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Garten+Landschaft 5/21

Kooperation: das Vehikel für Stadt und Land

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MAI 20<strong>21</strong><br />

MAGAZIN FÜR LANDSCHAFTSARCHITEKTUR<br />

UND STADTPLANUNG<br />

GARTEN<br />

+<br />

STÄDTE FÜR<br />

MORGEN<br />

LANDSCHAFT<br />

KOOPERATION:<br />

DAS VEHIKEL FÜR<br />

STADT UND LAND


EDITORIAL<br />

Raus aus der Tür und ab in den Wald / aufs Feld / in den See – oder<br />

am besten alles auf einmal. Der Traum vom eigenen Bullerbü, die<br />

Überlegung von der Stadt aufs Land zu ziehen, das gefällt vielen.<br />

Beim Landleben denken Stadtmenschen ganz verkitscht an frische<br />

Luft, weite Wiesen und Kuhglocken in der Ferne. Das damit<br />

verbundene Lebensgefühl ist beschaulich, ruhig, ursprünglich – zu<br />

Neudeutsch: entschleunigt.<br />

Ein Team aus Planer*innen forschte an<br />

der Universität Kassel zur neuen Mobilität<br />

im ländlichen Raum. In einem möglichen<br />

Sezenario kombinierten sie einen<br />

hoch leistungsfähigen ÖV auf der Schiene,<br />

On -De mand- Ride-Pooling -Shuttles sowie<br />

PlusBusse, digitalisierte Mitfahrer*innenbänke<br />

und Radinfra struktur.<br />

Gerne vergisst man dabei, dass die Realität oftmals anders aussieht:<br />

Wellblech-Fassaden statt Backstein-Bauerhöfe, Doppelhaushälften<br />

in ulkigsten Farben statt idyllischer Landschaftsbilder, leere<br />

Busfahrpläne statt Ponyhof etc. pp. Alles hat seine zwei Seiten –<br />

ebenso die Zukunft des ländlichen Raums. Denn auch wenn<br />

Pandemie-bedingt immer mehr Menschen aufs Land ziehen<br />

(wollen), lautet die zentrale Herausforderung hier weiterhin:<br />

demografischer Wandel. Stadtflucht hin oder her – DER LÄNDLICHE<br />

RAUM SCHRUMPFT. Besonders die ländlichen Regionen mit einem<br />

höheren Durchschnittsalter werden laut BBSR-Prognosen weiterhin<br />

an Bevölkerung verlieren. Die Folgen: Leerstände und zunehmende<br />

Versorgungsprobleme in jederlei Hinsicht.<br />

Die erste Ausgabe der diesjährigen Stadt-Spezial-Reihe, die<br />

Aprilausgabe der G+L, konzentrierte sich auf die Metropolen. In<br />

dieser zweiten Ausgabe wenden wir unseren Blick in Richtung<br />

Region und ländlichen Raum. Wir suchen nach Strategien und<br />

Maßnahmen, dem demografischen Wandel im ländlichen Raum zu<br />

begegnen. Unsere Hypothese dabei: Weder die wachsende Metropole<br />

noch das schrumpfende Dorf können sich alleine retten,<br />

vielmehr müssen Ober-, Mittel- und Unterzentren zusammenarbeiten,<br />

um ihren jeweiligen Herausforderungen Herr zu werden.<br />

Was passiert,<br />

wenn man auf die<br />

aktuellen<br />

Entwicklungen im<br />

ländlichen Raum<br />

nicht reagiert?<br />

– Diese Frage<br />

stellten wir Rupert<br />

Kawka, Referatsleiter<br />

beim BBSR.<br />

Interview ab Seite<br />

16.<br />

Coverbild: Heimann+Schwantes / Universität Kassel<br />

Welche Bedeutung<br />

der Landschaftsbegriff<br />

für die IBA<br />

Thüringen hat, das<br />

erklärt uns Marta<br />

Doehler-Behzadi<br />

ab Seite 34.<br />

Diesen Ansatz fahren bereits zahlreiche Regionen, aber auch DIE<br />

MEHRZAHL DER AKTUELLEN INTERNATIONALEN BAUAUSSTELLUNGEN<br />

HAT SICH DEM THEMA DER REGION VERSCHRIEBEN – darunter die IBA<br />

Basel, die IBA StadtRegion Stuttgart und die IBA Thüringen. Eine<br />

weitere IBA, die IBA Metropolregion München, ist in Überlegung.<br />

Kann das Zufall sein? Wir denken nein. Und es kommt auch nicht<br />

von ungefähr, dass der vielleicht mitunter größte Wettbewerb des<br />

vergangenen Jahres, DER IDEENWETTBEWERB BERLIN-BRANDENBURG<br />

