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Leseprobe "Und dann war es Liebe" von Lorraine Brown

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<strong>Lorraine</strong> <strong>Brown</strong><br />

<strong>Und</strong> <strong>dann</strong> <strong>war</strong> <strong>es</strong> Liebe


LORRAINE BROWN<br />

UND<br />

DANN<br />

WAR ES<br />

Liebe<br />

Roman<br />

Übersetzung aus dem Englischen<br />

<strong>von</strong> Antonia Zauner und<br />

Sonja Rebernik-Heidegger<br />

LÜBBE


Di<strong>es</strong>er Titel ist auch als Hörbuch und E-Book erschienen<br />

Deutsche Erstausgabe<br />

Für die Originalausgabe:<br />

Copyright © 2021 by <strong>Lorraine</strong> <strong>Brown</strong><br />

Titel der englischen Originalausgabe: »Uncoupling«<br />

Originalverlag: Orion Publishing Group Ltd., London<br />

Für die deutschsprachige Ausgabe:<br />

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln<br />

Textredaktion: Ulrike Brandt-Sch<strong>war</strong>ze, Bonn<br />

Umschlagg<strong>es</strong>taltung: Manuela Städele-Monverde<br />

Umschlagmotiv: © CYC/shutterstock; © Happy Person/shutterstock<br />

Satz: Dörlemann Satz, Lemförde<br />

G<strong>es</strong>etzt aus der Minion<br />

Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-7857-2740-9<br />

2 4 5 3 1<br />

Sie finden uns im Internet unter luebbe.de<br />

Bitte beachten Sie auch: l<strong>es</strong>ejury.de


Kapitel 1<br />

Ich sprintete die Treppe zum Bahnhof Venezia Santa Lucia<br />

hinauf. Nur noch wenige Minuten, <strong>dann</strong> würde unser Zug<br />

ohne uns abfahren. Simon <strong>war</strong> mir bereits einige Meter voraus<br />

und stürmte gerade durch die gläsernen Eingangstüren in die<br />

Bahnhofshalle. Ich konnte kaum mit ihm Schritt halten.<br />

»Jetzt komm schon, Hannah!«, rief er, <strong>dann</strong> <strong>war</strong> er verschwunden.<br />

Ich stöhnte leise und bahnte mir im Zickzack einen Weg<br />

durch unzählige Touristen, die offenbar b<strong>es</strong>chlossen hatten,<br />

dass ausgerechnet hier der perfekte Ort <strong>war</strong>, umständlich mit<br />

ihren Stadtplänen herumzuhantieren.<br />

»Entschuldigung!« Ich schob mich keuchend an ihnen<br />

vorbei, und mein Herz sprang mir beinahe aus der Brust. Wir<br />

durften den Zug auf keinen Fall verpassen, denn das hätte uns<br />

einen Ri<strong>es</strong>enärger eingebracht.<br />

Die letzten Stufen nahm ich noch schneller. Schweißperlen<br />

rannen mir über den Rücken, durchnässten mein dünn<strong>es</strong><br />

Baumwollhemdchen unter der Strickjacke und sammelten<br />

sich am Bund meiner Jeans. Ich bereute bitterlich, dass ich sie<br />

angezogen hatte, denn mittlerweile <strong>war</strong> <strong>es</strong> an die dreißig Grad.<br />

Ich hatte mich für schlau gehalten: Nachts würde <strong>es</strong> im Zug<br />

sicher eiskalt sein, d<strong>es</strong>halb hatte ich mich entsprechend gekleidet,<br />

aber jetzt, wo mir die Julisonne auf den Kopf brannte, <strong>war</strong><br />

<strong>es</strong> nicht gerade ideal.<br />

Ich folgte Simon in den Bahnhof und behielt nur mit Mühe<br />

5


mein Tempo bei. Vor mir blitzten immer wieder seine blonden<br />

Haare in der Menge auf. Mein Koffer, der ganz eindeutig nicht<br />

für Hochg<strong>es</strong>chwindigkeitsaktionen wie di<strong>es</strong>e hier gemacht<br />

<strong>war</strong>, kippte ständig zur Seite und knallte mir schmerzhaft gegen<br />

den Knöchel. Die ganze Schönheit Venedigs <strong>war</strong> mit einem<br />

Mal dahin. Ich konnte nicht mehr hören, wie die Wassertaxis<br />

sich gegenseitig zuhupten, oder Fotos <strong>von</strong> der untergehenden<br />

Sonne machen, die sich im Canal Grande spiegelte. Stattd<strong>es</strong>sen<br />

<strong>war</strong> die Luft erfüllt <strong>von</strong> unablässigem Stimmengewirr, zu<br />

lauten Durchsagen in hektischem Italienisch und dem Heulen<br />

<strong>von</strong> müden, überhitzten Kindern. Die Vorstellung, dass meine<br />

Erinnerungen an das wunderschöne Venedig nun für immer<br />

<strong>von</strong> den Gedanken an di<strong>es</strong>en chaotischen, <strong>von</strong> Neonröhren<br />

beleuchteten Betonblock <strong>von</strong> einem Bahnhof überschattet<br />

werden würden, machte mich traurig.<br />

»Nicht schlappmachen!«, rief mir Simon über die Schulter<br />

zu.<br />

Er <strong>war</strong>tete, bis ich aufgeholt hatte, packte <strong>dann</strong> meine Hand<br />

und zog mich hinter sich her. Es sah wahrscheinlich furchtbar<br />

lächerlich aus, wie meine Strickjacke wie ein Superheldencape<br />

hinter mir herflatterte, während mein Freund mich durch<br />

die Bahnhofshalle zerrte. Meine Füße hatten sich noch nie so<br />

schnell bewegt. Wir bahnten uns einen Weg durch die Menge<br />

und ließen die beängstigend langen Schlangen an den Fahrkartenautomaten<br />

links liegen, weil Simon so vorausschauend<br />

gew<strong>es</strong>en <strong>war</strong>, unsere Tickets schon vor der Abreise in London<br />

auszudrucken.<br />

»Okay. Welch<strong>es</strong> Gleis?«, murmelte er atemlos, ließ seine<br />

Reisetasche fallen und blieb so abrupt stehen, dass ich über<br />

seine Füße stolperte und fast an ihm vorbeig<strong>es</strong>chleudert worden<br />

wäre.<br />

Ehrlich g<strong>es</strong>agt hätte ich die ganze Sache am liebsten ab-<br />

6


geblasen und mich g<strong>es</strong>chlagen gegeben. Warum verbrachten<br />

wir nicht noch eine Nacht in Venedig, mit einem gemütlichen<br />

Abend<strong>es</strong>sen und einem Spaziergang durch die romantischen<br />

Seitengassen <strong>von</strong> Cannaregio, einem Viertel <strong>von</strong> Venedig, für<br />

d<strong>es</strong>sen Erkundung wir keine Zeit mehr gehabt hatten? Weil<br />

Simons Schw<strong>es</strong>ter Catherine am folgenden Nachmittag in<br />

Amsterdam heiraten wollte und <strong>es</strong> uns niemals verziehen hätte,<br />

wenn wir zu spät oder – noch schlimmer – gar nicht kamen.<br />

Ich stemmte mir keuchend die Hände in die Hüften und<br />

beobachtete Simon, während er leise murmelnd die Anzeigetafel<br />

mit den Abfahrtszeiten studierte: »Roma Termini, Milano<br />

Centrale, Verona Porta Nuova.« Seine exzellente Aussprache<br />

d<strong>es</strong> Italienischen überraschte mich. Ich hatte nicht gewusst,<br />

dass er di<strong>es</strong><strong>es</strong> Talent b<strong>es</strong>aß.<br />

»Amsterdam, Gleis 5«, verkündete er, <strong>war</strong>f mir einen Blick<br />

zu und griff wieder nach meiner Hand. »Komm schon, Hannah,<br />

ich glaube, wir können <strong>es</strong> schaffen.«<br />

Wir begannen zu rennen, vorbei an einem Laden mit dem<br />

Namen Relax & Caffè, was sicherlich ironisch gemeint <strong>war</strong>.<br />

Ich folgte Simon, schob mich weiter durch die Menschenmassen<br />

und wich den allgegenwärtigen, gefährlich unscheinbaren<br />

Kofferrollen aus.<br />

»Wir sind fast da«, rief er und deutete nach vorn.<br />

Unser Zug, der ganz patriotisch in den drei Farben der italienischen<br />

Flagge lackiert <strong>war</strong>, stand schnittig und regungslos<br />

am Bahnsteig, die Türen geöffnet, als wolle er uns verspotten:<br />

Ihr könntet <strong>es</strong> schaffen. Oder auch nicht.<br />

Simon griff an mir vorbei, riss mir den Griff mein<strong>es</strong> Koffers<br />

aus der geballten Faust und rannte mit in die Höhe g<strong>es</strong>trecktem<br />

Gepäck voraus. Obwohl ich mittlerweile schrecklich<strong>es</strong><br />

Seitenstechen hatte und nach Luft rang, beugte ich mich nach<br />

vorn wie eine Kurzstreckenläuferin vor der Ziellinie.<br />

7


Ein Pfiff <strong>war</strong> zu hören.<br />

»Verdammt!«, schrie Simon. »Warten Sie!«<br />

Wir stürmten auf den nächstb<strong>es</strong>ten Waggon zu. Simon<br />

<strong>war</strong>f unser Gepäck hinein und stieß mich die Stufen hoch. Ich<br />

wirbelte herum, um zu sehen, ob er hinter mir <strong>war</strong>, und zuckte<br />

zusammen, als er fast <strong>von</strong> den sich schließenden Türen eingeklemmt<br />

wurde. Er zwängte sich hindurch, und eine Sekunde<br />

später <strong>war</strong>en sie endgültig g<strong>es</strong>chlossen. Im nächsten Moment<br />

setzte sich der Zug in Bewegung, zuerst ruckelnd, ehe er g<strong>es</strong>chmeidig<br />

b<strong>es</strong>chleunigend aus dem Schatten d<strong>es</strong> Bahnhofs<br />

glitt.<br />

»All<strong>es</strong> okay?«, fragte Simon und wischte sich mit der Hand<br />

den Schweiß <strong>von</strong> der Stirn.<br />

»Glaub schon«, antwortete ich atemlos und rieb meine<br />

rechte Seite.<br />

Ich zog meine Strickjacke aus, band sie mir um die Taille<br />

und lehnte mich zurück. Ich <strong>war</strong> zu erschöpft, um mich daran<br />

zu stören, dass die Düse ein<strong>es</strong> Feuerlöschers gegen mein<br />

Rückgrat drückte. Als ich die Arme vor mir ausstreckte, bemerkte<br />

ich in dem goldenen Licht, das durch die Fenster fiel,<br />

wie braun ich schon nach wenigen Tagen unter der Sonne<br />

Venedigs geworden <strong>war</strong>. Sogar meine normalerweise dunkelbraunen<br />

Härchen <strong>war</strong>en eine Spur blonder. Mittlerweile<br />

umgab uns die Lagune zu beiden Seiten. Private Wassertaxis<br />

rasten in vollem Tempo aufs Meer hinaus. Vermutlich <strong>war</strong>en<br />

sie auf dem Weg zum Flughafen oder zurück in die Stadt. Die<br />

Fahrt damit kostete ein klein<strong>es</strong> Vermögen, w<strong>es</strong>halb ich sie –<br />

natürlich – den ganzen Aufenthalt lang nur neidisch aus der<br />

Ferne beobachtet hatte, während wir in der Schlange für den<br />

Vaporetto standen.<br />

Simon beugte sich hinunter, öffnete seine Tasche und<br />

tauchte den Arm hinein, um mit großer G<strong>es</strong>te unsere Fahrkar-<br />

8


ten hervorzuzaubern. »Wenigstens hat einer <strong>von</strong> uns die Dinge<br />

im Griff«, sagte er und lachte in sich hinein. »Mal im Ernst,<br />

Hannah, was würd<strong>es</strong>t du nur ohne mich tun, hm?«<br />

Ich <strong>war</strong> nicht in der Stimmung, mir seine launigen Kommentare<br />

darüber anzuhören, wie unorganisiert ich <strong>war</strong>.<br />

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich klarkommen würde«,<br />

murmelte ich sehr leise.<br />

Er hatte <strong>es</strong> trotzdem gehört, legte den Kopf schief und sah<br />

mich skeptisch an. »Nicht wenn man nach der letzten Stunde<br />

geht.«<br />

Als ob ich absichtlich mein Portemonnaie auf dem Tr<strong>es</strong>en<br />

d<strong>es</strong> süßen kleinen G<strong>es</strong>chenkeladens liegengelassen hätte.<br />

