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10 UNIversalis-Zeitung Sommer 2021
NS-Projekt „Gau Oberrhein“
I. Akt. Sommer 1940: Vertreibungen aus Elsass-Lothringen
Die Austreibung der jüdischen
und frankophilen Bevölkerung
aus Elsass-Lothringen darf als
Auftakt zu der als Wagner-
Bürckel-Aktion bekannten Abschiebung
gelten, die im Oktober
1940 in Baden, der Pfalz
und dem Saarland fortgesetzt
wird: Ziel war der „judenfreie“
Gau Oberrhein, im Sinne des
von Reichskommissar Heinrich
Himmler initiierten Projekts, das
in „einzudeutschenden“ Annexionsgebieten,
von Polen bis Frankreich,
zwei Millionen Menschen
beraubt hat.
Seit 15. Juni 1940 überschlugen
sich die Ereignisse, die deutsche
Wehrmacht überquerte den Rhein
und besetzte Elsass-Lothringen.
Robert Wagner, seit 1933 badischer
Reichsstatthalter und Gauleiter,
verjagte am 21. Juni diktatorisch
den Präfekten von Colmar; wenig
später zum Chef der Zivilverwaltung
(CdZ) im Elsass ernannt,
strebte er an, das Gebiet zu germanisieren
und auf die Nazis zu polen.
Von Anfang an verbreitete er Angst,
Schrecken und Todesdrohung, wobei
ihm ein skrupelloser Mann behilflich
war: Gustav Adolf Scheel,
lokaler Befehlshaber der Sipo und
des SD (BdS). Dieser verfügte über
wechselnde Einsatzkommandos
(EKS I, II, III), die bei Vertreibung
und Unterdrückung durch das NS-
Regime behilflich waren; diesbezügliche
Details hat der Historiker
Philipp T. Haase erforscht. Fakten
zum Thema bündelt auch Wolfgang
Curilla in seiner Publikation
„Die deutsche Ordnungspolizei im
westlichen Europa 1940-1945“. Im
Juni 1940 erreichen die Polizeibataillone
54 und 55 das Elsass, bereits
am 18. Juni kam es in Colmar
zu antisemitischen Übergriffen,
Wohnungen und Mobiliar werden
beschlagnahmt, wie Dokumente
und Zeitzeugen belegen. Am 1. Juli
1940 werden Juden in Mulhouse
misshandelt, die Synagoge verwüstet.
Am 15./16. Juli findet schließlich
eine massive Ausweisung statt:
Jüdische Personen werden vom
CdZ vorgeladen, müssen rasch packen
und werden auf Lastwagen zu
Sammelstellen in Rouffach, Altkirch
und Schirmeck transportiert;
am nächsten Tag fährt man sie in
die Nähe von Chalon-s-Saône und
jagt sie höhnisch über die Demarkationslinie,
wo sie in der „freien
Zone“ als französische Staatsbürger
Exilrecht hatten. 3.259 Juden
waren davon seit Juni 1940 betroffen,
zudem frankophile Personen
und andere „Volksfeinde“. Ferner
verwehrte man 17.874 Juden, die
wie zehntausende Elsässern seit
Beginn des Zweiten Weltkrieg in
das Landesinnere evakuiert worden
waren, die Rückkehr. Viele
der Betroffenen engagierten sich in
der französischen Résistance, etwa
Georges Loinger und Joseph Weill,
die mit dem Hilfswerk „OSE“ an
der Rettung von rund 5000 Kindern
beteiligt waren.
Einsatzkommandos und Polizeibataillone
Neben den Bataillonen 54 und 55
ist das Reserve-Polizeibataillon 74
in Elsass-Lothringen aktiv, von Juni
bis Oktober in Straßburg stationiert,
unterstellt dem BdO Stuttgart, Generalmajor
Gerhard Winkler. Diese
waren an den Vertreibungen ebenso
beteiligt wie an der gewalttätigen
Einlieferung „feindlicher“ Personen
in das SS-Sicherungslager
Schirmeck-Vorbruck, das die Gauleiter
bereits am 2. August 1940 im
Bündnis mit dem Polizeifunktionär
Gustav A. Scheel eingerichtet
50°
48°
46°
44°
42°
Brest
4° 2° 0°
2°
4° 6° 8° 10°
Küstenzone
(Atlantikwall)
Zutritt eingeschränkt
Lager
Rennes
Paris
B e s e t z t e Z o n e
Bordeaux
ab Juni 1940 deutsche
Militärbesatzung
0 (km)
250
Montoire
0 (mi)
150
https://de.wikipedia.org/wiki/Vichy-Regime#/media/Datei:
France_map_Lambert-93_with_regions_and_departments-occupation-de.svg
bearbeitet 4/2021
Nordostlinie
Vichy
(de facto Regierungssitz)
U n b e s e t z t e Z o n e
im Nov. 1942 militärisch besetzt
Militärverwaltung
in Belgien und
Nordfrankreich
Verbotene Zone
Marseille
de facto
annektiert
Nancy Straßburg
für deutsche
Besiedelung
vorgesehen
von Italien
besetzte
Zone
Nov. 42 - Sept. 43
(danach deutsch
besetzt)
demilitarisierte
Zone
(50 km)
4° 2° 0°
2°
4° 6° 8° 10°
hatten. Auch SS dürfte im Einsatz
gewesen sein; diesbezüglichen Forschungslücken
geht der Historiker
Heiko Wegmann nach, indem er die
Geschichte der SS in Südbaden eruiert.