2070, die Verbindung zwischen der Hauptstadt und dem Umland in<br />

den Fokus stellte. Die Lösung unserer aktuellen raumplanerischen<br />

Fragen kann nur in der kommunalen Kooperation liegen.<br />

Was wir aus unserer Arbeit an diesem Heft lernen, ist, dass der<br />

ländliche Raum mehr Visionen braucht. Die Stadt der Zukunft im<br />

Kopf zu zeichnen, das fällt vielen leicht. Aber woran denken Sie,<br />

wenn Sie an das Land der Zukunft denken? An den ländlichen<br />

Raum im Jahr 2050? Diese Frage sollten wir uns öfter stellen. Wir<br />

hoffen, dass dieses Heft eine erste Inspiration bietet, den Weg<br />

dorthin zu beschreiten.<br />

THERESA RAMISCH<br />

CHEFREDAKTION<br />

t.ramisch@georg-media.de<br />

Wie der Gewinnerentwurf<br />

von<br />

Günther Vogt und<br />

Konsorten<br />

Hauptstadt und<br />

Region zusammendenkt,<br />

lesen Sie ab<br />

Seite 20.<br />

3<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


INHALT<br />

AKTUELLES<br />

06 SNAPSHOTS<br />

11 MOMENTAUFNAHME<br />

lokomobil<br />

12 SPEZIAL: IGA METROPOLE RUHR 2027<br />

Gemeinsam zu einer grünen Metropolregion<br />

PLANUNG ZWISCHEN<br />

STADT UND REGION<br />

Kooperation: das Vehikel für Stadt und Land<br />

16 „DER LÄNDLICHE RAUM KANN SICH NICHT ALLEINE RETTEN“<br />

Interview mit Dr. Rupert Kawka, Leiter des BBSR-Referats RS 1<br />

„Raumentwicklung“, zu den Herausforderungen im ländlichen Raum<br />

20 VIEL HAUPTSTADT, WENIG REGION<br />

Eine Analyse der prämierten Entwürfe des Städtebaulichen<br />

Ideenwettbewerbs Berlin-Brandenburg 2070<br />

26 DIE GRENZENLOSE PROVINZ<br />

Zu den Synergiepotenzialen zwischen Stadt und Land – ein Essay<br />

30 BLAU, ABER OHO?<br />

Wachsende Städte und Schrumpfungsprozesse im ländlichen Raum – die aktuelle<br />

Lage in den neuen Bundesländern und mögliche Lösungsansätze<br />

34 IBA DER STADTLANDSCHAFT<br />

Wie die IBA Thüringen gleichberechtigte und innovative Stadt-Land-<br />

Beziehungen katalysieren will<br />

40 DIE ZUKUNFT DER LÄNDLICHEN MOBILITÄT<br />

Zum Forschungsprojekt „Bauen für die neue Mobilität im ländlichen Raum“<br />

an der Universität Kassel<br />

44 „WIR LÖSEN DIE ALTE DISKUSSION LAND VS. STADT AB“<br />

Interview mit Andreas Hofer, Intendant der IBA StadtRegion Stuttgart (IBA’27)<br />

48 BLICK AUF DIE KLEINSTADT<br />

Die Kleinstadtakademie versucht zu beantworten, wie das Leben<br />

in der Kleinstadt attraktiv bleibt<br />

STUDIO<br />

52 LÖSUNGEN<br />

Stadtmobiliar<br />

56 REFERENZ<br />

Banyuls-sur-Mer:<br />

Sitzen wie Gott in Frankreich<br />

58 REFERENZ<br />

Hofheim:<br />

Neue Ruhe in der Mitte<br />

60 NEW MONDAY<br />

Bürohund 20<strong>21</strong><br />

RUBRIKEN<br />

62 Impressum<br />

62 Lieferquellen<br />

63 Stellenmarkt<br />

64 DGGL<br />

66 Sichtachse<br />

66 Vorschau<br />

Herausgeber:<br />

Deutsche Gesellschaft<br />

für Gartenkunst und<br />

Landschaftskultur e.V.<br />

(DGGL)<br />

Wartburgstraße 42<br />

10823 Berlin<br />

www.dggl.org<br />

5<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


VIEL HAUPTSTADT,<br />

WENIG REGION<br />

Die meisten Entwürfe des Städtebaulichen Ideenwettbewerbs Berlin-Brandenburg 2070<br />

denken die Region von Berlin her – und bleiben leider am sogenannten Speckgürtel hängen.<br />

Der Siegerentwurf von Günter Vogt und Co. allerdings überzeugt durch seine Weitsicht.<br />

UWE RADA<br />

20<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


PLANUNG ZWISCHEN STADT UND REGION<br />

BERLIN-BRANDENBURG 2070<br />

Visualisierung: Bernd Albers Gesellschaft von Architekten mbH, Vogt Landschaft GmbH,<br />

