Grundlagenpapier Integration, FPÖ Wien
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GRUNDLAGENPAPIER ZUR INTEGRATION
verfasst von Dr. Gerhard Schlüsselberger unter
Mitarbeit von Alexandra Leutgeb-Schlüsselberger
im Auftrag der Freiheitlichen Akademie Wien.
Wien, im Jänner 2020
Grundlagenpapier Integration
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
TEIL A: ZUSAMMENFASSUNG UND ARBEITSAUFTRAG 4
1. Zusammenfassung 4
a. Politische Vorstellungen und Forderungen der FPÖ zur Integration 4
b. Überblick zum Stand der Wissenschaft 5
c. Ausmaß der Kongruenz von Politik und Wissenschaft 6
d. Empfehlung von praktischen Maßnahmen 7
e. Verweis auf das Argumentarium 8
2. Arbeitsauftrag 9
3. Methodenauswahl 10
TEIL B: POLITISCHE VORSTELLUNGEN UND FORDERUNGEN DER
FPÖ ZUM THEMA INTEGRATION 12
1. Das Parteiprogramm der FPÖ (Bundespartei) vom 18.06.2011 12
2. Handbuch freiheitlicher Politik, 4. Auflage, 2013 13
3. Zusammenfassung 14
TEIL C: ÜBERBLICK ZUM STAND DER WISSENSCHAFT 15
1. Die „Klassiker“ der Soziologie 15
2. Zeitgenössische Forscher und Beiträge des ÖIF 22
3. Zusammenfassung 37
2
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TEIL D: EINSTELLUNGEN UND MEINUNGEN ZUM ISLAM
IN ÖSTERREICH 43
LITERATURVERZEICHNIS 50
3
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TEIL A: ZUSAMMENFASSUNG UND ARBEITSAUFTRAG
1. ZUSAMMENFASSUNG
An dieser Stelle werden die wesentlichen Ergebnisse dieses Grundlagenpapiers übersichtlich
und konzentriert dargestellt, die Details dazu finden sich in der ausführlichen Darstellung
weiter unten.
a. POLITISCHE VORSTELLUNGEN UND FORDERUNGEN
DER FPÖ ZUR INTEGRATION
Wie sich aus den untenstehenden Passagen ergibt, versteht die FPÖ unter Integration im
Wesentlichen folgendes:
Integration ist ein Prozess der Anpassung 1 , der je nach individueller Vorgeschichte
unterschiedlich lange andauert.
Es handelt sich um eine deutlich überwiegende Bringschuld des Zuwanderers.
Integration heißt in diesem Zusammenhang vor allem, dass sich der Zuwanderer
einfügt, eingliedert, einordnet und anpasst, sich daher im Wesentlichen innerhalb
der „österreichische Lebenswelt“ assimiliert.
Daher soll die Übernahme der wesentlichen, in Österreich vorherrschenden lebensweltlichen
Gepflogenheiten, Sitten, Wertvorstellungen und Regeln sowie
die gleichzeitige bzw. sukzessive Aufgabe der bisherigen Lebenswelt erfolgen und
zwar dann, wenn die bisherige mit der in Österreich vorherrschenden Lebenswelt
„inkompatibel“ erscheint.
Folgerichtig wäre daher nicht mehr von „Integration“, sondern von „Assimilation“
zu sprechen.
Als Abschluss des jeweiligen Integrationsprozesses kann, muss aber nicht, die Einbürgerung,
also die Verleihung der Staatsbürgerschaft stehen, wobei dies jedenfalls „ein verbindliches
Bekenntnis zu den Gesetzen und Werten unseres freiheitlich-demokratischen
Rechtsstaates“ 2 voraussetzen würde.
1 Hervorhebungen sind, soweit nicht anders angemerkt, nicht aus dem Original sondern vom Verfasser.
2 Handbuch freiheitlicher Politik, 4. Auflage, 2013, 48.
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b. ÜBERBLICK ZUM STAND DER WISSENSCHAFT
Als vorläufiges Fazit soll festgehalten werden, dass Wertsysteme wie etwa Moral, Sitte,
Religion, Kultur, etc., die Funktion haben, den komplexen Strom der ontologischen Erfahrungen
nach bestimmten Kriterien zu ordnen und zu strukturieren. Dies setzt es
aber voraus, dass im Menschen grundsätzlich und allgemein entsprechende Verhaltensdispositionen
angelegt sind, die eine solche Orientierung überhaupt erst möglich machen.
Eine gegebene staatliche Ordnung ist darauf angewiesen, dass sie auf einer solchen
„primitiven“, wie auch immer gearteten Ordnung aufbauen und sich insbesondere
auf folgende Vorbedingungen verlassen kann:
Die entsprechenden Verhaltensdispositionen sind bei einer ausreichend großen
Zahl an Menschen innerhalb der bezughabenden Gruppe vorhanden;
Es existiert ein wertsystemischer Überbau (Kultur), der das Zusammenspiel
und Ineinandergreifen von (gelebten) Recht und (gesatztem) Gesetz begünstigt;
Die innere Bereitschaft des Einzelnen, sowohl die gesetzlichen als auch die
„außerrechtlichen“ Regeln zu akzeptieren und danach zu leben, ist im
Großen und Ganzen vorhanden;
Es herrscht relative Homogenität im Hinblick auf Sprache, Arbeitsethos,
Erwartungshaltung für rationales Verhalten, allgemeiner „Zugang zum
Leben“ usw. vor, ansonsten zentrifugale Kräfte den inneren Zusammenhalt
abschwächen.
Mit anderen Worten bringen insbesondere die zentripetale Kraft der Ähnlichkeit, die
disziplinierende Wirkung der Gruppenkonformität, der identitätsstiftende Einfluss
des gruppenbezogenen Wir-Gefühls sowie die das Individuum motivierende Furcht
für dem Ausgestoßen-Sein jene Klammern hervor, die für die menschliche Gruppenbildung
und ihre dauerhafte Existenz kennzeichnend sind.
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c. AUSMAß DER KONGRUENZ ZWISCHEN POLITIK UND
WISSENSCHAFT
Auf Basis der hier vorgebrachten Inhalte kann zum Ausmaß der Kongruenz zwischen Politik
und Wissenschaft folgendes festgestellt werden:
1. Integration ist tatsächlich ein Prozess der Anpassung, der je nach individueller
Vorgeschichte unterschiedlich lange andauert. Es ist an dieser Stelle jedoch anzumerken,
dass die für die Integration wesensgestaltenden Parameter (wie konkrete
Werte, Verhaltensweisen, Handlungsvorschriften, Ziele,…) dem Einzelnen
typischerweise mittels oft wiederholter und über einen längeren Zeitraum
vorgelebter und gemeinsam ausgeübter Routinen „angelernt“ werden. Die
damit einhergehende Verinnerlichung (Internalisierung) schafft nicht bloß die Gewissheit,
sich in „seiner“ Gruppe sicher und konfliktfrei bewegen zu können, sondern
entlastet in bestimmten Ausmaß auch von der Notwendigkeit sozialer Kontrolle.
In Rechnung zu stellen ist allerdings, dass die nachträgliche Veränderung jener
Parameter (konkrete Werte, Verhaltensweisen, Handlungsvorschriften, Ziele,…),
die oftmals tief in den persönlichen Alltag und das familiäre Umfeld hineinreichen,
mitunter einen erheblichen menschlichen, zeitlichen und finanziellen
Aufwand erfordert.
2. Die Vorstellung, Integration wäre eine deutlich überwiegende Bringschuld des
Zuwanderers, lässt sich mit den hier vorgebrachten Aussagen grundsätzlich in
Einklang bringen. In die Zuständigkeit der Aufnahmegesellschaft fällt einerseits
die „technische“ Infrastruktur, wie bspw. Anlaufstellen für Informationen, Informationsmaterial,
Beratungsstellen, Strukturen für Sprachkurse, usw. Darüber hinaus
kann eine umfassende strukturelle und vor allem kulturelle Integration jedoch
nur gelingen, wenn klar gemacht wird, welche Parameter (wie konkrete Werte,
Verhaltensweisen, Handlungsvorschriften, Ziele,…) verinnerlicht und für
die eigene Lebenswelt übernommen werden sollen.
3. Damit die Übernahme der wesentlichen, in Österreich vorherrschenden lebensweltlichen
Gepflogenheiten, Sitten, Wertvorstellungen und Regeln sowie
die gleichzeitige bzw. sukzessive Aufgabe der bisherigen Lebenswelt (überhaupt)
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erfolgen kann, ist in einem vorherigen Schritt festzustellen, welche konkreten Gepflogenheiten,
Sitten, Wertvorstellungen und Regeln dies sind.
d. EMPFEHLUNG VON PRAKTISCHEN MASSNAHMEN
1. Die derzeitigen Komponenten der Integration, wie beispielsweise Spracherwerb,
Eintritt in den Arbeitsmarkt, Ermöglichung eines eigenfinanzierten Lebens, etc.,
sind wichtige Elemente eines gelingenden Integrationsprozesses. Nichtsdestotrotz
erscheint es nach den hier festgehaltenen Ausführungen dringend notwendig,
die Prioritäten der einzelnen Integrationskomponenten neu festzulegen. Anzumerken
ist an dieser Stelle auch, dass eine politische Partizipation am Gemeinwesen
erst nach erfolgter Integration sinnvoll und zielführend erscheint.
2. So hat sich - gerade auch in der öffentlichen Debatte der letzten Jahre - gezeigt,
dass der Frage, ob jemand als integriert anerkannt wird, große Bedeutung zukommt,
obwohl sie derzeit im offiziellen politischen Diskurs kaum Beachtung findet.
Mit anderen Worten wird von breiten Teilen der Bevölkerung einigermaßen
genau taxiert, inwiefern ein bislang Fremder die - nach dem Dafürhalten
der beurteilenden Bevölkerung - hier geltenden Parameter des täglichen Lebens
und der sonstigen relevanten Gepflogenheiten verinnerlicht hat.
3. Stellt sich dabei heraus, dass tatsächlich nach anderen Parametern gelebt wird, erschwert
dies in hohem Maße die nachhaltige Integration und lässt die Wahrscheinlichkeit
für einen erfolgreichen „Beheimatungsprozess“ markant sinken.
4. Konkret wird daher an praktischen Maßnahmen folgendes empfohlen:
a. Die inhaltliche Ausrichtung der Integration muss über das, was als
„reine Gesetzeslage“ bezeichnet werden kann, hinausgehen.
b. Der Schwerpunkt zukünftiger Integrationsmaßnahmen sollte also im
Be-reich dessen liegen, was man gemeinhin mit dem Begriff der „Kultur“,
also der auf breiter Basis verbindlichen ungeschriebenen Normen, Sitten,
Gepflogenheiten usw., auszudrücken pflegt.
c. Dies soll über ein neu einzuführendes „Integrationskonto“ abgewickelt
werden, welches auf Basis der bereits existierenden und vom Österreichischer
Integrationsfonds geführten Integrationsdatenbank erstellt werden
kann. Ein solches Integrationskonto würde in personalisierter Form einerseits
jene konkreten Schritte für die sozio-kulturelle Anpassung
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darstellen und vorgeben, die eine bestimmte Person zu absolvieren hat.
Andererseits lässt sich mit diesem Instrument der Fortschritt jener Person
genau nachvollziehen und überwachen.
d. Die Dauer der sozio-kulturellen Anpassung ist klarerweise abhängig davon,
wie groß der Anpassungsbedarf im jeweiligen Einzelfall ist. Am kurzen
Ende der möglichen Skala gibt es Fälle, die de facto keine oder eine
sehr geringe Anpassung erforderlich machen. Am langen Ende wiederum
ist damit zu rechnen, dass der Anpassungsprozess überhaupt nur dann
Aussicht auf Erfolg hat, wenn ein mehrtägiger Unterricht pro Woche
Woche über einen mehrmonatigen Zeitraum absolviert wird.
e. Jedenfalls sind entsprechende Prüfungen vorzusehen, um den Fortschritt
der sozio-kulturellen Anpassung messbar und kontrollierbar zu
machen.
f. Für den Fall der dauernden Vereitelung der Integration müssen angemessene
Sanktionen, bis hin zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen,
gesetzt werden.
5. Die religiöse Zugehörigkeit stellt bei vielen Religionen im typischen Normalfall
kein Integrationshindernis dar. Dies trifft sich mit der in Österreich gepflegte Praxis,
dass „Religion Privatsache ist“. Der Islam stellt in dieser Hinsicht insofern
eine Ausnahme dar, als es weitverbreitete Interpretationsgemeinschaften innerhalb
dieser Religionsgemeinschaft gibt, welche diese gelebte Praxis ablehnen.
Daher - und aufgrund der innerhalb der Aufnahmegesellschaft weit verbreiteten
Skepsis gegenüber dem Islam und den meisten seiner Auslegungsvarianten
- ist es notwendig, diesen Umstand auch im Hinblick auf den soziokulturellen
Anpassungsvorgang entsprechend zu berücksichtigen.
e. VERWEIS AUF DAS ARGUMENTATRIUM
Das Argumentarium, welches die wesentlichen Eckpunkte und Ergebnisse dieses Grundlagenpapiers
in kurzes und prägnanter Form enthält und für den unmittelbaren Einsatz in der
politischen Arbeit (Diskussionen, Interviews, etc.) verwendet werden kann, findet sich als
Anhang zu dieser Arbeit.
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Grundlagenpapier Integration
2. ARBEITSAUFTRAG
In gegenständlichem Grundlagenpapier zum Thema Integration wird erhoben, ob und,
wenn ja, inwiefern sich die politischen Vorstellungen und Forderungen der Freiheitlichen
Partei Österreichs (FPÖ) im Bereich der Querschnittsmaterie „Integration“ mit dem vorherrschenden
bzw. aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung decken oder sich von
diesem unterscheiden.
Im Hinblick auf übereinstimmende Vorstellungen und Forderungen wird darüber hinaus
der Fokus darauf gelegt, welche integrativen Maßnahmen sich daher in der Praxis konkret
anbieten und wie diese umgesetzt werden könnten.
Im Anschluss an das Grundlagenpapier werden die wesentlichen Eckpunkte und Ergebnisse
als kurzes und prägnantes Argumentarium, welches für den unmittelbaren Einsatz in der
politischen Arbeit (Diskussionen, Interviews, etc.) verwendbar sein soll, reformuliert.
Diese Ausarbeitung unterliegt den formalen und inhaltlichen Standards wissenschaftlichen
Arbeitens (Gliederung, Offenlegung von Quellen und Quellenbelege, wissenschaftliche
Zitate, etc.), verfügt über eine diesem Kapitel vorangestellte Zusammenfassung, einen
Überblick über die relevante Literatur, eine Darstellung des Untersuchungsgegenstandes
und der methodischen Vorgangsweise, eine zentrale Darstellung der Schlüsselergebnisse
der Analyse sowie ein das Dossier abschließendes Literaturverzeichnis.
