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Auszüge aus: Appell Sexarbeit-ist-Arbeit.ch (Hg.): Ich bin Sexarbeiterin

Appell Sexarbeit-ist-Arbeit.ch (Hg.) Ich bin Sexarbeiterin Porträts und Texte Mit Fotografien von Yoshiko Kusano Limmat Verlag 2020

Appell Sexarbeit-ist-Arbeit.ch (Hg.)
Ich bin Sexarbeiterin
Porträts und Texte
Mit Fotografien von Yoshiko Kusano
Limmat Verlag 2020

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I<strong>ch</strong> <strong>bin</strong><br />

<strong>Sexarbeit</strong>erin<br />

Porträts<br />

und Texte<br />

Mit Beiträgen von Naomi Gregoris, Miriam Suter,<br />

Noëmi Landolt, Brigitte Hürlimann, Juno Mac,<br />

Eva S<strong>ch</strong>uma<strong>ch</strong>er, Harriet Langanke, Serena O. Dankwa<br />

Fotografien von Yoshiko Kusano<br />

Her<strong>aus</strong>gegeben vom <strong>Appell</strong> «<strong>Sexarbeit</strong> <strong>ist</strong> <strong>Arbeit</strong>»<br />

Aids-Hilfe S<strong>ch</strong>weiz, Aspasie, cfd Die femin<strong>ist</strong>is<strong>ch</strong>e<br />

Friedensorganisation, FIZ Fa<strong>ch</strong>stelle Frauenhandel und<br />

Frauen migration, Lys<strong>ist</strong>rada Fa<strong>ch</strong>stelle für <strong>Sexarbeit</strong>,<br />

ProCoRe Nationale Ges<strong>ch</strong>äftsstelle <strong>Sexarbeit</strong>, TERRE<br />

DES FEMMES S<strong>ch</strong>weiz, Xenia Fa<strong>ch</strong>stelle <strong>Sexarbeit</strong>,<br />

Zür<strong>ch</strong>er Stadtmission / Isla Victoria<br />

Limmat Verlag<br />

Züri<strong>ch</strong>


7 Vorwort<br />

11 Einleitung<br />

21 «Die Hoffnungs losigkeit zu H<strong>aus</strong>e war s<strong>ch</strong>limmer.»<br />

Adrienn | Porträtiert von Naomi Gregoris<br />

29 «Nebenher baue i<strong>ch</strong> momentan eine Karriere in der<br />

Krypto-Bran<strong>ch</strong>e auf.»<br />

Lady Kate | Porträtiert von Miriam Suter<br />

35 «I<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>te es, um zu überleben.»<br />

Aimée | Aufgezei<strong>ch</strong>net von Naomi Gregoris<br />

43 «Du kannst ni<strong>ch</strong>t dein ganzes Leben etwas ma<strong>ch</strong>en, was<br />

du verstecken musst.»<br />

Charizma | Aufgezei<strong>ch</strong>net von Noëmi Landolt<br />

55 Im Würgegriff der Paragrafen – und der Vorurteile<br />

Brigitte Hürlimann<br />

67 Das Gesetz, das si<strong>ch</strong> <strong>Sexarbeit</strong>er*innen wirkli<strong>ch</strong><br />

wüns<strong>ch</strong>en | TEDx East End von Juno Mac<br />

83 «Woher kommt die Angst vor den Huren?<br />

I<strong>ch</strong> weiss es ni<strong>ch</strong>t.»<br />

Judith Aregger | Aufgezei<strong>ch</strong>net von Eva S<strong>ch</strong>uma<strong>ch</strong>er<br />

91 «I<strong>ch</strong> spre<strong>ch</strong>e immer ein Gebet, bevor i<strong>ch</strong> r<strong>aus</strong>gehe, um<br />

zu arbeiten.»<br />

Kazue | Porträtiert von Noëmi Landolt<br />

99 «Du glaubst ni<strong>ch</strong>t, wie viele Männer denken,<br />

du müsstest gerettet werden.»<br />

Emma | Porträtiert von Naomi Gregoris


111 Freier<br />

Harriet Langanke<br />

121 <strong>Sexarbeit</strong>. Ma<strong>ch</strong>t. Rassismus.<br />

Serena O. Dankwa im Gesprä<strong>ch</strong> mit Shelley Berlowitz<br />

131 «Zack, die ganze Körperli<strong>ch</strong>keit.»<br />

Roman | Porträtiert von Eva S<strong>ch</strong>uma<strong>ch</strong>er<br />

137 «We make business, not love.»<br />

Victoria | Porträtiert von Miriam Suter<br />

143 «Sex <strong>ist</strong> ni<strong>ch</strong>t immer mit Sex verbunden.»<br />

Domina Lady Latina und Chantal | Im Gesprä<strong>ch</strong> mit<br />

Eva S<strong>ch</strong>uma<strong>ch</strong>er<br />

Vorwort<br />

Über wenige Themen wird so emotional und kontrovers debattiert<br />

wie über <strong>Sexarbeit</strong> – au<strong>ch</strong> in femin<strong>ist</strong>is<strong>ch</strong>en Kreisen.<br />

Debattiert wird dabei oft über <strong>Sexarbeit</strong>er*innen, ni<strong>ch</strong>t mit<br />

ihnen. Dieses Bu<strong>ch</strong> gibt Gegensteuer. Hier kommen <strong>Sexarbeit</strong>er*innen<br />

selber zu Wort.<br />

Emma beispielsweise hat ursprüngli<strong>ch</strong> Tourismus studiert<br />

und arbeitet Teilzeit in einem Hotel in Spanien. In der S<strong>ch</strong>weiz<br />

<strong>ist</strong> sie <strong>Sexarbeit</strong>erin. Sie ma<strong>ch</strong>t halbe halbe, <strong>aus</strong> wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>em<br />

Pragmatismus. Aimée hätte gerne mehr gelernt, wäre<br />

gerne eine erfolgrei<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>äftsfrau geworden. Prostituierte<br />

<strong>ist</strong> sie geworden, um zu überleben. Lady Kate arbeitet seit fünf<br />

Jahren freis<strong>ch</strong>affend und entdeckt immer wieder neue Mögli<strong>ch</strong>keiten,<br />

ihre Erfahrung als <strong>Sexarbeit</strong>erin einzusetzen. Sie<br />

baut si<strong>ch</strong> neben der <strong>Arbeit</strong> als <strong>Sexarbeit</strong>erin eine Karriere in<br />

der Krypto-Bran<strong>ch</strong>e auf. Victoria <strong>ist</strong> in ärmli<strong>ch</strong>en Verhältnissen<br />

aufgewa<strong>ch</strong>sen. Für sie <strong>ist</strong> <strong>Sexarbeit</strong> einfa<strong>ch</strong> ein Job. Wenn<br />

die Männer nett sind, <strong>ist</strong> der Job okay. Sie <strong>ist</strong> au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on von<br />

der <strong>Arbeit</strong> na<strong>ch</strong> H<strong>aus</strong>e gekommen und hat si<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>woren,<br />

dass sie <strong>aus</strong>steigt.<br />

Die zehn Porträts in diesem Bu<strong>ch</strong> zeigen die Vers<strong>ch</strong>iedenheit<br />

der <strong>Arbeit</strong>s- und Lebensrealitäten von <strong>Sexarbeit</strong>er*innen<br />

und geben einen kleinen Einblick in ein vielfältiges Gewerbe.<br />

Die Porträtierten erzählen ihre persönli<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te – sie<br />

wollen ni<strong>ch</strong>t für alle <strong>Sexarbeit</strong>er*innen spre<strong>ch</strong>en, ihre individuellen<br />

Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten können ni<strong>ch</strong>t für ein ganzes <strong>Arbeit</strong>sfeld<br />

stehen. Die Fa<strong>ch</strong>artikel ordnen die <strong>Sexarbeit</strong> gesamtgesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong><br />

ein. Sie ergänzen die individuellen Porträts, indem<br />

sie die <strong>Sexarbeit</strong> <strong>aus</strong> re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er, sozialwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>er und<br />

politis<strong>ch</strong>er Perspektive beleu<strong>ch</strong>ten.<br />

7


Es kann gute Gründe geben, si<strong>ch</strong> eine Gesells<strong>ch</strong>aft ohne<br />

<strong>Sexarbeit</strong> zu wüns<strong>ch</strong>en. Aber immer gilt ohne Wenn und Aber:<br />

Die Grundre<strong>ch</strong>te der <strong>Sexarbeit</strong>er*innen müssen gewahrt und<br />

dur<strong>ch</strong>gesetzt werden. Das Re<strong>ch</strong>t auf Mens<strong>ch</strong>enwürde beispielsweise,<br />

die Re<strong>ch</strong>tsglei<strong>ch</strong>heit und das Diskriminierungsverbot<br />

– oder au<strong>ch</strong> so konkrete Dinge wie der Zugang zu Unterstützungs-<br />

und Beratungsangeboten oder zur Gesundheitsver sorgung.<br />

Es geht darum, Abhängigkeiten, prekäre Lebensumstände,<br />

Ausgrenzungen und Gewalterfahrungen oder<br />

gesundheitli<strong>ch</strong>e Gefährdungen zu vermeiden. Dafür sind<br />

Anerkennung und Respekt nötig. Abwertung und Bevormundung<br />

sind fehl am Platz.<br />

Je mehr Wissen und Kenntnisse wir zu den Realitäten<br />

erwerben, desto mehr werden au<strong>ch</strong> konkrete, konstruktive<br />

Positionsbezüge und dar<strong>aus</strong> Handlungsoptionen mögli<strong>ch</strong>. Dies<br />

ermögli<strong>ch</strong>t erst den Kampf gegen Diskriminierung und Ausgrenzung<br />

betroffener Frauen, was zum Auftrag der Fa<strong>ch</strong>stelle<br />

für Glei<strong>ch</strong>stellung gehört.<br />

I<strong>ch</strong> danke den her<strong>aus</strong>gebenden Organisationen für ihr<br />

Engagement und wüns<strong>ch</strong>e Ihnen, liebe Leser*innen eindrückli<strong>ch</strong>e,<br />

vielfältige und aufs<strong>ch</strong>lussrei<strong>ch</strong>e Lektüreerkenntnisse.<br />

Anja Derungs<br />

Leiterin Fa<strong>ch</strong>stelle für Glei<strong>ch</strong>stellung Stadt Züri<strong>ch</strong><br />

8


«Die Hoffnungs losigkeit zu<br />

H<strong>aus</strong>e war s<strong>ch</strong>limmer.»<br />

Adrienn<br />

Porträtiert von Naomi Gregoris<br />

Adrienn sitzt auf dem Sofa im Nebenzimmer der Frauenbe ratung<br />

Flora Dora und wartet auf die erste Frage. Sie <strong>ist</strong> keine,<br />

die si<strong>ch</strong> aufdrängt. Immer wieder platzen Frauen in den kleinen<br />

Pavillon hinein, um si<strong>ch</strong> mit den Sozialarbeiter*innen zu unterhalten<br />

oder eine P<strong>aus</strong>e von ihrer <strong>Arbeit</strong> dr<strong>aus</strong>sen zu ma<strong>ch</strong>en.<br />

Dr<strong>aus</strong>sen, das <strong>ist</strong> hier auf dem Stri<strong>ch</strong>platz ni<strong>ch</strong>t wirkli<strong>ch</strong><br />

dr<strong>aus</strong>sen. Anders als etwa an der Langstrasse, wo die Zür<strong>ch</strong>er<br />

<strong>Sexarbeit</strong>er*innen zwis<strong>ch</strong>en Anwohner*innen und Partyvolk<br />

ihre <strong>Arbeit</strong> verri<strong>ch</strong>ten, gibt es hier keine Dur<strong>ch</strong>mis<strong>ch</strong>ung. Der<br />

Stri<strong>ch</strong>platz <strong>ist</strong> ein abges<strong>ch</strong>irmtes Areal mit klaren Regeln und<br />

Rollen. Freier und Prostituierte. Zutritt nur mit einem Fahrzeug.<br />

Notfallbuttons für die <strong>Sexarbeit</strong>er*innen. Patrouillen<br />

des Ordnungsdienstes sip Züri.<br />

Dr<strong>aus</strong>sen <strong>ist</strong> hier eigentli<strong>ch</strong> drinnen. Und Adrienn war fünf<br />

Jahre lang mittendrin.<br />

Wo hat alles begonnen? 2011, in einer kleinen Stadt in der<br />

Mitte von Ungarn. Adrienn <strong>ist</strong> damals vierzig Jahre alt und hat<br />

keine <strong>Arbeit</strong>. «A<strong>ch</strong>t Monate lang habe i<strong>ch</strong> gesu<strong>ch</strong>t, aber da kam<br />

ni<strong>ch</strong>ts. Einfa<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts.» Bis si<strong>ch</strong> eine Freundin bei ihr meldet:<br />

Was sie davon hielte, si<strong>ch</strong> mit <strong>Sexarbeit</strong> im Ausland etwas zu<br />

verdienen? Adrienn sagt sofort zu. «Mir blieb ni<strong>ch</strong>ts anderes<br />

übrig.» Re<strong>ch</strong>nungen mussten bezahlt, die beiden Söhne, die sie<br />

21


allein grosszieht, versorgt werden. Ursprüngli<strong>ch</strong> hat Adrienn<br />

Wirts<strong>ch</strong>aftsinformatik studiert und ein paar Semester Sozialarbeit.<br />

Später in einer Bank gearbeitet, dann mit Obda<strong>ch</strong>losen<br />

und in einem Kinderheim.<br />

Adrienn <strong>ist</strong> ni<strong>ch</strong>t zimperli<strong>ch</strong>, was <strong>Arbeit</strong> angeht. Den Ents<strong>ch</strong>luss,<br />

si<strong>ch</strong> zu prostituieren, fasst sie <strong>aus</strong> einer pragmatis<strong>ch</strong>en<br />

Selbstverständli<strong>ch</strong>keit her<strong>aus</strong>: Geld muss verdient werden,<br />

und wenn das der Weg <strong>ist</strong>, dann würde sie ihn gehen.<br />

Die beiden Freundinnen kaufen si<strong>ch</strong> ein Zugticket in die<br />

S<strong>ch</strong>weiz. Über einen früheren S<strong>ch</strong>ulkollegen hat Adrienn die<br />