Mir <strong>war</strong> erst aufgefallen, dass <strong>es</strong> nicht mehr da <strong>war</strong>, als ich<br />

die Vaporetto-Tickets bezahlen wollte. Wir <strong>war</strong>en natürlich<br />

zurückgerannt, hatten uns durch die Menschenmassen gekämpft,<br />

<strong>war</strong>en den Scharen mit Gürteltaschen ausg<strong>es</strong>tatteter<br />

Touristen ausgewichen und dennoch nur im Schneckentempo<br />

durch die gepflasterten Straßen und Gassen mäandert. Im Laden<br />

angekommen, hatte das hübsche dunkelhaarige Mädchen<br />

das Portemonnaie unter dem Tr<strong>es</strong>en hervorgeholt und <strong>es</strong> mir<br />

mit einem freundlichen Lächeln überreicht. Anschließend <strong>war</strong>en<br />

wir zurück zur Halt<strong>es</strong>telle gehetzt, wo die Schlange mittlerweile<br />

viermal so lang <strong>war</strong>. Ich hatte vorg<strong>es</strong>chlagen, unsere<br />

letzten Euro zusammenzukratzen und uns ein Wassertaxi zu<br />

nehmen, aber Simon hatte sich wegen der schwindelerregenden<br />

Preise schlichtweg geweigert. Bei dem, was er während<br />

d<strong>es</strong> g<strong>es</strong>amten Urlaubs bereits ausgegeben haben musste, kam<br />

<strong>es</strong> mir seltsam vor, dass er ausgerechnet hier eine Grenze zog.<br />

Jetzt richtete er sich auf und wuschelte mir durch die Haare.<br />

»Wir haben’s g<strong>es</strong>chafft, und das ist das Wichtigste.«<br />

Ich nickte, griff nach meinem Koffer und kämpfte mit dem<br />

ausziehbaren Griff, wobei ich mir den Finger einklemmte.<br />

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Ich zuckte zusammen und saugte daran, um den Schmerz zu<br />

lindern. Simon, der nichts da<strong>von</strong> mitbekommen hatte, schlug<br />

mit dem Handballen auf den Knopf, der die Tür zum nächsten<br />

Waggon öffnete. Ich folgte ihm wie ein Lemming, trat alle zwei<br />

Sekunden jemandem auf die Zehen und entschuldigte mich<br />

dementsprechend die ganze Zeit über.<br />

»Da wären wir«, erklärte Simon munter und blieb vor einem<br />

Erste-Klasse-Schlafabteil stehen, das er als kleinen Luxus<br />

für uns gebucht hatte.<br />

Ich <strong>war</strong>tete, während er die Tür öffnete.<br />

»Oh«, sagte er.<br />

Ich lugte über seine Schulter. In dem Abteil saß bereits eine<br />

Familie – ein Paar und ein kleiner Junge – und hatte sich häuslich<br />

eingerichtet. Auf dem Boden lag bunt<strong>es</strong> Spielzeug verstreut.<br />

»Entschuldigen Sie, aber das hier ist unser Abteil«, erklärte<br />

Simon und zeigte dem Mann unsere Fahrkarten, während er<br />

seine Tasche mit einer G<strong>es</strong>te abstellte, die deutlich machte,<br />

dass er das Abteil als sein Territorium betrachtete. »Sehen Sie?<br />

Wagen H, Abteil 4. Vielleicht finden Sie Ihr<strong>es</strong> ein Stück weiter<br />

den Gang hinunter?«<br />

Der Mann wandte sich auf Französisch an seine Frau, die auf<br />

dem obersten Bett saß und die Beine über den Rand baumeln<br />

ließ. Sie trug einen eleganten, glänzenden, perfekt symmetrischen<br />

Bob, der knapp unter ihrem Kinn endete, und ich griff<br />

mir instinktiv in die Locken, die in der Hitze wild und krisselig<br />

geworden <strong>war</strong>en. Simon und ich <strong>war</strong>teten ang<strong>es</strong>pannt in der<br />

Tür. Mir tat der kleine Junge leid, der sich schüchtern hinter<br />

den Beinen sein<strong>es</strong> Vaters versteckte. Andererseits standen sie ja<br />

nicht gleich ohne Abteil da – sie <strong>war</strong>en nur im falschen.<br />

Die beiden kramten in ihren Reiseunterlagen und unterhielten<br />

sich so schnell, dass ich kein Wort verstand. Schließlich<br />

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hielt der Mann Simon ein Stück Papier entgegen. Wir <strong>war</strong>fen<br />

beide einen Blick darauf. Die Fahrkarte schien identisch mit<br />

unserer zu sein. Der Zug um 19:20 Uhr <strong>von</strong> Venedig nach<br />

Amsterdam, Wagen H, Abteil 4.<br />

Offensichtlich hatte <strong>es</strong> eine Doppelbuchung gegeben. <strong>Und</strong><br />

sie hatten ein Kind, w<strong>es</strong>halb sie selbstverständlich bleiben<br />

durften.<br />

»Verdammt noch mal!«, zischte Simon.<br />

Ich hegte jedoch langsam den Verdacht, dass er <strong>es</strong> grundsätzlich<br />

hasste, bei was auch immer zu verlieren. Ein Jahr Beziehung<br />

<strong>war</strong> im Großen und Ganzen nicht viel, und <strong>es</strong> gab<br />

noch immer jede Menge aneinander zu entdecken, vor allem,<br />

seit wir zusammengezogen <strong>war</strong>en.<br />

»Dann reden wir am b<strong>es</strong>ten mit dem Zugführer, nicht<br />

wahr?«, sagte Simon, der nicht nachgeben wollte.<br />

»Wie Sie meinen«, erwiderte der Franzose und zuckte mit<br />

den Schultern.<br />

Ich zog mich in den Gang zurück. »Komm schon, Simon.<br />

Lassen wir’s gut sein.«<br />

Schließlich gab er auf. Er folgte mir, steuerte aber sofort<br />

auf die erste Bahnang<strong>es</strong>tellte zu, die uns begegnete, und sagte,<br />

er wolle eine offizielle B<strong>es</strong>chwerde einlegen. Woraufhin sie<br />

ihm sehr zu seiner Verärgerung erklärte, dass sie hier im Zug<br />

nichts unternehmen könne und wir bei unserer Ankunft in<br />

Amsterdam zu einem Fahrkartenschalter gehen sollten. Obwohl<br />

er noch eine weitere Schimpftirade auf einen Kellner<br />

niedergehen ließ, der uns mit einem Getränkewagen im Gang<br />

entgegenkam, landeten wir schließlich einige Waggons weiter<br />

in den engen, steinharten Sitzen der zweiten Klasse. Simon<br />

kochte innerlich, gab aber vor, ganz ruhig zu sein.<br />

»Hier ist <strong>es</strong> doch auch ganz nett«, sagte er und versuchte,<br />

seine Reisetasche in das obere Gepäckfach zu rammen. Als<br />

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ihm klar wurde, dass sie nicht hineinpasste, stieß er sie mit<br />

dem Bein unter den Sitz. Ich nahm die Knie zur Seite, damit er<br />

vorbeikonnte. Ich hatte ihm den Fensterplatz überlassen, weil<br />

ich schon mal mit ihm in einem Zug gefahren <strong>war</strong> und mich<br />

noch genau daran erinnerte, wie er sich ständig b<strong>es</strong>chwert<br />

hatte, dass die Leute »die ganze Zeit« gegen seine Schulter<br />

stießen. Außerdem wusste ich, dass er schlafen würde wie ein<br />

Toter, sobald er <strong>es</strong> sich bequem gemacht hatte, und da <strong>war</strong> <strong>es</strong><br />

sicher gemütlicher für ihn, wenn er sich gegen die Scheibe lehnen<br />

konnte. Es <strong>war</strong> nur so, dass ich jetzt für die nächsten fünfzehn<br />

Stunden hier f<strong>es</strong>tsitzen würde und nicht einmal aus dem<br />

Fenster blicken und Tagträumen nachhängen oder mir die<br />

Zeit damit vertreiben konnte, unscharfe Fotos <strong>von</strong> der Landschaft<br />

zu schießen.<br />

Ich ließ die Finger an dem Band meiner Kamera entlanggleiten,<br />

die ich in den letzten Tagen beinahe ständig um den<br />

Hals getragen hatte, und fragte mich, ob ich vor der Hochzeit<br />

genug Zeit haben würde, um noch ein paar Fotos <strong>von</strong> Amsterdam<br />

zu machen.<br />

»Tut mir leid, Liebling«, sagte Simon kleinlaut und sah<br />

mich an. »Was für ein Mist.« Er nahm meine Hand und strich<br />

über die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger. »Die Reise<br />

hätte etwas B<strong>es</strong>onder<strong>es</strong> werden sollen. Man wird schließlich<br />

nur einmal dreißig …«<br />

Ich wandte mich ihm zu und umschloss sein G<strong>es</strong>icht mit<br />

den Händen. »All<strong>es</strong> gut, Simon. Ganz ehrlich, <strong>es</strong> ist toll.«<br />

»Aber ich hatte all<strong>es</strong> genau geplant«, fuhr er fort. »Auf Trip-<br />

Advisor wurden die Erste-Klasse-Schlafabteile als sehr gemütlich<br />

und romantisch angepri<strong>es</strong>en. Wenn ich das gewusst hätte,<br />

hätte ich uns einfach einen Flug gebucht.«<br />

»Aber <strong>es</strong> ist doch romantisch«, beharrte ich. »<strong>Und</strong> kein Bett<br />

für die Nacht zu haben macht <strong>es</strong> nur noch abenteuerlicher.«<br />

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»Ein Abenteuer <strong>war</strong> nicht gerade das, was ich mir vorg<strong>es</strong>tellt<br />

hatte.« Er stützte den Ellbogen auf den Rand d<strong>es</strong> Fensters<br />

und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel.<br />

Ich konnte sehen, dass <strong>es</strong> ihn schier umbrachte, dass die<br />

Dinge nicht exakt nach Plan gelaufen <strong>war</strong>en.<br />

Willkommen in meiner Welt, dachte ich.<br />

»Versuch, dich zu entspannen«, sagte ich und fächelte mir<br />

mit der Hand Luft zu. Mir <strong>war</strong> jetzt schon zu <strong>war</strong>m.<br />

»Hier gibt’s anscheinend nicht mal eine Klimaanlage«,<br />

seufzte Simon und wischte sich die Oberlippe mit dem Ärmel<br />

sein<strong>es</strong> T-Shirts trocken.<br />

»Vermutlich wäre das im Schlafwagen auch nicht anders<br />

gew<strong>es</strong>en«, entgegnete ich und holte mein Buch heraus, weil<br />

ich <strong>es</strong> für das B<strong>es</strong>te hielt, ihm etwas Zeit zu geben, um sich<br />

abzuregen.<br />

Ich <strong>war</strong> in der Mitte <strong>von</strong> Gone Girl, das meine Freundin<br />