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3. METHODENAUSWAHL
Grundlagenpapier Integration
Die nachfolgende Analyse kann im Allgemeinen von vielfältigen Blickwinkeln aus beleuchtet
und anhand unterschiedlicher Methoden untersucht werden. Um eine breite Bearbeitung
des Arbeitsauftrages zu ermöglichen, wird auf folgende Methoden zurückgegriffen:
a. Literaturanalyse
Vor allem im Hinblick auf den einerseits zu gebenden Überblick zum aktuellen Forschungsstand
erscheint es angezeigt, aussagekräftige wissenschaftliche Literatur zu sichten
und wesentlich erscheinende Werke entsprechend zu zitieren. Andererseits ist es für die
Bestandsaufnahme der politischen Vorstellungen und Forderungen der FPÖ zum Thema
„Integration“ notwendig, bezughabende Unterlagen und Dokumente, allen voran das Parteiprogramm
sowie das Handbuch freiheitlicher Politik, in angemessener Weise zu berücksichtigen.
b. Hermeneutik
Als Hermeneutik wird gemeinhin eine Theorie der Interpretation und des Verstehens von
Texten oder Werken bezeichnet. Dadurch soll also erfasst werden, welcher Sinn und welche
Bedeutung durch den Text transportiert werden soll. Die Anwendung dieser Methode
im hier interessierenden Zusammenhang ergibt sich daher von selbst.
c. Deduktion
Unter Deduktion wird im Allgemeinen das Ableiten von Aussagen über Einzelfälle aus
einer allgemeinen Theorie verstanden. Im gegebenen Zusammenhang wird Deduktion als
wissenschaftliche Methode eher spärlich eingesetzt.
d. Induktion
Induzieren wird im Allgemeinen beschrieben als das abstrahierende Schließen aus beobachteten
Phänomenen auf eine allgemeine Regel. Da diese Methode kontroversiell disku-
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Grundlagenpapier Integration
tiert wurde und ihre Ergebnisse stark kontextabhängig sind, soll sie nachfolgend sparsam
eingesetzt werden.
e. Vergleichende Betrachtungen (Synthese)
Am Ende dieser Arbeit wird versucht, die gewonnenen Erkenntnisse aus den unterschiedlichen
Methoden zu vergleichen und gegebenenfalls miteinander zu verschränken, sodass
daraus weiterer Erkenntnisgewinn gezogen werden kann.
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Grundlagenpapier Integration
TEIL B: POLITISCHE VORSTELLUNGEN UND FORDE-
RUNGEN DER FPÖ ZUM THEMA INTEGRATION
In diesem Abschnitt wird auf jene schriftlichen Dokumente der FPÖ Bezug genommen,
welche ihre konkreten Vorstellungen und Forderungen zum Thema Integration in offizieller
Weise widerspiegeln. Dabei liegt der Schwerpunkt vor allem auf dem aktuellen Parteiprogramm
der Bundespartei - zuletzt am 18.06.2011 in Graz beschlossen - sowie dem
„Handbuch freiheitlicher Politik“ in seiner 4. Auflage aus dem Jahr 2013.
1. DAS PARTEIPROGRAMM DER FPÖ (BUNDESPARTEI)
VOM 18.06.2011
Obwohl ein Parteiprogramm im Allgemeinen, so auch das gegenständliche der FPÖ,
Grundsatzcharakter besitzt und daher im Normalfall größtenteils abstrakt formuliert ist,
können insbesondere aus den Kapiteln „2) Heimat, Identität und Umwelt“ sowie „8) Bildung,
Wissenschaft, Kunst und Kultur“ einige wichtige Anhaltspunkte entnommen werden.
So wird in Kapitel 2 unter anderem formuliert, dass „Österreich […] kein Einwanderungsland
[ist]“ 3 und „[B]ereits integrierte, unbescholtene und legal anwesende Zuwanderer, die
die deutsche Sprache beherrschen, unsere Werte und Gesetze vollinhaltlich anerkennen
und sich kulturell verwurzelt haben, […] Heimatrecht und unsere Staatsbürgerschaft erwerben
können [sollen].“ 4
Ergänzend dazu finden sich in Kapitel 8 die Aussagen, dass die „Vermittlung von Werten
und Traditionen unseres Gemeinwesens […] die Hauptaufgaben der staatlichen Schul- und
Bildungspolitik“ 5 und aufbauend darauf „Kunst und Kultur in allen ihren Ausprägungsformen
[…] wesentliche Identitätsstifter unserer Gesellschaft [sind].“ 6
3 Parteiprogramm der FPÖ vom 18.06.2011, Kapitel 2) Heimat, Identität und Umwelt.
4 Parteiprogramm der FPÖ vom 18.06.2011, Kapitel 2) Heimat, Identität und Umwelt.
5 Parteiprogramm der FPÖ vom 18.06.2011, Kapitel 8) Bildung, Wissenschaft, Kunst und Kultur.
6 Parteiprogramm der FPÖ vom 18.06.2011, Kapitel 8) Bildung, Wissenschaft, Kunst und Kultur.
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Abgerundet werden diese Passagen des aktuellen Parteiprogramms von einem Absatz aus
Kapitel „9) Weltoffenheit und Eigenständigkeit“ in welchem es heißt: „Neben Eigenständigkeit
und Freiheit sind die Liebe zu unserer Heimat und den Menschen in unserem Land,
die Pflege unserer Traditionen, unserer Identität und unserer Kultur Grundlage für unsere
Weltoffenheit. Wer seine eigene Kultur und Herkunft schätzt, kann andere Kulturen aufrichtig
achten oder sich nötigenfalls ihrer erwehren, wenn sie aggressiven, unsere eigene
Kultur verdrängenden Charakter zeigen.“ 7
Insofern werden für den weiteren Verlauf folgende inhaltliche Kernaussagen des Parteiprogramms
festgehalten:
‣ Österreich ist kein Einwanderungsland 8 .
‣ Der Erwerb der Staatsbürgerschaft setzt unter anderem folgendes voraus:
o erfolgreiche Integration („bereits integrierte […] Zuwanderer“ 9 );
o vollinhaltliche Anerkennung unserer Werte („Werte und Gesetze vollinhaltlich
anerkennen)“ 10 ;
o kulturelle Verwurzelung („sich kulturell verwurzelt haben“ 11 ).
2. HANDBUCH FREIHEITLICHER POLITIK (4. AUFLAGE, 2013)
Dieses Handbuch ist laut Eigendefinition als Leitfaden für die Funktionäre und Mandatsträger
der FPÖ zu verstehen und enthält demgemäß nicht nur die wesentlichen Fragen der
je aktuellen politischen Großwetterlage, sondern möchte aus freiheitlicher Sicht auch entsprechende
Antworten geben.
Für das gegenständliche Thema ist vor allem relevant, welche Elemente aus freiheitlicher
Sicht die „österreichische Lebenswelt“ konstituieren und aufrecht erhalten. Diesbezüglich
werden insbesondere die Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit von Mann und
Frau 12 , entsprechende Entscheidungsfreiheit im Hinblick auf den Ehepartner (keine
Zwangsehen), das Vorhandensein tatsächlicher sexueller Integrität (keine Zwangsbe-
7 Parteiprogramm der FPÖ vom 18.06.2011, Kapitel 9) Weltoffenheit und Eigenständigkeit.
8 Parteiprogramm der FPÖ vom 18.06.2011, Kapitel 2) Heimat, Identität und Umwelt.
9 Parteiprogramm der FPÖ vom 18.06.2011, Kapitel 2) Heimat, Identität und Umwelt.
10 Parteiprogramm der FPÖ vom 18.06.2011, Kapitel 2) Heimat, Identität und Umwelt.
11 Parteiprogramm der FPÖ vom 18.06.2011, Kapitel 2) Heimat, Identität und Umwelt.
12 Handbuch freiheitlicher Politik, 4. Auflage, 2013, 50.
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schneidungen, „Nein“-Sagen-Können in der Ehe,…), 13 die Trennung von Staat und Religion,
der Vorrang der Geltung des staatlichen Rechts 14 sowie die Pflege der eigenen
Kultur als derartige Kernelemente angeführt. Dabei wird Kultur als die Gesamtheit aller
zivilisatorischer Ausdrucksformen verstanden, weshalb sie unter anderem Kommunikations-Systeme
wie Religion, Sprache, Kunst, Traditionen, Sitten, Gebräuche,… 15 umfasst. In
Summe stellt Kultur nach Ansicht der FPÖ den wahrnehmbaren Teil der Identität dar.
3. ZUSAMMENFASSUNG
Auf Basis der bisherigen Ausführungen versteht die FPÖ daher unter Integration folgendes:
Integration ist ein Prozess der Anpassung 16 , der je nach individueller Vorgeschichte
unterschiedlich lange andauert.
Es handelt sich um eine deutlich überwiegende Bringschuld des Zuwanderers.
Integration heißt in diesem Zusammenhang vor allem, dass sich der Zuwanderer
einfügt, eingliedert, einordnet und anpasst, sich daher im Wesentlichen innerhalb
der „österreichische Lebenswelt“ assimiliert.
Daher soll die Übernahme der wesentlichen, in Österreich vorherrschenden lebensweltlichen
Gepflogenheiten, Sitten, Wertvorstellungen und Regeln sowie
die gleichzeitige bzw. sukzessive Aufgabe der bisherigen Lebenswelt erfolgen und
zwar dann, wenn die bisherige mit der in Österreich vorherrschenden Lebenswelt
„inkompatibel“ erscheint.
Folgerichtig wäre daher nicht mehr von „Integration“, sondern von „Assimilation“
zu sprechen.
Als Abschluss des jeweiligen Integrationsprozesses kann, muss aber nicht, die Einbürgerung,
also die Verleihung der Staatsbürgerschaft stehen, wobei dies jedenfalls „ein verbindliches
Bekenntnis zu den Gesetzen und Werten unseres freiheitlich-demokratischen
Rechtsstaates“ 17 voraussetzen würde.
13 Handbuch freiheitlicher Politik, 4. Auflage, 2013, 50.
14 Handbuch freiheitlicher Politik, 4. Auflage, 2013, 51.
15 Handbuch freiheitlicher Politik, 4. Auflage, 2013, 258.
16 Hervorhebungen sind, soweit nicht anders angemerkt, nicht aus dem Original sondern vom Verfasser.
17 Handbuch freiheitlicher Politik, 4. Auflage, 2013, 48.
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TEIL C: ÜBERBLICK ZUM STAND DER WISSENSCHAFT
Bezugnehmend auf die gerade festgestellten Eckpunkte des Verständnisses der FPÖ von
Integration wird nachstehend ein Abriss von jenen wissenschaftlichen Positionen gegeben,
die zum auftragsgemäßen Thema passen sowie aussagekräftig und repräsentativ sind. Aus
Gründen der besseren Übersichtlichkeit werden sowohl Originalzitate angeführt, als auch
jene Stellen aus anderen Auftragsarbeiten des Verfassers 18 wiedergegeben, die das Wesentliche
gebündelt darstellen. Weiterführende Verweise, Quellenangaben und Literaturhinweise
finden sich in den jeweiligen Auftragsarbeiten des Verfassers.
1. Die „Klassiker“ der Soziologie
Max Weber gilt seit Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute in vielen wissenschaftlichen
Disziplinen als einer der im jeweiligen Fach einflussreichsten Wissenschafter, sein Gesamtwerk
lässt sich nach wie vor in keine „herkömmliche“ wissenschaftliche Disziplin
einordnen und betrifft vor allem, aber nicht nur, die Soziologie, die Politikwissenschaft, die
Volkswirtschaftslehre und die Rechtswissenschaft. Dabei wäre es durchaus denkbar gewesen,
dass Weber, ohne die Anstrengungen seiner Witwe Marianne Weber, Talcott Parsons
sowie Johannes Winckelmann, in Vergessenheit geraten wäre. Vor allem Parsons bereitete
mit seinen Übersetzungen von Webers Grundlagenwerken „Wirtschaft und Gesellschaft“
sowie „Die Protestantische Ethik“ in das Englische den Boden für die „Wiederentdeckung“
und Aufarbeitung des großen deutschen Soziologen. So ist es zu erklären, dass er als ein
„Klassiker“ der Soziologie gilt und ein Lebenswerk schuf, welches interdisziplinär und
quer durch die verschiedenen politischen sowie wissenschaftlichen Lager nach wie vor
anerkannt ist. Daher gilt er mit Fug und Recht als der Gründervater der deutschen Soziologie.
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Max Weber würde den Rahmen dieser Arbeit
bei Weitem sprengen, doch sollen nachfolgend einige wichtige Passagen Webers erläutert
werden:
„Die Frage aber, ob die als auffällig abweichend und also scheidend empfundenen Differenzen
auf ‚Anlage‘ oder ‚Tradition‘ beruhen, ist für ihre Wirksamkeit auf die gegensei-
18 Verwiesen sei beispielsweise auf das Analysedossier zu den Curricula der Österreichischen Integrationsfonds-Vertiefungskurse,
Eigenverlag, Wien, 2019.
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Grundlagenpapier Integration
tige Anziehung oder Abstoßung normalerweise gänzlich bedeutungslos. […] Die größere
oder geringere Leichtigkeit des Entstehens einer sozialen Verkehrsgemeinschaft (im möglichst
weiten Sinn des Wortes) knüpft erst recht an die größten Äußerlichkeiten der aus
irgendeinem zufälligen historischen Grunde eingelebten Unterschiede der äußeren Lebensgewohnheiten
genau ebenso an, wie das rassenmäßige Erbgut. Entscheidend ist vielfach
neben der Ungewohntheit abweichender Gepflogenheiten rein als solcher, dass die
abweichende ‚Sitte‘ in ihrem subjektiven ‚Sinn‘ nicht durchschaut wird, weil dazu der
Schlüssel fehlt. […] Die ursprünglichen Motive der Entstehung von Verschiedenheiten
der Lebensgepflogenheiten werden vergessen und die Kontraste bestehen als ‚Konventionen‘
weiter. Wie auf diese Art alle und jede Gemeinschaft sittenbildend wirken kann, so
wirkt auch jede in irgendeiner Weise, indem sie mit den einzelnen ererbten Qualitäten verschieden
günstige Lebens-, Überlebens- und Fortpflanzungschancen verknüpft, auf die
Auslese der anthropologischen Typen, also züchtend, ein, und zwar unter Umständen in
höchst wirksamer Art. […] Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von
Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an
Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinsamkeit
hegen, derart, dass dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig
wird, dann, wenn sie nicht ‚Sippen‘ darstellen, ‚ethnische‘ Gruppen nennen, ganz einerlei,
ob eine Blutsgemeinsamkeit objektiv vorliegt oder nicht. […] Die ‚künstliche‘ Art
der Entstehung eines ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens entspricht ganz dem uns bekannten
Schema der Umdeutung von rationalen Vergesellschaftungen in persönliche
Gemeinschaftsbeziehungen. Unter Bedingungen geringer Verbreitung rational versachlichten
Gesellschaftshandelns attrahiert fast jede, auch eine rein rational geschaffene,
Vergesellschaftung ein übergreifendes Gemeinschaftsbewußtsein in der Form einer persönlichen
Verbrüderung auf der Basis ‚ethnischen‘ Gemeinsamkeitsglaubens (Hervorhebungen
durch die Verfasser).“ 19
Und weiter:
„Neben wirklich starken Differenzen der ökonomischen Lebensführung spielten bei ethnischen
Verwandtschaftsglauben zu allen Zeiten solche der äußerlichen Widerspiegelungen,
wie die Unterschiede der typischen Kleidung, der typischen Wohn- und Ernährungsweise,
der üblichen Art der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und zwi-
19 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 5 , Verlag J.C.B. Mohr, Tübingen, 1976, S 235, 236 und 237.