Arup Deutschland GmbH<br />

AUTOR<br />

Uwe Rada, geboren<br />

1963, lebt in Berlin. Er<br />

ist Buchautor und seit<br />

1994 Redakteur für<br />

Stadtentwicklung bei<br />

der taz. Rada schreibt<br />

regelmäßig für<br />

Garten + Landschaft.<br />

In Bernau berücksichtigen<br />

die<br />

Ver fasser*innen des<br />

Siegentwurfs<br />

beispielhaft die<br />

Möglichkeiten der<br />

Konversion ehemaliger<br />

Militärflächen<br />

und schaffen<br />

zusätzliche Erholungsflächen<br />

durch<br />

Renaturierung.<br />

Corona und die Erfahrungen, dass<br />

Bildschirmarbeit auch zu Hause möglich<br />

ist, haben in Berlin dem alten Traum vom<br />

Leben im Grünen neue Nahrung gegeben.<br />

Waren schon 2019 die Grundstückspreise<br />

im sogenannten Speckgürtel und darüber<br />

hinaus auf Rekordhöhe gestiegen, hat das<br />

Coronajahr 2020 auch die Brandenburger<br />

Peripherie erreicht. Im Landkreis Oder-<br />

Spree etwa sind zuletzt auch die Bodenpreise<br />

in Fürstenwalde und Beeskow<br />

gestiegen. Die Giga-Factory von Tesla, in<br />

der einmal 12 000 Menschen arbeiten<br />

sollen, ist da noch gar nicht mit eingerechnet.<br />

Berlin boomt, Berlin strahlt aus. Kommt<br />

die gemeinsame Planung beider Bundesländer<br />

dem Trend hinterher? Welche<br />

planerischen Herausforderungen und<br />

Ideen sind damit verbunden? Und wie<br />

lässt sich die Peripherie jenseits des<br />

Speckgürtels einbinden? Groß denken<br />

also, diese Aufgabe hat sich der<br />

Architekten- und Ingenieurverein<br />

Berlin- Brandenburg (AIV) gestellt. Zum<br />

hundertsten Jubiläum der Gründung<br />

Groß-Berlins 1920 hat der AIV einen<br />

Städtebaulichen Ideenwettbewerb<br />

Berlin-Brandenburg ausgelobt, der einen<br />

ähnlich großen Wurf hervorbringen soll<br />

– einen Plan für die Hauptstadtregion für<br />

das Jahr 2070.<br />

BRANDENBURG – DER WEISSE FLECK<br />

Inzwischen sind die Sieger*innen gekürt,<br />

die Entwürfe wurden im Rahmen der<br />

Ausstellung „Unvollendete Metropole“ bis<br />

zum Lockdown im Kronprinzenpalais<br />

gezeigt. Folgt man einigen der mehr als<br />

50 eingereichten Arbeiten, ist Branden-<br />

<strong>21</strong><br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


ESSAY<br />

DIE GRENZENLOSE<br />

PROVINZ<br />

Zwischen Selbstverwirklichung und Gesellschaftsutopie: Wie der engagierte<br />

Idealismus in der Progressiven Provinz ein neues Zusammenspiel von Stadt und<br />