Telefonnummer einer Frau bekommen, die in der S<strong>ch</strong>weiz osteuropäis<strong>ch</strong>en<br />

Frauen den Zugang zum Milieu vers<strong>ch</strong>afft. Ein<br />

paar Tage vor der Abreise ruft sie an. Die Frau spri<strong>ch</strong>t Englis<strong>ch</strong><br />

und will erst gar ni<strong>ch</strong>ts von Adrienn und ihrer Freundin wissen.<br />

Aber Adrienn bleibt eisern und beharrt darauf, in die S<strong>ch</strong>weiz<br />

zu reisen. Eine Wo<strong>ch</strong>e später kommen sie und ihre Freundin<br />

mit dem Na<strong>ch</strong>tzug an. Budapest–Züri<strong>ch</strong> einfa<strong>ch</strong>.<br />

Die Kontaktfrau wartet am Bahnhof, zusammen mit einer<br />

Kollegin, die übersetzen soll. Ihre Begegnung verläuft ohne<br />

Sentimentalitäten. Sie würden auf den Strassenstri<strong>ch</strong> gehen,<br />

sagt die Frau. Mit den Männern mitgehen oder sie in den<br />

Wohnwagen am Sihlquai nehmen, den sie zur Verfügung stelle.<br />

S<strong>ch</strong>lafen und wohnen könnten sie in einem Appartement<br />

in Embra<strong>ch</strong>, zusammen mit der Übersetzerin und einer anderen<br />

Frau. Es würde sie etwas kosten, das Leben hier sei teuer.<br />

Allein die Miete betrage 4000 Franken. «4000 Franken!»<br />

Adrienn s<strong>ch</strong>üttelt es heute no<strong>ch</strong>. Aber die Frauen stimmen<br />

zu. Die Wohnung besteht <strong>aus</strong> zwei S<strong>ch</strong>lafzimmern und ei -<br />

nem Wohnzimmer. Neben Adrienn und ihrer Freundin lebt<br />

darin no<strong>ch</strong> eine Slowakin, die ebenfalls als <strong>Sexarbeit</strong>erin<br />

arbeitet.<br />

An ihren ersten Freier mag si<strong>ch</strong> Adrienn ni<strong>ch</strong>t erinnern. «Es<br />

war keine negative Erfahrung», sagt sie nur. Sie sei im Kopf<br />

ni<strong>ch</strong>t anwesend gewesen, das sei sie nie. Nervosität oder Angst<br />

seien au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t im Spiel gewesen. «Die Hoffnungslosigkeit zu<br />

H<strong>aus</strong>e war s<strong>ch</strong>limmer.»<br />

Die Übersetzerin vers<strong>ch</strong>windet na<strong>ch</strong> ein paar Tagen und<br />

au<strong>ch</strong> Adrienns Freundin fährt bald na<strong>ch</strong> Ungarn zurück. Sie hat<br />

ein Kleinkind zurückgelassen, das krank geworden <strong>ist</strong>. Adrienn<br />

aber bleibt drei Monate. August, September, Oktober, Teile des<br />

Novembers. Zu Weihna<strong>ch</strong>ten fährt sie zurück zu ihrer Familie.<br />

Ihren beiden Kindern erzählt sie, sie sei für einen Job als Putzfrau<br />

in die S<strong>ch</strong>weiz gere<strong>ist</strong>.<br />

Das Weihna<strong>ch</strong>tsfest verläuft wie immer. «Daheim in Un -<br />

garn da<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> nie an die S<strong>ch</strong>weiz. Es war, als wäre i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

da gewesen.» Adrienn feiert mit ihrer Familie und erzählt<br />

nur ihrer Mutter von ihrer <strong>Arbeit</strong> in Züri<strong>ch</strong>. Die reagiert resigniert.<br />

«Aber sie verbot mir ni<strong>ch</strong>t, wieder in die S<strong>ch</strong>weiz zu<br />

fahren.»<br />

Na<strong>ch</strong> Silvester re<strong>ist</strong> Adrienn wieder na<strong>ch</strong> Züri<strong>ch</strong>, zusammen<br />

mit ihrer Freundin, deren Kind si<strong>ch</strong> mittlerweile erholt<br />

hat. Als sie ankommen, behauptet die Vermittlerin, die Wohnungsmiete<br />

sei gestiegen. Adrienn und ihre Freundin be -<br />

s<strong>ch</strong>liessen darauf, si<strong>ch</strong> eine eigene, günstigere Bleibe zu su<strong>ch</strong>en.<br />

«Aber wir fanden ni<strong>ch</strong>ts. Am ersten Tag ni<strong>ch</strong>ts, am zweiten<br />

Tag ni<strong>ch</strong>ts, am dritten Tag ni<strong>ch</strong>ts. Also wohnten wir in meinem<br />

Auto.» Die beiden Frauen parkieren den Wagen auf öffentli<strong>ch</strong>en<br />

Parkplätzen und lassen in der Na<strong>ch</strong>t den Motor laufen.<br />

Zür<strong>ch</strong>er Winter in einem kleinen Suzuki.<br />

So geht es vier Jahre lang weiter. Erst leben beide Frauen<br />

im Auto, später nur no<strong>ch</strong> Adrienn. Probleme mit der Polizei<br />

oder den Behörden hatte sie nie. Als EU-Bürgerin kann Adrienn<br />

22 23


jeweils für neunzig Tage in der S<strong>ch</strong>weiz arbeiten. So bleibt sie<br />

drei Monate, dann fährt sie na<strong>ch</strong> H<strong>aus</strong>e und kehrt na<strong>ch</strong> ein<br />

paar Monaten wieder zurück.<br />

In Ungarn findet sie wieder <strong>Arbeit</strong>. Erst hält sie Grabreden<br />

für Athe<strong>ist</strong>*innen, dana<strong>ch</strong> arbeitet sie zwei Jahre lang als Vertreterin<br />

in einer Firma für Tiefkühlprodukte. «Da verdiene i<strong>ch</strong><br />

aber niemals so viel wie in der S<strong>ch</strong>weiz.» Den grössten Teil des<br />

Lohns gibt sie ihren beiden Söhnen, denen sie Ausbildung und<br />

Wohnung finanziert. Bis heute zahlt sie den beiden Mittzwanzigern<br />

einen Grossteil ihrer Lebenskosten. «I<strong>ch</strong> <strong>bin</strong> hier für<br />

meine Söhne», sagt sie. Hat sie sie verwöhnt? Ja, viellei<strong>ch</strong>t<br />

s<strong>ch</strong>on etwas.<br />

In den Jahren am Sihlquai ma<strong>ch</strong>te Adrienn ein einziges<br />

Mal eine s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Erfahrung. Sie stieg zu einem Mann ins<br />

Auto, der sie in eine Gegend <strong>aus</strong>serhalb der Stadt fuhr. Kurz<br />

na<strong>ch</strong> der Ankunft sei er aggressiv geworden. «Glückli<strong>ch</strong>erweise<br />

hatte i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> meine Kleider an und konnte ihm sagen, er<br />

solle von mir weg, damit i<strong>ch</strong> sie <strong>aus</strong>ziehen könne.» Statt si<strong>ch</strong><br />

<strong>aus</strong>zuziehen, öffnete Adrienn die Autotür und sprang her<strong>aus</strong>.<br />