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schen Freien und Unfreien: - alle solche Dinge also, bei denen es sich fragt: was für
‚schicklich‘ gilt und was, vor allem, das Ehr- und Würdegefühl des Einzelnen berührt - ,
eine Rolle. Alle diejenigen Dinge mit anderen Worten, welche wir später auch als Gegenstand
spezifisch ‚ständischer‘ Unterschiede wiederfinden werden.“ 20
Max Weber hält demgemäß also nicht die „großen“ Differenzen wie Blutsverwandtschaft,
Sprache, Religion, usw., für die wesentlichen Kriterien, die zur Bildung und Stabilisierung
von Gruppen führen, sondern die „ästhetisch auffälligen Unterschiede des Habitus“
sowie die Unterschiede „in der Lebensführung des Alltags“. Gerade diese „kleinen“
Unterschiede des täglichen Lebens sind es scheinbar, die für die jeweilige Gruppe von
großer Bedeutung sind. Jedenfalls sind diese Feststellungen bemerkenswert, da sie
auch unterstreichen, wie wichtig es für den Einzelnen und (s)eine Gruppe ist, dass die
jeweils eigenen „Zugänge zum Leben“ nicht nur zugelassen, sondern in irgendeiner
Form auch anerkannt werden. Denn ohne Anerkennung der (bestimmten) Ehre und
Würde durch die Gruppe wäre es für den Einzelnen nahezu unmöglich, sich diese selbst
zuzusprechen. Und ohne Anerkennung der (bestimmten) Gruppenehre und Gruppenwürde
durch eine oder mehrere andere Gruppen wiederum wäre es für die eine Gruppe nahezu
unmöglich, sich diese selbst zuzusprechen.
Ein anderer Pionier auf diesem Gebiet ist der Alt-Österreichische Rechtssoziologe Eugen
Ehrlich. Die von ihm aufgeworfenen Thesen haben unter anderem mit dem Faktum zu tun,
dass Ansichten, Meinungen, Traditionen, Kulturen, etc. seiner Ansicht nach „organisch
wachsen“, indem sie über längere Zeiträume entstehen, sich langsam verfestigen und
schließlich konstant von der jeweiligen Gruppe gelebt werden. Offensichtlich genießen
diese „Lebenstatsachen“ schon allein aufgrund ihres bloßen Bestehens die Anerkennung
der sie befolgenden Gruppe und verdienen gewissermaßen so ihr „Prüfsiegel“
durch ihren langjährigen Gebrauch und die inhärente Nützlichkeit. Damit geht einher,
dass derartige verfestigte Übungen des tatsächlichen Verhaltens jedweden von außen induzierten
Veränderungen gegenüber avers sind und demgemäß ein nicht zu unterschätzender
Aufwand erforderlich wird, um diese auf der gesellschaftlichen Metaebene fundierten Traditionen
abzuändern. Ehrlich schreibt dazu beispielsweise:
20 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 5 , Verlag J.C.B. Mohr, Tübingen, 1976, 238 und 239.
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„Ein gesellschaftlicher Verband ist eine Mehrheit von Menschen, die im Verhältnisse zu
einander gewisse Regeln als für ihr Handeln bestimmend anerkennen, und wenigstens
im Allgemeinen tatsächlich darnach handeln. Diese Regeln sind von verschiedener Art
und werden mit verschiedenen Namen bezeichnet: Regeln des Rechts, der Sittlichkeit, der
Religion, der Sitte, der Ehre, des Anstandes, des Taktes, des guten Tones, der Mode. […]
Diese Regeln sind gesellschaftliche Tatsachen, ein Erzeugnis der in der Gesellschaft
wirkenden Kräfte, und können nicht abgesondert von der Gesellschaft, in der sie wirken,
sondern nur in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhange betrachtet werden.“ 21
Und weiter:
„Wer auf Rückhalt in seinem Kreise angewiesen ist – und wer sollte es nicht? –, tut daher
gut, sich seinen Normen wenigstens im großen und ganzen zu fügen. Jeder Zuwiderhandelnde
muss damit rechnen, dass sein Verhalten den Zusammenhang mit den Seinen
lockern wird; wer sich beharrlich widersetzt, der hat selbst die Bande gelöst, die ihn mit
seinen bisherigen Genossen verknüpften, er wird allmählich verlassen, gemieden, ausgeschlossen.“
22
Ehrlich will darauf hinaus, dass die gegenseitige Abhängigkeit der Gruppenmitglieder,
ein gewisses Solidaritätsempfinden der Gruppe selbst bzw. den Gruppenmitgliedern
gegenüber sowie die Angst vor dem „Ausgeschlossen-Sein“ aus der Gruppe zu einem
Mechanismus führen, der den Fortbestand der Gruppe mittels eines gewissen Anpassungsdruckes
und eines mehr oder minder starken Gruppenzwanges absichert.
Als weiterer großer Klassiker der Soziologie gilt David Émile Durkheim, welcher am 15.
April 1858 in Épinal (Lothringen), Frankreich, als Sohn eines Rabbiners geboren wurde.
Während seiner akademischen Laufbahn war er Lehrbeauftragter für Soziologie und Pädagogik
in Bordeaux, damals die erste derartige Stelle an einer französischen Universität.
Dort erhielt er schlussendlich auch seine Professur für Pädagogik und Soziologie.
Eines seiner wesentlichsten Werke, „Physik der Sitten und des Rechts“, ist eine Zusammenstellung
von mehreren Vorlesungen, die Durkheim zuerst in Bordeaux und später in
Paris gehalten hat und vermittelt einen guten und vertiefenden Eindruck von seinen An-
21 Ehrlich, Eugen, Grundlegung der Soziologie des Rechts 3 , Duncker & Humblot, Berlin, 1967, 31.
22 Ehrlich, Eugen, Grundlegung der Soziologie des Rechts 3 , Duncker & Humblot, Berlin, 1967, 51.
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sichten und Thesen. Sie werden nachstehend in eigenen Worten und komprimierter Form
wiedergegeben, ohne jedoch ihren ursprünglich gemeinten Sinn zu verfälschen.
‣ Jeder Mensch ist Mitglied (zumindest) eines „Gemeinwesens“, also Mitglied in
diversen Gruppen. Diese Gruppen sind in ihrer Art sehr unterschiedlich und erfüllen
die verschiedensten Aufgaben. 23
‣ Innerhalb einer bestimmten Gruppe existiert eine bestimmte „Moral“ (hier
verstanden als ein System von Erwartungshaltungen und Verhaltensvorschriften),
die erst in der Gruppe selbst entstanden ist. Diese Moral ist, mit anderen
Worten, ein Netz an Verhaltensregeln, die auch durch Zwang durchgesetzt werden
(können). 24
‣ Die Mitglieder einer Gruppe müssen sich so verhalten, dass die weitere Existenz
ihrer Gruppe nicht gefährdet wird. 25 Verhalten, welches dem zuwiderläuft,
führt über kurz oder lang zur Instabilität der Gruppe.
‣ Eindeutige Trennstriche zwischen den zahlreichen, unterschiedlich großen Gruppen
können nicht gezogen werden. Vielmehr bestehen oftmals fließende Übergänge, die
zum Teil auch durch langsames Zusammenwachsen bzw. langsames Auseinanderstreben
entstanden sind bzw. entstehen. 26
‣ Je kleiner eine Gruppe ist, desto mehr „Autorität“ vermag sie über ein einzelnes
Mitglied auszuüben. Mit anderen Worten sinkt also der Konformitätsdruck,
wenn die Anzahl der Gruppenmitglieder steigt.
‣ Der Staat, als ein „Organ“ der Gesellschaften, dient dazu, die verschiedenen, auf
das Individuum wirkenden Drücke zu kompensieren und ermöglicht dadurch erst
Freiräume für das Individuum. 27
‣ Die Religionen geben zwar nicht das Abbild der naturwissenschaftlichen Wirklichkeit
wieder, doch stellen sie einen Fokus von jenen Vorstellungen dar, die die jeweilige
Gruppe über sich selbst und ihre Umwelt hat. 28
‣ Mit dem Schwinden des Glaubens an Gottheiten wird ersichtlich, dass nicht die
Gottheiten dem Menschen überlegen sind und verehrt wurden, sondern dass diese
Stellung die dem Einzelnen überlegene Gesellschaft (Gruppe) einnimmt. 29
23 Émile Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts 1 , Verlag Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1999, 9 und 16.
24 Ebenda, 17.
25 Ebenda, 27.
26 Ebenda, 71.
27 Ebenda, 92.
28 Ebenda, 223 und 224.
29 Ebenda, 237 und 238.
19
Grundlagenpapier Integration
Diese Erkenntnisse und Ausführungen werden nun sowohl um Stellungnahmen weiterer
Größen der Soziologie angereichert, als auch um wichtige Kommentare aus dem Bereich
der Kulturanthropologie ergänzt.
‣ Nach Bourdieu ist die Zugehörigkeit zu Gruppen verschiedenster Art wichtiger
Bestandteil des Wesens des Menschen; 30
‣ Für das dauerhafte Bestehen (irgend)einer Gruppe ist ein ausreichendes Maß an
Homogenität innerhalb der Gruppe notwendig; 31
‣ Diese Analyse trifft sich mit den Thesen von Max Weber, der unter anderem davon
ausgeht, dass sich die identitätsstiftende Wirkung von Gemeinsamkeiten auch
dann entfaltet, wenn die Gemeinsamkeiten bloß fiktiver Natur (also „eingebildet“)
sind; 32
‣ Gellner betrachtet „Kultur“ als die gemeinschaftliche Ausdrucksweise einer gegebenen
Gruppe, weiters ist kulturelle Vielfalt ein zentrales Merkmal menschlicher
Existenz; 33
‣ Dabei besteht aber kein Widerspruch zwischen der allgemeinen Kulturfähigkeit
des Menschen einerseits (siehe dazu vor allem Gellner, Weber und Antweiler)
und die Vielfalt der Kulturen andererseits, da das Prinzip der Ähnlichkeit die
jeweils Ähnlichen zusammenbringt und in weiterer Folge auch (gemeinsam mit
anderen wichtigen Faktoren) zusammenhält;
‣ Putnam geht davon aus, dass die gesellschaftlichen Bindekräfte eine zentrale Ressource
jedweder Gesellschaft sind. Diese Bindekräfte setzen einerseits Gemeinsinn
voraus, also die freiwillige Bereitschaft sich gemäß den gemeinschaftlichen
Regeln der Gruppe zu verhalten und dabei grundsätzlich wohlwollend zu
sein, sowie andererseits ein Gefühl der Verantwortlichkeit, auch für die anderen
Gruppenmitglieder bzw. die Gruppe als eigene Entität;, 34
‣ Auf nationalstaatlicher Ebene erwarten sich gemäß den Ansichten von Bauman die
meisten Angehörigen vom staatlichen Überbau, dass er ihnen Schutz und Sicherheit
bietet. Herrscht allerdings keine Klarheit mehr über die wesentlichen Werte
30 Pierre Bourdieu, Die verborgenen Mechanismen der Macht, Schriften zu Politik & Kultur1, VSA Verlag,
Hamburg, 2015, 63f.
31 Bourdieu, Mechanismen, 63f.
32 Weber, Wirtschaft, 235, 236 und 237.
33 Ernest Gellner, Nationalismus -Kultur und Macht, Siedler Verlag, Berlin, 1999, 28.
34 Robert Putnam (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn, Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, 2001, 15ff.
20
Grundlagenpapier Integration
oder die richtigen Formen des Zusammenlebens innerhalb der gegebenen Sozietät,
dann wird nicht nur die Schutzfunktion des staatlichen Überbaus geschwächt,
sondern geht darüber hinaus auch die fundamentale Vertrauensbasis
verloren, ohne die ein gedeihliches Zusammenleben unvorstellbar scheint; 35
‣ Die Verwandtschaftsbeziehung gilt nach Antweiler, Markl und Hofstede et al.
als Basis für den Nepotismus, also die Bevorzugung der jeweils „Eigenen“,
auch entgegen anderslautender Normen. Die Familie ist daher das Herz der
kulturellen Reproduktion;
‣ Abseits jedweder moralischer Bewertung ist nach Antweiler zur Kenntnis zu nehmen,
dass die Unterscheidung in die (so oder anders benannte) Kategorien
„Verwandte“, „eigene Kultur“ und „Fremde“ menschliches Allgemeingut ist
und daher als wesentlicher Verhaltensmaßstab für weitere Überlegungen
zugrunde gelegt werden sollte; 36
‣ Die Aussage „Kultur besteht aus den ungeschriebenen Regeln des sozialen
Miteinanders.“ stellt eine zentrale Einsicht der Forschungsarbeit von Hofstede
et al. dar; 37
‣ „Die meisten Menschen bemühen sich die meiste Zeit gute Mitglieder ihrer Gruppe
zu sein bzw. zu bleiben. Sie zeigen es durch ihre Kleidung, ihre Bewegungen, der
Art zu Sprechen, ihren Besitz und ihre Arbeit. Sie verbringen Zeit in diesen Gruppen
mit Ritualen und Bräuchen, die sie stärken: reden, lachen, spielen, berühren,
singen, spielerisch kämpfen, essen, trinken, usw.“ 38
‣ „Menschen zeichnen eine gedachte Linie um die, die sie zu ihrer Gruppe zählen.
Nur Mitglieder, die durch diesen moralischen Kreise abgegrenzt sind, haben alle
diesbezüglichen Rechte und Pflichten.“ 39
35 Bauman, Zygmunt, Gemeinschaften 4 , Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2017, 120ff.
36 Christoph Antweiler, Was ist den Menschen gemeinsam - Über Kultur und Kulturen 2 , Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, Darmstadt, 2009, 182f und 188.
37 Geert Hofstede (Hrsg.), Cultures and Organizations – Software of the mind, McGraw Hill Verlag, New
York, 2010, 5f.