Land vorantreibt.<br />

JAKOB KIBALA<br />

AUTOR<br />

Dr. phil. Jakob Kibala<br />

hat Soziologie,<br />

Kunstgeschichte und<br />

Philosophie an der<br />

Johannes-Gutenberg-<br />

Universität Mainz<br />

studiert und in<br />

Kunstgeschichte<br />

promoviert. Er<br />

arbeitet als Texter<br />

und ist in Bremen<br />

ansässig.<br />

2020 fühlt sich für viele Menschen an wie<br />

das verlorene erste Jahr einer unsicheren<br />

Dekade. Reisebeschränkungen, Lockdowns,<br />

Social Distancing: Was aus gesellschaftlicher<br />

Sicht sinnvoll ist, verlangt von Individuen vor<br />

allem in großen Städten einen hohen<br />

persönlichen Preis – bis hin zu Vereinzelung,<br />

Vernachlässigung und Vereinsamung. Anders<br />

in der Progressiven Provinz: Hier wird auch<br />

unter pandemischen Bedingungen das<br />

zukünftige Zusammenleben erprobt, weil die<br />

Menschen existenziell aufeinander angewiesen<br />

sind. Denn alle wissen: Der ländliche<br />

Raum kann seine ewige Krise – die<br />

Marginalisierung der Regionen durch eine<br />

Politik, die urbane Zentren zum Fetisch<br />

erhoben hat – nur durch gemeinschaftliche<br />

Anstrengungen überwinden.<br />

Die globale Rezession im Zuge der Corona-<br />

Krise wird zwar auch im ruralen Raum<br />

spürbar, insbesondere in den Regionen, wo die<br />

Hidden Champions der deutschen Exportindustrie<br />

ansässig sind. Doch die kooperative<br />

Empathie, die Identifikation aller Beteiligten<br />

mit einem geteilten sozialen Miteinander,<br />

integriert die Menschen in der Provinz in ein<br />

engmaschiges Netzwerk aus Beziehungen, die<br />

Halt geben. Diese gegenseitige Verbundenheit<br />

erhöht nicht nur die kollektive Resilienz der<br />

Regionen gegen COVID-19 und seine<br />

Folgen: Sie bildet die Grundlage für die<br />

Zukunftsfähigkeit des ländlichen Raums.<br />

Langsam machen die kollektiven Lebensweisen<br />

in der Provinz sogar Schule. Wer vor<br />

wenigen Jahren noch für den Traum vom<br />

Landleben Achselzucken oder Spott erntete,<br />

stößt heute die Trends von morgen an –<br />

Entwicklungen, die auch das Leben in der<br />

Stadt verändern werden. In der Provinz<br />

werden Stadtaussteiger*innen und Ökohipster<br />

zu Influencer*innen eines zeitgemäßeren<br />

Lebensstils.<br />

„DIE NATUR WILL DIR NICHTS<br />

VERKAUFEN“<br />

Bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie<br />

registrierten die Sozialwissenschaften einen<br />

Städte-Exodus. Die meisten Auswandernden<br />

verfingen sich dabei in einem Netz aus<br />

Durchgangsräumen, in den pseudoländlichen<br />

Suburbs, die sich unter dem Migrationsdruck<br />

aus den Metropolen zunehmend verdichten.<br />

Das eigentliche Sehnsuchtsziel liegt jedoch<br />

weiter außerhalb: Einer aktuellen Studie<br />

zufolge findet für 34 Prozent der Deutschen<br />

das ideale Leben auf dem Dorf statt, gefolgt<br />

von Klein- und Vorstädten, wohin sich noch<br />

jeweils rund ein Viertel aller Befragten<br />

wünscht.<br />

Maßgeblich für die Attraktivität des ländlichen<br />

Raums ist die unmittelbare Nähe zur<br />

Natur, die in den Augen vieler eine besondere<br />

Klarheit mit sich bringt: „Die Natur will dir<br />

nichts verkaufen. Du sollst nur sein, im Hier<br />

und Jetzt“, schreibt die Kultautorin Charlotte<br />

Roche in ihrem Aufruf „Verlasst die Städte!“.<br />

Roche ist eine Chronistin urbaner Lebensgefühle,<br />

die in kreativen Milieus und der<br />

alternativen Szene hohes Ansehen genießt<br />

26<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


PLANUNG ZWISCHEN STADT UND REGION<br />

ESSAY<br />

und ihr kulturelles Kapital dazu nutzt, um<br />

Brücken aus der Stadt in die Provinz zu<br />

schlagen. Als prominentes Sprachrohr des<br />

glokalistischen Lebensstils – globales Mindset,<br />

aber lokal verwurzelt – etabliert sie einen<br />

offenen Kanal zwischen städtischer und<br />

ländlicher Sphäre, auf dem in beide<br />

Richtungen kommuniziert wird.<br />

DIE PROVINZ ALS NEUE IMPULSGEBERIN<br />

Junge Intellektuelle, authentische Medienpersönlichkeiten<br />

und Vorbilder wie Roche<br />

geben der Debatte um das bessere Leben<br />

auf dem Land eine neue Dringlichkeit –<br />

und verleihen dem Konzept „Stadtflucht“<br />

Glaubwürdigkeit und eine Prise Sexyness.<br />

Sie spüren eine andere Landlust als<br />

diejenige, die in biederen Bahnhofszeitschriften<br />

abgebildet wird. Seit einiger Zeit<br />

schon formieren sich auf dem Land<br />

Projekte und Kooperativen, die weniger<br />

Wert auf diskursive Abgrenzung legen,<br />

sondern von einem umso größeren Engagement<br />

und einer hemdsärmeligen Begeisterung<br />

für die Wirksamkeit der eigenen<br />

Ideen getragen werden.<br />

Das lange Zeit verächtlich gebrauchte Bild<br />

von den Berliner Hipstern, die sich einen<br />

Bauernhof in Brandenburg mieten, um<br />

Tomaten zu ziehen und Provinzfestivals zu<br />

organisieren, weist bereits darauf hin: Solche<br />

Initiativen sprießen besonders fruchtbar rund<br />

um die Hauptstadt aus dem Boden. Hier<br />

findet sich eine idealistische Klientel, die<br />

lebenserfahren und welt gewandt genug ist,<br />

um persönliche Prioritäten abseits des<br />

Lebensstilmainstreams zu setzen. Und<br />

selbstbewusst genug, um ihre Lebensentwürfe<br />

