an, die Flüchtlingsbewegungen<br />
<strong>aus</strong>lösen.<br />
In diesem Beitrag soll die Menschenrechtssituation in den einzelnen<br />
Herkunftstaaten allgemein geschildert werden. Vor allem aber<br />
soll auch die Frage beantwortet werden, wie die Fluchtrouten von<br />
der europäischen <strong>Asyl</strong>politik bestimmt werden. Einer Politik, die<br />
im Flüchtlingssommer 2015, als viele der hier Porträtierten unterwegs<br />
waren, <strong>eine</strong> einmalige Öffnung erlebte. Die allerdings davor<br />
<strong>und</strong> in den letzten Jahren wieder verstärkt auf die Abweisung von<br />
Geflüchteten zielte <strong>und</strong> sie bis heute auf lebensgefährliche <strong>und</strong> oft<br />
auch tödliche Routen zwingt.<br />
Krieg, Folter <strong>und</strong> Dürren<br />
Der syrische Bürgerkrieg <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> der grossen Katastrophen unserer<br />
Gegenwart. Mehr als dreih<strong>und</strong>ertachzigt<strong>aus</strong>end Menschen haben<br />
deswegen ihr Leben verloren, mehr als ein Drittel davon Zivil<strong>ist</strong>in-<br />
225
nen <strong>und</strong> Zivil<strong>ist</strong>en. So lautet die letzte Schätzung der oppositionsnahen<br />
Syrischen <strong>Beobachtungsstelle</strong> <strong>für</strong> Menschenrechte. Mehr als<br />
dreizehn Millionen Menschen sind in die Flucht getrieben worden,<br />
die Hälfte davon sind Binnenflüchtlinge, schreibt <strong>das</strong> UNO-Flüchtlingshilfswerk<br />
UNHCR. Ein wichtiger Hinweis: Der grösste Teil von<br />
ihnen fand Aufnahme in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, im<br />
Irak <strong>und</strong> in Ägypten. Obwohl die Lage in diesen Ländern selbst<br />
prekär <strong>ist</strong>, le<strong>ist</strong>en diese oft <strong>eine</strong>n solidarischeren Beitrag als die europäischen<br />
Staaten.<br />
Der syrische Bürgerkrieg, der mit friedlichen Protesten gegen<br />
<strong>das</strong> autoritäre Regime von Baschar al-Assad während des Arabischen<br />
Frühlings 2011 begann, hat sich längst zu <strong>eine</strong>m internationalen<br />
Stellvertreterkrieg entwickelt, in dem neben der syrischen Regierung<br />
unter <strong>andere</strong>m die Türkei, Russland, der Iran <strong>und</strong> die USA,<br />
kurdische Milizen <strong>und</strong> oppositionelle Gruppen um die Vorherrschaft<br />
über einzelne Gebiete ringen. Der bewaffnete Konflikt geht<br />
un vermittelt weiter. Amnesty International konstatierte 2019 erneut<br />
Kriegsverbrechen <strong>und</strong> schwere Verletzungen des humanitären<br />
Völkerrechts sowie der Menschenrechte. Demnach kam es zu zielgerichteten<br />
Angriffen auf die Zivilbevölkerung, zu willkürlichen<br />
Inhaftierungen sowie zu Folter. Der Zugang zu humanitärer Hilfe<br />
<strong>und</strong> medizinischer Versorgung <strong>ist</strong> <strong>für</strong> viele Menschen weiterhin<br />
nicht gewährle<strong>ist</strong>et.<br />
Eine endlos wirkende kriegerische Auseinandersetzung findet seit<br />
den Angriffen der US-Koalition 2001 auch in Afghan<strong>ist</strong>an statt. Die<br />
islam<strong>ist</strong>ischen Taliban befinden sich dabei in <strong>eine</strong>r stärkeren militärischen<br />
Position als je in den letzten beiden Jahrzehnten. Die von<br />
den USA gestützte Regierung <strong>und</strong> ihre Streitkräfte können die<br />
Sicherheit der Bevölkerung nicht garantieren. Die Schweizerische<br />
Flüchtlingshilfe spricht in ihrem Länderbericht von <strong>eine</strong>r «explosiven<br />