38 Hofstede, Cultures, 17.
39 Hofstede, Cultures, 12.
21
Grundlagenpapier Integration
2. Zeitgenössische Forscher und Beiträge des Österreichischen Integrationsfonds
Die gerade dargestellten Ausführungen von zahlreichen Klassikern und Geistesgrößen aus
verschiedenen Wissensgebieten, vornehmlich der Soziologie, sollen nun um zeitgenössische
Beiträge wie folgt angereichert werden:
„Homogenität einer Gesellschaft bedeutet nicht einfach Vereinheitlichung. Homogenität
einer Gesellschaft bedeutet vielmehr die Sekundarisierung der Unterschiede. Homogen ist
eine Gesellschaft nicht, wenn es keine Unterschiede mehr gibt. Homogen ist eine Gesellschaft,
wenn die Unterschiede zweitrangig werden, wenn die Unterschiede sekundär werden
- angesichts des Gemeinsamen. Dieses Gemeinsame, das der nationale Typus bereitstellt,
beruht auf dem Prinzip der Ähnlichkeit: In dessen Gestalt können sich alle Mitglieder
der Nation wiedererkennen. […] In diesem Sinne war die Nation der Versuch, die
Gemeinschaft unter den Bedingungen der Moderne in die Gesellschaft einzuführen - eine
vorgestellte Gemeinschaft, die suggeriert, einander völlig Unbekannte würden einen Verbund
von Gleichen, von Ähnlichen bilden. Die Erzählung von der Nation war also ein
Weg, in Massengesellschaften tatsächliche Bindungen herzustellen (Hervorhebungen
durch die Verfasser).“ 40
Es dürfte wenig überraschen, dass auch und gerade der Österreichische Integrationsfonds
durch seine jahrzehntelange Tätigkeit in diesem Bereich auf eine reichhaltige Erfahrung
und Kompetenz für den gegebenen Zusammenhang verweisen kann. Von den diversen,
zur Verfügung stehenden Publikationen wird hier vor allem auf die Skriptenreihe
„Perspektiven Integration“ eingegangen.
Den Anfang macht die Ausgabe „Heimat und Identität“, wobei sich bereits aus dem Titel
eine gewisse Nähe zu den hier interessierenden Themen ableiten lässt. Im Vorwort
schreibt Franz Wolf als Direktor des Herausgebers folgende bemerkenswerten Zeilen:
„Neben Sprache, Kultur und der Pflege von Traditionen werden Werte wie etwa soziale
Gerechtigkeit, Umweltschutz oder Sicherheit als zentral für das funktionierende Zusam-
40 Isolde Charim, Ich und die Anderen - Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert 2 , Paul Zsolnay Verlag,
Wien, 2018, 21.
22
Grundlagenpapier Integration
menleben in Österreich gesehen. Zugehörigkeit, Heimat und Identität sind jedenfalls keine
unbedeutenden Felder in der Integrationsdebatte. Wie entsteht Zugehörigkeit eines
Zuwanderers oder Flüchtlings im neuen Land, ab wann wird es zu seiner Heimat?“ 41
Die Frage nach der Zugehörigkeit eines Menschen zu bestimmten Gruppen wirft sich -
denklogisch - erst dann auf, wenn man die Existenz von Verschiedenheit implizit voraussetzt,
da andernfalls alle Menschen zu einer - nämlich zur selben - Gruppe gehören würden.
Ulrich Greiner, ehemaliger Feuilletonchef der „Zeit“ und seit 2011 Präsident der Freien
Akademie der Künste in Hamburg formuliert es so:
„Den Weltbürger gibt es nicht. Es gibt ihn als Idee, aber nicht de facto. […] In Zeiten wie
diesen stellt sich die Frage: Wer sind wir im Vergleich zu denen, die zu uns kommen?
Diese Frage stellt man sich ja normalerweise nicht. Aber wenn Menschen kommen, die
anders aussehen, eine andere Sprache sprechen, aus einer anderen Kultur stammen, anderen
Bräuchen und Regeln folgen, dann stellt man sich die Frage nach der eigenen Identität.
[…] Man begegnet einer ganz anderen Kultur, einer anderen Lebensweise. Somit stellt
sich die Frage nach Heimat und Identität, wie sie sich in dieser Deutlichkeit vorher
nicht gestellt hat.“ 42
Und weiter:
„Das Fremde ist immer interessant. Das ist der Grund, warum wir verreisen. Wenn wir
kein Interesse am Fremden hätten, würden wir zu Hause bleiben. Die Frage lautet aber:
Wo taucht das Fremde auf? […] Wenn ich mich beispielsweise zu einem Stadtviertel und
seinen Menschen zugehörig fühle bzw. dort beheimatet bin, reagiere ich verstört oder verärgert
darauf, wenn mir das Gewohnte plötzlich fremd gemacht wird. Das ist doch ganz
normal. […] Was gegenwärtig verschärfend hinzukommt, ist das Tempo, mit dem sich das
Gewohnte verändert. Das überfordert viele von uns. Der Mensch ist so veranlagt, dass er
nur ein bestimmtes Maß an Veränderung verträgt.“ 43
41 Franz Wolf, Perspektiven Integration „Heimat und Identität“, Österreichischer Integrationsfonds, Eigenverlag,
Wien, 2018, 3.
42 Ulrich Greiner, Perspektiven Integration „Heimat und Identität“, Österreichischer Integrationsfonds, Eigenverlag,
Wien, 2018, 6.
43 Ulrich Greiner, Perspektiven Integration „Heimat und Identität“, Österreichischer Integrationsfonds, Eigenverlag,
Wien, 2018, 7.
23
Grundlagenpapier Integration
Wie sehr die Frage der Zugehörigkeit für das praktische Leben der Menschen Bedeutung
hat, unterstreicht die ehemalige österreichische Außen- und Europaministerin und derzeitige
österreichische Botschafterin in der Schweiz, Ursula Plassnik, mit folgenden Ausführungen:
„Zugehörigkeit ist ein unentbehrlicher Stabilitätsfaktor für die Gesamtgesellschaft. Nur
wer sich heimisch fühlt, wird für die Gemeinschaft und ihr Funktionieren auch Verantwortung
übernehmen. Sich heimisch fühlen ist die emotionale Komponente der erfolgreichen
Landung in einem neuen Land. […] Gemeinsame kulturelle Identität schafft die Möglichkeit
von Zugehörigkeit und Anerkennung, ohne dadurch andere Menschen auszuschließen.
Die Verbundenheit untereinander besteht in einer bestimmten Art, Musik zu machen, zu
sprechen, sich zu kleiden, einander zu begegnen, Gastfreundschaft zu üben, Hilfe zu leisten.
Erkennbarkeit ist Teil von Zugehörigkeit, früher hatten in meiner Heimat Kärnten die
Kleider der Frauen unterschiedliche Muster. […] Dazu kommen noch Umgangsregeln, die
so selbstverständlich sind, dass sie meist gar nicht in Gesetzesform festgehalten werden
müssen. Wir schauen einander ins Gesicht, Frauen und Männer geben einander die
Hand, Mädchen haben denselben Zugang zu Bildung wie Buben, inklusive Schwimmunterricht.
Keine Religion steht über dem Staat. Der Staat und er allein hat das Gewaltmonopol.
Diese Grundlagen dürfen nicht durch Parallelordnungen infrage gestellt, aufgeweicht
oder untergraben werden.“ 44
In eine ähnliche Kerbe, wenngleich mit einem anderen Schwerpunkt, schlägt Herwig Hösele,
derzeitiger Generalsekretär des Zukunftsfonds der Republik Österreich und Koordinator
der Dialogreihe Geist & Gegenwart:
„Vertrauen ist die Grundressource einer erfolgreichen und friedlichen Gesellschaft. […]
Freilich, je heterogener eine Gesellschaft ist, umso größer können Berührungsängste
und Misstrauen werden. Es ist deshalb notwendig, die realen Probleme zu benennen, über
Diversität und Heterogenität aufzuklären, zu informieren und um Verständnis zu werben -
aber mit einem positiven Zugang. […] Gemeinsame kulturelle Identität hat sicher etwas
mit gemeinsamer Sprache und Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe, Religion, Ethnie,
Region, einem Land, einer Nation zu tun. […] Es kann keine kulturelle Einheitsidentität
44 Ursula Plassnik, Perspektiven Integration „Heimat und Identität“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2018, 13ff.
24
Grundlagenpapier Integration
geben, sondern nur Vielfalt in einem einheitlichen Verständnis nicht verhandelbarer
Grundwerte, die eigentlich in allen Kulturkreisen respektiert und gelebt werden sollten.“ 45
Zusätzlich zu diesen Grundvoraussetzungen erachtet er aber auch die Bereitschaft, willentlich
Teil der neuen Gruppe zu werden, als fundamentale Voraussetzung einer gelingenden
„Beheimatung“.
„Sprachkenntnisse und der Respekt vor den Grundwerten des liberalen Rechtsstaates,
der Demokratie und der unteilbaren Menschenrechte - also der Hausordnung in Österreich
und des demokratischen Europa - sind wohl die Basisvoraussetzungen. […] Es
muss auch der Wille und die Bereitschaft vorhanden sein, sich aktiv in die Aufnahmegesellschaft
einzubringen. […] Wie schon gesagt zählen die Sorgen vor einem Kontrollverlust,
einer unkontrollierbaren Zuwanderung und einer nicht sanktionierten Missachtung
der österreichischen Hausordnung zu den größten potenziellen Konfliktfeldern. Hier muss
staatliches Handeln verständnisvoll, aber kompromisslos sicht- und spürbar werden.“ 46
Eine andere Ausgabe von „Perspektiven Integration“ steht im Zeichen von „Gemeinschaft,
Zusammenhalt und Identität“, wobei auch hier offensichtlich ist, dass Auszüge
daraus für den gegebenen Zusammenhang voraussichtlich relevant sein werden.
Christian Stadler, Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Wien und Mitglied
des Expertenrates für Integration, äußert sich zu den Vorbedingungen des gesellschaftlichen
Zusammenhalts wie folgt:
„Im Sinne einer vorausschauenden Politik wäre es daher hoch an der Zeit, sich - noch vor
deren sichtbarem Verfall - über Wesen und Wert des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu
vergewissern, um geeignete Maßnahmen ergreifen zu können, der drohenden Erosion entgegenzusteuern.
[…] Ja, gesellschaftlicher Zusammenhalt ist kein ‚Naturzustand‘, der
einfach ‚da‘ ist. Gesellschaftliche Kohäsion bedeutet jedenfalls mehr als ein System von
Wechselbeziehungen einigermaßen gerechten Interessenausgleichs. Diesen kann ich in
Wahrheit erst sicherstellen, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt gegeben ist, da
45 Herwig Hösele, Perspektiven Integration „Heimat und Identität“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2018, 46.
46 Herwig Hösele, Perspektiven Integration „Heimat und Identität“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2018, 48f.
25
Grundlagenpapier Integration
ansonsten die Bedingungen und Regeln dieses Zusammenhalts täglich neuverhandelt
werden müssten […].“ 47
Damit sind weitreichende, praktische Konsequenzen verbunden, geht es doch um nichts
Geringeres als den sozialen Zusammenhalt an sich, welcher verhindert, dass eine konkrete
Gesellschaft auseinander driftet. Stadler sieht diesen auch als unbedingte Voraussetzung
für eine liberale Gesellschaft, wenn er meint:
„Wenn diese Faktoren gemeinschaftlicher Vergewisserung und Orientierung verblassen,
kann das - wie schon erwähnt - zu gesellschaftlichen Friktionen führen […]. Ebenso geht
das Vertrauen in die Mitbürgerschaft von modernen Gesellschaften zunehmend verloren,
da man nicht mehr sicher wissen kann, welche Verhaltensweisen, Wertungen und Einstellungen
mein Gegenüber auf der Straße, in der U-Bahn, in einem Supermarkt etc. prägen
[…] Es erschließt sich für eine liberale Gesellschaftstheorie, dass nur eine Gesellschaft,
die auf einem soliden gemeinsamen Wertfundament ruht, auch tatsächlich liberal verfasst
sein kann. Werte sind sittliche Haltungen, die in einem hohen Ausmaß eine Selbstbindung
(ethische Dimension), aber auch Selbstvergewisserung (hermeneutische Dimension)
leisten und solcherart zu einem Grundvertrauen in der Erwartung der Handlungsoptionen
des jeweiligen Gegenübers führen.“ 48
Und weiter:
„Migration ist ein weiterer Faktor, da Zuwanderer - zumal aus ‚fernen‘ Kulturräumen -
all diese lokalen Voraussetzungen, Bedingungen, Traditionen und Wertungen, denen
sich das Funktionieren des österreichischen Staats- und Gemeinwesens verdankt, nicht
kennen können. […] Falls aber eine Gesellschaft dieses gefestigte Wert- und Orientierungsfundament
nicht (mehr) aufweist, dann ist es sehr fraglich, wie lange sie noch als
liberale Gesellschaft weltoffen und tolerant bleiben, ja inwieweit sie dann noch die Kraft
zur notwendigen Integration aufbringen kann.“ 49
47 Christian Stadler, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 5.
48 Christian Stadler, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 6.
49 Christian Stadler, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 9.
26
Grundlagenpapier Integration
In ähnlicher Weise sieht es auch Matthias Beck, Universitätsprofessor für Moraltheologie
an der Universität Wien, der darüber hinaus auch dem Phänomen der Kultur einerseits sowie
der Anzahl der zu integrierenden Menschen andererseits große Bedeutung einräumt.
„Der Zusammenhalt einer Gesellschaft besteht unter anderem darin, dass sich alle Mitglieder
mit den Grundwerten der Gesellschaft, der Kultur und dem Rechtssystem im weitesten
Sinne identifizieren können oder zumindest deren Grundbestand akzeptieren. […]
Das darf aber nicht bedeuten, dass ein Land wie Österreich seine eigenen Wertvorstellungen
relativiert oder aufgibt. Sie haben sich als sehr tragfähig erwiesen. Man braucht klare
Standpunkte, um überhaupt diskussionsfähig zu sein und ringen zu können, um den rechten
Fortgang der Demokratie.“ 50
„Je inhomogener eine Gesellschaft ist und je mehr unterschiedliche Kulturen und Religionen
aufeinandertreffen, desto größer ist die Gefahr der Verunsicherung der Menschen
und die Gefahr der Desintegration. […] Bei der Integration von Flüchtlingen geht
es aber auch um die Zahl der Menschen, die aus fremden Kulturen kommen. In eine
Gruppe von 20 Menschen sind vielleicht fünf oder sechs Hinzukommende zu integrieren,
aber nicht 20. […] Die Kultur spielt eine ganz bedeutsame Rolle bei Integration, oft eine
größere als die Religion. Menschen haben bestimmte kulturelle Verhaltensmuster gelernt
bis hin zu Esskulturen, Höflichkeitsregeln, Gesprächskultur oder die Kultur der
religiösen Rituale.“ 51
Aus Sicht von Beck stellt dies nicht bloß eine große Herausforderung dar, sondern ist der
Hauptteil der Integrationsarbeit in den kleinteiligen Strukturen der Gesellschaft, also in den
Gemeinden, Vereinen und innerhalb der oder zwischen den Familien, zu leisten.