Ellie mir geliehen hatte, weil ich ihrer Aussage nach die einzige<br />

Person <strong>war</strong>, die <strong>es</strong> noch nicht gel<strong>es</strong>en hatte. Mal abg<strong>es</strong>ehen <strong>von</strong><br />

den psychotischen Tendenzen der Protagonistin kam mir der<br />

Gedanke, aus seinem aktuellen Leben auszusteigen und sich<br />

als jemand ganz ander<strong>es</strong> neu zu erfinden, irgendwie reizvoll<br />

vor. Vielleicht hatte ich mich während der Beziehung mit Simon<br />

in kleinerem Rahmen auch verändert. Ich <strong>war</strong> eine kontrolliertere,<br />

ruhigere Version meiner selbst geworden. Die Art<br />

Freundin, <strong>von</strong> der ich dachte, dass er sie verdiente, und <strong>von</strong><br />

der ich immer vermutet hatte, dass ich das Potenzial hätte, so<br />

eine Person zu sein, wenn ich erst einmal den Richtigen gefunden<br />

hatte. <strong>Und</strong> nach unserer Zeit in Venedig hatte ich das<br />

Gefühl, dass <strong>es</strong> funktionierte. Ich biss mir auf die Unterlippe<br />

und konnte nicht aufhören zu grinsen, während ich versuchte,<br />

<strong>es</strong> mir gemütlich zu machen. Ich lehnte den Kopf an Simons<br />

Schulter.<br />

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»Ich muss mal«, flüsterte er mir irgendwann ins Ohr und<br />

strich mir über den Oberschenkel. »Tut mir leid, Süße.«<br />

Ich setzte mich auf und unterdrückte ein Gähnen. »Wie<br />

spät ist <strong>es</strong>?«<br />

Simon blickte auf die Uhr. »Zehn nach zehn.«<br />

Dann <strong>war</strong>en <strong>es</strong> jetzt nur noch zwölf Stunden. Ein voller Arbeitstag<br />

und noch ein halber. Mein Nacken schmerzte, und ich<br />

wollte mich dringend lang hinlegen; auf dem Rücken liegend<br />

einschlafen, die Beine <strong>von</strong> mir g<strong>es</strong>treckt wie ein Se<strong>es</strong>tern. Als<br />

ich aufstand, um Simon vorbeizulassen, wankte ich ein bisschen<br />

vor Erschöpfung.<br />

»Bin gleich zurück«, murmelte er und machte sich auf den<br />

Weg den Gang hinunter. Ich sah ihm bewundernd hinterher,<br />

weil er <strong>es</strong> selbst unter di<strong>es</strong>en Umständen schaffte, in seinem<br />

smaragdgrünen Poloshirt und den gerade g<strong>es</strong>chnittenen indigoblauen<br />

Jeans gepflegt und ordentlich auszusehen. Sein Haar<br />

hatte mit dreiunddreißig noch den gleichen honigfarbenen<br />

Ton wie mit fünf, was bedeutete, dass er ärgerlicherweise immer<br />

noch sehr jung aussah. Erst vor Kurzem <strong>war</strong> er bei Marks<br />

& Spencer nach seinem Ausweis gefragt worden – das <strong>war</strong> mir<br />

seit über zehn Jahren nicht mehr passiert. <strong>Und</strong> schlimmer<br />

noch. In der Woche, bevor wir losgefahren <strong>war</strong>en, hatte ich<br />

mir die Haare gekämmt und mir den unregelmäßigen Pony<br />

zur Abwechslung mal zur Seite wegg<strong>es</strong>teckt, und da <strong>war</strong> <strong>es</strong>:<br />

mein erst<strong>es</strong> grau<strong>es</strong> Haar. Wie <strong>war</strong> das möglich, wo ich doch<br />

gerade erst die Zwanziger hinter mir hatte? Dunkle Gedanken<br />

über meinen bevorstehenden Tod hatten mich überfallen. Er<br />

erschien mir plötzlich näher denn je, dabei hatte ich noch gar<br />

nicht all<strong>es</strong> erreicht, was ich erreichen wollte. <strong>Und</strong> ich konnte<br />

<strong>es</strong> nicht mal auf die Gene schieben: Mum <strong>war</strong> siebenundfünfzig,<br />

und ich hatte noch nie eine graue Strähne in ihrem feinen<br />

dunkelblonden Haar g<strong>es</strong>ehen. Ich hatte keine Ahnung,<br />

14


ob mein portugi<strong>es</strong>ischer Vater grau geworden <strong>war</strong> oder nicht.<br />

Sein Haar <strong>war</strong> so dunkel gew<strong>es</strong>en wie mein<strong>es</strong>, seine Haut genauso<br />

olivfarben. Außerdem <strong>war</strong> er klein und gedrungen – so<br />

wie ich mich selbst ebenfalls sah –, w<strong>es</strong>halb ich das mit dem<br />

Grau kurzerhand ebenfalls auf ihn schob. Warum auch nicht?<br />

Immerhin <strong>war</strong> er nicht da, um mir das Gegenteil zu beweisen.<br />

Ich setzte mich wieder und schaute aus dem Fenster. Vielleicht<br />

würde ich einen Hinweis darauf erhaschen, wo wir uns<br />

befanden. Während wir so dahinratterten, hatte ich den Überblick<br />

verloren, in welchem Land wir gerade <strong>war</strong>en, als ob der<br />

Zug mich überall hinbringen könnte, wenn ich <strong>es</strong> nur zuließ.<br />

Draußen zeigte sich gelegentlich etwas Licht am Horizont,<br />

wie gelbe Farbspritzer auf einer sch<strong>war</strong>zen Leinwand. In der<br />

Scheibe konnte ich das Spiegelbild der schwatzhaften amerikanischen<br />

Jungs auf der anderen Seite d<strong>es</strong> Gang<strong>es</strong> sehen. Sie<br />

<strong>war</strong>en mittlerweile eing<strong>es</strong>chlafen, jeder an ein Elternteil gekuschelt,<br />

die Augen g<strong>es</strong>chlossen, aber nicht ganz, sodass man<br />

noch immer etwas Weiß zwischen den Lidern hervorschimmern<br />

sah. Ich fragte mich, ob Simon und ich in einigen Jahren<br />

wohl auch so sein würden: Vielleicht würden wir mit unseren<br />

Kindern durch Europa reisen und Streitereien über Süßigkeiten<br />

schlichten. Oder darüber, wer die Nintendo-Konsole am<br />

längsten hatte.<br />

Simons Handy vibrierte. Es sah ihm gar nicht ähnlich, ohne<br />

seinen wertvollsten B<strong>es</strong>itz irgendwo hinzugehen. Das kupferfarbene<br />

iPhone <strong>war</strong> praktisch mit seiner Hand verwachsen.<br />

Nachdem ich mit dem Fuß den Boden abgetastet hatte, fand<br />

ich <strong>es</strong> schließlich in der Lücke zwischen unseren Sitzen. Auf<br />

dem Bildschirm <strong>war</strong> die Vorschau einer Nachricht zu sehen,<br />

und ich <strong>war</strong>f nur einen flüchtigen Blick darauf, weil ich vermutete,<br />

dass <strong>es</strong> seine Schw<strong>es</strong>ter <strong>war</strong>, die ihm im Vorfeld ihrer<br />

Hochzeit ständig schrieb. Ich legte <strong>es</strong> auf den Klapptisch.<br />

15


Als ich aufsah, stand Simon neben mir.<br />

»Ich hab uns was zu trinken geholt«, erklärte er.<br />

»Super«, erwiderte ich und sah lächelnd zu ihm hoch. Das<br />

würde die Stimmung etwas auflockern.<br />

Er schob sich an meinen Knien vorbei, <strong>war</strong>f sich in seinen<br />

Sitz und griff nach seinem Handy.<br />

»Oh, ich dachte, ich hätte <strong>es</strong> mitgenommen.«<br />

Er blickte auf das Display.<br />

»Du hast eine Nachricht bekommen«, sagte ich.<br />

»Ach ja?«<br />

Er rief die Nachricht auf und gab einen missbilligenden<br />

Laut <strong>von</strong> sich.<br />

»Wer <strong>war</strong>’s denn?«<br />

»Jemand <strong>von</strong> der Arbeit«, entgegnete er und steckte das<br />

Handy in seine Hosentasche.<br />

»Doch nicht Dave, oder?« Ich meinte damit seinen fürchterlichen<br />

neuen Vorg<strong>es</strong>etzten. Seit er vor einigen Monaten angefangen<br />

hatte, machte er Simon das Leben zur Hölle. Er hatte<br />

ständig etwas zu meckern und versuchte, Simon für Fehler<br />

verantwortlich zu machen, die er selbst begangen hatte.<br />

»Nein, Gott sei Dank nicht, und er ist wirklich der Letzte,<br />

an den ich heute Nacht denken will«, erwiderte Simon und<br />

klappte mein Tischchen energischer als nötig nach unten.<br />

»Hier, ich hab dir einen Wein mitgebracht.«<br />

Eifrig schraubte er die Flasche auf und goss die duftende<br />

rubinrote Flüssigkeit in einen dünnwandigen Plastikbecher.<br />

Oh, wie glamourös Zugfahrten doch <strong>war</strong>en! Für sich selbst<br />

hatte Simon lediglich Mineralwasser gekauft. Ich <strong>war</strong> stolz auf<br />

ihn, dass er sich nicht <strong>von</strong> seiner selbst auferlegten Enthaltsamkeit<br />

abbringen ließ, aber an di<strong>es</strong>em str<strong>es</strong>sigen Tag wäre<br />

ein Brandy vielleicht b<strong>es</strong>ser gew<strong>es</strong>en. Es fühlte sich seltsam an,<br />

dass er keinen Alkohol mehr trank, und ich hatte erleichtert<br />

16


f<strong>es</strong>tg<strong>es</strong>tellt, dass ich nicht die Einzige <strong>war</strong>, die so dachte – Ellie<br />

und ihr Freund John <strong>war</strong>en sprachlos gew<strong>es</strong>en, als sie letzten<br />

Monat zu meinem Geburtstags<strong>es</strong>sen bei uns gew<strong>es</strong>en <strong>war</strong>en<br />

und die Nacht nicht in dem üblichen feuchtfröhlichen Gelage<br />

geendet hatte.<br />

»Das ist das Geräusch, zu dem ich am liebsten einen Raum<br />

betrete«, hatte Ellie lachend g<strong>es</strong>agt, nachdem sie genau in dem<br />

Moment in der Küche erschienen <strong>war</strong>, als ich eine Flasche Prosecco<br />

entkorkt hatte.<br />

Sie trat zu mir und zog mich in eine Umarmung. »Happy<br />

Birthday, Hannah.«<br />

Ich umarmte sie ebenfalls und drückte sie. »Schön, dass ihr<br />

gekommen seid.«<br />

»Hier, stell das in den Kühlschrank«, befahl sie mit einem<br />

vielsagenden Zwinkern und drückte mir eine Flasche Wein in<br />

die Hand.<br />

Simon und John kamen in die Küche und <strong>war</strong>en bereits in<br />

ein G<strong>es</strong>präch über Fußball vertieft. Offenbar schlug Arsenal<br />

sich gut, was beide zu freuen schien. Simon <strong>war</strong> ein Gelegenheitsfan,<br />

der nur Inter<strong>es</strong>se an seinem Team zeigte, wenn <strong>es</strong> gewann.<br />

Außerdem vermutete ich, dass er vorgab, Fußball mehr<br />

zu mögen, als er <strong>es</strong> tatsächlich tat, je nachdem, mit wem er<br />

zusammen <strong>war</strong>. Aber das konnte ich ihm nicht wirklich vorwerfen.<br />

Zeigten wir nicht alle vor allem <strong>dann</strong> Begeisterung für<br />

ein b<strong>es</strong>timmt<strong>es</strong> Thema, wenn wir Teil der Gruppe sein wollten?<br />

»Na gut, <strong>dann</strong> trinken wir was!«, lachte ich. Doch <strong>dann</strong><br />

hielt ich beim Einschenken abrupt inne. »Ups, sorry, Simon«,<br />

murmelte ich. Ich holte den Orangensaft aus dem Kühlschrank<br />

und füllte seine Sektflöte damit. »Das hätte ich fast verg<strong>es</strong>sen.«<br />

Ellie wirkte verwirrt. »Trinkst du nichts, Simon?«<br />

17


Er schob sich an mir vorbei, und ich lächelte instinktiv zu<br />

ihm auf, als er die Hände auf meine Hüften legte.<br />

»Ich hab damit aufgehört«, erwiderte er lässig.<br />

»Was? Für immer?«, fragte John, der den Prosecco schon<br />

hinuntergekippt hatte, als ob er sonst schlecht geworden wäre.<br />

»Glaub schon«, antwortete Simon und band sich die<br />

Schürze um. »Ist so ’ne Art G<strong>es</strong>undheitstrip.«<br />

Ellie <strong>war</strong>f mir einen Blick zu. Ich zuckte mit den Schultern.<br />