auch angesichts sozialer und<br />

ökonomischer Widerstände umzusetzen.<br />

Ob auch die Städte am Gewinn der<br />

boomenden Peripherien partizipieren, hängt<br />

davon ab, wie offen sie für den Feedback-<br />

Loop aus der Provinz bleiben. Eigentlich<br />

müssten Städte die gut ausgebildeten<br />

Provinzpionier*innen mit aller Macht zu<br />

halten versuchen. Nicht nur, weil sie die gut<br />

bezahlten Dienstleistungen kreieren und<br />

nutzen, von denen in der Service-<br />

Ökonomie der Wohlstand der Metropolen<br />

abhängt, sondern auch, weil Städte zunehmend<br />

undurchlässiger werden für<br />

multikulturelle Einflüsse – gerade im<br />

Zeichen der Corona-Pandemie: Mittelfristig<br />

werden deutlich weniger Menschen<br />

aus dem Ausland in die deutschen Großstädte<br />

zuziehen. Die Stadt droht damit als<br />

Lebensraum homogener zu werden – und<br />

als Entwicklungstreiberin schwerfälliger.<br />

Die neuen Impulse kommen zunehmend<br />

aus der Progressiven Provinz.<br />

PROVINZ MACHEN!<br />

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und<br />

Entwicklung zählt 19 Leuchtturm-Projekte in<br />

Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt,<br />

die sich im Windschatten des Megatrends<br />

Urbanisierung entwickelt haben. Während in<br />

vielen ostdeutschen Regionen die Trostlosigkeit<br />

des demografischen Niedergangs<br />

regiert und die Politik zum Rückbau abgehängter<br />

Gemeinden zwingt, werden in diesen<br />

„Urbanen Dörfern“ die Versprechen der<br />

Progressiven Provinz eingelöst: Ökodörfer<br />

erproben Formen des selbstorganisierten<br />

Zusammenlebens im Einklang mit ausgebeuteten<br />

Landwirtschaftsräumen, KoDörfer<br />

balancieren das Verhältnis von Co-Living und<br />

individueller Privatsphäre neu aus, Earthship-<br />

Siedlungen versammeln Neo-Nomad*innen<br />

rund um autarke Energietempel aus 100 Prozent<br />

Recyclingmaterial.<br />

In Prädikow, nahe der polnischen Grenze,<br />

sucht eine Gruppe Ex-Berliner*innen das<br />

„Digitale Landleben“ in der Progressiven<br />

Provinz (Goetzke o. D.). Unterstützt wird ihr<br />

Vorhaben durch die Stiftung Trias und die<br />

Selbstbaugenossenschaft Berlin eG, die den<br />

Neuprädikower*innen über Kauf und<br />

Erbbaupacht einen Vierseithof ermöglichen,<br />

eine massive Landwirtschaftsarchitektur, die<br />

jetzt schrittweise weiterentwickelt wird.<br />

Vieles von dem, was man zukünftig für ein<br />

gutes Leben brauchen wird, entsteht in<br />

diesem gemeinsam bewohnten Hof.<br />

Kinderbetreuung? Noch gibt es in Prädikow<br />

keine Kita und in den umliegenden Dörfern<br />

nur vereinzelt; die Betreuungsplätze sind<br />

heiß begehrt. Auf ein Bier in die Eckkneipe?<br />

Ist hier auch nicht möglich, weshalb man mit<br />

der Dorfscheune einen Treffpunkt für alte<br />

und neue Bewohner*innen im Dorf schafft<br />

– inklusive Coworking-Space für die<br />

Hofbewohner*innen und Interessierte aus<br />

der Region. Außerdem gibt es Internet, die<br />

Voraussetzung dafür, dass die jungen<br />

Kreativen, Regionalentwickler*innen den<br />

ehemaligen Gutshof zum modernen<br />

Lebens- und Arbeitsumfeld aufwerten<br />

können (Weber 2020).<br />

27<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


30<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


PLANUNG ZWISCHEN STADT UND REGION<br />

DIE NEUEN BUNDESLÄNDER<br />

BLAU,<br />

ABER OHO?<br />

Im Osten Deutschlands stehen starke Schrumpfungsprozesse<br />

in ländlichen Räumen dem Städtewachstum von beispielsweise<br />

Leipzig, Dresden und Jena gegenüber. Der Transformationsprozess<br />

ist nicht neu, die Auswirkungen aber<br />

zunehmend gravierend. Anne Fischer schätzt für uns die<br />

aktuelle Lage in den neuen Bundesländern ein und sucht<br />

nach Lösungsansätzen.<br />

ANNE FISCHER<br />

Grafik: Deutschlandatlas<br />

Nach der Wiedervereinigung<br />

zog fast ein<br />

Viertel der Bevölkerung<br />

aus den neuen<br />

Bundesländern fort<br />

– die gravierenden<br />

Folgen sind bis heute<br />

spürbar.<br />

Die Grafik zeigt den<br />

Anteil leer stehender<br />

Wohnungen an allen<br />

Wohnungen in<br />

Deutschland 2018 in<br />

Prozent. Die Datenbasis<br />

für die Erhebung ist die<br />

BBSR-Wohnungsmarktbeobachtung.<br />

Die<br />

Abschätzung des<br />

Wohnungsleerstands<br />

basiert auf den<br />

Leerständen des<br />

Zensus2011, Gebäude<br />

und Wohnungszählung,<br />

Stand: 28.05.2014<br />

31<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


34<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


PLANUNG ZWISCHEN STADT UND REGION<br />

IBA THÜRINGEN – IN BEZAHLTER KOOPERATION MIT DER IBA THÜRINGEN<br />

IBA DER STADT-<br />

LANDSCHAFT<br />

Unter dem Motto „StadtLand“ wollen die Projekte der IBA Thüringen<br />

wie „Open Factory“ im Eiermannbau in Apolda oder „Sommerfrische“<br />

im Schwarzatal gleichberechtigte und innovative Stadt-Land-<br />

Beziehungen katalysieren. Welche Rolle der Landschaftsbegriff dabei<br />

spielt, wie die IBA diesen für sich begreift und wie sich dieser in den<br />

IBA Projekten widerspiegelt, das fasst hier die IBA Geschäftsführerin<br />

Marta Doehler-Behzadi anhand aktueller Projektstände zusammen.<br />

MARTA DOEHLER-BEHZADI<br />

Copyright: Alle Fotos: (c)IBA Thueringen, Thomas Mueller<br />