„Die meiste Arbeit muss wohl die Gemeinde vor Ort leisten oder die noch kleinere Struktur
der Familie. […] Das größte Problem für die Flüchtlinge sind die fremde Sprache,
die andere Religion und Kultur (oder auch gar keine Religion), andere Gebräuche und
schließlich eine andere Rechtsform als in ihren Herkunftsländern.“ 52
50 Matthias Beck, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 19.
51 Matthias Beck, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 20.
52 Matthias Beck, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 21.
27
Grundlagenpapier Integration
Dieses Gefühl der Fremdheit betrifft nun seiner Meinung nach nicht nur die Gruppe der zu
Integrierenden, sondern aufgrund quantitativer Ausmaße von Migration auch die Gruppe
der Ansässigen, Beck formuliert es so:
„Der Graben zwischen den politischen und wirtschaftlichen Situationen zwischen den
Herkunftsländern und unserer hochentwickelten technisierten Kultur, aber auch die ethischen
Standards von Menschenwürde, Gleichheit aller Menschen mit Sozialsystemen ist
für manche fremd und überfordert die Menschen. Umgekehrt fühlen sich Österreicher -
wie gesagt - an den Rand gedrängt, wenn sie von zu vielen Ausländern umgeben sind
und kein deutsches Wort mehr hören. […] Integration ist ohne Zusammenhalt nicht möglich,
alle müssen zusammenarbeiten. Beide Bereiche bedingen einander. Ohne Integration
kein Zusammenhalt und ohne Zusammenhalt keine Integration.“ 53
Harald Katzmair, ein Experte aus dem Feld der Analyse von Beziehungs- und Kommunikationsnetzwerken
sowie Gründer und Geschäftsführer von FASresearch, sorgt sich in
diesem Zusammenhang vor allem um die Zukunft, genauer gesagt um die Frage, ob in unserer
Gesellschaft eine gemeinsame Vorstellung von konkreter Zukunft existiert bzw. diese
Perspektive für alle verbindlich geschaffen werden kann.
„Zusammenhalt ist die wesentliche Voraussetzung von koordinierter Strategie- und
Handlungsfähigkeit. Dort, wo der Zusammenhalt verloren ist, zerstreuen sich die Kräfte,
die Potenziale können nicht mehr abgerufen werden. […] Dauerhafte Beziehungen und
ein Gefühl der Verbundenheit entstehen dort, wo wir das Gefühl haben und auch die Erfahrung
machen, dass wir uns auch morgen und übermorgen und darüber hinaus noch
begegnen werden. Es geht also um die Länge des „Schattens der Zukunft“. […] Auch
plurale Gesellschaften können nur funktionieren, wenn es eine starke gemeinsame Zukunftsvorstellung
gibt. Eine Zukunft, in der für alle Beteiligten ein Platz ist. Wenn diese
gemeinsame Zukunftsvorstellung fehlt, wenn gemeinsame Zugänge in diese Zukunft fehlen,
sind diverse Gesellschaften leichter dafür anfällig, dass ethnische Zugehörigkeiten zu Demarkationslinien
werden.“ 54
53 Matthias Beck, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 22.
54 Harald Katzmair, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 25f.
28
Grundlagenpapier Integration
Um schon heute einen positiven Ausblick in die Zukunft wagen zu können, wäre es aus
seiner Sicht als Vorfragen zu klären, „wer wir sind“, „was sind unsere Werte“, „wer gehört
zu diesem ‚Wir‘“, usw. Fragen dieser Art betreffen nicht nur den Kern der jeweils eigenen
Identität, sondern stellen sich im Allgemeinen auch erst dann, wenn auf dieser Ebene Probleme
virulent werden. Katzmair äußert sich dazu wie folgt:
„Die Flüchtlingsintegration stellt zunächst vor allem eine Beziehung auf die Probe: die
Beziehung zu uns selber. Wer sind wir, wer wollen wir werden, was sind unsere Werte,
was ist uns bedeutsam und wichtig, wer gehört zu diesem ‚Wir‘ und wer nicht, wo ziehen
wir die Grenzlinie? […] Das völkisch-ethnische Modell hat die Besonderheit, dass die
Identität über die Vergangenheit und nicht über die Zukunft konstruiert wird. Der ‚Neue‘
muss vollständig in der Kultur einer homogenen Vergangenheit, also Traditionen, assimiliert
werden, der ‚Neue‘ kann die Vergangenheit gewissermaßen nicht verändern.“ 55
Und weiter:
„Das liberale Modell bedarf sicherlich einer grundsätzlichen Weiterentwicklung. Die Konzentration
der Macht in den Händen kleiner Gruppen oder Einzelpersonen ist immer ein
Zeichen einer großen Fragmentierung und Desintegration. […] Uns fehlt schon seit Jahren
ein produktiver Diskurs über die Zukunft, wer wir als ‚Österreich‘ sein wollen, was
unsere spezielle Rolle und Aufgabe sein kann. Wir sind mit uns selbst nicht im Reinen,
mögen uns selbst nicht besonders und tun uns daher auch schwer mit ‚Anderen‘.“ 56
Die Tatsache der sozialen Differenzierung, Abgrenzung und Unterscheidung zwischen
Gruppen stellt auch für Eva Grabherr, Geschäftsführerin der Projektstelle für Zuwanderung
und Integration „okay.zusammenleben“ sowie Mitglied im Expertenrat für Integration, ein
zentrales Moment im Hinblick auf Integration im weitesten Sinne dar. Vor allem die „negative
Seite“ dieses Allgemeinguts menschlichen Sozialverhaltens kann laut Grabherr mitunter
vor große Probleme stellen:
„Wir wissen, dass die Unterscheidung nach ‚der/die gehört zu meiner Gruppe‘ bzw.
‚der/die gehört zu einer anderen Gruppe‘ eine Art Schlüsselunterscheidung für mensch-
55 Harald Katzmair, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 27.
56 Harald Katzmair, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 29.
29
Grundlagenpapier Integration
liches Sozialverhalten ist. Positiv gesprochen kann man sagen, diese Unterscheidung
treffen zu können ist die Basis für solidarisches Verhalten, denn das muss sich in der
diesseitigen Welt mit ihren begrenzten Ressourcen an Grenzen orientieren. Den Blick auf
das Negative dieser Dynamik gerichtet kann man sagen, dass sie die Vorbedingung für
gruppenbezogene Ablehnungen und damit Aggression bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen
darstellt.“ 57
Um diesem Problem beizukommen, schlägt Grabherr unter anderem vor, Integration im
Besonderen als „kulturelle Integration“ zu verstehen und durchzuführen. Sie meint damit
bspw. das Vermitteln der Kenntnis jener ungeschriebenen Regeln, die für das gedeihliche
und gesellschaftlich anerkannte Zusammenleben in der neuen Heimat wesentlich sind.
„Plurale bzw. multikulturelle Gesellschaften sind an sich ein guter Nährboden für gruppenbezogene
Vorurteile, denn diese stehen in einem engen Zusammenhang mit der schon
erwähnten ‚Schlüsselunterscheidung für menschliches Sozialverhalten‘ in Form der Unterscheidung
‚Wir‘ und den ‚Anderen‘. […] Strukturelle Integration erfordert kulturelle
Integration. Beispielsweise, wenn es um Landessprachkenntnisse geht, aber natürlich
auch um Kenntnisse von Regeln und Codes.“ 58
Die Ausgabe „Parallelgesellschaften“ der Reihe „Perspektiven Integration“ setzt sich - der
Titel verrät es bereits - mit jenem gefürchteten Phänomen und seinen Ursachen auseinander,
welches vor allem dann auftritt, wenn Integration nicht gelungen, sondern fehlgeschlagen
ist. Franz Wolf zeigt in seinem Vorwort zu dieser Folge einige für ihn besonders
prägnant erscheinende Wesensmerkmale auf und schreibt:
„Gerade in Großstädten wie Wien sind in einzelnen Bezirken und Stadtvierteln bereits
Tendenzen zu Segregation vorhanden. Patriarchale Strukturen, fehlende Sprachkenntnisse,
mangelnde Arbeitsmarktintegration, ethnische bzw. religiöse Abschottung und
daraus resultierend die völlige Abkapselung einzelner Bevölkerungsgruppen sind die
Folgen solcher fälschlicherweise tolerierten Gegengesellschaften. Gegenentwürfen zu
einer solidarischen Gemeinschaft in Österreich gilt es mit sachlicher und offener Diskussion
über Herausforderungen des Zusammenlebens, zielgerichteten Integrationsmaßnahmen
57 Eva Grabherr, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 35.
58 Eva Grabherr, Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018, 37.
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Grundlagenpapier Integration
sowie klarer Kommunikation von Rechten und Pflichten entgegenzutreten. […] Integration
verlangt gemeinsame Sprache, Bildung, den Einstieg in die Erwerbstätigkeit und die
Wertschätzung für ein Lebensmodell, das auch auf die Freiheit des Einzelnen ausgerichtet
ist. Österreichs Integrationsverständnis zielt auf einen Grundkonsens im gemeinsamen
Zusammenleben ab.“ 59
Elham Manea eine international angesehene, schweizerisch-jemenitische Politologin und
Expertin für islamischen Fundamentalismus sieht vor allem die Ausbreitung der von ihr so
genannten „geschlossenen Gesellschaften“ als Gefahr für den sozialen Frieden und macht
als Gründe für deren Entstehung vor allem geltend:
„Die Ausbreitung von geschlossenen Gesellschaften gefährdet - im Verbund mit anderen
Entwicklungen - die soziale Kohäsion, welche das eigentliche Fundament von demokratisch-freiheitlichen
Rechts- und Wohlfahrtsstaaten bildet. Zugleich sind in geschlossenen
Gesellschaften ihre schwächsten Mitglieder, zumeist Kinder und Frauen, am wenigsten vor
Willkür und Misshandlungen geschützt. 60
Und weiter:
„Ich kenne vor allem die Situation in Großbritannien. Dort haben folgende Faktoren eine
maßgebliche Rolle gespielt: Zum einen wurden zu viele staatliche Aufgaben an Nichtregierungsorganisationen
abgegeben und damit wurde die Kontrolle darüber verloren.
Zum anderen führten eine falsch verstandene Toleranz und eine Politik des Multikulturalismus
zu weitrechenden Zugeständnissen in Bezug auf Gruppenrechte von Minderheiten.
So haben islamistische Gruppen schon vor mehr als 40 Jahren Sonderrechte wie
Halal-Essen, Verschleierung von Mädchen oder separate Gebetsräume für muslimische
Schüler eingefordert und bekommen. […] Die Behörden reagierten damals so hilflos wie
heute.“ 61
59 Franz Wolf, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds, Eigenverlag,
Wien, 2017, 3.
60 Elham Manea, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 5.
61 Elham Manea, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 7.
31
Grundlagenpapier Integration
Ruud Koopmans, einer der bekanntesten Migrationsforscher in Europa und Direktor am
Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin, betrachtet Parallelgesellschaften wiederum
an und für sich als ausschließlich nachteilig und zwar für alle Beteiligten. Er macht
dafür vornehmlich drei Ursachen aus:
„Parallelgesellschaft ist ein politischer Begriff und wird in der Wissenschaft nicht benutzt.
Wir ziehen die Bezeichnung Segregation vor. Das bedeutet - in Bezug auf soziale Beziehungen
- mehr oder weniger das Gegenteil von Integration. Dass also Personen, die unterschiedlichen
Gruppen angehören, in unterschiedlichen sozialen Welten verkehren. […]
Die Probleme lassen sich grundsätzlich in drei Bereiche gliedern. Erstens: Die Segregation
hat negative Effekte auf die Integration der Zuwanderer selbst. Wenn Migranten in
segregierten sozialen Netzwerken verkehren, gibt es weniger Gelegenheiten, um beispielsweise
die Sprache der Mehrheitsgesellschaft zu lernen und zu pflegen. Segregation begrenzt
sich aber nicht nur auf die Sprache, sondern auch auf soziale Kontakte, was wiederum
Folgen für den Arbeitsmarkt haben kann.“ 62
„Zweitens: Segregation führt dazu, dass die Ressentiments und Vorurteile aufseiten der
Mehrheitsgesellschaft verstärkt werden - wiederum aus einem Mangel an Information.
[…] [Drittens:] Segregation hat negative Effekte auf die Gesellschaft insgesamt, und
zwar bei der Solidarität und dem Vertrauen - beides Voraussetzungen für sogenannte
Kollektivgüter. […] Der Sozialstaat lebt im Wesentlichen davon, dass ihn die Bürger nur
dann in Anspruch nehmen, wenn sie ihn wirklich brauchen. Solidarität lebt davon, dass wir
darauf vertrauen, dass sie nicht missbraucht wird. Wenn man in einer Gesellschaft einander
aber nicht kennt, sinkt die Bereitschaft, einen Beitrag zum Sozialstaat zu leisten.“ 63
Und weiter:
„Heterogenität ist also eine große Herausforderung für Kollektivgüter. Diversität in einer
Gesellschaft ist schon mit gelungener Integration nicht einfach. Richtig schwierig wird es,
wenn Diversität auf Segregation trifft. […] Der erste wichtige Schritt ist die Erkenntnis,
dass Segregation schädlich ist. Es ist immer noch ein weitverbreiteter Mythos, dass Segregation
per se nichts Schlechtes ist, sondern sich Zuwanderer ganz im Gegenteil durch
62 Ruud Koopmans, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 11.
63 Ruud Koopmans, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 11f.
32
Grundlagenpapier Integration
eine starke Gruppenbildung in Parallelgesellschaften erfolgreich integrieren. […] Aber
wenn ich ein Angehöriger einer benachteiligten Gruppe bin, und das sind nun einmal
die meisten Zuwanderergruppen in Europa, dann ist Segregation in hohem Maße schädlich.
Und zweitens darf man nicht vergessen, dass Länder wie die USA und Kanada eine
extrem selektive Einwanderungspolitik haben. Dort kommt nicht jeder rein.“ 64
In eine ähnliche Richtung, wenngleich mit einem etwas anderen Schwerpunkt, denkt auch
David Engels, Professor für Römische Geschichte an der Freien Universität Brüssel
(ULB). Für ihn liegt die soziale Sprengkraft von Parallelgesellschaften vor allem im Umstand
begründet, dass zwischen Mehrheits- und Parallelgesellschaft in wesentlichen Bereichen
keine gemeinsame Identität herstellbar ist und dies negative Folgen für Solidarität
und Zusammenhalt hat.
„Es ist aber klar, dass aus einem solchen Nebeneinander im Krisenfall, wenn es um die
optimale Verteilung knapper Ressourcen geht, schnell ein Gegeneinander entstehen kann.