Sie kam bis zu einer Autobahn-Absperrung und blieb am Gitter<br />

stehen. Der Freier war ihr na<strong>ch</strong>gerannt und jetzt hielt sie<br />

ihm drohend ihr Handy vors Gesi<strong>ch</strong>t. Wenn er ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>winde,<br />

rief sie, würde sie die Polizei anrufen. «Das funktionierte.»<br />

S<strong>ch</strong>limm sei das gewesen, aber viel weniger s<strong>ch</strong>limm als<br />

die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, die sie von Kolleg*innen kenne. Sie sei ohne<br />

S<strong>ch</strong>ock davongekommen. «I<strong>ch</strong> war einfa<strong>ch</strong> froh, dass er ging.»<br />

Für Adrienn <strong>ist</strong> die Einri<strong>ch</strong>tung des Stri<strong>ch</strong>platzes in Züri<strong>ch</strong><br />

eine glückli<strong>ch</strong>e Fügung: Nun kann sie von ihrem Auto <strong>aus</strong> ar -<br />

beiten. Sie sitzt in ihrem Kleinwagen und liest, während sie<br />

auf ihre Stammfreier wartet. Sie liest alles, was ihr in die Hände<br />

kommt. Alleine im Januar seien es 28 Bü<strong>ch</strong>er gewesen. «Das<br />

24


<strong>ist</strong> jeden Tag ein Bu<strong>ch</strong>!» Sie la<strong>ch</strong>t, ihre Leidens<strong>ch</strong>aft belustigt<br />

sie. Anders als viele der Frauen, die si<strong>ch</strong> auftakeln und an den<br />

Autos der Interessierten entlangspazieren, <strong>ist</strong> Adrienn keine<br />

auffällige <strong>Sexarbeit</strong>erin, s<strong>ch</strong>minkt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t und kleidet si<strong>ch</strong><br />

au<strong>ch</strong> zum <strong>Arbeit</strong>en in Alltagsklamotten. Diese S<strong>ch</strong>uhe mit den<br />

hohen Hacken seien no<strong>ch</strong> nie etwas für sie gewesen, sagt sie.<br />

Sie kann kaum damit stehen, ges<strong>ch</strong>weige denn gehen.<br />

Adrienn hat zwis<strong>ch</strong>en zwanzig und dreissig Stammfreier,<br />

ein paar davon no<strong>ch</strong> vom ersten Jahr am Sihlquai. Bemerkenswert<br />

findet sie das ni<strong>ch</strong>t. «Die sind halt immer no<strong>ch</strong> da.» Die<br />

me<strong>ist</strong>en sind über vierzig, jüngere Männer eher selten. Gibt es<br />

au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e, die nur kus<strong>ch</strong>eln wollen? «S<strong>ch</strong>ön wärs!» Aber viele<br />

seien wie Freunde geworden. Man rede miteinander, es gebe<br />

au<strong>ch</strong> intime Gesprä<strong>ch</strong>e. Vor ein paar Wo<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>rieb Adrienn<br />

all ihren Stammkunden eine E-Mail, in der sie ihren Rücktritt<br />

bekannt gab. Die Reaktionen waren traurig. «Viele sagten, sie<br />

würden mit mir au<strong>ch</strong> eine gute Freundin verlieren.»<br />

Es gibt zwei Gründe für Adrienns Abkehr vom Milieu. Der<br />

wi<strong>ch</strong>tigere von beiden <strong>ist</strong> ihr Freund. Ein S<strong>ch</strong>weizer, ein Jahr<br />

jünger als sie. Seit zwei Jahren sind sie ein Paar und seit einem<br />

Jahr behauptet sie ihm gegenüber, dass sie ni<strong>ch</strong>t mehr ans<strong>ch</strong>affen<br />

geht. Es tut ihr weh, ihn anlügen zu müssen, aber wegen<br />

der Geldsorgen sei es bis jetzt ni<strong>ch</strong>t anders gegangen. Er kennt<br />

die Szene, au<strong>ch</strong> er war mal ein Kunde von ihr. Damals vor zwei<br />

Jahren sah sie ihn erst immer regelmässiger, dann irgendwann<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr für Geld, und eines Tages fragte er, ob sie ni<strong>ch</strong>t bei<br />

ihm bleiben wolle. Sie wollte. Seither wohnt sie bei ihm und<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr im Auto.<br />

Sie führen eine liebevolle, innige Beziehung. Besonders seit<br />

dem letzten Jahr, als er einen Herzinfarkt und dann no<strong>ch</strong> eine<br />

Lungenembolie hatte. Zwei Monate lang lag er im Spital. «I<strong>ch</strong><br />

besu<strong>ch</strong>te ihn mehrmals pro Tag», sagt Adrienn und ihre Stimme<br />

stockt, «morgens, mittags, abends.» Adrienn wendet si<strong>ch</strong><br />

ab und fährt si<strong>ch</strong> mit der Hand übers Gesi<strong>ch</strong>t. «I<strong>ch</strong> <strong>bin</strong> froh,<br />

dass es vorbei <strong>ist</strong>.»<br />

Ihre Beziehung <strong>ist</strong> das eine, mögli<strong>ch</strong> gema<strong>ch</strong>t hat den Rücktritt<br />

aber Adrienns neuester Job: Sie hat eine Anstellung als<br />

Putzfa<strong>ch</strong>kraft bei einem S<strong>ch</strong>weizer Unternehmen gefunden.<br />

Jeden Tag putzt sie zwei bis drei Wohnungen, ihre Wo<strong>ch</strong>e<br />

kann sie si<strong>ch</strong> selbst einteilen. Das <strong>ist</strong> anstrengend, aber besser<br />

als der Stri<strong>ch</strong>. «I<strong>ch</strong> <strong>bin</strong> am Abend müde und erlei<strong>ch</strong>tert, dass<br />

i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr auf den Stri<strong>ch</strong>platz kommen muss.»<br />

Mittelfr<strong>ist</strong>ig will Adrienn zurück na<strong>ch</strong> Ungarn. Und ihr<br />

Freund? «Der kommt hoffentli<strong>ch</strong> mit.» Sie lä<strong>ch</strong>elt. «Er weiss<br />

no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts davon.» Aber es würde ihm guttun, da <strong>ist</strong> sie si<strong>ch</strong><br />

si<strong>ch</strong>er.<br />

26


Im Würgegriff der<br />

Paragrafen – und der<br />

Vorurteile<br />

Brigitte Hürlimann<br />

Stellen Sie si<strong>ch</strong> folgende zwei Szenen vor:<br />

Szene eins<br />

Sie flanieren die Zür<strong>ch</strong>er Langstrasse entlang, es <strong>ist</strong> ein heisser<br />

Sommerna<strong>ch</strong>mittag, Sie tragen Shorts mit Top oder ein kurzes,<br />

lei<strong>ch</strong>tes Kleid, wie so viele andere Stadtbewohner*innen au<strong>ch</strong>,<br />

die hier auf und ab gehen. Sie haben si<strong>ch</strong> auf einen Kaffee mit<br />

einer Kollegin verabredet. Oder Sie kaufen ein Gipfeli in einer<br />

Bäckerei, holen Zigaretten am Kiosk, ma<strong>ch</strong>en Windowshopping.<br />

