Leseprobe: Wetzel/Regber/Stahn: To Change – or not to Change?
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Dieses F<strong>or</strong>schungs- und Entwicklungsprojekt wurde mit Mitteln des<br />
Bundesministeriums für Bildung und F<strong>or</strong>schung (BMBF) innerhalb des<br />
Rahmenkonzeptes »F<strong>or</strong>schung für die Produktion von m<strong>or</strong>gen« gefördert<br />
und vom Projektträger F<strong>or</strong>schungszentrum Karlsruhe (PTKA) betreut.<br />
Bibliografische Inf<strong>or</strong>mation der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />
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www.versus.ch<br />
© 2008 Versus Verlag AG, Zürich<br />
Umschlagbild und Kapitelillustrationen: André Kozik · Chemnitz<br />
Satz und Herstellung: Versus Verlag · Zürich<br />
Druck: Sachsendruck · Plauen<br />
Printed in Germany<br />
ISBN 978-3-03909-130-0
5<br />
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Inhalt<br />
Prolog 7<br />
»Der Natur gleichsam den Spiegel v<strong>or</strong>zuhalten.« 10<br />
»Etwas ist faul im Staate Dänemarks.« 17<br />
»Schwört!« 33<br />
»Komm hierher, mein lieber Hamlet, setz dich zu mir.« 48<br />
»Achte mit ganzer Kraft der Seele auf meinen Oheim!« 61<br />
»Ich esse Luft, ich werde mit Versprechungen ges<strong>to</strong>pft!« 80<br />
»Ist dies schon <strong>To</strong>llheit, hat es doch Methode.« 94<br />
»Ihr spieltet einmal auf der Universität?« 109<br />
»Dies ist bloß eures Hirns Ausgeburt!« 121<br />
»Chamäleongerichte« 133<br />
Epilog 143<br />
Aut<strong>or</strong>en und Künstler 148
6<br />
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Prolog<br />
»Joe? Harald hier.«<br />
»Dachte ich mir, dass du’s bist …«<br />
»Und? Hast du die Sachen fertig?«<br />
»Leider nein, ich brauche noch bis m<strong>or</strong>gen Mittag, s<strong>or</strong>ry.«<br />
Es wird knapp. Das ging nun schon den ganzen letzten Monat so, immer<br />
Verschiebungen. Heute Abend war Deadline. Eigentlich ist Joe ja ein zuverlässiger<br />
Bursche, einer meiner besten Leute. Wenn ich nur selber mehr<br />
Zeit hätte, mich früher in die Projekte einzubringen. Mit vielen v<strong>or</strong>wurfsvollen<br />
roten Ausrufezeichen grinst mich der Projektplan der Konzeptionsentwicklung<br />
für den neuen Master-Studiengang hämisch an. Manchmal<br />
hasse ich Lehre!<br />
»Joe, langsam wird es schwierig. Der Projektträger scharrt schon mit<br />
den Füßen. Mehlh<strong>or</strong>n ruft hier alle drei Tage an und will wissen, was<br />
genau er zu Projektende von uns kriegt. Und wir haben noch nicht einmal<br />
die Transkripte fertig!«<br />
Stille am anderen Ende, dann ein leises Seufzen. Joe weiß das alles. Ich<br />
beiße mir auf die Zunge. Es ist mir klar, dass Joe seit mehreren Nächten<br />
zusammen mit den Studis v<strong>or</strong> dem Rechner sitzt und die <strong>To</strong>nbänder der<br />
mitgeschnittenen Beobachtungen, Diskussionen und Interviews mit den<br />
Unternehmenspartnern abtippt, damit wir hier am Lehrstuhl endlich in die
8<br />