Denn die Bereitschaft zu zwischenmenschlicher Solidarität nimmt erfahrungsgemäß zu,
je größer die Zahl der geteilten Eigenschaften ist. An oberster Stelle stehen meist Familienbande,
dann Elemente wie Nachbarschaft, Glaube, Sprache, Klasse, Ethnie, Nation,
Kultur, etc. Je schwächer die geteilte Identität, umso geringer wird die Bereitschaft zur
Solidarität, sodass jene Parallelgesellschaften, je homogener und nach außen hin abgeschlossener
sie auftreten, eine große soziale Sprengkraft im Rahmen der Gesamtgesellschaft
entwickeln können.“ 65
Und weiter:
„Die Bereitschaft zur Tolerierung von Parallelgesellschaften ist heute meist nicht etwa
in dem positiven Bekenntnis zur eigenen westlichen Kultur verankert, sondern vielmehr
in einer seit nunmehr drei Generationen gepflegten, beständig angewachsenen Schuldkultur,
die zu einer grundlegenden Infragestellung der eigenen historischen Vergangenheit
und Tradition geführt hat. […] Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die ‚Moderne‘
mit ihren neuen technologischen Voraussetzungen und der Globalisierung entgegen
einer weitverbreiteten Hoffnung gerade nicht den idealen Rahmen für eine Versöhnung der
64 Ruud Koopmans, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 12f.
65 David Engels, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds, Eigenverlag,
Wien, 2017, 17.
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Grundlagenpapier Integration
menschlichen Gesellschaften bietet, sondern paradoxerweise im Gegenteil deren zunehmende
Zersplitterung fördert: Noch nie war es so einfach, sich in seinen Kommunikationsmöglichkeiten
auf die eigene Gruppe zurückzuziehen. Noch nie war es so simpel,
engsten Kontakt mit seinem Heimatland, aber keinen mit seiner Nachbarschaft zu pflegen.“
66
Das offensichtlich immer leichter werdende Hervorheben der jeweiligen Unterschiede vonund
zueinander führen laut Engels auch zum Entstehen von Befürchtungen und Ängsten in
der Bevölkerungen, die - ob begründet oder nicht - ebenfalls wenig hilfreich sind, um die
bestehenden Differenzen auszugleichen.
„Die zunehmend festzustellende gegenseitige Distanzierung liegt meines Erachtens in
mehreren Faktoren begründet. Zum einen konstatieren wir ein überaus rasches, sowohl
demographisch als auch migratorisch begründetes Anwachsen jener Bevölkerungsgruppen,
aus dem seitens der Alteingesessenen notwendigerweise eine gewisse Angst vor der
eigenen Verdrängung erwächst. […] Zum anderen speist sich die Angst auch durch die
starke Sichtbarkeit jener Gruppen, sei es in Form von Kleidung, Sprache, Reinheitsgeboten,
Recht, Sitte, Proselytismus (Abwerben von Gläubigen aus anderen Konfessionen,
Kirchen und Glaubensgemeinschaften, Anmerkung) oder religiösen Unbedingtheitsanspruch.
[…] Und der wichtigste Faktor der von Ihnen erwähnten Skepsis: die Angst vor
dem fundamentalistisch motivierten und zudem nicht nur gegen die eigene Gruppe, sondern
vor allem gegen Andersgläubige gerichteten Terrorismus, der ebenfalls in diesem
Maße von den anderen erwähnten Minderheiten nicht ausgeübt wird und eine Zuspitzung
der Migrationsfrage auf die islamischen Gesellschaften provoziert.“ 67
Eine andere Perspektive auf gegenständliches Problem nimmt Gunner Heinsohn, international
bekannter und beachteter deutscher Wirtschaftswissenschafter und emeritierter Professor
für Sozialpädagogik an der Universität Bremen, ein, wenn er vordergründig die demographischen
und bildungsständischen Tatsachen vor Augen führt.
„Diese Kampfbegriffe wie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus erhellen wenig und sollen
diejenigen zum Schweigen bringen, die das Scheitern der Politik offenbaren: Bildungsfer-
66 David Engels, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds, Eigenverlag,
Wien, 2017, 19.
67 David Engels, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds, Eigenverlag,
Wien, 2017, 21.
34
Grundlagenpapier Integration
ne und Hochqualifizierte integrieren sich nicht - in Istanbul oder Damaskus ebenso wenig
wie in Paris, London oder New York. […] In allen Nationen ist Kompetenz knapp,
während aufgrund immer stärkerer IT-Steuerung fast aller Prozesse die Nachfrage nach
ihr wuchtig steigt. Zugleich haben alle Nationen mehr Unqualifizierte, als sie benötigen.
Wer dennoch weitere von ihnen ins Land holt, gefährdet den inneren Frieden und nach
außen die Wettbewerbsfähigkeit. Solche Fehler der Einwanderungspolitik kann keine
Integrationspolitik reparieren. Das wird mit Zahlen belegbar, als etwa Deutschland bei
PISA 2012 erstmals detailliert erfasste, wie groß die integrationshindernden Leistungsunterschiede
bereits waren.“ 68
Und weiter:
„Dabei werden nicht unterschiedliche Gottheiten zum Problem. Doch wenn die Scheiternden
ihren Neidzorn auf die Erfolgreichen mit harten Sprüchen aus ihren heiligen
Texten aufladen, verstärken sie die Angst auch vor solchen Anhängern ihres Glaubens,
die niemanden bedrohen. Gerade Letztere sind rar, während die anderen reichlich zur
Verfügung stehen. So schnellte in Deutschland die Zahl der Ausländer, die Sozialhilfe beziehen,
von 130.000 im Jahr 2010 auf 979.000 im Jahr 2015 noch oben. Mittlerweile
(2016) leben zwischen Rhein und Oder 42 Prozent bis 78 Prozent der Muslime von Hartz
IV. Nur jeder Siebte der seit 2015 Kommenden ist auf Arbeitsmärkten vermittelbar.“ 69
So gesehen gilt es in diesem Zusammenhang nicht nur den „Brain-Drain“ von ärmere in
reichere Länder, sondern auch jenen von reichere in noch reichere Länder zu beachten:
„Der Umzug hiesiger Eliten in ferne Kompetenzfestungen bewirkt, dass bildungsferne
Minderheiten - zuerst nur in bestimmten Vierteln und dann in ganzen Städten (etwa
Birmingham, Malmö, Rotterdam, etc.) - so zahlreich werden, dass sie Karrieren für ihre
eigenen Könner bereitstellen können. Deren an sich vorhandene Eingliederungsfähigkeit
kommt dann Parallelgesellschaften zugute. Dabei hilft ihnen ihre Jugendlichkeit:
Während christliche Europäer 2010 ein Durchschnittsalter von 42 Jahren aufwiesen, lag
es bei ihren muslimischen Mitbürgern bei nur 32 Jahren. In Deutschland war schon vor
einem Jahrzehnt ein Viertel der Muslime (von den nahöstlichen sogar ein Drittel), aber nur
68 Gunnar Heinsohn, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 32f.
69 Gunnar Heinsohn, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 34.
35
Grundlagenpapier Integration
ein Zehntel der Alteingesessenen jünger als 15 Jahre. Und wer die Kinder hat, bekommt
längerfristig auch das Land.“ 70
70 Gunnar Heinsohn, Perspektiven Integration „Parallelgesellschaften“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 37.
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Grundlagenpapier Integration
3. ZUSAMMENFASSUNG
Nach all dem bisher Gesagten lassen sich folgende Punkte als Resümee darstellen:
1. Menschen leben in Gruppen und sind im Hinblick auf ihr Überleben darauf angewiesen.
2. Ein Mensch ist dabei nicht bloß Mitglied einer einzigen Gruppe. Im Gegenteil gibt
es einerseits eine mannigfache Anzahl von Gruppen und andererseits auch eine
große Vielfalt, was die Kategorien der Gruppen (z.B. Familien, Berufe, Kulturen,
Staaten usw.) anlangt.
3. Die zahlreichen Gruppen unterscheiden sich zweifellos in unendlich vielen Dingen,
doch dürfte es im Bereich der „Metaebene“ (also im Bereich des „Gruppenentstehungsprozesses“
selbst) ein Muster geben, welches allgemein auf jede Gruppe zutrifft.
Dies bedeutet, dass sich eine Gruppe von Menschen rund um ein oder
mehrere Ähnlichkeitskriterien bildet. Je weniger daher ein konkreter Mensch
diesem einen oder diesen mehreren Ähnlichkeitskriterien entspricht, desto weniger
wird er von der „Zentripetalkraft“ der Gruppe „angezogen“. Umgekehrt wird ein
konkreter Mensch umso mehr von der „Zentripetalkraft“ der Gruppe „angezogen“,
je mehr er diesem einen oder diesen mehreren Ähnlichkeitskriterien
entspricht. Damit soll nicht gesagt sein, dass dies mit mechanischer Absolutheit
und Präzision passieren würde, doch ist die Frage der gegenseitigen „Anziehung“
bzw. „Abstoßung“ in einem konkreten Fall eben mehr oder weniger
wahrscheinlich.
4. Einige dieser Kriterien haben auch mit dem Faktum zu tun, dass Ansichten,
Meinungen, Traditionen, Kulturen, etc. „organisch wachsen“, indem sie über
längere Zeiträume entstehen, sich langsam verfestigen und schließlich konstant
von der jeweiligen Gruppe gelebt werden. Offensichtlich genießen diese
Lebenstatsachen schon allein aufgrund ihres bloßen Bestehens und dem „Prüfsiegel“
der langjährigen Brauchbarkeit die Anerkennung der sie befolgenden Gruppe.
Damit einher geht, dass solche verfestigten Übungen des tatsächlichen Verhaltens
Änderungen gegenüber träge sind und ein nicht zu unterschätzender Aufwand benötigt
wird, um sie abzuändern.
37
Grundlagenpapier Integration
5. Der „bloße“ Glaube kann bewirken, dass etwas dann tatsächlich so „ist“, obwohl
es das vorher „eigentlich“ gar nicht war (im Sinne einer Art „selbsterfüllenden
Prophezeiung“). Der „Glaube“ ist dabei nicht als religiöse Anschauung zu
verstehen, obwohl es hier wahrscheinlich Ähnlichkeiten gibt, sondern vielmehr als
„das Annehmen“ von konkreten „Dingen“. Diese Annahmen werden getroffen,
weil es in der täglichen Auseinandersetzung mit Umwelt und Mitmenschen oftmals
unmöglich ist, den wahren Umständen auf den Grund zu gehen. Damit man nicht
unentschlossen bzw. orientierungslos wird, sondern sich im Gegenteil in einer äusserst
komplexen Welt weiterhin zurecht finden kann, werden Annahmen von „unentscheidbaren
Dingen“ einfach getroffen beziehungsweise von anderen übernommen.
71
In diesem Zusammenhang ist auch auf eine Strömung der politischen Philosophie zu verweisen,
welche sich zu Beginn der 1980er Jahr vor allem in den USA als Reaktion auf die
Gesellschaftstheorie von John Rawls gebildet hat. Der Kommunitarismus hat aufgrund
der lebhaften und mitunter heftig geführten Debatten zwischen seinen und den Anhänger
des Liberalismus zur Weiterentwicklung des modernen, westlich geprägten Gemeinwesen
wichtige Impulse geliefert und neue Ansätze, beispielsweise von Taylor 72 und Wal-
71 Man denke an dieser Stelle auch an jene, historisch zahlreich dokumentierte Fälle, wo ein „objektiv“ Starker
gegen einen „objektiv“ Schwachen unterlegen ist. Oft war es in diesen Fällen der einzige Vorteil des
Schwachen, dass er an sich selbst und seine eigene „Stärke“ geglaubt hat und daher „wusste“, einen „objektiv“
Starken besiegen zu können. Weiters ist in Rechnung zu stellen, dass es solche „selbsterfüllende Prophezeiungen“
nach der monokausalen Denkweise aber gar nicht geben dürfte.
72 An dieser Stelle sollen in ergänzender Weise einige Passagen aus seinem Aufsatz „Nationalismus und
Moderne“, abgedruckt in Taylor, Gemeinschaft, 140 ff, zitiert werden: „Moderne Wirtschaftssysteme sind
ihrem Begriff nach durch Wachstum und Wandel geprägt. Als solche brauchen sie geographisch wie auch
beruflich flexible Erwerbstätige. […] Überdies muß dieses allgemein hohe kulturelle Niveau auch homogen
sein. Benötigt werden Menschen, die sich miteinander verständigen können, ohne dabei stark auf vertraute
Familien-, Sippen-, Sprach- oder Herkunftskontexte angewiesen zu sein. […] Außerdem müssen sich die
Marktakteure in eine gesellschaftsübergreifende Kultur einfügen, um jenseits ihrer spezifischen Kontexte
und Prägungen füreinander zugänglich zu sein. […] Somit fördert und verbreitet der Staat eine homogene
Sprache und Kultur, die er gewissermaßen auch definiert. Moderne Gesellschaften brauchen, das ist ihr
funktionaler Imperativ, offizielle Sprachen, ja Kulturen. […] Der traditionelle Despotismus konnte von den
Menschen lediglich erwarten, daß sie sich passiv den Gesetzen beugten. Antike oder moderne Demokratien
hingegen beanspruchen mehr, sie sind auf die Motivation ihrer Bürger angewiesen, die notwendigen Beiträge
zu leisten, in Gestalt von Vermögen (das heißt Steuern), manchmal Blut (im Kriegsfall) und immer in
Form einer gewissen Unterstützung des Staates. Freiheitliche Gesellschaften müssen despotischen Zwang
weitgehend durch selbst auferlegten Zwang ersetzen können, sonst ist ihr Bestand gefährdet. […] Demokratien
erfordern also ein starkes Engagement ihrer Bürger; sie müssen den Bürgerstatus als einen wichtigen
Bestandteil ihrer Identität betrachten. […] Der moderne demokratische Staat verlangt demnach ein gesundes
Maß an Patriotismus, eine kräftige Identifikation mit dem Gemeinwesen und die Bereitschaft, ihm etwas
zu opfern. Deshalb musste sich der Identifikationsschwerpunkt des modernen Bürgers zunehmend von
der Familie, Gruppe, Schicht oder (vielleicht besonders) der Religion auf die Staatszugehörigkeit verlagern.“
38
Grundlagenpapier Integration
zer 73 , eingebracht. Nach all dem bisher Gesagten hat sich - wie oben bereits erwähnt - herauskristallisiert,
dass jene Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten, die bei der menschlichen
Gruppenbildung und ihrem Zusammenhalt wirken, dem Phänomen der Ähnlichkeit
zugeordnet werden können. Gemeinhin spricht man ja auch davon, dass Menschen
„gemeinsame Werte teilen“ oder Ähnliches, wenn man ausdrücken will, dass diese etwas
für „wahr“, „gut“, „richtig“, usw. halten und sich in dieser Hinsicht weitgehend einig sind.