AUTORIN<br />

Dr. Marta Doehler-<br />

Behzadi studierte<br />

Stadt planung in<br />

Weimar und arbeitete<br />

mehrere Jahre für<br />

den Chefarchitekten<br />

der Stadt Leipzig.<br />

Anschließend war sie<br />

als freiberufliche<br />

Stadtplanerin in<br />

Leipzig tätig. Von<br />

2007 bis 2014 leitete<br />

sie das Referat<br />

Baukultur und<br />

Städtebaulicher<br />

Denkmalschutz im<br />

Bundesbauministerium.<br />

Seit 2014<br />

leitet Marta<br />

Doehler-Behzadi die<br />

IBA Thüringen als<br />

Geschäftsführerin.<br />

Sortieren wir zu Beginn ein wenig die<br />

Begriffe. Am Anfang war alles Natur. Erst<br />

vor etwa zehntausend Jahren begannen die<br />

Menschen, kleine Ausschnitte davon zu<br />

erschließen und zu bewirtschaften: Natur<br />

wurde beackert und besiedelt, umgestaltet,<br />

bebaut und überformt. Das Ergebnis dieses<br />

Handelns ist Kulturlandschaft. Dieser<br />

Begriff ist für Thüringen mehr als angemessen,<br />

hier, wo es eine solch enge und allseits<br />

sichtbare Verzahnung zwischen städtebaulichen<br />

Ensembles, Freiräumen und Landschaften<br />

gibt. Alles fügt sich zu einem<br />

Großen und Ganzen zusammen: Der<br />

Kirchturm überragt das Dorf und blickt in<br />

die Landschaft, das Schloss in der Stadtmitte<br />

wird vom Schlosspark umgeben, entlang<br />

des Flusses erstrecken sich weite Landschaftszüge.<br />

Sie sind konkret, da sie für die<br />

Menschen erfahrbar sind: die sanfte<br />

Goldene Aue im Thüringer Norden, das<br />

dunkle Schwarzatal, Rhön und Hainich, das<br />

Mühltal usw. Wie gute Bekannte sind die<br />

Landschaften: Sie funktionieren als<br />

Gedächtnis, sie erklären, woher wir kommen,<br />

weil sich die Spuren unserer Tätigkeiten<br />

in ihnen abgezeichnet haben. Und in<br />

gleicher Weise kann man ihre derzeitigen,<br />

teils akuten Veränderungen ablesen.<br />

Nennt die IBA Thüringen ihr Thema<br />

„StadtLand“, so beschreibt sie eine äußerst<br />

kleinteilige, dichte und über Jahrhunderte<br />

gewachsene Siedlungsstruktur, ein Stadt-<br />

Land-Dorf-Landschaft-Kontinuum. Wenn<br />

man so will, ist „StadtLand“ die genauere<br />

Bezeichnung für die spezifische Thüringer<br />

Kulturlandschaft. Im Fokus der IBA<br />

Thüringen standen von Beginn an Wandlungsprozesse,<br />

die heutzutage schneller und<br />

heftiger als je zuvor stattfinden und unter<br />

anderem die lieb gewonnene und vertraute<br />

Thüringer Symbiose von Menschen, Orten<br />

und Landschaften infrage stellen.<br />

Der Klimawandel ist dabei ein zentrales<br />

Thema. Die Energiewende führt zu gänzlich<br />

neuen und häufig umstrittenen Landschaftselementen,<br />

wie Windrädern oder Hochleistungsnetzen.<br />

Es gibt alte Aufgaben, wie die<br />

Abwasserentsorgung, die es zu bewältigen<br />

gilt: Noch immer wird das Abwasser von<br />

einem Viertel der Thüringer nach unzureichender<br />

Behandlung in die Vorflut eingeleitet.<br />

Starkregenfälle und Hochwasser suchen<br />

Stadt und Land heim, nicht nur in anderen<br />

Weltgegenden, sondern immer häufiger auch<br />

hier. Hinzu kommen Strukturwandelprozesse<br />

in der Landwirtschaft. Die Kritik an<br />

bestimmten Formen von Landbewirtschaftung<br />

und -nutzung wächst. Einstmals<br />

vielgestaltige Landschaften werden immer<br />

eindimensionaler und nahezu rabiat für<br />

Verkehrstrassen, Energieinfrastrukturen,<br />

Wohnbauerweiterungsland oder landwirtschaftliche<br />

Monoproduktion ausgenutzt.<br />

Trotz ständiger Optimierung der landwirtschaftlichen<br />

Produktion ist diese für<br />

Landwirt*innen oft nicht mehr auskömmlich.<br />

Auf der anderen Seite erklärt man<br />

Landschaften zu Schutzgebieten und<br />

verwandelt sie in Reservate. Es überwiegen<br />

Bild links oben: Um ein<br />

zukunftsfähiges<br />

Landschaftsbild für das<br />

Schwarzatal zu<br />

entwickeln, organisierte<br />

der Verein „Zukunftswerkstatt<br />

Schwarzatal“<br />

gemeinsam mit der<br />

LEADER Aktionsgruppe<br />

Saalfeld-Rudolstadt und<br />

der IBA 2018 ein<br />

kooperatives Werkstattverfahren<br />

im Rahmen<br />

des Modellprogramms<br />

der Raumordnung des<br />

Bundes (MORO).<br />

Bild links unten: Die IBA<br />

Thüringen entwickelt den<br />

Eiermannbau in Apolda<br />

zu einer Open Factory<br />

— einem kreativen und<br />

produktiven Ort für viele<br />

und vieles. Eine<br />

ganzjährige Nutzung der<br />

Industriehallen ist derzeit<br />

noch nicht möglich, die<br />

Planungen für den technischen<br />

Ausbau laufen. In<br />

der Zwischenphase<br />

vergangenes Jahr<br />

konnten Mitnutzer*innen<br />

die Open Factory<br />

kostenfrei nutzen.<br />

35<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


„WIR LÖSEN DIE<br />

ALTE DISKUSSION<br />

LAND VS. STADT AB“<br />

Bis 2027 will die Internationale Bauausstellung in Stuttgart und Region Ant worten<br />

darauf finden, wie Städte, Dörfer und Siedlungen der hoch industrialisierten<br />

baden- württembergischen Metropolregion dem gesellschaftlichen, technologischen<br />

und ökologischen Wandel begegnen können. Es geht darum, eine Stadt region neu<br />

zu denken, sie vielleicht sogar neu zu erfinden und eine neue Definition von Stadt<br />

und Region zu erarbeiten. Ist Stadt gleich Region, Region gleich Stadt? Wir haben<br />