Wenn Sie unterwegs jemanden kennen, so grüssen Sie<br />

freundli<strong>ch</strong>, bleiben viellei<strong>ch</strong>t für einen S<strong>ch</strong>watz stehen. Das<br />

alles <strong>ist</strong> völlig unproblematis<strong>ch</strong>, wenn Sie von Beruf Journal<strong>ist</strong>in,<br />

Ar<strong>ch</strong>itektin, Lehrerin oder Bu<strong>ch</strong>halterin sind. Wenn Sie<br />

jedo<strong>ch</strong> dem gen<strong>aus</strong>o legalen Beruf einer <strong>Sexarbeit</strong>erin na<strong>ch</strong>gehen,<br />

bewegen Sie si<strong>ch</strong> auf dünnem Eis. Es droht Ihnen grösstes<br />

Ungema<strong>ch</strong>. Sie stehen beim Na<strong>ch</strong>mittagsspaziergang im<br />

Langstrassengeviert mit einem Bein in der Illegalität. Und Sie<br />

müssen stets damit re<strong>ch</strong>nen, von einer Polizeipatrouille angehalten<br />

zu werden. Man wird Sie fragen: «Was tun Sie hier? Zeigen<br />

Sie Ihre Handtas<strong>ch</strong>e, weisen Sie si<strong>ch</strong> <strong>aus</strong>. Sie wissen do<strong>ch</strong><br />

genau, dass die Langstrasse keine Stri<strong>ch</strong>zone <strong>ist</strong>!»<br />

Ihre Handtas<strong>ch</strong>e wird nun polizeili<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>t. Haben<br />

Sie zwei, drei Präservative oder ein Gleitmittel mit dabei, <strong>ist</strong> die<br />

55


Busse s<strong>ch</strong>on fast Gewissheit. Vor allem dann, wenn Sie polizeili<strong>ch</strong><br />

als <strong>Sexarbeit</strong>erin reg<strong>ist</strong>riert sind. Denn: Sie arbeiten ni<strong>ch</strong>t<br />

als <strong>Sexarbeit</strong>erin, Sie sind eine <strong>Sexarbeit</strong>erin – 24 Stunden pro<br />

Tag, sieben Tage die Wo<strong>ch</strong>e. Anders als die Journal<strong>ist</strong>in, Ar<strong>ch</strong>itektin,<br />

Lehrerin oder Bu<strong>ch</strong>halterin, die ebenfalls in Shorts und<br />

Top oder Sommerkleid dur<strong>ch</strong> die Langstrasse geht, vermutet<br />

man bei Ihnen stets ein Anwerben von Kunds<strong>ch</strong>aft. Also einen<br />

Verstoss gegen die lokale Re<strong>ch</strong>tsordnung. Sie werden immer<br />

begründen müssen, dass Sie au<strong>ch</strong> ein Privatleben haben. Dass<br />

die Prostitution ein Job <strong>ist</strong>. Dass Sie ni<strong>ch</strong>t nur <strong>Sexarbeit</strong>erin<br />

sind, sondern au<strong>ch</strong> Mutter, Freundin, Ehefrau, Sportlerin,<br />

Na<strong>ch</strong>barin, Spaziergängerin, Ges<strong>ch</strong>äftsfrau, Kinoliebhaberin,<br />

Katzenfan. Mit anderen Worten: Dass Sie ein Mens<strong>ch</strong> sind wie<br />

jeder andere au<strong>ch</strong> – ein Mens<strong>ch</strong> mit einem anspru<strong>ch</strong>svollen<br />

Beruf.<br />

Szene zwei<br />

Sie leben in einem Wohnblock in der Innenstadt. Sie sind wiederum<br />

Journal<strong>ist</strong>in, Ar<strong>ch</strong>itektin, Lehrerin oder Bu<strong>ch</strong>halterin.<br />

Sie arbeiten hin und wieder zu H<strong>aus</strong>e, haben si<strong>ch</strong> dafür ein<br />

<strong>Arbeit</strong>szimmer oder eine <strong>Arbeit</strong>secke eingeri<strong>ch</strong>tet – so, wie<br />

das hierzulande fast alle tun. Eine völlig normale und unproblematis<strong>ch</strong>e<br />

Angelegenheit. Sie a<strong>ch</strong>ten darauf, dass die Na<strong>ch</strong>barn<br />

ni<strong>ch</strong>t gestört werden: Kein lautes Klappern auf der Tastatur<br />

um Mitterna<strong>ch</strong>t, kein Herums<strong>ch</strong>reien und Stampfen beim Telefonieren<br />

(au<strong>ch</strong> wenn es dafür gute Gründe gäbe), kein Häm -<br />

mern und Bohren zur Unzeit.<br />

Nun sind Sie aber wiederum <strong>Sexarbeit</strong>erin – und, es kann<br />

ni<strong>ch</strong>t genug betont werden: gehen ebenfalls einer legalen be -<br />

rufli<strong>ch</strong>en Tätigkeit na<strong>ch</strong>. Au<strong>ch</strong> Sie mö<strong>ch</strong>ten in ihrer Wohnung,<br />

in der Sie leben, hin und wieder arbeiten: sehr s<strong>ch</strong>wierig! Ni<strong>ch</strong>t<br />

56


verglei<strong>ch</strong>bar mit der Journal<strong>ist</strong>in, Ar<strong>ch</strong>itektin, Lehrerin oder<br />

Bu<strong>ch</strong>halterin. Sobald Sie daheim sexuelle Dienstle<strong>ist</strong>ungen<br />

gegen Entgelt anbieten, wie diskret, ruhig und gelegentli<strong>ch</strong> das<br />

au<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ehen mag, kommt ein Rattens<strong>ch</strong>wanz an Pro blemen<br />

und Verpfli<strong>ch</strong>tungen auf Sie zu. Weiss der Vermieter Bes<strong>ch</strong>eid?<br />

Ist die Zonenkonformität gewahrt? Brau<strong>ch</strong>t es allenfalls eine<br />

Bewilligung oder gar mehrere Bewilligungen – und zwar selbst<br />

dann, wenn der Hauptzweck der Nutzung das Wohnen bleibt?<br />

Wie au<strong>ch</strong> immer: Die <strong>Sexarbeit</strong>erin, die daheim no<strong>ch</strong> ein biss<strong>ch</strong>en<br />

arbeiten mö<strong>ch</strong>te, wird einmal mehr völlig anders behandelt<br />

als alle anderen Berufstätigen.<br />

Bleiben wir no<strong>ch</strong> kurz beim Wohnen. Es <strong>ist</strong> glei<strong>ch</strong> in mehrfa<strong>ch</strong>er<br />