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Analyse gehen können. Langsam mache ich mir wirklich S<strong>or</strong>gen um das<br />
Projekt. Ob da substanziell mehr herauskommen kann, als man über Organisationswandel<br />
und <strong>Change</strong> Management eh schon weiß? Die Präsentation<br />
v<strong>or</strong> Mehlh<strong>or</strong>n und den Gutachtern flackert auf der Innenseite meiner<br />
Stirn auf und ich sehe mich und meinen Chef Ge<strong>or</strong>g v<strong>or</strong> dem Auswahlgremium<br />
auf den Pudding schlagen. Dass man <strong>Change</strong> Management pragmatisch,<br />
ziel<strong>or</strong>ientiert angehen müsse. Dass wir mit dem Projekt endlich<br />
einmal einen Ratgeber gestalten wollen, der die ganze sonst übliche Esoterik<br />
vermeidet. Der vielmehr klare, eindeutige Handlungsanweisungen<br />
geben soll. <strong>–</strong> Haben wir zu hoch gepokert?<br />
»Zu allem Überfluss will Ge<strong>or</strong>g m<strong>or</strong>gen auch noch einen Kurzbericht<br />
von mir. Als ob das nicht alles schon genug wäre. Kannst du mir kurz die<br />
Anfangskonstellation schildern?« Anstelle einer Antw<strong>or</strong>t quält sich ein<br />
ausgedehntes Gähnen aus dem Hörer.<br />
»Diese Kunsts<strong>to</strong>ff-Firma steht offenbar schon länger unter Druck, nicht<br />
erst seitdem wir drin sind. Unmittelbar v<strong>or</strong> dem Projektstart spitzte sich<br />
die Lage zu: Krisenintervention durch die Eigentümer in F<strong>or</strong>m eines Geschäftsführerwechsels.<br />
Erinnerst du dich noch an unser Akquisegespräch<br />
mit diesem alten Haudegen, der die Firma aufgebaut hat?«<br />
Und ob ich mich erinnere. Das war eine harte Nuss. Mit Wissenschaft<br />
hatte er nicht viel am Hut, dieser Geschäftsführer, und wollte unbedingt<br />
ein Ergebnis »für die Praxis« von uns.<br />
»Ob der wusste, dass sich da etwas zusammenbraut?«<br />
»Ja, ich vermute. Deswegen hat er sich auch auf uns eingelassen. Zumal<br />
er die Firma nur wenige Jahre v<strong>or</strong>her an eine Gruppe verkauft hatte.«<br />
»Er wird zu klein gewesen sein, um selber unabhängig zu bleiben. Und<br />
dann noch so weit ab vom Schuss … Kreuzwörlingen ist ja nicht gerade<br />
der Nabel der Welt.«<br />
»Wahrlich nicht, Harald. Ich sage nur ›Hotel Garni‹ … Und nach dem<br />
Verkauf haben plötzlich die Kennzahlen nicht mehr gestimmt, und der<br />
V<strong>or</strong>stand ist nervös gew<strong>or</strong>den.«<br />
»Und die haben ihn dann in die Wüste geschickt?«<br />
»Genau. Geholfen hat ihm das Projekt nicht mehr. Kurz v<strong>or</strong> Projektstart<br />
ist ein Neuer gekommen. Und seither versucht der, die Lage in den Griff<br />
zu kriegen. Mit neuem Managementkonzept, Umsetzungsplanung, <strong>To</strong>ols,<br />
sogar Beratung ist am Start. Die ganze Palette.«
9<br />
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»Und dann?«<br />
»Ich bin erst mal froh gewesen, dass wir überhaupt drin bleiben konnten.<br />
Dann geschah ungefähr, was wir vermutet hatten. Vielleicht nicht so<br />
radikal, aber dennoch. Die Orientierungen, die wir gaben, kamen nicht so<br />