Ich hatte <strong>es</strong> ihr gegenüber nicht erwähnt, weil ich wusste,<br />

dass sie viel Aufhebens darum machen würde. Außerdem<br />

wusste ich selbst nicht, wie ich <strong>es</strong> erklären sollte. Es <strong>war</strong> wie<br />

aus dem Nichts gekommen. Nachdem Simon und ich zusammengezogen<br />

<strong>war</strong>en, hatte ich <strong>es</strong> genossen, wenn wir abends<br />

bei einem Glas Wein über unseren Tag sprachen, während der<br />

eine den Tisch deckte und der andere kochte. Es <strong>war</strong> etwas,<br />

auf das ich mich freuen konnte, wenn ich im Büro an meinem<br />

Schreibtisch f<strong>es</strong>tsaß und meine Konzentration am Nachmittag<br />

nachzulassen drohte. Es <strong>war</strong> eine Gelegenheit, bei der wir<br />

uns gemeinsam entspannen und ich die Ärgernisse d<strong>es</strong> Tag<strong>es</strong><br />

abschütteln konnte.<br />

Seit einiger Zeit jedoch fühlte sich all<strong>es</strong> distanzierter an.<br />

An den meisten Abenden ging er <strong>von</strong> der Arbeit direkt ins<br />

Fitn<strong>es</strong>sstudio, und wenn er <strong>dann</strong> nach Hause kam, <strong>war</strong> ich<br />

todmüde und bereit fürs Bett. Der positive Nebeneffekt <strong>war</strong>,<br />

dass ich ebenfalls weniger trank – allein machte <strong>es</strong> nicht so viel<br />

Spaß, das <strong>war</strong> in Venedig sehr deutlich geworden, als wir an<br />

einem milden, späten Nachmittag auf einem wunderschönen,<br />

lauschigen Platz g<strong>es</strong><strong>es</strong>sen hatten. Ich hatte versucht, ein eisgekühlt<strong>es</strong><br />

Glas tollen Weißweins zu genießen, während Simon<br />

die ganze Zeit damit verbracht hatte, sich über den Wucherpreis<br />

für das Mineralwasser aufzuregen.<br />

18


Nach einer quälenden Stunde – der Zug <strong>war</strong> so langsam geworden,<br />

dass er praktisch angehalten hatte – <strong>war</strong> ich furchtbar<br />

gelangweilt und nicht einmal ansatzweise müde. Mittlerweile<br />

ging <strong>es</strong> wieder munter voran, und der Zug ruckelte <strong>von</strong> einer<br />

Seite zur anderen. Der Wein hatte Wirkung gezeigt, sodass ich<br />

mir gleich noch einen geholt hatte.<br />

»Lass uns etwas Spaß haben«, schlug ich vor und ließ meine<br />

Hand über Simons Knie gleiten.<br />

Er nahm einen seiner In-Ear-Kopfhörer heraus und beugte<br />

sich so nah zu mir, dass sich unsere Nasen berührten. »Was<br />

genau stellst du dir denn vor?«<br />

Wir einigten uns darauf, Leute zu beobachten. Simon referierte<br />

brillant im Stil David Attenboroughs über die frei erfundene<br />

Lebensg<strong>es</strong>chichte d<strong>es</strong> jeweiligen Fahrgast<strong>es</strong>, für den wir<br />

uns entschieden hatten.<br />

»Er ist auf dem Weg zu einer Holländerin, die er im Urlaub<br />

auf Bali kennengelernt hat, und obwohl er großspurig rüberkommt,<br />

ist er innerlich schrecklich nervös, dass sie ihn fallen<br />

lassen wird wie alle seine Ex-Freundinnen vor ihr«, erklärte<br />

Simon.<br />

»Meinst du?« Ich <strong>war</strong>f einen zweifelnden Blick auf den<br />

arrogant aussehenden Typen mit dem Hipsterbart. »Er sieht<br />

ziemlich selbstbewusst aus.«<br />

»All<strong>es</strong> nur Fassade«, erwiderte Simon überzeugt und strich<br />

mir eine Locke hinters Ohr. »<strong>Und</strong> sie«, fuhr er fort und deutete<br />

mit dem Kopf auf eine nervös wirkende Frau, die mit<br />

einer kleinen Flasche Wein und einem Plastikbecher aus dem<br />

Speisewagen zurückkam, »sie b<strong>es</strong>ucht ihre lange verschollene<br />

Halbschw<strong>es</strong>ter, die sie auf Facebook wiedergefunden hat. Sie<br />

hat Angst, dass sie sich hassen werden. D<strong>es</strong>halb trinkt sie. Sie<br />

wird sich vor dem Morgengrauen noch einen Wein holen,<br />

<strong>war</strong>t’s nur ab.«<br />

19


Ich lachte. »Du hast vielleicht komische Ideen.«<br />

Simons Handy klingelte, und er zog <strong>es</strong> aus seiner Hosentasche.<br />

»Hallo?«<br />

Ich wettete im Stillen, dass <strong>es</strong> Catherine <strong>war</strong>.<br />

Meine Schw<strong>es</strong>ter, formte er mit den Lippen.<br />

Ich wusste <strong>es</strong>. Meine Ohren wappneten sich gegen ihre<br />

schrille Stimme, die alle Details d<strong>es</strong> letzten kleinen Rückschlags<br />

herunterratterte. Sie <strong>war</strong> wie immer f<strong>es</strong>t entschlossen,<br />

daraus eine handf<strong>es</strong>te Katastrophe zu machen. Nachdem sie<br />

jahrelang die gut aussehenden, aber langweiligen Freunde <strong>von</strong><br />

Freunden an der Durham University gedatet hatte – so hatte<br />

sie <strong>es</strong> mir zumind<strong>es</strong>t verkauft –, hatte sie ihren Verlobten Jasper<br />

bei einer G<strong>es</strong>chäftsreise nach Amsterdam kennengelernt.<br />

Er <strong>war</strong> zehn Jahre älter als sie, Kunstkurator – eine Berufsbezeichnung,<br />

die ich immer noch nicht ganz verstand – und<br />

stammte aus einer reichen niederländischen Familie, der anscheinend<br />

Grundstücke auf der ganzen Welt gehörten. Vielleicht<br />

zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Catherine<br />

genauso unsicher wie wir alle. Allerdings hatte sie sich nach allen<br />

Regeln der Kunst auf ihre neue Rolle vorbereitet. Catherine<br />

und ihre Mum Pauline <strong>war</strong>en praktisch das Berkhamsted’sche<br />

Äquivalent <strong>von</strong> Pippa und Carole Middleton. Sie hatten sich<br />

mit einer beängstigenden Intensität in die Hochzeitsvorbereitungen<br />

g<strong>es</strong>türzt, hatten irgendwo in der Mount Street individuell<br />

gefertigte Einladungen b<strong>es</strong>tellt und personalisierte<br />

Marsh mallows als Lieb<strong>es</strong>gaben aufgetrieben, denn angeblich<br />

hatte Pippa das auch gehabt.<br />

<strong>Und</strong> was das Kleid anging … nun, man hatte mir keine<br />

Details anvertraut. Ich wusste nur, dass <strong>es</strong> aus irgendeiner<br />

ultrateuren Boutique in der New Bond Street stammte, aber<br />

wie genau <strong>es</strong> aussah, <strong>war</strong> ein Geheimnis, und jed<strong>es</strong> Mal, wenn<br />

ich mich aus purer Höflichkeit danach erkundigte, welchen<br />

20


Stoff oder welchen Weißton sie gewählt hatte oder ob sie<br />

einen Schleier tragen würde, machte sie eine G<strong>es</strong>te, als würde<br />

sie sich die Lippen verschließen, und verwi<strong>es</strong> mich so an meinen<br />

Platz.<br />

»Kann Dad das nicht erledigen?«, fragte Simon müde, sah<br />

mich an und verdrehte die Augen.<br />

Ich lächelte ihm aufmunternd zu und schlug das Buch auf,<br />

um mich <strong>von</strong> Catherin<strong>es</strong> Stimme abzulenken, die mit fortschreitender<br />

Unterhaltung lauter und lauter wurde. Sie redete<br />

sich immer mehr in Rage. Hatten Hochzeitsvorbereitungen<br />

wirklich solche Auswirkungen? Brachten sie tatsächlich jede<br />

einzelne neurotische Eigenschaft zum Vorschein, die jemand<br />

hatte?<br />

»Nein, ich bin sicher, Hannah hat kein Problem damit, die<br />

Servietten in die Serviettenringe zu stecken«, meinte Simon<br />

gerade.<br />

Ich sah ihn an und riss die Augen auf, in der Hoffnung,<br />

dass die Botschaft bei ihm ankam, und er begriff, dass er seiner<br />

Schw<strong>es</strong>ter Einhalt gebieten sollte. Langsam reichte <strong>es</strong>. Mir<br />

<strong>war</strong>en bereits eine ganze Reihe <strong>von</strong> Pflichten übertragen worden,<br />

die sicherstellen sollten, dass die Hochzeit d<strong>es</strong> Jahr<strong>es</strong> am<br />

nächsten Tag reibungslos über die Bühne gehen würde. So<br />

sollte ich zum Beispiel über zweihundert Platzkarten b<strong>es</strong>chriften<br />

– Catherine hatte behauptet, ich sei die einzige Person in<br />

ihrem Bekanntenkreis, deren Handschrift schön genug <strong>war</strong> –<br />

und pinkfarbenen Chiffon um die Stiele der individuell angefertigten<br />

Brautjungfern-Bouquets binden. Es wäre all<strong>es</strong> viel<br />

leichter gew<strong>es</strong>en, wenn sie nicht die hoteleigene Hochzeitsplanerin<br />

gefeuert hätte, aber nachdem di<strong>es</strong>e anzudeuten gewagt<br />

hatte, dass Catherin<strong>es</strong> Farbkonzept sich mit dem Dekor d<strong>es</strong><br />

Speisezimmers biss, hatte <strong>es</strong> kein Zurück mehr gegeben. Pauline<br />

trug auch nicht unbedingt dazu bei, Catherine zur Ein-<br />

21


sicht zu bringen. Ernsthaft, bei dem Theater, das sie und ihre<br />

Tochter veranstalteten, hätte man meinen können, die Zeremonie<br />

würde weltweit im Fernsehen übertragen.<br />

»Hör mal, Cath«, sagte Simon und massierte die Stelle zwischen<br />

seinen Augenbrauen. »Ich muss jetzt Schluss machen.<br />

Wir sitzen hier im Zug. <strong>Und</strong>, oh – wir werden langsamer, und<br />

da vorn kommt eine Halt<strong>es</strong>telle. Vielleicht muss ich das Gepäck<br />

umsortieren, um Platz zu schaffen oder so.«<br />

Ich runzelte g<strong>es</strong>pielt entsetzt die Stirn und trat ihm gegen<br />

das Schienbein. Wir blieben nicht stehen, der Zug nahm eher<br />

noch an Fahrt auf. Ich sah den Gang hinunter, um die anderen<br />

Fahrgäste zu beobachten – die meisten schliefen –, und hörte<br />

nur noch mit halbem Ohr zu, während Simon seine Schw<strong>es</strong>ter<br />

b<strong>es</strong>chwichtigte und ihr versicherte, dass all<strong>es</strong> gut laufen<br />

und sie wunderschön aussehen und Jasper stolz auf sie sein<br />

würde. Außerdem wäre er, Simon, immer stolz auf sie, ganz<br />

egal, was passierte. Das schien selbst die beiden Typen vor uns<br />

zu amüsieren. Ich sah, wie sie die Köpfe schüttelten und durch<br />

den Schlitz zwischen ihren Sitzen kichernd zu uns nach hinten<br />

glotzten. Zweifellos <strong>war</strong>en sie verblüfft über die seltsam<br />

raue Stimme, die Simon nur seiner Schw<strong>es</strong>ter gegenüber benutzte<br />

und deren Tonlage gut eine Oktave tiefer <strong>war</strong> als gewöhnlich.<br />

Ich hatte Catherine einige Monate, nachdem Simon und<br />

ich zusammengekommen <strong>war</strong>en, kennengelernt und <strong>war</strong> da<strong>von</strong><br />

ausgegangen, dass wir grundverschieden wären. Sie hatte<br />

eine Privatschule b<strong>es</strong>ucht, sah gut aus und <strong>war</strong> klug und beliebt<br />

und mit einem enormen Selbstbewusstsein g<strong>es</strong>egnet,<br />

<strong>von</strong> dem ich nur träumen konnte. Aber wenn sie nicht gerade<br />