Hinsi<strong>ch</strong>t beispielhaft für den widersprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en, ungere<strong>ch</strong>ten,<br />

diskriminierenden und mit Vorurteilen beladenen<br />

Umgang mit der <strong>Sexarbeit</strong>. Wohlbemerkt: hier und heute, in<br />

unserer sogenannt offenen, liberalen Gesells<strong>ch</strong>aft. Was si<strong>ch</strong><br />

die <strong>Sexarbeit</strong>er*innen anhören müssen, wenn sie glei<strong>ch</strong>behandelt<br />

werden wollen, zeugt von Unkenntnis und Misstrauen.<br />

Pflücken wir <strong>aus</strong> einer langen L<strong>ist</strong>e nur drei Argumente her<strong>aus</strong>,<br />

die gegen die <strong>Sexarbeit</strong> in Wohnzonen (oder überhaupt) häufig<br />

genannt werden:<br />

Die ideellen Immissionen<br />

Das <strong>ist</strong> ein re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Begriff, ein uns<strong>ch</strong>arfer und hö<strong>ch</strong>st problematis<strong>ch</strong>er<br />

dazu, ein Auffangbecken für Beanstandungen ir -<br />

gendwel<strong>ch</strong>er Art: Sie rei<strong>ch</strong>en vom Wäs<strong>ch</strong>eaufhängen im Freien<br />

(Unterhosen!) bis zum S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>th<strong>aus</strong> oder Spielsalon. Ideelle<br />

Immissionen bedeuten, dass Betroffene unangenehmen psy -<br />

<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Eindrücken <strong>aus</strong>gesetzt werden – und zwar im Übermass.<br />

Das Bundesgeri<strong>ch</strong>t spri<strong>ch</strong>t von einem verletzten seelis<strong>ch</strong>en<br />

Empfinden.<br />

Die ideellen Immissionen sind zum Zauberwort im Kampf<br />

gegen die <strong>Sexarbeit</strong> geworden. Dahinter steckt die Vorstellung,<br />

dass es psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong> belastend sein soll, wenn zwei erwa<strong>ch</strong>sene<br />

Mens<strong>ch</strong>en Sex miteinander haben und einer der Beteiligten<br />

dafür bezahlt. Hat hingegen ein Ehepaar ein erotis<strong>ch</strong>es Intermezzo<br />

oder der lebenslustige Na<strong>ch</strong>bar mit seinen Gespiel*innen<br />

oder die Studentin mit ihren Verehrer*innen, dann <strong>ist</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t von ideellen Immissionen die Rede. Übrigens au<strong>ch</strong> dann<br />

ni<strong>ch</strong>t, wenn si<strong>ch</strong> die eine Sexpartnerin beim anderen mit grosszügigen<br />

Ges<strong>ch</strong>enken für die s<strong>ch</strong>önen Begegnungen bedankt,<br />

was ja au<strong>ch</strong> als materielle Gegenle<strong>ist</strong>ung betra<strong>ch</strong>tet werden<br />

kann. Der Grund für diese ganz andere Einstellung liegt oft an<br />

einem weiteren Vorurteil, nämli<strong>ch</strong>:<br />

Die s<strong>ch</strong>limmen Freier<br />

Fragt man unter Freund*innen na<strong>ch</strong>, ob es ein Problem wäre,<br />

wenn si<strong>ch</strong> im Wohnh<strong>aus</strong> oder am <strong>Arbeit</strong>splatz unter dem glei<strong>ch</strong>en<br />

Da<strong>ch</strong> ein Minibordell befinden würde (oder eben eine der<br />

Mieter*innen nebenbei no<strong>ch</strong> Sexwork betriebe), so kommt die<br />

Antwort wie <strong>aus</strong> der P<strong>ist</strong>ole ges<strong>ch</strong>ossen: Inakzeptabel! Will<br />

man ans<strong>ch</strong>liessend erfahren, was der Grund für die ablehnende<br />

Haltung <strong>ist</strong>, wird sofort die Kunds<strong>ch</strong>aft erwähnt. Es herrs<strong>ch</strong>t<br />

eine irrationale Angst davor, im H<strong>aus</strong>flur den Freiern begegnen<br />

zu müssen.<br />

Die Vorstellungen darüber, wer diese sein könnten, <strong>ist</strong> ab -<br />

surd: Gemeinhin stellen si<strong>ch</strong> die Leute unter den Freiern hässli<strong>ch</strong>e,<br />

unfreundli<strong>ch</strong>e, unsympathis<strong>ch</strong>e, gierige Männer mit her<strong>aus</strong>hängender<br />

Zunge und geöffnetem Hosens<strong>ch</strong>litz vor, die auf<br />

dem Weg zur <strong>Sexarbeit</strong>erin einfa<strong>ch</strong> alle anma<strong>ch</strong>en oder zumindest<br />

blöd anstarren, denen sie begegnen. Sol<strong>ch</strong>en Fantasien<br />

muss Folgendes entgegnet werden: Die Kunden von Sexarbei-<br />

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ter*innen sind unsere Ehemänner, Partner, Brüder, Onkel,<br />

Grossväter, Freunde, <strong>Arbeit</strong>skolleginnen (die dafür man<strong>ch</strong>mal<br />

in entfernte Länder oder auf andere Kontinente reisen). Es<br />

sind Mens<strong>ch</strong>en, die in aller Regel heilfroh sind, wenn man ni<strong>ch</strong>t<br />

sieht, wie sie zur <strong>Sexarbeit</strong>erin s<strong>ch</strong>lei<strong>ch</strong>en. Aber, heisst es von<br />

den Skeptiker*innen sofort:<br />

Der Lärm und der Dreck<br />

Verfängt der Begriff der ideellen Immissionen ni<strong>ch</strong>t mehr, wird<br />

das Argument des Lärms und des Drecks <strong>aus</strong> dem Ärmel gezogen.<br />

Alle sollen sie ständig Lärm ma<strong>ch</strong>en, die <strong>Sexarbeit</strong>er*innen,<br />

deren Kunds<strong>ch</strong>aft, und allfälliges littering geht selbstverständli<strong>ch</strong><br />

ebenfalls auf Kosten des Sexmilieus. Fakt <strong>ist</strong>:<br />

Minibordelle oder Kleinstsalons, also jene Wohnungen, in de -<br />

nen eine oder zwei <strong>Sexarbeit</strong>er*innen selbstbestimmt arbeiten,<br />

fallen in der Regel überhaupt ni<strong>ch</strong>t auf, sind diskret und<br />

ruhig – ni<strong>ch</strong>t zuletzt au<strong>ch</strong> im Interesse des Ges<strong>ch</strong>äfts. Und was<br />

die Situation in den eins<strong>ch</strong>lägigen Quartieren betrifft, mit<br />

Kontaktsalons, Stripteaseklubs und Pornokinos, so befinden<br />

si<strong>ch</strong> diese halt oft in einem Ausgehquartier.<br />

Ja, und dort <strong>ist</strong> es laut. Das Ausgehpublikum grölt und<br />

pö belt, wirft Flas<strong>ch</strong>en, Dosen und Dönerverpackungen aufs<br />

Trottoir, pinkelt an jede H<strong>aus</strong>wand und kotzt in jeden Hinterhof.<br />

Und ja, in den Ausgehquartieren gibt es motorisierten<br />

Verkehr. Das sind Nebeners<strong>ch</strong>einungen einer urbanen 24-Stunden-Gesells<strong>ch</strong>aft,<br />

die im Auge behalten werden müssen, damit<br />

sie ni<strong>ch</strong>t überborden. Do<strong>ch</strong> nie <strong>ist</strong> deswegen die Rede davon,<br />

das Ausgehen zu verbieten, die Öffnungszeiten all der Discos,<br />

Klubs und Bars rigoros einzus<strong>ch</strong>ränken. Der gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />

Konsens besagt, dass sol<strong>ch</strong>e Unannehmli<strong>ch</strong>keiten zum Stadtleben<br />

gehören.<br />

Die <strong>Sexarbeit</strong> hingegen, die ras<strong>ch</strong> einmal für fast alle Probleme<br />

herhalten muss, soll an die Stadtränder verbannt werden:<br />

in die Industriezone, auf Bra<strong>ch</strong>en. Dorthin, wo es dunkel und<br />

einsam <strong>ist</strong>, wo man na<strong>ch</strong> der <strong>Arbeit</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr na<strong>ch</strong> H<strong>aus</strong>e<br />

kommt oder nur mit dem Taxi. Das sind unangenehme, gefährli<strong>ch</strong>e<br />

Bedingungen für die <strong>Sexarbeit</strong>er*innen. Und für deren<br />

Kunds<strong>ch</strong>aft übrigens au<strong>ch</strong>.<br />

Besonders gravierend sind die ex<strong>ist</strong>entiellen Nöte all jener<br />

Mens<strong>ch</strong>en, die ohne eine gültige Aufenthalts- und <strong>Arbeit</strong>sbewilligung<br />

tätig sind; die jederzeit damit re<strong>ch</strong>nen müssen, festgenommen,<br />

gebüsst und <strong>aus</strong> der S<strong>ch</strong>weiz verwiesen zu werden.<br />

Oder aber auf dubiose Bes<strong>ch</strong>ützer*innen angewiesen sind, die<br />

in erster Linie eines tun: abkassieren. Dazu gehören übrigens<br />

ni<strong>ch</strong>t nur die berü<strong>ch</strong>tigten Mens<strong>ch</strong>enhändler*innen und Zu -<br />

hälter*innen, sondern au<strong>ch</strong> sogenannt anständige, gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong><br />

bestens integrierte S<strong>ch</strong>weizer Bürger*innen, die den <strong>Sexarbeit</strong>er*innen<br />

Rattenlö<strong>ch</strong>er zu Wu<strong>ch</strong>erpreisen vermieten. Wenn<br />

es im hiesigen Sexgewerbe an etwas konkret mangelt, dann an<br />

bezahlbaren Wohn- und <strong>Arbeit</strong>splätzen in guter Lage.<br />

Was <strong>ist</strong> die Antwort der Gesetzgebung, Geri<strong>ch</strong>te und Be -<br />

hör den auf diese Zustände? Kantonale und kommunale Prostitutionsgesetze<br />

und -verordnungen s<strong>ch</strong>iessen wie Pilze <strong>aus</strong><br />

dem Boden. Heute sind es ein gutes Dutzend, verteilt im ganzen<br />

Land. Alle paar Kilometer herrs<strong>ch</strong>t ein anderer Umgang<br />

mit der <strong>Sexarbeit</strong>. Diese <strong>ist</strong> seit 1942, seit Inkrafttreten des<br />

S<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>en Strafgesetzbu<strong>ch</strong>es (vorher galt kantonales<br />

Strafre<strong>ch</strong>t), legal. 1973 hat das Bundesgeri<strong>ch</strong>t erstmals festgehalten,<br />

dass si<strong>ch</strong> <strong>Sexarbeit</strong>er*innen auf die verfassungsmässig<br />

garantierte Wirts<strong>ch</strong>aftsfreiheit berufen können. 1992 kam<br />

es zu einer umfassenden Revision des Sexualstrafre<strong>ch</strong>ts. Seither<br />

gilt, dass das Strafre<strong>ch</strong>t keine moralis<strong>ch</strong>en Auffassungen<br />

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mehr s<strong>ch</strong>ützt, sondern die Integrität des einzelnen Mens<strong>ch</strong>en.<br />

Das heisst: Erwa<strong>ch</strong>sene, mündige Mens<strong>ch</strong>en dürfen mit einander<br />

selbstbestimmten Sex haben, mit oder ohne Entgelt,<br />

glei<strong>ch</strong>- oder andersges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, eheli<strong>ch</strong> oder <strong>aus</strong>sereheli<strong>ch</strong>.<br />

Solange alle freiwillig mitma<strong>ch</strong>en und keine unbeteiligten<br />

Dritten behelligt werden, mis<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> der Staat ni<strong>ch</strong>t ein – so<br />

die Grundidee.<br />

2013 ma<strong>ch</strong>t das Bezirksgeri<strong>ch</strong>t Horgen endli<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>luss mit<br />

der Sittenwidrigkeit der Prostituiertenverträge. Einer alten<br />

Re<strong>ch</strong>tsauffassung na<strong>ch</strong>, die 2011 vom Bundesgeri<strong>ch</strong>t irrtümli<strong>ch</strong>erweise<br />

bestätigt wurde (dur<strong>ch</strong> die Verwendung eines Textb<strong>aus</strong>teins!),<br />

sind vertragli<strong>ch</strong>e Abma<strong>ch</strong>ungen mit Sexarbei ter*innen<br />

ni<strong>ch</strong>tig, weil es si<strong>ch</strong> bei der <strong>Sexarbeit</strong> um eine sittenwidrige<br />

Tätigkeit handeln soll. Das <strong>ist</strong> eine Auffassung, die heute praktis<strong>ch</strong><br />

niemand mehr teilt. Es herrs<strong>ch</strong>t ein breiter Konsens darüber,<br />

dass die Grundsätze des Vertragsre<strong>ch</strong>ts au<strong>ch</strong> für die <strong>Sexarbeit</strong>er*innen<br />

gelten.<br />

Und selbstverständli<strong>ch</strong> dürfen sie si<strong>ch</strong> auf die Personenfreizügigkeit<br />

berufen wie alle anderen <strong>Arbeit</strong>nehmenden <strong>aus</strong><br />

den EU/EFTA-Staaten au<strong>ch</strong>. Die Re<strong>ch</strong>tsanwältin Antonia Kerland<br />

zeigt in einem Guta<strong>ch</strong>ten auf, dass die europäis<strong>ch</strong>en <strong>Sexarbeit</strong>er*innen<br />

glei<strong>ch</strong>behandelt werden müssen wie die S<strong>ch</strong>weizer*innen;<br />

sonst liegt eine Diskriminierung vor.<br />

Das bedeutet beispielsweise: Wer ohne Bewilligung oder<br />

Einhaltung der Meldepfli<strong>ch</strong>t als <strong>Sexarbeit</strong>erin tätig <strong>ist</strong>, darf<br />

ni<strong>ch</strong>t mit Einreiseverboten belegt werden, das wäre unverhältnismässig.<br />

Oder: Es <strong>ist</strong> unzulässig, nur von den Europäer*innen,<br />

ni<strong>ch</strong>t aber von den S<strong>ch</strong>weizer*innen einen Businessplan zu<br />

verlangen, um eine selbständige Tätigkeit zu belegen.<br />

Die Frage, ob eine <strong>Sexarbeit</strong>erin als selbständig erwerbstätig<br />

oder als <strong>Arbeit</strong>nehmerin einzustufen <strong>ist</strong>, wird hö<strong>ch</strong>st un -<br />

einheitli<strong>ch</strong> beantwortet – mit widersprü<strong>ch</strong> li<strong>ch</strong>en und kaum<br />

na<strong>ch</strong>vollziehbaren Argumenten. Es <strong>ist</strong> pro blematis<strong>ch</strong> und widerspri<strong>ch</strong>t<br />

dem Freizügigkeitsabkommen, wenn in der S<strong>ch</strong>weiz<br />

sämtli<strong>ch</strong>e <strong>Sexarbeit</strong>er*innen, die in einem bordellartigen Be -<br />

trieb arbeiten, p<strong>aus</strong><strong>ch</strong>al als <strong>Arbeit</strong>nehmer*innen eingestuft<br />

werden – ungea<strong>ch</strong>tet der Regelung im Einzelfall.<br />

Zusammenfassend muss konstatiert werden, dass im be -<br />

hörd li<strong>ch</strong>en Umgang mit der <strong>Sexarbeit</strong> kafkaeske Zustände herrs<strong>ch</strong>en.<br />