Das Gemeinsame hat insofern zweifache Funktion: einerseits stiftet es Sinn und Zusammenhalt
für jene, die das Gemeinsame teilen, andererseits schließt es jene aus, die
dem Gruppengemeinsamen nicht beitreten können oder wollen. Auch die von Liessmann
beschriebene Funktion der Grenzziehung spiegelt sich darin wider, welche für ein
geordnetes Miteinander wohl notwendig und unverzichtbar ist. 74
In diesem Sinn erscheint es bemerkenswert, dass sich die Ansichten folgender, zum Teil
bereits vorgestellter Autoren auf einer Meta-Ebene treffen, wenn
73 Walzer breitet in seinem Buch „Sphären der Gerechtigkeit“ bekanntlich seine Theorie von der „komplexen
Gleichheit“ aus. Dabei ist für ihn auch die Frage der Zugehörigkeit zu oder Mitgliedschaft in einer Gruppe
von großer Bedeutung. Aus dem 2. Kapitel „Mitgliedschaft und Zugehörigkeit“, 65 ff, sollen nachstehende
Zitate wiedergeben werden: „Das Konzept der distributiven Gerechtigkeit setzt eine festumgrenzte Welt
voraus, innerhalb deren Güter zur Verteilung gelangen: eine Gruppe von Menschen, die gewillt und bestrebt
sind, soziale Güter zu verteilen, auszutauschen und miteinander gemein zu haben, und dies vor allem
und in erster Linie im eigenen Kreis. Diese festumgrenzte Welt ist, wie bereits von mir dargelegt, die politische
Gemeinschaft, i.e. eine Gemeinschaft, deren Mitglieder Macht unter sich verteilen, welche sie, so ihr
Bestreben, wenn irgend möglich mit niemanden sonst teilen möchten. […] Die Besonderheit von Kulturen
und Gruppen hängt an ihrer Abgeschlossenheit; fehlt diese, ist mit jener als einem stabilen Merkmal
menschlichen Lebens nicht zu rechnen. Wenn, wie die meisten Menschen (manche von ihnen globale Pluralisten,
andere nur lokale Loyalisten) zu glauben scheinen, diese Besonderheit tatsächlich ein Wert ist, dann
muß es irgendwo eine Begrenzung geben, so daß ein geschlossener Raum entsteht. Auf einer bestimmten
Stufe der politischen Organisation muß so etwas wie der souveräne Staat Gestalt gewinnen und muß dieser
Staat sich die Machtbefugnisse ausbedingen, seine eigene spezielle Aufnahmepolitik zu betreiben und den
Zuwandererstrom zu kontrollieren und bisweilen auch zu beschränken. […] Wenn wir auch nicht in der Lage
sind, die territoriale oder materielle Basis, auf der eine Gruppe von Menschen ein gemeinsames Leben
aufbauen kann, in vollem Umfang zu garantieren, so können wir doch zumindest sagen, daß dieses gemeinsame
Leben ihr Leben ist und die Entscheidung, wer ihre Gefährten in diesem Leben sein sollen, bei ihnen
liegen muß. […] Wenn wir aber jedem in der Welt Zuflucht gewährten, der überzeugend darlegen könnte,
daß er der Aufnahme bedürfte, dann würden wir möglicherweise erdrückt. Die Aufforderung ‚Schickt mir …
eure bedrängten Maßen, die danach dürsten, frei atmen zu können‘ ist hochherzig und vornehm; und häufig
ist es moralisch einfach unumgänglich, auch große Zahlen von Flüchtlingen aufzunehmen; dennoch
bleibt das Recht, dem Strom Einhalt zu gebieten, ein Konstituens von gemeinschaftlicher Selbstbestimmung.
Das Prinzip der wechselseitigen Hilfeleistung kann die Aufnahmepolitik, die ihre Basis im jeweiligen
Spezialverständnis der Gemeinschaft von sich selbst hat, nur modifizieren, nicht aber von Grund auf umgestalten.
[…] Zulassung und Ausschluß sind der Kern, das Herzstück von gemeinschaftlicher Eigenständigkeit.
Sie sind es, die der Selbstbestimmung ihren tieferen Sinn verleihen. Ohne sie gäbe es keine spezifischen
Gemeinschaften (Hervorhebung im Original), keine historisch stabilen Vereinigungen von Menschen, die
einander in spezieller Weise verbunden und verpflichtet sind und die eine spezielle Vorstellung von ihrem
gemeinsamen Leben haben.“
74 Weitere Ausführungen zu diesem Thema siehe in Liessmann, Konrad Paul, Lob der Grenze, Zsolnay Verlag,
Wien, 2012.
39
Grundlagenpapier Integration
‣ Ferdinand Tönnies davon spricht, dass erst die Ähnlichkeit gegenseitige Empathie,
und damit zwischenmenschliches Verständnis im Alltag, ermöglicht,
‣ Eugen Ehrlich das Recht als „Sozialrecht“ bezeichnet, welches auf dem Gefühl
der Zusammengehörigkeit der Menschen aufbaut und davon geprägt ist, Regeln
aufzugreifen, die historisch mit der Gemeinschaft gewachsen und insofern
bereits „da“ sind,
‣ Émile Durkheim als Basis des Rechts die Moral ansieht, die in den Gruppen gewachsen
ist und als ihre eigene Entstehung voraussetzt, dass der Einzelne
grundsätzlich loyal zu seiner Gruppe ist,
‣ für Max Weber eine politische Gemeinschaft erst dann zu einer solchen wird, wenn
ihre Aufgaben über wirtschaftliche Belange hinausgehen, und er darüber hinaus
den jeweils im Alltag gelebten „Zugang zum Leben“ als ausschlaggebend für
die Gruppenbildung hält, 75
‣ nach Pitirim Sorokin echte Kultur nur dort möglich ist, wo ein Mindestmaß an
(intuitiver) Ehrfurcht vor dem Leben sowie eine kräftige Ethik der Liebe vorhanden
sind,
‣ Robert Merton Gruppenbildungs- und Gruppenschichtungsprozesse für faktisch
existent erklärt und davon ausgeht, dass dafür auch tatsächlich bestehende
und/oder eingebildete Gemeinsamkeiten von entscheidender Bedeutung
sind,
‣ Franz Bydlinski seine fundamentalen Rechtsgrundsätze auch daraus ableitet,
dass es moralische Leitprinzipien gibt und diese ursprünglich und gleichsam organisch
in einer bestimmten Rechtsgemeinschaft entstehen,
‣ wichtige Vertreter des Kommunitarismus darauf hinweisen, dass der Einzelne
zu seiner Entwicklung (irgendeine) Gemeinschaft(en) benötigt und diese dadurch
entstehen sowie bestehen bleiben, dass es identitätsstiftende Elemente gibt,
die von den Mitgliedern im Großen und Ganzen geteilt werden müssen.
75 Zippelius dürfte Ähnliches vor Augen haben, wenn er schreibt: „Kulturspezifische Leitideen dienen nicht
nur dazu, die Welt zu interpretieren. Sie werden zugleich zu Motivationen des Handelns. Dadurch gewinnen
sie erhebliche praktische Bedeutung für das soziale Geschehen. […] Als Sinn- und Verhaltensorientierungen
bilden ‚Weltanschauungen‘ also mächtige Integrationsfaktoren der Gesellschaft. […] Die weltanschaulichen
Leitvorstellungen der Gemeinschaft wirken also als faktische Handlungsmotivation. Zugleich legitimieren sie
- als tragende Konsensgrundlage - die Staatsgewalt; insbesondere legitimieren Leitvorstellungen, über die
sich die Mehrheit in einem Staate einig ist, die demokratische Staatsgewalt.“ Reinhold Zippelius, Die Bedeutung
kulturspezifischer Leitideen für die Staats- und Rechtsgestaltung 1 , Steiner-Verlag-Wiesbaden-GmbH,
Mainz, 1987, 11 f.
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Grundlagenpapier Integration
Eine gesamthafte Betrachtung muß darüber hinaus den Umstand, dass die hier vorgebrachten
Thesen und Theoreme zwar aus unterschiedlichen Epochen und Wissenschaftsdisziplinen
stammen, aber dennoch „zusammenpassen“ und insofern ein recht harmonisches Bild
zeichnen, besonders hervorheben. Diesbezüglich soll an dieser Stelle ein Zitat von Talcott
Parsons vorgebracht werden 76 , in welchem von „Stimmigkeit“ dann die Rede ist, wenn
sich die „theoretischen Schemata“ und die entsprechenden „empirischen Fakten“ möglichst
nahe kommen. Freilich muss man auch hier beachten, dass die Sprache als Mittel der
Kommunikation 77 zwischen Menschen immer auch von der Interpretation des jeweiligen
Empfängers abhängig und für Missverständnisse aller Art anfällig ist. Doch würde es unwahrscheinlich
sein, wenn die aufgezeigten Gemeinsamkeiten allein auf Fehlinterpretationen
zurückzuführen wären.
Als vorläufiges Fazit soll festgehalten werden, dass Wertsysteme wie etwa Moral, Sitte,
Religion, Kultur, etc., die Funktion haben, den komplexen Strom der ontologischen Erfahrungen
nach bestimmten Kriterien zu ordnen und zu strukturieren. Dies setzt es
aber voraus, dass im Menschen grundsätzlich und allgemein entsprechende Verhaltensdispositionen
angelegt sind, die eine solche Orientierung überhaupt erst möglich machen.
Eine gegebene staatliche Ordnung ist darauf angewiesen, dass sie auf einer solchen
„primitiven“, wie auch immer gearteten Ordnung aufbauen und sich insbesondere
auf folgende Vorbedingungen verlassen kann:
Die entsprechenden Verhaltensdispositionen sind bei einer ausreichend großen
Zahl an Menschen innerhalb der bezughabenden Gruppe vorhanden;
Es existiert ein wertsystemischer Überbau (Kultur), der das Zusammenspiel
und Ineinandergreifen von (gelebten) Recht und (gesatztem) Gesetz begünstigt;
Die innere Bereitschaft des Einzelnen, sowohl die gesetzlichen als auch die
„außerrechtlichen“ Regeln zu akzeptieren und danach zu leben, ist im
Großen und Ganzen vorhanden;
76 Parsons, Talcott, Das System moderner Gesellschaften 7 , Juventa Verlag, Weinheim und München, 2009,
175.
77 Aufschlussreiche Ergänzungen zum hier interessierenden Thema finden sich u.a. bei Erving Goffmann. Er
setzt sich in seinem Buch „Interaktionsrituale“ das Ziel, jene Struktur offenzulegen, die für soziale Interaktionen
generell gelten. Auch schreibt er der gegenseitigen Anerkennung von konkreten Verhaltensstrategien
für das geordnete Ablaufen von Begegnungen eine große Bedeutung zu. Vertiefend dazu Erving Goffmann,
Interaktionsrituale - Über Verhalten in direkter Kommunikation 10 , Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft,
Frankfurt am Main, 2013.
41
Grundlagenpapier Integration
Es herrscht relative Homogenität im Hinblick auf Sprache, Arbeitsethos,
Erwartungshaltung für rationales Verhalten, allgemeiner „Zugang zum
Leben“ usw. vor, ansonsten zentrifugale Kräfte den inneren Zusammenhalt
abschwächen.
Mit anderen Worten bringen insbesondere die zentripetale Kraft der Ähnlichkeit, die
disziplinierende Wirkung der Gruppenkonformität, der identitätsstiftende Einfluss
des gruppenbezogenen Wir-Gefühls sowie die das Individuum motivierende Furcht
für dem Ausgestoßen-Sein jene Klammern hervor, die für die menschliche Gruppenbildung
und ihre dauerhafte Existenz kennzeichnend sind. 78
78 Ein vor Kurzem erschienenes Buch des Psychologen und Kognitionsforschers Steven Pinker beschäftigt
sich intensiv mit einigen jener Vorbedingungen, insbesondere mit der Frage, ob der Mensch als ein „unbeschriebenes
Blatt“ geboren wird oder nicht: „Während der letzten hundert Jahre hat die Lehre vom Unbeschriebenen
Blatt das Programm der Sozial- und Geisteswissenschaften weitgehend vorgegeben. Wie wir
sehen werden, hat die Psychologie versucht, alle Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen mit wenigen
einfachen Lernmechanismen zu erklären. Die Sozialwissenschaften waren bestrebt, alle Sitten und sozialen
Konventionen als Ergebnis der Sozialisation von Kindern durch die umgebende Kultur zu erklären: ein System
von Wörtern, Vorstellungen, Stereotypen, Rollenmodellen sowie Belohnungen und Bestrafungen. Eine
lange und wachsende Liste von Begriffen, die natürliche Elemente menschlichen Denkens zu sein scheinen
(Emotionen, Verwandtschaft, Geschlechter, Krankheit, Natur, die Welt), gelten heute als ‚erfunden‘ oder als
‚soziale Konstrukte‘.“ Steven Pinker, Das unbeschriebene Blatt, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main,
2017, 24.
42
Grundlagenpapier Integration
TEIL D: EINSTELLUNGEN UND MEINUNGEN ZUM
ISLAM IN ÖSTERREICH
Vom Arbeitsauftrag zwar nicht direkt erfasst, im Zuge der inhaltlichen Spezifizierung vom
Auftraggeber jedoch angefragt, ist, welche Rolle die Religion, genauer gesagt der Islam,
für die gegenständlichen Zusammenhänge und Fragestellungen spielt. Da eine vertiefende
Analyse diesen Rahmen bei Weitem sprengen würde, werden für den weiteren Verlauf
einige wenige, für gegenständlichen Auftrag jedoch wichtige Elemente herausgenommen
und einer Betrachtung unterzogen.
Zunächst erscheint es angezeigt darauf einzugehen, was ausgewiesene Islamexperten zu
diesbezüglichen Fragen zu sagen haben. Auch hier stellen die „Perspektiven Integration“,
konkret die Ausgabe „Islam europäischer Prägung“ einen reichen Fundus an repräsentativen
Ansichten dar. So meint beispielsweise Mouhanad Khorchide, seines Zeichens Islamexperte
und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster, folgendes:
„Allerdings ist es wichtig, dass ein europäisch geprägter Islam nicht lediglich eine politische
Forderung von außen bleibt, sondern zum Selbstanspruch der Muslime wird. Ein Europäischer
Islam kann nur dann gelingen, wenn er von den Muslimen selbst getragen
wird. […] Ein ‚Islam europäischer Prägung‘ definiert sich selbst als zu Europa zugehörig,
trägt somit die europäischen Werte und hat in Europa einen Platz als seine Heimat. Konkret
geht es darum, dass ein Islam europäischer Prägung mit den Menschenrechten, mit
demokratischen Grundwerten, mit der Gleichberechtigung der Geschlechter und mit der
Säkularität als institutionelle Trennung zwischen Staat und Religion vereinbar ist.“ 79
Auch - oder gerade - im religiösen Bereich spielt offenbar auch die Frage der Identität bzw.
der Zugehörigkeit eine Rolle, wenn Khorchide sagt:
„Eine andere Herausforderung besteht darin, dass einige Muslime in Europa den Eindruck
haben, dass es für das, was für uns wichtig ist, kaum Raum in Europa gibt. Denken
Sie an unnötige Diskussionen um Moscheebauten, Minarette und Kopftücher. Gerade
79 Mouhanad Khorchide, Perspektiven Integration „Islam europäischer Prägung“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 5.