Pattsituation<strong>»</strong>. Die Kampfhandlungen haben insbesondere die<br />
Provinz Ghazni betroffen, <strong>aus</strong> der die me<strong>ist</strong>en der jungen Af ghanen<br />
stammen, die in diesem Buch zu Wort kommen. Grossan griffe der<br />
Taliban in diesem Gebiet führten 2018 zu massiven Vertreibungen.<br />
Das Leben der Menschen in Afghan<strong>ist</strong>an <strong>ist</strong> auch im Alltag stark<br />
erschwert. Die Korruption bestimmt alle gesellschaftlichen Bereiche,<br />
die Landwirtschaft wurde von <strong>eine</strong>r Dürre getroffen. Amnesty<br />
International we<strong>ist</strong> darauf hin, <strong>das</strong>s Frauen <strong>und</strong> Kinder oft von<br />
geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind.<br />
Um noch auf die beiden afrikanischen Herkunftstaaten der Jugendlichen<br />
zu sprechen zu kommen: Im Norden Malis herrscht seit<br />
2012 ein Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Milizen <strong>und</strong> staatlichen<br />
Sicherheitskräften, bei dem es immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen<br />
an Zivil<strong>ist</strong>innen <strong>und</strong> Zivil<strong>ist</strong>en kommt. Für r<strong>und</strong><br />
drei Millionen Einwohnerinnen <strong>und</strong> Einwohner <strong>ist</strong> wegen des Konfliktes<br />
die Ernährungssicherheit nicht gegeben. Die angespannte<br />
Sicherheitslage schränkte zudem <strong>das</strong> Recht auf Bildung ein – gemäss<br />
Amnesty International mussten 2019 mehr als t<strong>aus</strong>end Schulen geschlossen<br />
werden. Auch weil der amtierende Präsident Ibrahim Boubacar<br />
Keïta die Sicherheit des Landes nicht garantieren konnte, kam<br />
es im Sommer 2020 zu breiten Protesten <strong>und</strong> schliesslich <strong>eine</strong>m<br />
Militärputsch.<br />
Somalia, wo nach dem Sturz des autoritären Regimes von Siad<br />
Barre 1991 ein jahrzehntelanger Bürgerkrieg herrschte, <strong>ist</strong> bis heute<br />
ein äusserst fragiler Staat. Warlords, Clans <strong>und</strong> die islam<strong>ist</strong>ische<br />
Al-Shabaab-Miliz ringen dabei um Einfluss. 2017 wurde <strong>das</strong> Land<br />
zudem von <strong>eine</strong>r besonders schweren Dürre getroffen. Mehr als drei<br />
Millionen Menschen, darunter viele Kinder, litten akut an Hunger.<br />
Fast <strong>eine</strong> Million Menschen wurden wegen der Naturkatastrophe<br />
zu Binnenvertriebenen.<br />
226 227
Visa, Zäune <strong>und</strong> Überwachung<br />
Ob von Mali in Westafrika oder von Afghan<strong>ist</strong>an in Zentralasien:<br />
Die Fluchtbewegungen <strong>aus</strong> den verschiedenen Konfliktregionen verengen<br />
sich Richtung Europa zu einigen wenigen Routen. Die wichtigsten<br />
sind derzeit die sogenannte zentrale Mittelmeeroute <strong>und</strong> die<br />
östliche Mittelmeerroute.<br />
Die zentrale Mittelmeerroute beginnt entweder in den west- oder<br />
den ostafrikanischen Staaten. Auf der gefährlichen Reise durch die<br />
Sahara gelangen die Geflüchteten nach Libyen. In diesem Bürgerkriegsland<br />
werden sie oft unter unmenschlichen Bedingungen in<br />
Lagern inhaftiert. Wenn sie die Überfahrt finanzieren können, gelangen<br />
sie me<strong>ist</strong> über Lampedusa, Malta oder <strong>andere</strong> dem Festland<br />
vorgelagerte Inseln nach Europa. Bei der gefährlichen Fahrt, die oft<br />
in schlecht <strong>aus</strong>gerüsteten <strong>und</strong> überfüllten Booten erfolgt, haben in<br />