Daran hat das gute Dutzend an kantonalen und kommunalen<br />

Prostitutionserlassen ni<strong>ch</strong>ts geändert, im Gegenteil.<br />

Die Gesetzeslage in der S<strong>ch</strong>weiz <strong>ist</strong> mehr denn je unübersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />

und widersprü<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> – eine Zumutung für jede <strong>Sexarbeit</strong>erin<br />

und jeden Bordellbetreiber, also für alle, die si<strong>ch</strong> darum<br />

bemühen, re<strong>ch</strong>tskonform zu wirts<strong>ch</strong>aften, gute <strong>Arbeit</strong>sbedingungen<br />

zu gewähren.<br />

Und no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t erwähnt <strong>ist</strong> dabei die Malaise des behördli<strong>ch</strong>en<br />

Umgangs mit der <strong>Sexarbeit</strong>. Jedes Amt geht na<strong>ch</strong> ei -<br />

genen Regeln vor und s<strong>ch</strong>ert si<strong>ch</strong> einen Deut darum, was das<br />

an dere Amt tut. Wird die <strong>Sexarbeit</strong>erin beim einen Verwaltungss<strong>ch</strong>alter<br />

als selbständig erwerbstätig eingestuft, so <strong>ist</strong> sie<br />

beim S<strong>ch</strong>alter nebenan genau das Gegenteil: eine <strong>Arbeit</strong>nehmerin.<br />

Die Rahmenbedingungen im Kanton X sind anders als<br />

im Kanton Y. Das führt einmal mehr dazu, dass die <strong>Sexarbeit</strong>er*innen<br />

und Betreiber*innen auf Berater*innen angewiesen<br />

sind. Was eine Stange Geld kostet.<br />

Zu den Perlen der kantonalen und kommunalen Erlassen<br />

gehört übrigens, dass im Kanton Genf die Berührer*innen ex -<br />

plizit vom Prostitutionsgesetz <strong>aus</strong>genommen werden. Das<br />

heisst, sie werden ni<strong>ch</strong>t als Prostituierte reg<strong>ist</strong>riert. Mit anderen<br />

Worten: Wer als <strong>Sexarbeit</strong>erin eine Dienstle<strong>ist</strong>ung für behinderte<br />

Mens<strong>ch</strong>en anbietet, <strong>ist</strong> keine Prostituierte. Wer exakt das<br />

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glei<strong>ch</strong>e für ni<strong>ch</strong>tbehinderte Mens<strong>ch</strong>en tut, <strong>ist</strong> eine Prostituierte<br />

und steckt im Würgegriff staatli<strong>ch</strong>er Auflagen. Einmal ab -<br />

gesehen davon, dass es ziemli<strong>ch</strong> abenteuerli<strong>ch</strong> <strong>ist</strong>, eine s<strong>ch</strong>arfe<br />

Grenze zwis<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en mit und ohne Behinderung zu<br />

zie hen: Wie, bitte s<strong>ch</strong>ön, lässt si<strong>ch</strong> eine sol<strong>ch</strong>e Haltung re<strong>ch</strong>tfertigen?<br />

Es <strong>ist</strong> mehr als fragli<strong>ch</strong>, ob all die neuen Gesetze die Ar beits-<br />

und Lebensbedingungen der <strong>Sexarbeit</strong>er*innen verbessern, ob<br />

sie ein Mittel sind gegen Stigmatisierung und Diskriminierung.<br />

Sind die Erlasse ni<strong>ch</strong>t eher Ausdruck eines tiefen Misstrauens<br />

und Unbehagens der <strong>Sexarbeit</strong> gegenüber, von der die<br />

me<strong>ist</strong>en – au<strong>ch</strong> die Gesetzgeber*innen – so herzli<strong>ch</strong> wenig wissen,<br />

dass sie in ihren Vorurteilen stecken bleiben? Müssen wir<br />

unsere eigenen, hö<strong>ch</strong>stpersönli<strong>ch</strong>en moralis<strong>ch</strong>en Vorstellungen<br />

wirkli<strong>ch</strong> auf andere übertragen? Ist das im Sinne einer<br />

liberalen Gesells<strong>ch</strong>aft? Eines haben die Prostitutionsgesetze<br />

gemeinsam: Sie betonen entweder den Opferstatus der <strong>Sexarbeit</strong>er*innen<br />

oder stempeln sie als Störefriede ab, vor denen<br />

die Bevölkerung ges<strong>ch</strong>ützt werden muss. Me<strong>ist</strong> wird glei<strong>ch</strong> an<br />

beidem festgehalten.<br />

Do<strong>ch</strong> die Lage <strong>ist</strong> ni<strong>ch</strong>t hoffnungslos. Das Beispiel der<br />

Stadt Züri<strong>ch</strong> zeigt, dass eine kontinuierli<strong>ch</strong>e, fa<strong>ch</strong>kompetente,<br />

interdisziplinäre Zusammenarbeit kleine Wunder bewirken<br />

kann. Denn die Gesetze und Verordnungen, das behördli<strong>ch</strong>e<br />

Chaos, sind ni<strong>ch</strong>t in Stein gemeisselt, Änderungen dur<strong>ch</strong><strong>aus</strong><br />

mögli<strong>ch</strong> – au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e, die die <strong>Sexarbeit</strong>er*innen stärken, ihre<br />

Glei<strong>ch</strong>stellung fördern. Züri<strong>ch</strong> hat in seiner Prostitutionsgewerbeverordnung<br />

zwei kleine, aber wesentli<strong>ch</strong>e Punkte angepasst:<br />

Die Gebühren für die Strassenprostitution wurden wieder<br />

aufgehoben, und der Begriff der Kleinstsalons wird weiter<br />

gefasst. Inzwis<strong>ch</strong>en brau<strong>ch</strong>t es keine polizeili<strong>ch</strong>e Bewilligung<br />

mehr, wer allein oder zu zweit in zwei Räumen sexuelle Dienstle<strong>ist</strong>ungen<br />

anbietet. Eine dritte, über<strong>aus</strong> wi<strong>ch</strong>tige Änderung<br />

betrifft die kommunale Bauzonenordnung: Künftig sollen<br />

Kleinstsalons au<strong>ch</strong> in Wohnzonen akzeptiert werden. Das <strong>ist</strong><br />

ein wi<strong>ch</strong>tiger S<strong>ch</strong>ritt für die Integration der <strong>Sexarbeit</strong>er*innen,<br />

ein kleines Puzzleteil<strong>ch</strong>en im grossen Bild.<br />

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