über Hochzeiten sprach, hatte sich gezeigt, dass wir gar nicht<br />

so verschieden <strong>war</strong>en, wie ich zunächst angenommen hatte.<br />

Wir fanden Gemeinsamkeiten in unserem Faible für Wein und<br />

22


Rea lity-TV – und mir kam der Gedanke, dass <strong>es</strong> womöglich<br />

der Beginn einer richtigen Freundschaft sein könnte.<br />

»Ich muss jetzt wirklich Schluss machen, Cath. Wir sehen<br />

uns <strong>dann</strong> morgen, ja?«, sagte Simon.<br />

Er legte auf und sah mich ungläubig an. »Ist <strong>es</strong> schlimm,<br />

wenn ich sage, dass ich drei Kreuze mache, wenn das all<strong>es</strong> vorbei<br />

ist?«<br />

Ich wählte meine Worte mit Bedacht: »Sie ist ein klitzeklein<strong>es</strong><br />

bisschen zum Kontrollfreak mutiert.«<br />

»Mutiert? Sie <strong>war</strong> schon immer einer. Die Hochzeit hat <strong>es</strong><br />

nur schlimmer gemacht«, seufzte er und <strong>war</strong>f sich mit einem<br />

frustrierten Stöhnen in seinem Sitz zurück.<br />

»Komm, lass uns die Venedig-Fotos ansehen«, schlug ich<br />

vor, während der Zug weiterratterte und jemand mit einer<br />

unnötig lauten Stimme b<strong>es</strong>chloss, ein Telefonat zu führen,<br />

obwohl <strong>es</strong> mittlerweile ein Uhr nachts <strong>war</strong>. »Damit wir auf<br />

schönere Gedanken kommen.«<br />

Ich <strong>war</strong> zu müde, um mein Buch zu l<strong>es</strong>en, und zu aufgedreht,<br />

um zu schlafen, und steckte in einem schrecklichen, unruhigen<br />

Zwischenzustand f<strong>es</strong>t. Simon reichte mir sein Handy.<br />

»Sie sind allerdings nicht so toll. Deine sind b<strong>es</strong>timmt viel<br />

b<strong>es</strong>ser.«<br />

»Sicher nicht«, widersprach ich, obwohl sie <strong>es</strong> vermutlich<br />

<strong>war</strong>en. Offenbar hatte ich endlich etwas gefunden, in dem ich<br />

ganz gut <strong>war</strong>, und ich verließ in letzter Zeit nur selten das Haus<br />

ohne meine geliebte, gebraucht gekaufte Canon AE-1. Es <strong>war</strong><br />

ein Weihnachtsg<strong>es</strong>chenk <strong>von</strong> Simon gew<strong>es</strong>en, und ich hatte<br />

noch nie ein G<strong>es</strong>chenk bekommen, bei dem ich so sehr das<br />

Gefühl hatte, dass der andere sich Gedanken gemacht hatte.<br />

Ich ging Simons Fotos durch, angefangen bei dem Bild, das<br />

er <strong>von</strong> mir gemacht hatte, als wir in Venedig angekommen <strong>war</strong>en.<br />

Wir standen am Flughafen in der Schlange für den Vapo-<br />

23


etto. Ich sah entspannt aus und trug Jeansshorts, Flipflops<br />

und ein sch<strong>war</strong>z<strong>es</strong> T-Shirt. Meine Haare lockten sich aufgrund<br />

der Luftfeuchtigkeit noch mehr als sonst, und ich hatte einen<br />

aufg<strong>es</strong>chlagenen Reiseführer in der Hand und ein breit<strong>es</strong><br />

Lächeln im G<strong>es</strong>icht. Ich <strong>war</strong> so glücklich, an di<strong>es</strong>em Ort zu<br />

sein, an den ich schon reisen wollte, als ich noch ein klein<strong>es</strong><br />

Mädchen <strong>war</strong>. Damals, als Mum mir immer Bilder der Sehenswürdigkeiten<br />

gezeigt und sich G<strong>es</strong>chichten dazu ausgedacht<br />

hatte.<br />

Danach kam ein Selfie, das Simon vor dem Markusdom gemacht<br />

hatte. Es <strong>war</strong> nicht gerade gut gelungen, denn er <strong>war</strong><br />

mit seinen knapp einen Meter neunzig gute fünfzehn Zentimeter<br />

größer als ich, und <strong>es</strong> <strong>war</strong> praktisch unmöglich, nicht<br />

entweder den oberen Teil sein<strong>es</strong> Kopf<strong>es</strong> oder all<strong>es</strong> unter meiner<br />

Nase abzuschneiden.<br />

Ich <strong>war</strong> gerade dabei, meiner Mutter über WhatsApp eine<br />

Auswahl <strong>von</strong> Simons Fotos vom Dogenpalast zu schicken, als<br />

sein Handy erneut vibrierte und eine weitere Nachricht auf<br />

dem Bildschirm erschien.<br />

»Lass mal sehen«, murmelte er und riss <strong>es</strong> mir aus der<br />

Hand. »Verdammt noch mal.« Er schnalzte theatralisch mit<br />

der Zunge. »Schon wieder die Arbeit.«<br />

»Was wollen sie denn jetzt schon wieder?«, fragte ich.<br />

Nicht dass ich viel verstanden hätte, wenn er <strong>es</strong> mir g<strong>es</strong>agt<br />

hätte. Ich <strong>war</strong> mir noch immer nicht zu hundert Prozent sicher,<br />

was er den ganzen Tag über tat. Ich wusste nur, dass <strong>es</strong><br />

etwas mit dem Verkauf <strong>von</strong> Pharmazeutika zu tun hatte, dass<br />

er viel reisen und in der Hotelkette Premier Inns übernachten<br />

musste und dass er Präsentationen hielt und <strong>es</strong> nicht schrecklich<br />

fand, vor Menschen sprechen zu müssen.<br />

»Ich l<strong>es</strong>e sie prinzipiell nicht«, erklärte Simon. »Ich bin<br />

schließlich im Urlaub!«<br />

24


Ich sah ihn zögernd an. »All<strong>es</strong> in Ordnung?«<br />

»Natürlich«, erwiderte er und lachte hohl. »Du <strong>war</strong>st doch<br />

mit den Fotos durch, oder?«<br />

»Nicht wirklich.«<br />

»Du sollt<strong>es</strong>t das Handy weglegen, ich hab da neulich was<br />

gel<strong>es</strong>en. Das blaue Licht ruiniert den Schlafrhythmus«, sagte<br />

er.<br />

»Egal, <strong>es</strong> ist sowi<strong>es</strong>o zu laut zum Schlafen.«<br />

»Warum benutzt du nicht deine Ohrstöpsel?«<br />

»Die hab ich in Venedig verg<strong>es</strong>sen.« Ich sah meine leuchtend<br />

grünen Lebensretter vor mir, wie sie auf dem Nachttisch<br />

im Hotel lagen. Ich musste mir in Amsterdam sofort neue b<strong>es</strong>orgen.<br />

»Also, ich für meinen Teil habe vor zu schlafen«, erklärte<br />

Simon und ließ das Handy in seine Hosentasche gleiten.<br />

»Sonst bin ich morgen für nichts zu gebrauchen.«<br />

Er drehte sich <strong>von</strong> mir weg, lehnte den Kopf gegen das<br />

Fenster und schloss die Augen. Kurz darauf wurden seine<br />

Atemzüge tiefer und länger. Simon <strong>war</strong> mir gegenüber immer<br />

kurz angebunden, wenn er müde <strong>war</strong>, das gab er selbst<br />

zu. Nach ein paar Stunden Schlaf würde er sicher wieder ganz<br />

der Alte sein. Ich dagegen würde die Hochzeit vermutlich mit<br />

ernsthaftem Schlafentzug durchstehen müssen. Ich sah vor<br />

mir, wie ich bei der Party viel zu schnell betrunken wurde und<br />

unanständige Witze erzählte, um am Ende einen alkoholg<strong>es</strong>chwängerten<br />

Streit mit jemandem vom Zaun zu brechen.<br />

Panik stieg in mir hoch, und das Gefühl der Unzulänglichkeit,<br />

das in meinem Magen rumorte, wurde gleich doppelt so<br />

schlimm. Pauline würde hinter meinem Rücken schnippische<br />

Kommentare abgeben. Ich konnte <strong>es</strong> beinahe hören: Das hier<br />

ist nicht ihre Welt, Simon. Sie hat keine Ahnung, wie man sich<br />

auf einem exklusiven Event wie di<strong>es</strong>em benimmt. Pauline be-<br />

25


zeichnete die Hochzeit immer als »Event«, was ich, ehrlich g<strong>es</strong>agt,<br />

unglaublich nervtötend fand.<br />

Ich massierte mir den Kiefer mit den Fingerspitzen und<br />

versuchte, mich in einen entspannten Zustand zu versetzen,<br />

der mich in den Schlaf hinübergleiten lassen würde. Was allerdings<br />

nicht ganz einfach <strong>war</strong>, denn das Paar ein paar Sitze<br />

hinter uns flüsterte so laut, dass sie auch einfach normal sprechen<br />

hätten können, und ein junger Mann etwas weiter hinten<br />

verzehrte mit hektischem Knistern eine Packung Chips.<br />

Simons Handy vibrierte schon wieder. Ernsthaft, was <strong>war</strong><br />

da los? Das konnte nur Catherine sein. Ich schob die Finger<br />

vorsichtig in seine Hosentasche und zog das Handy so behutsam<br />

wie möglich heraus. Ich würde <strong>es</strong> auf lautlos stellen. Er<br />

<strong>war</strong> gerade erst eing<strong>es</strong>chlafen, und das Letzte, was er brauchte,<br />

<strong>war</strong>, dass sie ihn mit Nachrichten bombardierte. Es brachte<br />

nichts, wenn wir beide bei der Hochzeit vollkommen übermüdet<br />

<strong>war</strong>en.<br />

Das Handy vibrierte ein zweit<strong>es</strong> Mal, während ich sein<br />

Passwort eintippte, das er mir vor langer Zeit verraten hatte:<br />

1956, das Geburtsjahr seiner Mutter. Auf dem Display wurde<br />

eine Nachricht <strong>von</strong> einer unbekannten Nummer angezeigt.<br />

Bist du wach? Ich bin’s, Alison.<br />

Ich runzelte die Stirn. Vermutlich <strong>war</strong> <strong>es</strong> jemand <strong>von</strong> der<br />

Arbeit, obwohl er nie jemanden namens Alison erwähnt hatte.<br />

Die einzige Alison, die ich kannte, <strong>war</strong> eine <strong>von</strong> Catherin<strong>es</strong><br />

Brautjungfern. Sie hatte den Jungg<strong>es</strong>ellinnenabschied organisiert.<br />

Ein sündhaft teur<strong>es</strong> Wochenende in Marbella. Ich hatte<br />

versucht, mich davor zu drücken, weil ich <strong>es</strong> mir eigentlich<br />

nicht leisten konnte und weil ich außer Catherine niemanden<br />

kannte. Natürlich <strong>war</strong> ich am Ende doch mitgefahren – vor allem,<br />

weil mir keine glaubhafte Ausrede eingefallen <strong>war</strong>. Ich erinnerte<br />

mich noch gut an Alison. Ich hatte sie ganz nett gefun-<br />

26


den, bis sie sich betrunken und einen Streit mit einem Spanier<br />

angefangen hatte, mit dem sie den ganzen Abend lang geflirtet<br />

hatte. Am Ende hatte sie sich in den Pool übergeben. Wenn sie<br />

<strong>es</strong> <strong>war</strong>, <strong>dann</strong> gab <strong>es</strong> vielleicht irgendeine Last-Minute-Krise.<br />

Catherine ging vermutlich auch ihr auf die Nerven.<br />

Ich scrollte etwas hoch. Da <strong>war</strong>en noch andere Nachrichten<br />

<strong>von</strong> derselben Nummer.<br />

Ich bin’s, kannst du reden?<br />

<strong>Und</strong> davor:<br />

Ich bin bei der Hochzeit. Wann kommst du an? Ich muss<br />

dringend mit dir sprechen.<br />

Die Nachrichten <strong>war</strong>en also definitiv <strong>von</strong> Brautjungfer Alison.<br />