beim Intendanten der IBA'27 Andreas Hofer nachgefragt.<br />

INTERVIEW: ANJA KOLLER<br />

AUTORIN<br />

Anja Koller hat<br />

Kommunikationswissenschaft,<br />

Politik<br />

und Kunstgeschichte<br />

an der TU Dresden<br />

studiert. Sie ist seit<br />

2017 Redakteurin bei<br />

topos und Garten +<br />

Landschaft.<br />

Umweltzerstörung, Klimawandel,<br />

Wohnungs notstand, Ressourcenmangel –<br />

Andreas Hofer, wirft man einen Blick auf<br />

die aktuelle Pandemie und wie Corona<br />

gesellschaftliche Probleme sichtbar macht<br />

und verschärft, fragt man sich un weigerlich:<br />

Wie sieht eigentlich unsere Zukunft<br />

aus? Die IBA'27 steht ein Stück weit für<br />

Fragen wie „Wie wollen wir leben?“, „Wie<br />

wohnen?“, „Wie arbeiten?“, „Wie uns<br />

von A nach B bewegen?“, „Wie bauen?“<br />

– Wie radikal wollen Sie oder können<br />

Sie sich mit diesen Fragen während der<br />

Laufzeit der IBA'27 beschäftigen?<br />

Natürlich möchten wir bei der IBA’27,<br />

ausgehend von den Konflikten und den<br />

Herausforderungen der Zeit, in der wir<br />

leben, darstellen, wie eine gerechte, lebenswerte<br />

Stadt der Zukunft aussehen könnte.<br />

Aber mit dem Versprechen der Moderne,<br />

dass Architektur die Stadt gesünder,<br />

demokratischer, durchlässiger für alle<br />

machen kann – wäre ich vorsichtig. Ich<br />

glaube nicht, dass Architektur die Menschheit<br />

heilen kann, aber die Architektur<br />

beschädigt sie im Moment. Die Bauwirtschaft<br />

ist einer der größten Ressourcenkonsumenten,<br />

einer der größten Energieverbraucher<br />

im Betrieb und schlussendlich<br />

dann auch noch einer der größten Abfallproduzenten.<br />

Wir müssen unsere Hausaufgaben<br />

machen, damit Architektur keine<br />

Umweltbelastung ist. Ich bin eigentlich<br />

nicht der schöngeistige Architekt – ich<br />

möchte aber wieder einmal über Häuser<br />

reden und nicht immer nur über Mobilität,<br />

gesellschaftliche Transformation und<br />

ökonomische Prozesse. Ich habe deshalb<br />

gleich zu Beginn gesagt: Lasst uns doch die<br />

IBA machen und in der Architektur, in den<br />

gebauten Projekten darstellen, welche<br />

Antworten wir auf gesellschaftliche Fragen<br />

finden. Denn wenn wir über Architektur<br />

reden, spüren wir, dass die Dinge zusammenhängen<br />

– wenn ich über Häuser rede,<br />

dann muss ich auch über die Nutzung<br />

sprechen und über die Werte der Gesellschaft<br />

diesen Häusern gegenüber. Und das<br />

muss man auch Laien verständlich machen.<br />

Die Menschen reden ja über die Probleme,<br />

Herausforderungen, die sie persönlich<br />

betreffen. Das in Architektursprache zu<br />

übersetzen, ist die Aufgabe von uns<br />

Fachleuten. Das sehe ich als das zentrale<br />

Thema einer IBA, aus den gesellschaftlichen<br />

Bedürfnissen heraus neue Formen des<br />

Siedelns, Besiedelns und der räumlichen<br />

Konfiguration zu entwickeln.<br />

Konkret auf die IBA'27 bezogen: Welche<br />

Bedürfnisse gibt es hier? Was treibt Stuttgart<br />

um, was die Region? Sie begreifen<br />

44<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


PLANUNG ZWISCHEN STADT UND REGION<br />

STADTREGION STUTTGART (IBA'27) – INTERVIEW MIT ANDREAS HOFER<br />

Foto: Sven Weber<br />

Stuttgart und die Region als einen urbanen<br />

Raum – die Region ist Stadt, die Stadt ist<br />

Region. Was bedeutet das genau? Wo<br />

setzen Sie an?<br />

Urbanisierung ist ein globales Phänomen<br />

– und damit verbindet sich auch ein<br />

Sprengen der städtischen Grenzen. Das<br />

wurde sehr lange sehr negativ diskutiert, im<br />

Sinne von Urban Sprawl, Agglomeration,<br />

Zwischenstadt … Alles, was man nicht<br />

richtig in die Stadt hineinbringt, wird nach<br />

außen verlagert. Das produziert Mobilität,<br />

das produziert häufig auch schlechte<br />

Architektur. Ich denke an diese Gewerbekisten,<br />

die Logistikzentren, die fassadenlos in<br />

der Gegend herumstehen. Ich glaube, dass<br />

wir unseren Blick auf genau diese Räume<br />

ändern müssen, dass wir diese heute wenig<br />

urbanen Ränder immer stärker als den<br />

zukünftigen städtischen Raum verstehen<br />

müssen. Und da hat Stuttgart, da hat die<br />

Region Stuttgart eine ganz spezifische Rolle.<br />

Welche denn?<br />

Die Region Stuttgart hat eine poly zentrische<br />

Struktur – im Gegensatz zu Paris, München,<br />

Großstadtregionen, die ein einzelnes<br />

eindeutiges Zentrum haben und deren<br />

Dichte nach außen hin immer weiter<br />

abnimmt und ganz außen Wohnquartiere<br />

übrigbleiben. Die Region Stuttgart hin gegen<br />

ist eine Art Netzwerk mit sehr selbstbewussten,<br />

mittelgroßen, gemischten und<br />

sozial vielfältigen Städten. Esslingen,<br />

Ludwigsburg, Böblingen, Göppingen: Viele<br />

dieser Mittelstädte sind für sich genommen<br />

produktive Zentren. Da gibt es Weltfirmen<br />

und Mittelständler, da gibt es Kultur und<br />

städtisches Leben, die Leute pendeln auch in<br />

diese Mittelstädte – wir haben also eigentlich<br />

überall so etwas wie einen produktiven<br />

Raum. Derzeit verändert sich aber unser Bild<br />

von Arbeit, von Produktion, von Produkten<br />

im Moment radikal und mit großer Geschwindigkeit;<br />

es geht so etwas wie ein<br />

Sturm durch die Region. Unsere These ist:<br />

Die Region wird diesen Sturm besser<br />

überstehen, wenn man Stadt und Region<br />

zusammendenkt, wenn man beides zusammen<br />

als einen urbanen Raum definiert. Das<br />

ist eine Ablösung der alten Diskussion Land<br />

versus Stadt – die macht hier in meinen<br />

Augen überhaupt keinen Sinn mehr. Land<br />