Wie Wolfgang Curillas Nachschlagewerk
darlegt, bildeten mehr
als 40.000 deutsche Ordnungspolizisten
nach der Wehrmacht und der
Waffen-SS die zahlenmäßig größte
Besatzungstruppe im westlichen
Europa; von Norwegen bis Frankreich
bewachten sie Transporte in
die Vernichtungslager im Osten,
führten Razzien durch und agierten
gegen den zivilen Widerstand.
Abgerichtet oder hingerichtet
Die Maßnahmen zum „volksdeutschen
Umbau“ von Elsass-Lothringen
nahmen seit Juni 1940 kein
Ende: Vertreibungen, „Arisierung“
Nantes
Gurs
Pau
Caen
La Rochelle
Lourdes
Forschungsliteratur in Auswahl
Honfleur
Périgeux
D E M A R K A
T I
Limoges
Dünkirchen
O N S
Toulouse
Lille
Compiègne
L I N I E
Noé
Le Vernet
Narbonne
Récébédou Carcassonne
Rieucros
von Vermögen, Germanisierung der
Familien- und Ortsnamen, „Umschulung“
von Lehrern und Verwaltungspersonal,
Vereinnahmung der
Universitäten. Es folgte die Pflicht
zum Reichsarbeitsdienst, ab 1942
der zwangsweise Einzug in die
Wehrmacht und in die Waffen-SS.
Etwaige Verweigerungen, antideutsches
Verhalten und Fluchtversuche
wurden mit Sippenhaft bestraft, mit
Erschießung, mit Internierung im
KL Schirmeck oder im KZ Natzweiler-Struthof.
Die NS-Führerschaft wollte Elsass-
Lothringen unter dem Leitmotiv der
Oberrhein-Ideologie mit dem Deutschen
Reich vereinen, wobei sich
ihre völkische Politik zwischen Exklusion
und Vernichtung bewegte,
aber zudem mit profitabler Inklusion
in die „Volksgemeinschaft“
Drancy
Pithiviers
Beaune-la-Rolande
Sperrzone eingeschränkter Zugang
Sète
Rivesaltes
Saint-Cyprien
Mâcon
Lyon
Nordostlinie
Dôle
Chalon-sur-Saône
Nîmes
Genf
Grenoble
Aix-en-Provence
Les Milles
Metz
Luxemburg:
1942 angeschlossen
Toulon
lockte. Die französische Waffenstillstandskommission
konnte gegen
die de-facto-Annexion nichts
mehr ausrichten, protestierte aber
am 3. September 1940 in zwölf
Punkten u.a. gegen: „Die Amtsenthebung
französischer Beamter wie
Präfekten (…), Zusammenschluss
des Elsass mit Lothringen (…);
Grenzverschiebung und Einführung
der deutschen Verwaltung; die
Eingliederung von Post und Eisenbahn
in das deutsche System (…);
die Einführung der Rasse-Gesetzgebung
und damit die Austreibung
der Juden und die Verweigerung
der Rückkehr von Juden und die
Beschlagnahme ihres Vermögens
(…).“
Noch bevor im Oktober 1940 die
südwestdeutschen Juden über die
französische Grenze abgeschoben
• Wolfgang Curilla. Die deutsche Ordnungspolizei im westlichen Europa 1940-1945. F. Schöningh 2020
• René Gutmann. Mémorial de la déportation et de la résistance des juifs du Bas-Rhin. Strasbourg 2005
• Jacky Dreyfus / Daniel Fuks. Le Mémorial des Juifs du Haut-Rhin. Martyrs de la Shoah. Préface Serge
Klarsfeld. Avant-propos Simone Veil. Consistorie Israélite du Haut-Rhin. Jérôme Do Benzinger. 2006
• Jean-Marc Dreyfus. Elsass-Lothringen. In: Gruner, Wolf/Osterloh, Jörg (Hg.). Das „Großdeutsche Reich“
und die Juden. Nationalsozialistische Verfolgung in den „angegliederten“ Gebieten. Ffm 2010. S. 363ff.
• Serge Klarsfeld. Le calendrier de la persécution des Juifs de France 1940-1944. Fayard 2001
• André Kaspi. Les juifs pendant l’occupation. Ed. Seuil 1991
• Frank Engehausen, Marie Muschalek u.a. (Hg.): Deutsch-französische Besatzungsbeziehungen im 20.