Ich legte das Handy vorsichtig beiseite. Was auch immer<br />

vor sich ging, heute Nacht konnte Simon nicht mehr viel tun.<br />

Ich versuchte, das Handy zurück in seine Hosentasche zu stecken,<br />

aber <strong>es</strong> rutschte mir aus der Hand und landete auf dem<br />

Boden. Ich zuckte zusammen und betete, dass ich <strong>es</strong> nicht kaputtgemacht<br />

hatte. Sonst würde Simon fuchsteufelswild werden.<br />

Er regte sich, und ich blickte vorsichtig zu ihm hinüber.<br />

Seine Augen <strong>war</strong>en halb offen, und er verschränkte die Hände<br />

und streckte sie über dem Kopf aus.<br />

»Dein Handy ist dir aus der Tasche gefallen«, flüsterte ich<br />

und berührte ihn leicht am Arm.<br />

Er betastete seine Hosentasche, <strong>dann</strong> glitt er mit der Hand<br />

zwischen die Sitze.<br />

»Es liegt auf dem Boden«, murmelte ich leise.<br />

Noch im Halbschlaf beugte er sich hinunter und hob <strong>es</strong> auf.<br />

Mir fiel auf, dass er <strong>es</strong> in die andere Tasche steckte, bevor er<br />

sich wegdrehte und den Kopf wieder dem Fenster zuwandte.<br />

Es <strong>war</strong> komisch, dass er die anderen Nachrichten <strong>von</strong> Alison<br />

nicht erwähnt hatte, aber sicher gab <strong>es</strong> eine einfache Erklärung.<br />

Er wusste, dass ich die Nase voll hatte <strong>von</strong> Catherin<strong>es</strong><br />

27


ständigen Forderungen, und vermutlich dachte er, dass ich<br />

nichts da<strong>von</strong> hören wollte. Ich würde ihn am Morgen danach<br />

fragen.<br />

Ich schloss die Augen und pr<strong>es</strong>ste sie f<strong>es</strong>t zusammen. Simon<br />

fing leise an zu schnarchen. Die Türen öffneten und schlossen<br />

sich alle paar Minuten zischend, und ich konnte einige Männer<br />

hören, die einen Waggon weiter vor Lachen wieherten. Sicherlich<br />

gab <strong>es</strong> irgendwo in di<strong>es</strong>em Zug einen ruhigeren Ort.<br />

Ich konnte gehen und mich woanders hinsetzen – nur für eine<br />

Weile. Eine andere Umgebung würde mir vielleicht guttun.<br />

Ich zog behutsam meine Strohtasche auf meinen Schoß, um<br />

Simon nicht zu stören. Dann stand ich auf und <strong>war</strong>f meine<br />

Strickjacke auf den Sitz, weil <strong>es</strong> immer noch unglaublich heiß<br />

<strong>war</strong> und ich sie vermutlich nicht brauchen würde. Mein Koffer<br />

<strong>war</strong> im Gepäckfach an der Tür gut aufgehoben, und ich würde<br />

ihn am Morgen dort abholen. Für eine Sekunde oder zwei zögerte<br />

ich, fummelte am Riemen meiner Kamera herum und<br />

überlegte, ob ich Simon eine Notiz hinterlassen sollte. Aber ich<br />

würde ja nur eine Stunde oder zwei weg sein, wahrscheinlich<br />

würde er gar nicht merken, dass ich nicht da <strong>war</strong>.<br />

Ich <strong>war</strong>f einen letzten Blick auf ihn, <strong>dann</strong> machte ich mich<br />

stolpernd auf den Weg in den vorderen Teil d<strong>es</strong> Zugs.<br />

28


Kapitel 2<br />

In Waggon A fand ich schließlich zwei leere Sitze und glitt<br />

auf den Fensterplatz, sodass ich mich an die Scheibe lehnen<br />

konnte. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, so weit nach<br />

vorn zu gehen, aber in dem Wagen vor uns hatten drei betrunkene<br />

Kerle einen Ri<strong>es</strong>enlärm veranstaltet, und im nächsten<br />

roch <strong>es</strong> so muffig, als ob jemand seine Klamotten tagelang<br />

in der Waschmaschine hätte vergammeln lassen. Es<br />

<strong>war</strong> schon irgendwie albern, dass ich mich so anstellte – ich<br />

meine, wir saßen in einem Nachtzug quer durch Europa, was<br />

hatte ich denn er<strong>war</strong>tet? Wie auch immer – ich <strong>war</strong> jetzt hier,<br />

und Waggon A kam mir wie die unproblematischste Option<br />

vor, obwohl ich das Scheppern schlechter Dance-Musik<br />

ertragen musste, die aus den Kopfhörern ein<strong>es</strong> Typen ein<br />

paar Sitze hinter mir dröhnte. Spielte er immer denselben<br />

Song in Endlosschleife? Ich sah über die Schulter nach hinten,<br />

um ihm einen bösen Blick zuzuwerfen, aber er <strong>war</strong> zur<br />

Seite g<strong>es</strong>unken und hatte die Augen f<strong>es</strong>t g<strong>es</strong>chlossen. Welcher<br />

Mensch konnte bitte bei so lauter Musik schlafen? Verzweifelt<br />

wühlte ich noch einmal in meiner Tasche. Ich würde<br />

einfach meine Musik als Gegenmittel zu seiner anmachen.<br />

Ich hätte beinahe einen Freudenschrei ausg<strong>es</strong>toßen, als ich<br />

statt mein<strong>es</strong> Handys meine Ohrstöpsel in den Händen hielt.<br />

Ich hatte sie also gar nicht in Venedig verg<strong>es</strong>sen. Sie klemmten<br />

in einer Broschüre, die geführte Touren durch die Galleria<br />

dell’Accademia be<strong>war</strong>b. Ich drückte sie in meine Ohren,<br />

29


schlüpfte aus den Schuhen und versuchte, ein bisschen zu<br />

schlafen.<br />

Als ich die Augen wieder aufschlug, durchflutete früh<strong>es</strong> Morgenlicht<br />

den Waggon. Verwirrt tastete ich nach Simon, weil<br />

ich verg<strong>es</strong>sen hatte, dass er nicht neben mir saß, sondern irgendwo<br />

weiter hinten, und hoffentlich nicht ahnte, dass ich<br />

mich überhaupt umg<strong>es</strong>etzt hatte. Ich nahm die Ohrstöpsel heraus,<br />

legte den Kopf nach rechts und links und massierte mir<br />

den schmerzenden Nacken. Ich ärgerte mich über mich selbst,<br />

dass ich nicht so weit gedacht hatte, meine Strickjacke mitzunehmen<br />

– <strong>dann</strong> hätte ich sie wenigstens als Kopfkissen benutzen<br />

können. Ich schaute aus dem Fenster und fragte mich,<br />

wo wir <strong>war</strong>en, während ich zusah, wie die Welt stumm an mir<br />

vorüberglitt. Die Details <strong>war</strong>en verschwommen und verzerrt,<br />

wie in einem di<strong>es</strong>er altmodischen Amateurfilme, die auf einer<br />

Schmalfilmkamera gedreht worden <strong>war</strong>en. Die Sonne <strong>war</strong> fast<br />

vollständig hinter hoch aufragenden Wolken versteckt, die innen<br />

Elefantengrau und außen <strong>von</strong> einem brillanten, silbrigen<br />

Weiß umrahmt <strong>war</strong>en. Ich drückte die Nase gegen die Scheibe,<br />

als wir durch ein hübsch<strong>es</strong> Dörfchen schossen, das aus fünfzehn<br />

oder zwanzig Häusern b<strong>es</strong>tand, alle mit weiß getünchten<br />

Mauern und terrakottafarbenen Dächern. Der kleine, verlassene<br />

Bahnhof erinnerte mich an die Eisenbahn, die mir mein<br />

Dad zum siebten Geburtstag gekauft hatte.<br />

Ich konnte mich noch immer an den Tag erinnern, als ich<br />

im Schneidersitz auf dem braunen Cordsofa im Wohnzimmer<br />

g<strong>es</strong><strong>es</strong>sen und darauf ge<strong>war</strong>tet hatte, dass er <strong>von</strong> der Arbeit<br />

kam, damit wir uns über den Igel-Kuchen hermachen konnten,<br />

den meine Mum gebacken hatte. Ich erinnerte mich, wie<br />

Dad nach dem Tag auf der Baustelle durch die Tür getreten<br />

<strong>war</strong>, staubig und erschöpft und mit einer großen Schachtel, die<br />

30


in rotglänzend<strong>es</strong> Papier gewickelt gew<strong>es</strong>en <strong>war</strong>. Einige Wochen<br />

später hatte er uns <strong>dann</strong> verlassen, vermutlich hatte sich di<strong>es</strong>e<br />

Erinnerung d<strong>es</strong>halb so tief in mein Gedächtnis eingebrannt.<br />

Geburtstage <strong>war</strong>en danach nie wieder dasselbe gew<strong>es</strong>en.<br />

Ich ließ die Fußgelenke kreisen, um wieder etwas Leben in<br />

meine Glieder zu bekommen, und band mein Haar zu einem<br />

Knoten, wobei ich den ausgefransten Haargummi benutzte,<br />

der über Nacht einen hochroten Kreis in mein Handgelenk gegraben<br />

hatte. Auf der Suche nach den hautfarbenen Ballerinas,<br />

die ich irgendwann abg<strong>es</strong>treift hatte, tastete ich unter dem Sitz<br />

vor mir herum, bis ich sie endlich fand und hineinschlüpfte.<br />

Dann richtete ich mich gähnend auf, streckte mich und sah<br />

mich im Waggon um. Die meisten Passagiere schienen wach<br />

zu sein, blätterten in Reiseführern oder Zeitschriften und<br />

stopften sich dabei mit Sandwich<strong>es</strong> aus der Mikrowelle voll.<br />

Bei dem Geruch begann mein Magen zu knurren. Wenn ich<br />

zurück bei Simon wäre, würde ich kurz in den Speisewagen<br />

flitzen und Frühstück für uns b<strong>es</strong>orgen. Er liebte Croissants<br />

mit Marmelade und Butter; ich würde ihm gleich zwei da<strong>von</strong><br />

mitbringen und dazu einen schönen starken Kaffee.<br />

Ich nahm meine Tasche und tappte den Gang hinunter,<br />

denselben Weg zurück, den ich in der Nacht gekommen <strong>war</strong>.<br />

Der Zug bewegte sich ruckartig voran, und ich musste mich<br />

sehr konzentrieren, um nicht zur Seite zu taumeln, wobei ich<br />

mind<strong>es</strong>tens einmal kläglich versagte und die Schulter ein<strong>es</strong><br />

Mitreisenden rammte. Je weiter ich in die Mitte d<strong>es</strong> Zug<strong>es</strong> vordrang,<br />

d<strong>es</strong>to voller wurde <strong>es</strong>. Ich grub die Fingernägel in den<br />

Stoff der Sitzlehnen und lugte über Schultern, um zu sehen,<br />

was die Leute aßen, bis <strong>es</strong> irgendwann nicht mehr weiterging.<br />

Da <strong>war</strong> eine Tür im Weg, die weder ein Fenster noch einen<br />

Knopf hatte, auf den ich drücken konnte, um in den nächsten<br />

Wagen zu kommen.<br />

31


Verwirrt starrte ich sie an. Vielleicht hatte der Schlafmangel<br />

mich in eine Art Wahnzustand verfallen lassen. Ich musste<br />

nachdenken. Ich <strong>war</strong> wohl zu weit gegangen und hatte meinen<br />

Sitz und das Gepäckfach mit meinem Koffer verpasst, in dem<br />

sich die frische Unterwäsche befand, nach der ich mich sehnte.<br />

<strong>Und</strong> mein Kulturbeutel, mit dem ich mich kurz auf die Toilette<br />

verziehen konnte, um mich zu waschen und mir die Zähne zu<br />

putzen.<br />

Ich versuchte, den Griff an der Tür zu drehen, aber er bewegte<br />

sich nicht. Ich <strong>war</strong> nur durch vier Wagen gelaufen, und<br />

ich wusste – wusste –, dass der Zug länger gew<strong>es</strong>en <strong>war</strong>.<br />

Ich drehte mich um und ging den Weg zurück, den ich gekommen<br />

<strong>war</strong>. Ich klammerte mich erneut an den Sitzen f<strong>es</strong>t,<br />

während der Zug schwankte und schlingerte, drehte den Kopf<br />

nach links und rechts, suchte nach Simons G<strong>es</strong>icht, seinem<br />

blonden Haarschopf, der sch<strong>war</strong>zen Strickjacke auf meinem<br />

Sitz. Mir <strong>war</strong> kalt in meinem dünnen Sommershirt. Immerhin<br />

befanden wir uns mittlerweile weiter im Norden, vielleicht<br />

in Frankreich, vielleicht auch schon in Holland. Die Klimaanlage<br />

funktionierte endlich, und ich hatte nicht annähernd<br />

genügend Schichten an. Ich kam an dem Sitz vorbei, wo ich<br />

g<strong>es</strong>chlafen hatte, und gelangte zu einer weiteren grauen Tür.<br />