kommt zum Teil in die Stadt, Stadt geht ins<br />

Land. Die Räume sind natürlich unterschiedlich<br />

und müssen auch ihre unterschiedlichen<br />

Charaktere weiterentwickeln,<br />

aber es könnte so etwas wie eine Idee von<br />

neuer Stadt entstehen. Und ich denke, die<br />

Region Stuttgart ist einer der spannendsten<br />

Orte auf dieser Welt, um diese Diskussion<br />

zu führen.<br />

Andreas Hofer studierte<br />

Architektur an der ETH<br />

Zürich und war dort<br />

Partner im Planungsund<br />

Architekturbüro<br />

Archipel. Seit Anfang<br />

2018 ist er Intendant der<br />

Internationalen<br />

Bauausstellung 2027<br />

StadtRegion Stuttgart<br />

(IBA’27).<br />

45<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


BLICK AUF DIE<br />

KLEINSTADT<br />

Die deutschen Metropolen bekommen viel Aufmerksamkeit. Kleinstädte<br />

hingegen tauchen selten in den Medien auf, gelten als<br />

langweilig oder gar unwichtig. Dem ist aber nicht so. 30 Prozent<br />

aller Deutschen leben in Kleinstädten. Wie das Leben dort attraktiv<br />

bleiben kann, der Frage widmet sich die Kleinstadtakademie.<br />

JULIANE VON HAGEN<br />

Foto: Hochschule Neubrandenburg<br />

48<br />

GARTEN+<br />

LANDSCHAFT


PLANUNG ZWISCHEN STADT UND REGION<br />

KLEINSTADTAKADEMIE<br />

AUTORIN<br />

Dr. Juliane von Hagen<br />

ist Stadtplanerin und<br />

-forscherin. Sie setzt<br />

sich seit Jahren mit<br />

öffentlichen Räumen<br />

auseinander;<br />

zunächst an<br />

verschiedenen<br />

Hochschulen und<br />

mittlerweile im<br />

eigenen Büro<br />

stadtforschen.de.<br />

Zwischen Dorf und<br />

Großstadt werden sie<br />

gerne einmal<br />

vergessen: die<br />

Kleinstädte. Und das,<br />

obwohl sie 30 Prozent<br />

aller Deutschen<br />

beherbergen.<br />

Stichworte wie Heimat, Lebensqualität,<br />

Miteinander oder Netzwerke fallen, wenn<br />

Menschen über ihr Zuhause in einer<br />

Kleinstadt reden. Und das sind nicht wenige<br />

in Deutschland. Es gibt über 2 100 Städte, die<br />

zwischen 5 000 und 20 000 Ein wohner*innen<br />

haben, also offiziell eine Kleinstadt sind.<br />

Insgesamt wohnen hier 24 Millionen<br />

Menschen, also etwa 30 Prozent der Gesamtbevölkerung.<br />

Der Wert überrascht. Eigentlich<br />

spielen Kleinstädte in unserer Wahrnehmung<br />

doch kaum eine Rolle. Auch Politik, Planung<br />

und Wissenschaft haben dieses große<br />

Aufgabenfeld lange wenig beachtet. Oft<br />

wurden Kleinstädte im Zusammenhang mit<br />

dem ländlichen Raum gesehen, was genauso<br />

wenig korrekt ist wie der zusammenfassende<br />

Blick auf Klein- und Mittelstädte. Um dem<br />

Stadttyp „Kleinstadt“ mit seinen spezifischen<br />

Lebens-, Wohn-, Arbeits- und Freizeitqualitäten<br />

gerecht zu werden und stereotype<br />

Zuweisungen zu überwinden, widmet sich das<br />

Bundesministerium des Inneren, für Bau und<br />

Heimat (BMI) seit einigen Jahren verstärkt<br />

dessen Bedürfnissen. In ver schiedenen<br />

Forschungsvorhaben und Förder programmen<br />

thematisiert es gemeinsam mit dem Bundesinstitut<br />

für Bau, Stadt- und Raumentwicklung<br />

(BBSR) die Entwicklung von Kleinstädten.<br />

Dabei wuchs der Wunsch, die Kleinstädte in<br />

ihrer Entwicklung dauerhaft zu unterstützen:<br />

der Grundstein für die Kleinstadtakademie.<br />

Derzeit ist die Kleinstadtakademie in der<br />

Pilotphase. Bis zu ihrer möglichen Verstetigung,<br />

die 2023 beginnen könnte, laufen<br />

vertiefende Forschungen zu geeigneten<br />

Inhalten und Formaten, zu Grundlagen und<br />

Grundsätzen dieses neuen Austausch- und<br />

Lernnetzwerks. Denn das soll die Kleinstadtakademie<br />

werden: Sie will den über<br />

2 000 Kleinstädten in Deutschland helfen,<br />

durch lokale und dezentrale, durch digitale<br />

und mobile Beratungs- und Vernetzungsangebote<br />

Lösungen für ihre besonderen<br />

Probleme und Bedarfe zu entwickeln. Dabei<br />

nimmt die Akademie die Potenziale in den<br />

Blick, die in der Eigenlogik der Kleinstädte<br />

begründet sind. Sie fragt: Wie können<br />

Kleinstädte zukunftsfähig bleiben? Welche<br />

Potenziale können dafür genutzt werden?<br />

Welche Handlungsmuster müssen überdacht<br />

und vielleicht neu ausgerichtet werden? Und<br />

wie können die oftmals personell schmal<br />

aufgestellten Verwaltungen das meistern?<br />

KLEINSTADTAKADEMIE STARTET MIT<br />

PILOTPHASE<br />

Bereits 2015 machten sich acht Kleinstädte<br />

auf den Weg, Antworten auf diese Fragen zu<br />

finden. Im Rahmen des ExWoSt-Modellvorhabens<br />

„Potenziale von Kleinstädten in<br />

peripheren Lagen“ förderte das damalige<br />

Bundesumweltministerium Projekte und<br />

Maßnahmen, die Bürger*innen, Unternehmen<br />

und Vereine gemeinsam diskutiert,<br />

geplant und schließlich angepackt haben. In<br />

gemeinsamer Arbeit entstanden in den acht<br />

Kleinstädten Visionen, aber auch reale<br />

Projekte, die alle auf Kooperationen von<br />

lokalen Vereinen, Initiativen des Einzelhandels<br />

oder grenzüberschreitender Zusammenarbeit<br />

von Wirtschaft oder<br />

Tourismus basierten. So hat zum Beispiel die<br />

Modellkommune Malente in Schleswig-<br />

Holstein eine Strategie entwickelt, die die<br />

Stadt vom Image „Mit der Rente nach<br />

Malente“ wegbringt. Über 1 000 Malenter*innen<br />

haben zusammen drei Themenfelder<br />

für die zukünftige Entwicklung<br />

identifiziert: Sport, Tourismus und Gesundheit.<br />

Unter dem Stichwort Sport schenkt<br />

Malente dem Spitzen-, Breiten- und<br />

Gesundheitssport neue Aufmerksamkeit. Die<br />

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