an, wie wir gehofft hatten. Aber folgenlos waren sie auch nicht. Also<br />
weder so noch so. Irgendwie seltsam.«<br />
»Was heißt das genau? Wo stehen die jetzt?«<br />
»Harald, ich bin mitten im Abhören der Interviews! Diese Frage kannst<br />
du mir in einer Woche stellen, wenn ich wieder Abstand habe! Wie gesagt<br />
<strong>–</strong> m<strong>or</strong>gen Mittag hast du die Transkripte. Und dann können wir in die<br />
Interpretation und Abstraktion gehen. Da kann ich doch wieder auf dich<br />
zählen, Harald?«<br />
Ich hole tief Luft. So schlimm kann das ja nicht sein; eigentlich ist es<br />
ein Routineprojekt. Aber ich schlucke das hinunter. Er hat ja Recht.<br />
»Natürlich«, erwidere ich und lasse die Luft wieder ab. »Entschuldige. Ich<br />
schaue die Sachen durch und dann sehe ich zu, was ich zusammenbekomme.<br />
Ich will das endlich erledigt haben. Okay?«<br />
Und m<strong>or</strong>gen bei Ge<strong>or</strong>g muss ich eben improvisieren.<br />
»Okay und nix für ungut, Harald! Dir einen schönen Abend. Mach’s<br />
gut.«<br />
»Schönen Abend«, eigentlich hatte ich den Abend für die Transkripte<br />
geblockt. Und nun? Alternativen gibt es auf der linken Seite meines<br />
Schreibtisches genug. »Schönen Abend« <strong>–</strong> so ein Scherzbold. Ich lege den<br />
leise v<strong>or</strong> sich hin tutenden Hörer auf. Aber warum eigentlich nicht? Niemand<br />
wartet auf mich, ich habe mich abgemeldet, selbst die Kleine ist vers<strong>or</strong>gt.<br />
Nach ein paar Minuten Internet-Recherche entscheide ich mich und<br />
verlasse rasch das Büro. Ich bin der Letzte auf dem Flur. Auch gut, dann<br />
eben allein.
»Der Natur gleichsam den Spiegel v<strong>or</strong>zuhalten.«<br />
»Schwört!«<br />
Wie ein Donner lässt das W<strong>or</strong>t die Luft erzittern. Der junge Mann steht<br />
keine zwanzig Meter von mir entfernt und fesselt die beiden v<strong>or</strong> ihm mit<br />
tiefen, düsteren Blicken. Es läuft mir wohlig kalt den Rücken herunter, als<br />
ich den Schock in ihren Augen sehe. »Beobachter haben es bequemer«,<br />
denke ich so bei mir und räkle mich in meiner Loge. In all dem Stress der<br />
letzten Wochen plötzlich einen Abend geschenkt zu bekommen, ist eigentlich<br />
ein Witz. Aber diesmal bleibe ich egoistisch. Dieses eine Mal. So<br />
etwas sollte man trainieren. Joe und seine <strong>To</strong>nbänder fallen mir ein, mein<br />
Gewissen meldet sich. Nein, Harald, hier geht es um deine W<strong>or</strong>k-Life-<br />
Balance. Jawoll! Entspann dich!<br />
»Und, bitt’ ich, stets die Finger auf den Mund! Die Zeit ist aus den<br />
Fugen! Weh mir, zu denken, dass ich geb<strong>or</strong>en ward, sie einzurenken!<br />
Nun kommt, lasst uns zusammen gehn.«<br />
Das Programmheft in meinen Händen bekommt erste Falten und Knicke.<br />
Schön symmetrisch natürlich. Als ob die Zeit heute in den Fugen wäre.<br />
Ha! … So weit weg ist der alte Shakespeare gar nicht. Bloß, dass sich<br />
heute keiner mehr zutraut, die Zeit wieder in die Fugen, ins Lot zu bringen.<br />
Hat man sich vielleicht schon an die Probleme mit den Fugen gewöhnt?