Die Aufschrift Kein Zutritt in drei Sprachen ließ vermuten,<br />

dass <strong>es</strong> sich um den Zugang zur Fahrerkabine handelte. Ich<br />

lehnte mich mit dem Rücken dagegen und schaute den Gang<br />

hinunter über ein Meer <strong>von</strong> Köpfen und ausg<strong>es</strong>treckten Füßen<br />

hinweg. Ich atmete tief durch. Ich <strong>war</strong> verwirrt. Ganz offensichtlich<br />

hatte ich etwas übersehen. Simon musste vorhin auf<br />

der Toilette gew<strong>es</strong>en sein, so einfach <strong>war</strong> das! Ich würde noch<br />

einmal bis zum letzten Wagen gehen und ihn finden. Ich sah<br />

auf mein Handy. 6:14 Uhr. Wir würden erst um neun Uhr irgendwas<br />

in Amsterdam ankommen, also hatte ich genug Zeit.<br />

32


Ich setzte mich wieder in Bewegung und machte mich auf<br />

die Suche nach irgendeinem bekannten G<strong>es</strong>icht. Nach der<br />

amerikanischen Familie oder dem niederländischen Paar, das<br />

hinter uns g<strong>es</strong><strong>es</strong>sen hatte – aber ich konnte niemanden entdecken.<br />

Mein Herz klopfte bis zum Hals. Noch einmal kam ich am<br />

Ende d<strong>es</strong> Zug<strong>es</strong> an, kehrte um und ging wieder nach vorn, immer<br />

auf der Suche nach Hinweisen.<br />

Nach einer weiteren ergebnislosen Tour rutschte ich mit<br />

ineinander verkrampften Händen auf den Sitz, auf dem ich<br />

die Nacht verbracht hatte. Meine Handflächen <strong>war</strong>en schweißnass.<br />

Ich schaute aus dem Fenster, versuchte, etwas aus der<br />

Landschaft herauszul<strong>es</strong>en, herauszufinden, was unser nächster<br />

Halt <strong>war</strong>. Ich suchte nach irgendetwas, das mir bekannt vorkam,<br />

einem Gebäude, einem Straßenschild. Es gab Schilder<br />

mit Stationsnamen, aber sie flogen so schnell vorbei, dass ich<br />

sie nicht l<strong>es</strong>en konnte. In meinem Kopf regte sich eine ferne<br />

Erinnerung, ein kurzer Augenblick kam mir in den Sinn und<br />

<strong>war</strong> <strong>dann</strong> wieder weg.<br />

Es nützte nichts, ich würde Simon aufwecken und ihn fragen<br />

müssen, wo er <strong>war</strong>. Ich holte mein Handy heraus, tippte<br />

mit ung<strong>es</strong>chickten Fingern auf dem Display herum, wählte<br />

seine Nummer, <strong>war</strong>tete auf seine Antwort. Er würde nicht erfreut<br />

sein, wenn er herausfand, was ich getan hatte. Es klingelte<br />

und klingelte, und schließlich ging die Mailbox ran. Ich<br />

hielt mich nicht damit auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Offensichtlich<br />

schlief er noch. Am b<strong>es</strong>ten löste ich das Problem,<br />

bevor ihm überhaupt klar wurde, dass etwas nicht stimmte.<br />

Ich <strong>war</strong>f einen Blick in den Mittelgang und überlegte, ob<br />

ich jemanden fragen sollte und was ich sagen könnte:<br />

Entschuldigen Sie, aber wissen Sie, wo der R<strong>es</strong>t d<strong>es</strong> Zug<strong>es</strong> geblieben<br />

ist?<br />

33


Oder vielleicht: Hallo, ich glaube, ich habe meinen Freund<br />

verloren.<br />

Plötzlich hörte ich jemanden auf Italienisch in ein knisternd<strong>es</strong><br />

Funkgerät bellen und rutschte an den Rand mein<strong>es</strong><br />

Sitz<strong>es</strong>, bereit zum Sprung.<br />

»Mi scusi, Signore«, rief ich, als ein Fahrkartenkontrolleur<br />

vorbeirauschte, den Kopf hocherhoben und bemüht, mit niemandem<br />

Augenkontakt aufzunehmen.<br />

»Si, Signora?«, sagte er und zog das S in die Länge, wobei er<br />

mir ein breit<strong>es</strong> Lächeln zu<strong>war</strong>f. Er trug eine prächtige marineblaue<br />

Uniform und eine Kappe mit Goldrand. In den Händen<br />

hielt er ein tragbar<strong>es</strong> Fahrkartengerät. Es <strong>war</strong> ihm anzusehen,<br />

dass er ein Paragrafenreiter <strong>war</strong>.<br />

»Un … un problema«, stammelte ich. Vielleicht wusste er<br />

<strong>es</strong> zu schätzen, dass ich versuchte, seine Land<strong>es</strong>sprache zu<br />

sprechen. Ich gab mir Mühe, mich an die wenigen Worte zu<br />

erinnern, die ich während d<strong>es</strong> Ferienkurs<strong>es</strong> am College aufg<strong>es</strong>chnappt<br />

hatte. Ich hatte nur mitgemacht, weil Ellie mich<br />

überzeugt hatte, dass wir <strong>dann</strong> b<strong>es</strong>tens darauf vorbereitet sein<br />

würden, im Sommer per Interrail durch Italien zu reisen und<br />

mit italienischen Jungs zu flirten, was wir mangels Kleingeld<br />

natürlich niemals getan hatten.<br />

»Ich kann meinen Sitzplatz nicht mehr finden. Ich glaube,<br />

er <strong>war</strong> irgendwo dort hinten. Wagen F?« Ich zeigte ans andere<br />

Ende d<strong>es</strong> Zug<strong>es</strong>.<br />

»Wo wollen Sie denn hin, Signora?«<br />

»Amsterdam.«<br />

Er saugte die Luft zwischen den Zähnen ein. »Nooooo«,<br />

sagte er und schüttelte langsam den Kopf, als wollte er sichergehen,<br />

dass ich <strong>es</strong> auch mitbekam. »No, Signora, Sie sind nicht<br />

im richtigen Zug. Wir sind jetzt in Paris. Sehen Sie?«<br />

»Was?«, rief ich, und mein Blick schoss zum Fenster. Zwi-<br />

34


schen den ri<strong>es</strong>igen, im brutalistischen Architekturstil erbauten<br />

Wohnblöcken und Bürogebäuden, die die Strecke säumten<br />

und fast all<strong>es</strong> Licht verschluckten, konnte ich die breiten, <strong>von</strong><br />

Bäumen g<strong>es</strong>äumten Prachtstraßen erahnen. Paris. Natürlich!<br />

Jetzt erkannte ich <strong>es</strong>! Ich drehte mich wieder zu ihm um und<br />

schluckte hart.<br />

»Aber ich <strong>war</strong> im Zug nach Amsterdam!«, sagte ich.<br />

»Der Zug wurde heute Morgen um 3:38 Uhr in Genf geteilt.<br />

Es gab zahlreiche Durchsagen. Haben Sie denn nichts gehört?«<br />

»Nein«, erwiderte ich und schlug die Hände vor den Mund.<br />

»Ich hab nichts gehört.«<br />

Die Ohrstöpsel, dachte ich.<br />

»Die acht hinteren Waggons fahren weiter nach Amsterdam<br />

Centraal, und di<strong>es</strong>er Teil hier«, sagte er und machte eine<br />

kreisende Bewegung mit seinem kurzen, dicken Finger, »wird<br />

in etwa sieben Minuten Paris Gare de Lyon erreichen. Das<br />

kommt bei internationalen Europafahrten häufiger vor, Signora.<br />

<strong>Und</strong> wir stellen immer sicher, dass alle Passagiere im<br />

richtigen Teil d<strong>es</strong> Zug<strong>es</strong> sitzen.«<br />

»Nun, <strong>es</strong> tut mir leid, aber di<strong>es</strong><strong>es</strong> Mal haben Sie das definitiv<br />

nicht getan.«<br />

Ich biss mir so f<strong>es</strong>t auf die Unterlippe, dass sie kribbelte.<br />

Das <strong>war</strong> doch verrückt! Simon und ich <strong>war</strong>en in den gleichen<br />

Zug g<strong>es</strong>tiegen und hatten stundenlang nebeneinanderg<strong>es</strong><strong>es</strong>sen<br />

– und jetzt befanden wir uns plötzlich in zwei verschiedenen<br />

Ländern? Was <strong>war</strong> mit der Hochzeit? Mit meinen ganzen<br />

Sachen? Was <strong>war</strong> mit Simons Zeitplan, der jetzt total im Eimer<br />

<strong>war</strong>? Mir <strong>war</strong> jetzt schon klar, dass er <strong>es</strong> nicht gut aufnehmen<br />

würde. Panisch sah ich mich um und hoffte, dass <strong>es</strong> noch andere<br />

gab, die den gleichen Fehler gemacht hatten. Ein Grüppchen<br />

<strong>von</strong> uns, das zusammenhalten und prot<strong>es</strong>tieren konnte,<br />

obwohl ich nicht wusste, was das bringen sollte, schließlich<br />

35


würden sie nicht mal eben den Zug wenden lassen. War ich<br />

wirklich die Einzige, der das passiert <strong>war</strong>? War <strong>es</strong> möglich,<br />

dass ich die einzige Person im ganzen Zug <strong>war</strong>, die keine Ahnung<br />

gehabt hatte, dass er mitten in der Nacht stillschweigend<br />

zweigeteilt werden sollte? Mein Blick fiel auf den Kerl mit den<br />

ri<strong>es</strong>igen Kopfhörern und dem schlechten Musikg<strong>es</strong>chmack.<br />

Er streckte den Kopf in den Mittelgang. Als er den Zugführer<br />

entdeckte, stand er auf und taumelte, offenbar noch im Halbschlaf,<br />

auf uns zu.<br />

»Sagten Sie gerade, dass di<strong>es</strong>er Zug nach Paris fährt, Monsieur?«,<br />

fragte er den Zugführer und ließ die Hände durch<br />

seine dunklen Haare gleiten, die in seltsamen Winkeln abstanden.<br />

Er so sah verwirrt aus, wie ich mich fühlte. Seinem Akzent<br />

nach zu schließen, <strong>war</strong> er Franzose. Ich sah ihn böse an.<br />

Wäre er nicht gew<strong>es</strong>en, hätte ich die Durchsage gehört.<br />

»Wie ich bereits der jungen Dame erklärt habe, Signore,<br />

wurde der Zug heute Morgen um 3:38 Uhr in Genf geteilt«,<br />

erwiderte der Zugführer genervt.<br />

»Wir sind nicht auf dem Weg nach Amsterdam?«, rief der<br />

Franzose und fasste sich dramatisch an die Brust.<br />

Wenigstens <strong>war</strong> ich nicht die Einzige. »Nein, das sind wir<br />

nicht«, fauchte ich und wandte mich zu ihm um. »Wir sind in<br />

Paris. Sehen Sie selbst.« Ich deutete mit dem Finger in Richtung<br />

Fenster.<br />

Er sah mich an, als hätte er mich eben erst bemerkt.<br />

»<strong>Und</strong> übrigens, wenn Sie nicht alle mit Ihrer Musik belästigt<br />

hätten«, schimpfte ich und drehte mich in meinem Sitz,<br />

sodass ich ihn b<strong>es</strong>ser sehen konnte, »<strong>dann</strong> hätten wir vielleicht<br />

beide die Durchsage gehört.«<br />

Er sah mich an und verzog offensichtlich verwirrt das G<strong>es</strong>icht.<br />

»Sie machen mich dafür verantwortlich?«<br />

»Ja, das tue ich«, antwortete ich, auch wenn <strong>es</strong> vermut-<br />

36


lich unfair <strong>war</strong>. Aber jetzt <strong>war</strong> ich richtig in Fahrt. »Ich hatte<br />