den letzten Jahrzehnten mehr als dreissigt<strong>aus</strong>end Menschen ihr<br />
Leben verloren.<br />
Die östliche Mittelmeerroute wiederum führt von Afghan<strong>ist</strong>an<br />
über den Irak beziehungsweise von Syrien in die Türkei. Via Istanbul<br />
gelangen die Flüchtenden in die Ägais <strong>und</strong> versuchen, auf <strong>eine</strong> der<br />
griechischen Inseln überzusetzen. Diese Schiffsstrecke <strong>ist</strong> deutlich<br />
kürzer als die auf der zentralen Mittelmeerroute, doch auch hier<br />
kommt es immer wieder zu tödlichen Schiffsunglücken, nicht zuletzt<br />
wegen des aggressiven Auftretens der Küstenwachen. Gelingt die<br />
Überfahrt, kommen die Geflüchteten oft in Lager wie auf Lesbos<br />
oder Samos. Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese seit<br />
Längerem wegen der unhaltbaren Situation bezüglich Ernährung<br />
<strong>und</strong> Hygiene. Der weitere Weg führt via die osteuropäischen Staaten<br />
in den Norden Europas.<br />
Dass sich die Fluchten auf diesen wenigen, sehr gefährlichen<br />
Wegen abspielen, <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> Folge der europäischen Grenzsicherungs<strong>und</strong><br />
<strong>Asyl</strong>abkommen von Schengen <strong>und</strong> Dublin. Über ihre Mitglied-<br />
schaft <strong>ist</strong> auch die Schweiz eng in dieses Abwehrdispositiv eingeb<strong>und</strong>en.<br />
Das Abkommen von Schengen regelt die gemeinsame<br />
Grenzkontrolle, <strong>das</strong>jenige von Dublin sieht vor, <strong>das</strong>s <strong>eine</strong> geflüchtete<br />
Person nur im Ankunftsland ein <strong>Asyl</strong>gesuch stellen kann. Weil die<br />
Visavergabe der europäischen Staaten in den letzten Jahren stark<br />
eingeschränkt <strong>und</strong> <strong>das</strong> Botschaftsasyl 2012 abgeschafft wurde, werden<br />
die Geflüchteten auf den Landweg gezwungen.<br />
Wegen Grenzschutzmassnahmen, zu denen beispielsweise <strong>das</strong><br />
Errichten <strong>eine</strong>s Zaunes an der griechisch-türkischen Landgrenze<br />
gehört, bleiben nur die erwähnten Meerespassagen, um nach Europa<br />
zu gelangen. Das Dublin-System wiederum exponiert die südlichen<br />
Staaten bei den <strong>Asyl</strong>aufnahmen besonders <strong>und</strong> verhindert <strong>eine</strong><br />
solidarische Unterbringung der Geflüchteten in den europäischen<br />
Staaten. Die EU <strong>und</strong> die Schweiz tragen somit <strong>eine</strong> Mitverantwortung<br />
<strong>für</strong> die Bootsunglücke <strong>und</strong> die unmenschliche Situation in den<br />
Flüchtlingslagern wie auf Lesbos.<br />
In Zukunft <strong>ist</strong> zu be<strong>für</strong>chten, <strong>das</strong>s sich die Grenzkontrolle noch<br />
weiter in den Süden verlagert. So unterstützt die EU Projekte zur<br />
Grenzsicherung in der Sahara, finanziert die libysche Küstenwache,<br />
die Boote am Auslaufen hindert, <strong>und</strong> will bei ihrer geplanten Reform<br />
des Dublinvertrags die <strong>Asyl</strong>prüfung stärker als bisher an die Aussengrenzen<br />
verlagern, um <strong>Asyl</strong>suchende möglichst schnell abweisen<br />
zu können. Wie auf diese Weise <strong>das</strong> <strong>Asyl</strong>recht, <strong>eine</strong>s der f<strong>und</strong>amentalen<br />
Rechte der Moderne, gesichert werden soll, steht in den europäischen<br />
Sternen.<br />
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