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die jungen Muslime, die hier geboren und aufgewachsen sind, erwarten von Europa, eine
innere Heimat geboten zu bekommen. Sie fühlen sich aber in ihrer Identität verletzt,
wenn ihnen vermittelt wird: ‚Ihr seid die anderen.‘ Leider führt das nicht selten zur Entstehung
eines Opferdiskurses - gerade unter Angehörigen der zweiten und dritten Generation.
[…] Die Muslime wissen auch, dass wir in Österreich mehr Rechte und Sicherheiten
genießen als in den meisten islamischen Ländern. Dass so viele Flüchtlinge aus muslimischen
Ländern zu uns kommen wollen, zeigt auch, wie sehr das Leben hier für die Menschen
Sicherheit und Perspektive bietet.“ 80
Die Annäherung zwischen der islamischen Religionsgemeinschaft schlechthin und dem,
was als europäische Werte bezeichnet wird, scheint jedoch alles andere als einfach zu sein.
Abdel-Hakim Ourghi, der seit 2011 den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik
an der Pädagogischen Hochschule Freiburg leitet, findet dafür folgendes Beispiel:
„Ein gutes Beispiel ist die sogenannte Pädagogik der Unterwerfung: Indem Kinder einer
klassischen Erziehung mit beispielsweise Koranunterricht am Wochenende in den Moscheen
unterworfen werden, werden sie gezielt domestiziert. Man will sie herausreißen aus
dem westlichen Kontext und ihnen eine neue Sozialisierung anbieten, die ganz klar in Konkurrenz
zur westlichen Sozialisierung steht, die die Kinder unter anderem in der Schule
bekommen. […] Diese Erziehung definiert ihre eigenen religiösen Werte hauptsächlich
durch die Abwertung der westlichen Kultur und der westlichen Menschen. Ein weiteres
Beispiel ist die Unterdrückung der Frau, nicht nur durch das Kopftuch, aber auch.“ 81
Unabhängig von der Frage, ob es sich dabei um plakative Einzelfälle handeln möge oder
nicht, gehen die Ansprüche, die Ourghi an die Religion stellt, weit darüber hinaus:
„Muslime müssen im Geiste der Aufklärung aktiv und eigenverantwortlich am Gemeinwesen
teilnehmen und dieses mitgestalten. Mit Gemeinwesen meine ich aber nicht die Religion,
denn Religion ist Privatsache, sondern den Staat, in dem sie leben und mit dem sie
sich identifizieren sollten - dessen Sprache sie sprechen, dessen Kultur sie kennen und
dessen Grundwerte sie akzeptieren sollten. Muslime in Österreich müssen sich also nicht
80 Mouhanad Khorchide, Perspektiven Integration „Islam europäischer Prägung“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 8f.
81 Abdel-Hakim Ourghi, Perspektiven Integration „Islam europäischer Prägung“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 42.
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durch ihre Zugehörigkeit zu ihrer Religion, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu Österreich
definieren.“ 82
An anderer Stelle wird sichtbar, wie konfliktreich und widersprüchlich eine solche Anpassung
für viele Muslime vor sich geht und schon dort, quasi im „inner-islamischen“, viele
Hürden warten, die einer erfolgreichen Integration im Wege stehen können.
„Viele kommen mit der Absicht, in Freiheit zu leben und von der multikulturellen Gesellschaft
zu profitieren. Aber nachdem sie hier sind, finden sie die Religion oft als letzten Anker
zum Schutz ihrer religiösen Identität. Und leben den Islam dabei noch konservativer
aus als in ihren Herkunftsländern, wodurch sie zum Hindernis für ein friedliches Zusammenleben
werden. Sie wollen also in Freiheit leben, aber mit der Identität aus ihrer ursprünglichen
Heimat. Das ist eine ambivalente Identität, die viele Muslime haben. Dabei
darf die Religion nicht das kollektive Interesse der Muslime sein. […] Dass mit den Muslimen
zu hart ins Gericht gegangen wird, kann man nun wirklich nicht sagen. Dass der
Islam im Zuge dieser Bemühungen aber auch einmal kritisiert wird, ist selbstverständlich.
[…] Die größten Feinde der muslimischen Frau sind meiner Meinung nach die
muslimischen Männer, die panische Angst davor haben, dass sich die Frauen irgendwann
emanzipieren.“ 83
Auch hier dürfte anwendbar sein, was bereits weiter oben festgehalten wurde: Die jeweilige
Gruppen-Identität ist ein wesentlicher Faktor dafür, ob zwei gegebene Gruppen auf lange
Sicht gesehen miteinander kompatibel sind und einander näher kommen können oder
nicht. Darüber hinaus erfordert die Anpassung mitunter große Kraftanstrengungen aller
Beteiligten, da gelingende wohl zugleich kulturelle und strukturelle Integration bedeutet.
Evrim Ersan-Akkilic, Wissenschafterin am Institut für Islamische Studien der Universität
Wien, schreibt dazu:
„Für die muslimischen Verbände - das konnten wir auch in unserer Studie über Imame
und Integration im Jahr 2015 feststellen - wird ein ‚richtiger‘ und guter Moslem als integriert
verstanden, wenn er hier arbeitet, eine Familie hat und die Regeln des Staates akzeptiert,
dabei aber seine religiöse Identität wahrt und andere Gläubige vor der Assimilation
82 Abdel-Hakim Ourghi, Perspektiven Integration „Islam europäischer Prägung“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 42.
83 Abdel-Hakim Ourghi, Perspektiven Integration „Islam europäischer Prägung“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 44f.
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warnt. Vonseiten der Mehrheitsgesellschaft hingegen wird Integration als Übernahme von
Werten gedacht. […] Darüber hinaus scheint der Islam für die Mehrheitsgesellschaft
eine andere, fremde Religion zu sein. Die Präsenz muslimischer Migranten in der Öffentlichkeit
sorgt für unterschiedliche Arten von Konflikten.“ 84
Und weiter:
„Integration kann nicht durch bestimmte Kurse erfolgen, sondern muss auch auf struktureller
und kultureller Ebene passieren. […] Die Integration kann auf struktureller und
kultureller Ebene scheitern, wenn diese Aspekte nicht mehr beachtet werden. Es müssen
Räume geschaffen werden, in denen die Akteure mit ihren unterschiedlichen Herkünften
und Erfahrungen zusammenkommen und sich austauschen können. Auch Konflikte können
dann in diesen Räumen ausgetragen und gemeinsam Lösungen gesucht werden.“ 85
Eine aktuelle Erhebung aus dem Jahre 2018 untersuchte in Österreich die Einstellung der
Befragten zu Muslimen und Anhängern anderer Religionen. Die Ergebnisse stießen auf
breites, auch von zahlreichen Medien getragenes Interesse und sollen nachstehend wiedergegeben
werden:
„Der Soziale Survey Österreich hat deshalb 2018 erstmals eine ausführliche Messung von
Einstellungen gegenüber Muslimen vorgenommen. […] Zwei Drittel der ÖstereicherInnen
sehen ChristInnen überwiegend positiv und auch gegenüber BuddhistInnen und Menschen
ohne religiösen Glauben überwiegen positive oder neutrale Einstellungen. […] Bei Muslimen
sinkt die positive Sichtweise der Religionsgruppe auf 25% und die negativen Urteile
steigen deutlich an. […] Zusätzlich sind Muslime in vielen europäischen Ländern mit
strikten Forderungen nach kultureller Anpassung konfrontiert und es wird häufig deren
Rückständigkeit im Vergleich zur europäischen Gesellschaft hervorgehoben.“ 86
„Wir sehen, dass Frauen geringfügig islamkritischer eingestellt sind als Männer. Starke
Unterschiede zeigen sich nach Altersgruppen, Bildung und Einkommen, wobei Personen
84 Evrim Ersan-Akkilic, Perspektiven Integration „Islam europäischer Prägung“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 24.
85 Evrim Ersan-Akkilic, Perspektiven Integration „Islam europäischer Prägung“, Österreichischer Integrationsfonds,
Eigenverlag, Wien, 2017, 26.
86 Wolfgang Aschauer, Soziale Survey zu Einstellungen zu Muslimen in Österreich, Universität Salzburg,
Salzburg, 2018.
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über 75 Jahre, LehrabsolventInnen und Personen in niedrigen Einkommenskategorien das
höchste Ausmaß an Kritik am Islam äußern. […] Generell ist eindeutig zu sehen, dass
kritische Haltungen gegenüber dem Islam in Österreich weit verbreitet sind und nur
noch in wenigen Gruppen überwiegend positive Haltungen gegeben sind. Es sind dies
junge Erwachsene, Personen mit tertiärer Bildung, die WählerInnen der Grünen Partei
sowie Personen, die generell ein hohes Vertrauen in Mitmenschen aufweisen und das
Gefühl haben, im Vergleich zu anderen mehr als den gerechten Einkommensanteil zu
bekommen.“ 87
Immer wieder - so auch hier - wird ein Zusammenhang zwischen dem Prozess der Integration
einerseits und der Anpassung im Hinblick auf die kulturelle Prägung andererseits.
Diese Verknüpfung wiederholt sich nicht bloß, sondern gewinnt auch dadurch an Aussagekraft,
dass sie aus verschiedenen Bereichen der menschlichen Lebenswelt kommt, bspw.
aus der Wissenschaft ebenso, wie vom „Mann von der Straße“.
Ausgewählte Ergebnisse der Sozialen Survey 2018 - Einstellungen zu Muslimen in Österreich
„Muslime müssen sich in Ö. an unsere Kultur anpassen - Zustimmungsrate 87%
Muslime stellen keine kulturelle Bereicherung dar - Zustimmungsrate 72%
Das Kopftuch ist ein Symbol der Unterdrückung der Frau - Zustimmungsrate 71%
Der Islam passt nicht in [die] westliche Welt - Zustimmungsrate 70%“ 88
Ein anderes aktuelles Werk ist der Forschungsbericht „Muslimische Gruppen in Österreich“,
welcher vom Österreichischen Integrationsfonds beauftragt und von Peter Filzmaier
durchgeführt wurde. Die wesentlichen Ergebnisse werden wie folgt dargestellt:
„MuslimInnen in Österreich sind keine homogene Gruppe. Neben Menschen mit türkischer
oder bosnischer Herkunft, die oftmals bereits in Österreich geboren sind oder schon
seit Jahrzehnten in Österreich leben, sind auch viele Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak,
Somalia und Afghanistan muslimischen Glaubens. Gruppen verschiedener Herkunft unterscheiden
sich zum Teil deutlich in ihrer Religiosität und ihren Einstellungen. 40 Prozent
der befragten Flüchtlinge ist es wichtig, dass der Islam in der Familie sowie in der
87 Wolfgang Aschauer, Soziale Survey zu Einstellungen zu Muslimen in Österreich, Universität Salzburg,
Salzburg, 2018.
88 Wolfgang Aschauer, Soziale Survey zu Einstellungen zu Muslimen in Österreich, Universität Salzburg,
Salzburg, 2018.
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Gesellschaft eine starke Rolle spielt. Mehr als die Hälfte der befragten Flüchtlinge und
vier von zehn Personen türkischer Herkunft haben laut der vorliegenden Erhebung Verständnis
dafür, wenn Männer Frauen nicht die Hand schütteln wollen. […] Vor dem Hintergrund
dieser Ergebnisse stellen sich wichtige Fragen für die Zukunft Österreichs und
die Integration von MuslimInnen. Integration kann nicht funktionieren, wenn religiöse Regeln
über geltende Gesetze und demokratische Prinzipien gestellt werden.“ 89
Und weiter:
„Personen, die einen hohen Wert auf der Religiositäts-Skala erreichen - also sich selbst
als sehr gläubig bezeichnen, sehr oft beten und sehr oft die Moschee aufsuchen - befürworten
eine starke Rolle des Islam in der Gesellschaft und in der Politik. Sie neigen eher
dazu, antisemitischen Vorurteilen und Aussagen zuzustimmen. Wichtig ist hier einmal
mehr, die Ergebnisse nur relativ zu interpretieren: Diese Befragten sind somit nicht absolut
gesehen extreme AntisemitInnen, sondern äußern sich im Vergleich mit den übrigen
Befragten stärker in diesem Sinn.“ 90
Eine gute Zusammenfassung des Berichts stellt dieser Absatz dar, welcher den Zusammenhang
von eigener Religiosität und potentieller Integrationshindernissen nochmals hervorstreicht.
„Anhand der Religiositäts-Skala können nochmals einige ausgewählte Fragen dargestellt
werden. Wie schon anhand der bisherigen Antworten erkennbar, finden sich zahlreiche
deutliche Unterschiede zwischen sehr gläubigen Menschen und weiteren Befragten.
Erstere fühlen sich gesellschaftlich offenbar stärker exponiert und benachteiligt aufgrund
ihrer Religion: Die Zustimmung zu einer gefühlten Benachteiligung liegt bei sehr
religiösen Personen bei über 40 Prozent, bei eher religiösen Personen bei knapp über 30
Prozent und bei nicht religiösen Befragten bei knapp einem Viertel (jeweils Summe der
zustimmenden Kategorien). […] Während sehr religiöse Menschen einen starken Islam
in der Gesellschaft befürworten und mehrheitlich Verständnis dafür aufbringen, wenn
89 Franz Wolf, Muslimische Gruppen in Österreich - Einstellungen von Flüchtlingen, ZuwanderInnen und in
Österreich geborenen MuslimInnen im Vergleich, Österreichischer Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien,
2017, Vorwort.
90 Peter Filzmaier, Muslimische Gruppen in Österreich - Einstellungen von Flüchtlingen, ZuwanderInnen und
in Österreich geborenen MuslimInnen im Vergleich, Österreichischer Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien,
2017, 37.
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Männer Frauen nicht die Hand schütteln, sinken die Werte bei den anderen beiden
Gruppen auf 14 Prozent und darunter.“ 91
91 Peter Filzmaier, Muslimische Gruppen in Österreich - Einstellungen von Flüchtlingen, ZuwanderInnen und
in Österreich geborenen MuslimInnen im Vergleich, Österreichischer Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien,
2017, 39.
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LITERATURVERZEICHNIS
Grundlagenpapier Integration
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Perspektiven Integration „Gemeinschaft, Zusammenhalt und Solidarität“, Österreichischer
Integrationsfonds, Eigenverlag, Wien, 2018.
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Wien, 2017.
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