Stöpsel in den Ohren, damit ich den Lärm nicht mehr hören<br />

musste, den Sie verursacht haben.«<br />

»Was für einen Lärm?«, fragte er ungläubig.<br />

»Ihre Musik?«, antwortete ich und machte ein missbilligend<strong>es</strong><br />

Geräusch. »Sie <strong>war</strong> viel zu laut. Sie haben den halben Waggon<br />

wach gehalten.«<br />

Er schüttelte den Kopf, als wäre ich <strong>es</strong> nicht wert, sich mit<br />

mir abzugeben, und wandte sich wieder an den Bahnmitarbeiter,<br />

der mit kaum verhohlener Verärgerung auf die Uhr sah.<br />

»Monsieur«, meinte er zu dem Mann in Uniform. »Das ist<br />

inakzeptabel. Absolut inakzeptabel. Ich habe ein sehr wichtig<strong>es</strong><br />

Meeting in Amsterdam, das ich absolument nicht verpassen<br />

darf.«<br />

»Verzeihen Sie, aber ich habe zuerst mit ihm g<strong>es</strong>prochen.<br />

Wir alle haben wichtige Dinge in Amsterdam zu erledigen«,<br />

fauchte ich ihn an.<br />

»Es gab zahlreiche Durchsagen, Signore«, wiederholte<br />

der Bahnbedienstete. »<strong>Und</strong> Signora«, fügte er mit einem verkrampften<br />

Lächeln hinzu, ganz offensichtlich unsicher, mit<br />

wem <strong>von</strong> uns er sprechen sollte.<br />

»Nun, die <strong>war</strong>en nicht laut genug!«, rief der Franzose und<br />

sah aus, als hätte er am liebsten jemanden oder etwas getreten.<br />

»Es muss doch irgendetwas geben, das Sie tun können«,<br />

jammerte ich. Vielleicht <strong>war</strong> <strong>es</strong> b<strong>es</strong>ser, an seine Vernunft zu<br />

appellieren. »Wie lässt sich das Problem am b<strong>es</strong>ten lösen?«<br />

»Wenn Sie mit dem Zug nach Amsterdam möchten, werden<br />

Sie quer durch Paris zum Gare du Nord fahren müssen.«<br />

Ich schloss die Augen für eine Sekunde oder zwei und versuchte,<br />

eine positivere Haltung einzunehmen. »<strong>Und</strong> wann<br />

fährt <strong>von</strong> dort ein Zug ab?«, fragte ich, um Fassung bemüht.<br />

All<strong>es</strong>, woran ich denken konnte, <strong>war</strong> Simon und was er sagen<br />

37


würde, wenn er schließlich herausfand, wo ich <strong>war</strong>. Er behandelte<br />

mich jetzt schon manchmal wie ein Kind, und wenn mir<br />

Sachen wie das hier passierten, <strong>dann</strong> gab ich ihm die Munition,<br />

die er brauchte, um <strong>es</strong> auch weiterhin zu tun.<br />

»Da müssten Sie die Kollegen am Schalter am Gare du<br />

Nord fragen«, erklärte der Zugführer. »Mehr kann ich hier leider<br />

nicht für Sie tun, <strong>es</strong> tut mir leid.«<br />

»Eine Entschuldigung hilft uns nicht weiter«, sagte der<br />

Franzose, der inzwischen hektisch mit dem Daumen auf seinem<br />

Smartphone herumwischte.<br />

»Ich nehme an, Sie beide haben gültige Fahrkarten?«, fragte<br />

der Zugführer.<br />

»Natürlich haben wir Fahrkarten«, sagte der Franzose und<br />

blickte auf. »Halten Sie uns für b<strong>es</strong>cheuert?«<br />

Ich dagegen begann in meiner Strohtasche zu wühlen, obwohl<br />

mir mehr oder weniger sofort klar wurde, dass Simon<br />

unsere Tickets und die beiden Pässe in der hinteren Tasche<br />

seiner Jeans hatte.<br />

»Meine Fahrkarte ist bei meinem Freund«, murmelte ich.<br />

Simon <strong>war</strong> b<strong>es</strong>ser als ich, wenn <strong>es</strong> darum ging, auf Dinge<br />

aufzupassen, d<strong>es</strong>halb <strong>war</strong> <strong>es</strong> nur logisch gew<strong>es</strong>en, dass er all<strong>es</strong><br />

bei sich hatte. Ich <strong>war</strong> mir sicher, dass ich aus dem Augenwinkel<br />

den Franzosen mit den Augen rollen sah. Ich <strong>war</strong> drauf<br />

und dran, ihm zu sagen, was ich <strong>von</strong> seiner Überheblichkeit<br />

hielt, aber <strong>dann</strong> b<strong>es</strong>ann ich mich anders. Ich musste mich auf<br />

das konzentrieren, was wirklich wichtig <strong>war</strong>: Ich musste rechtzeitig<br />

nach Amsterdam kommen und dabei sein, wenn Catherine<br />

heiratete. Das <strong>war</strong> das Einzige, was zählte.<br />

»Ich wünsche Ihnen beiden viel Glück«, sagte der Zugführer<br />

und tätschelte sein Fahrkartengerät. Er genoss das<br />

hier sehr, das <strong>war</strong> offensichtlich. Sicher würde er später seine<br />

Kollegen mit der G<strong>es</strong>chichte <strong>von</strong> der dummen Engländerin<br />

38


unterhalten, die im falschen Zug in der falschen Stadt aufgewacht<br />

<strong>war</strong>. Der Franzose schüttelte den Kopf über uns beide<br />

und stapfte, leise vor sich hin murmelnd, zurück zu seinem<br />

Platz. Wenigstens konnte ich Simon später erzählen, dass noch<br />

jemand im falschen Zug geendet <strong>war</strong>. Das würde ihn vielleicht<br />

milder stimmen.<br />

Ich drehte mich wieder zum Fenster und pr<strong>es</strong>ste die Wange<br />

an die Scheibe, um meine Haut zu kühlen, die sich heiß und<br />

kribbelig anfühlte. Das <strong>war</strong> immer so, wenn ich langsam in<br />

Panik geriet. Ich versuchte, gleichmäßig zu atmen, zählte acht<br />

Gleise zu meiner rechten und ein niemals enden wollend<strong>es</strong><br />

Drahtgewirr über unseren Köpfen. Die Mauern, die die Gleise<br />

säumten, <strong>war</strong>en mit Graffiti b<strong>es</strong>prüht. Das meiste da<strong>von</strong> <strong>war</strong>en<br />

nicht mehr als große weiße Wörter, die ich nicht verstand.<br />

Ich fragte mich, wie lange sie schon da <strong>war</strong>en und ob ich sie<br />

vielleicht schon g<strong>es</strong>ehen hatte, als ich vor fast zehn Jahren das<br />

letzte Mal hier gew<strong>es</strong>en <strong>war</strong>.<br />

Wenn mir jemand <strong>von</strong> romantischen Wochenenden und<br />

Spaziergängen am Ufer der Seine erzählte, wurde mir übel,<br />

weil ich keine nette kleine Pause vom Alltag hier verbracht<br />

hatte. Ich hatte mich ganz allein auf die Suche nach jemandem<br />

gemacht, der nicht gefunden werden wollte. Es tat noch immer<br />

weh, und die Erinnerungen schienen aus jedem Zentimeter<br />

di<strong>es</strong>er Stadt zu sickern. Ich wäre überall auf der Welt lieber<br />

gew<strong>es</strong>en als hier.<br />

Eine knackende Lautsprecherdurchsage auf Französisch,<br />

<strong>dann</strong> Italienisch, <strong>dann</strong> Englisch ließ alle Passagiere wissen,<br />

dass wir bald den Gare de Lyon erreichen würden und <strong>es</strong><br />

6:31 Uhr Ortszeit <strong>war</strong>. Eine blaue Doppeldeckerbahn glitt in<br />

die entgegeng<strong>es</strong>etzte Richtung vorbei, und ich fragte mich,<br />

wohin sie fuhr. Wie schwierig würde <strong>es</strong> wohl werden, <strong>von</strong> hier<br />

nach Amsterdam zu gelangen?<br />

39


Die Menschen erhoben sich <strong>von</strong> ihren Plätzen, lockerten<br />

ihre Glieder, entsorgten ihren Müll, packten ihre Sachen zusammen.<br />

Ich holte erneut mein Handy aus der Tasche, wählte<br />

Simons Nummer und knabberte an meinem Daumennagel,<br />

während <strong>es</strong> klingelte. Schon wieder die Mailbox. Warum ging<br />

er nicht an sein Handy? Ich wusste, dass der Akku nicht leer<br />

<strong>war</strong>, weil er <strong>es</strong> strikt jede Nacht auflud. Außerdem hatte ich<br />

ihn heute Morgen auf dem Boden unser<strong>es</strong> Hotelzimmers herumkriechen<br />

und den Stecker d<strong>es</strong> Ladegeräts ziehen sehen,<br />

ehe er <strong>es</strong> säuberlich in seine Reisetasche gepackt hatte. Aber da<br />

<strong>es</strong> noch drei Stunden <strong>war</strong>en, bis er in Amsterdam ankommen<br />

würde, <strong>war</strong> <strong>es</strong> nicht unwahrscheinlich, dass er noch schlief. Sicher<br />

<strong>war</strong> <strong>es</strong> so. Dann fiel mir plötzlich ein, dass ich das blöde<br />

Ding stummg<strong>es</strong>chaltet hatte.<br />

Ich hinterließ Simon eine verlegene Nachricht, wobei ich<br />

das paranoide Gefühl hatte, dass der ganze Waggon zuhörte.<br />

»Hi, Simon, ich bin’s. Ich komme gerade in Paris an. Der<br />

Zug wurde in Genf getrennt. Da<strong>von</strong> wusste ich gar nichts, du<br />

vielleicht? Was denkst du, soll ich versuchen, mit dem Zug<br />

<strong>von</strong> Paris nach Amsterdam zu kommen? Anscheinend muss<br />

ich erst mal durch die ganze Stadt zu einem anderen Bahnhof.<br />

Es tut mir so leid, Simon. Ruf mich an, okay? So schnell du<br />

kannst. Ich muss wirklich mit dir reden.«<br />

Ich legte das Handy in meinen Schoß, starrte auf das Display<br />

und versuchte, <strong>es</strong> zum Klingeln zu zwingen. Simon würde<br />

wissen, was zu tun <strong>war</strong>. Er <strong>war</strong> großartig darin, Krisen zu bewältigen.<br />

Metall knirschte auf Metall, als der Zug zum Halten<br />

kam, und die Bremsen stießen ein erleichtert<strong>es</strong> Zischen<br />

aus. Der Bahnsteig vor meinem Fenster <strong>war</strong> voller Gepäckwagen,<br />

die nur darauf <strong>war</strong>teten, beladen zu werden – oder in<br />

meinem Fall, nicht beladen zu werden. Ich wühlte in meiner<br />

Strohtasche, um zu sehen, was genau sich darin befand und<br />

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was nützlich sein könnte. Falls das überhaupt auf irgendetwas<br />

zutraf. Wenigstens hatte ich meine Kreditkarte, obwohl<br />

ich mir sicher <strong>war</strong>, dass sie am Limit <strong>war</strong>. Dummerweise <strong>war</strong><br />

mein Portemonnaie in Simons Reisetasche. Er hatte <strong>es</strong> hineing<strong>es</strong>topft,<br />

nachdem wir <strong>es</strong> im G<strong>es</strong>chenkeladen in Venedig abgeholt<br />

hatten, und seitdem hatte er für all<strong>es</strong> bezahlt. Ich hatte<br />

im Moment nur ein paar Euro bei mir – höchstens dreißig –<br />

und dazu mein Buch, drei Stifte, einen zerkrümelten Keks und<br />

tonnenweise Quittungen. <strong>Und</strong> noch immer um meinen Hals:<br />

meine Kamera. Wenn Simon sich nicht bald zurückmeldete,<br />

würde ich erst einmal zum Gare du Nord fahren und sehen,<br />

was ich in Sachen Züge herausfinden konnte, während ich darauf<br />

<strong>war</strong>tete, <strong>von</strong> ihm zu hören.<br />

Als ich mich auf den Weg zum Ausgang machte, fiel mir<br />

auf, dass der unmögliche Franzose – natürlich – ganz vorn in<br />

der Schlange stand und als Erster den Bahnsteig betrat.<br />

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