11<br />
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Marktturbulenz und Wertedynamik heißt das heute. Flexibilität. Time<strong>to</strong>-market.<br />
Veränderungsfähigkeit. Innovationsfähigkeit. Nachhaltigkeit.<br />
Aber gemeint ist wohl nichts anderes. Stabilitäts-, Übersichtlichkeits-,<br />
Planbarkeits-, Rekursionsprobleme. Der Rest <strong>–</strong> alles Euphemismen. Wir<br />
renken nichts mehr ein, geben keine V<strong>or</strong>gaben aus, wir rennen atemlos hinterher,<br />
sind getrieben. Zum Glück gibt’s ja noch Orientierungshilfen.<br />
S<strong>to</strong>pp, Harald! Du bist nicht hier, um dich selbst am ersten freien Abend<br />
seit Monaten mit den Plattheiten der Managementliteratur zu martern, die<br />
du eben am Schreibtisch zurückgelassen hast. Nicht jetzt. Schluss damit.<br />
H<strong>or</strong>atio: »Kommt folgen wir! Welches Ende wird dies nehmen?«<br />
Marcellus: »Etwas ist faul im Staate Dänemarks.«<br />
H<strong>or</strong>atio: »Der Himmel wird es lenken.«<br />
Marcellus: »Lass uns gehen.«<br />
Im Staate Dänemark? Wahrlich, nicht nur d<strong>or</strong>t. Jeder Staat hat doch sein<br />
Problem mit der Globalisierung und der Turbulenz der Welt, und jeder<br />
führt ein Riesentheater auf, um seine Probleme damit zu kaschieren.<br />
Angesichts der Globalisierungsprobleme. Aber der Staat … Moment, wie<br />
war das eigentlich? … Hamlet kam aus Wittenberg und musste an seinen<br />
miefigen Hof zurück, weil sein Vater erm<strong>or</strong>det w<strong>or</strong>den war. Der Hof ist der<br />
Staat. Mit Polonius, Rosenkranz, Güldenstern und diesen ganzen komischen<br />
Typen mit ihren merkwürdigen Posten. Eigentlich ist der Hof doch<br />
auch nichts anderes als eine Organisation mit Positionen, Hierarchien,<br />
Intrigen und all ihren inf<strong>or</strong>mellen Strukturen. Der Staat ist eine Organisation.<br />
So bequem ist mein Sessel plötzlich gar nicht mehr.<br />
Bei Hofe konnte man sich mehr oder weniger mit sich selbst beschäftigen<br />
und endlos intrigieren. Aber es würde nicht mehr lange dauern, und<br />
dann gäbe es in Frankreich und England moderne Staats<strong>or</strong>ganisationen<br />
mit einer Monarchie, teilweise sogar schon mit parlamentarischer Verfassung.<br />
Das ist keine hundertfünfzig Jahre entfernt. Es wird nicht viel übrig<br />
bleiben vom mittelalterlichen Hof! Nur ahnte man noch nichts von dem<br />
massiven Veränderungsdruck, der gerade auf die Höfe zukam. Hamlet<br />
hatte, als Shakespeares Protagonist, den neuen Zeitgeist mit Löffeln gefressen,<br />
er war infiziert! Kein Wunder, dass er die Wände hochging in Helsingör.
12<br />
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Shakespeare ist von modernen Zeiten eigentlich nicht weit weg. Wenn<br />
ich so an den Veränderungsdruck auf n<strong>or</strong>male Unternehmen denke … der<br />
wird anscheinend immer höher. So mancher Manager sitzt wie der Frosch<br />
im <strong>To</strong>pf. Darunter ein Feuer, und langsam wird das Wasser heißer und heißer.<br />
So wie die Höflinge, die nicht spürten, dass es in Kürze unangenehm<br />
für sie würde. Hamlet hatte eigentlich gewusst, was auf Dänemark<br />
zukommt. Er hätte es in der Hand gehabt, das alte System zu verändern.<br />
Vielleicht war ja Hamlet der erste <strong>Change</strong> Manager der Moderne? Blödsinn.<br />
Management und höfische Intrige. Man kann Parallelen auch überstrapazieren.<br />
Ich hänge während der nächsten beiden Aufzüge an diesem<br />
Gedanken fest und folge dem Geschehen kaum noch.<br />
»Ich bitte dich, so achte mit der ganzen Kraft der Seele auf meinen<br />
Oheim!«<br />
Bei der Mausefallenszene kann ich mich endlich wieder auf das Stück<br />
konzentrieren. Ich erinnere mich an meine Penne-Zeiten und den damaligen<br />