Jahrhundert. Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Ba-Wü, Bd. 27. Stuttgart 2020
• Philipp T. Haase. Gustav Adolf Scheel. Studentenführer, Gauleiter, Verschwörer. Ein politischer Werdegang.
In: Wolfgang Proske (Hg.). Täter, Helfer, Trittbrettfahrer. Bd.8. Gerstetten 2018
• Lothar Kettenacker. Nationalsozialistische Volkstumspolitik im besetzten Elsass. DVA 1973
• Simon Schwarzfuchs: 15 juillet 1940: La dernière expulsion des Juifs d’Alsace. http:/judaisme.sdv.fr/
histoire
• Léon Strauss. Exil, Exclusion, Extermination. Les Juifs alsaciens en zone libre. Saisons d’Alsace. 1993
• Ludger Syré. Der Führer vom Oberrhein. Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef
der Zivilverwaltung im Elsaß. In: M. Kissener/J. Scholtyseck (Hg.). Die Führer der Provinz. Konstanz 1997
• Jean-Laurent Vonau. Le Gauleiter Wagner. Le bourreau de l’Alsace. Strasbourg 2011
• Jean-Laurent Vonau. Profession bourreau. Struthof Schirmeck. Les gardiens face à leurs juges. 2013
• Krimm, Konrad (Hg.). NS-Kulturpolitik und Gesellschaft am Oberrhein 1940-1944. Thorbecke 2013
• Heiko Wegmann. Zur Geschichte der SS in Freiburg im Breisgau. In: Oberrheinische Studien Bd. 38. 2019
Saarbrücken
Breisach
Colmar Freiburg
Mulhouse
von Italien
besetzte
Zone
Nizza
Basel
Karlsruhe
Baden-Baden
Offenburg
Menton
(von Italien
annektiert)
Bastia
von Italien
besetzte
Zone
(Nov. 42 - Sept. 43)
Ajaccio
50°
48°
46°
44°
42°
wurden, hatten Wagner-Bürckel &
Co. seit Juni 1940 begonnen, den
angestrebten „Gau Oberrhein“ zu
„säubern“. Bei der Festnahme und
Abschiebung am 22. Oktober konnten
sie grenzüberschreitend operieren,
möglicherweise mithilfe des in
Straßburg stationierten Polizeibataillons
74, das als bewaffnete Truppe
auch geeignet war, die Züge zu
begleiten; über den Bahnverkehr im
annektierten Elsass-Lothringen verfügten
die NS-Gauleiter damals ungehindert.
Zudem dürfte das II. Polizei-Wachbataillon
im Wehrkreis
V beteiligt gewesen sein, dessen
Einsatz reichte von Stuttgart und
Karlsruhe über Elsass-Lothringen
bis hin zu Transporten von Drancy
nach Auschwitz, an denen auch
die „Eisenbahnabteilung West“ der
Wehrmacht mitwirkte. Die Zusammenhänge
sind deutlich, Details
bleiben zu erforschen.
Zahlreich sind die Opfer der Shoah
aus Elsass-Lothringen; des Weiteren
werden in dem von den Nazis
in den Vogesen eingerichteten KZ
Natzweiler-Struthof 22.000 Menschen
ermordet, die Gedenkstätte
„Europäisches Zentrum des deportierten
Widerstandskämpfers“
(struthof.fr) und ein Geschichtsmuseum
(memorial-alsace-moselle.
com) thematisieren dies. In puncto
Forschung auf deutscher Seite ist
Lothar Kettenackers Recherche
„Nationalsozialistische Volkstumspolitik
im besetzten Elsass“ (1973)
eine unerlässliche Referenz; doch
bleiben Lücken, vor allem in Bezug
auf die Rolle von Polizei und
Finanzbeamten bei der Enteignung
der jüdischen und frankophilen Bevölkerung.
Wichtige Akten befinden
sich in Straßburger Archiven,
viele Vorgänge im damaligen Annexionsgebiet
wurden jedoch von der
deutschen Rheinseite aus gesteuert,
wo die Akteure ihre Karrieren
starteten und nach 1945 oft fortsetzten.
Die grenzüberschreitende
NS-Unrechtsjustiz beleuchtet eine
Ausstellung im Amtsgericht Freiburg.
Möglicherweise sind Informationsquellen
verloren, aber gewisse
Leerstellen in der Erinnerungspolitik
weisen auf offene Wunden und
bleiben zu thematisieren, um die
deutsch-französische Freundschaft
zu erhalten und zu verbessern.
** Der Begriff Elsass-Lothringen
ist nicht im geografischen, sondern
im historischen Sinne zu verstehen;
er umfasst die Departements
Bas-Rhin, Haut-Rhin u. Moselle,
die 1871 vom Dt. Reich annektiert
worden waren.
Cornelia Frenkel