Theaterbesuch. Eine nette Idee, ein Stück im Stück aufführen zu lassen.<br />
Hamlet nutzt eine Schauspieltruppe, um Claudius, den neuen König<br />
und vermeintlichen Mörder des alten Königs, mit der vermuteten Geschichte<br />
des M<strong>or</strong>des zu konfrontieren und f<strong>or</strong>dert H<strong>or</strong>atio auf, den König<br />
zu beobachten. Hamlet will sehen, ob Claudius betroffen reagiert, wenn<br />
dieser den von ihm begangenen M<strong>or</strong>d v<strong>or</strong>gespielt bekommt. Er will ihn<br />
mit dem Schauspiel überführen. Und wir können zuschauen, was zwischen<br />
den Figuren geschieht, während sie etwas beobachten.<br />
Die Stelle hat mir damals schon imponiert. Hamlet setzt den neuen<br />
König nicht direkt, sondern subtil und indirekt unter Druck. Der König<br />
wird zu einer Reaktion veranlasst, die er nicht auf eine direkte Intervention<br />
zurückrechnen kann. Hamlet zielt auf eine authentische Äußerung unter<br />
hochintriganten Bedingungen. Faszinierend.<br />
»Wollt Ihr Euch nicht zu mir setzen?«, fragt die Königin Hamlet, ihren<br />
Sohn. Nö, das will er natürlich nicht, er will ja Claudius beobachten! Der<br />
setzt sich deswegen gegenüber, neben Ophelia. Das registriert Polonius,<br />
Hamlet wird also auch beobachtet. Nur weiß niemand, dass er das weiß.<br />
»Denn seht, wie fröhlich meine Mutter aussieht!«, sagt Hamlet zu Ophelia.<br />
Ophelia blickt auf und sieht, dass alle sie anschauen. Beobachtung beobachtet<br />
Beobachtung. Das ist ja irre! Ich lehne mich verblüfft zurück.
13<br />
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Plötzlich fallen mir reihenweise Begebenheiten ein, in denen dies laufend<br />
rings um mich herum stattfindet, in Meetings, auf Konferenzen, bei Marktf<strong>or</strong>schung,<br />
Aktionärsversammlungen. <strong>–</strong> Laufend beobachtet einer den anderen.<br />
Vielleicht macht modernes Management auch nichts anderes? Mir<br />
rattern weitere Parallelen durch den Kopf. Aber halt. Das Stück im Stück<br />
hat schon begonnen. Jetzt wird es entscheidend: Der Mörder im Stück der<br />
Schauspieler tritt auf, Lucianus, während der König schläft.<br />
»Gelegne Zeit, kein Wesen gegenwärtig!«<br />
Das muss doch der Text sein, den Hamlet den Schauspielern geschrieben<br />
hat. Ich glaub’s ja nicht <strong>–</strong> Hamlet lässt den Schauspieler einen Text über<br />
Unsichtbarkeit sprechen. Hamlet spricht selbst aus dem Schauspieler, er<br />
hat sich selbst im Schauspieler verb<strong>or</strong>gen. Und dennoch schaut jemand zu.<br />
Claudius schaut Lucianus zu und er sieht <strong>–</strong> natürlich, sich selbst, er ist ja<br />
der tatsächliche Mörder von Hamlets Vater! Hamlet steckt im Schauspieler,<br />
er ist zum Spiegel gew<strong>or</strong>den. Ausgerechnet Hamlet, der Hineingew<strong>or</strong>fene,<br />
Überf<strong>or</strong>derte, Undurchschaubare. Bei dem nie ganz klar wird,<br />
inwieweit er selbst bewusst die Fäden in der Hand hat, oder verwickelt,<br />
hineingezogen, ohnmächtig bleiben muss. Eigentlich dachte ich, dass Veränderungsmanagement<br />
einen Helden braucht, der klare, eindeutige Verhältnisse<br />
herstellt. Aber vielleicht hantiert man da ja auch nur mit Spiegeln<br />
und versteckt sich dahinter? Immerhin könnte man so die eigenen Unsicherheiten<br />
verbergen, die eigenen Schwächen und Fehler unsichtbar<br />
machen. Und wenn man d<strong>or</strong>t ebenso mit Spiegeln hantiert, dann heißt das<br />
ja, dass man nie so ganz wissen kann, was wohin reflektiert wird. Man<br />
steckt ja dahinter! In allem, was man tut, verstrickt man sich mit dem Gegenstand<br />
und dem Prozess, man kennt die Rückspiegelung nicht und muss<br />
daher fast zwangsläufig teilweise ohnmächtig bleiben. Wie jeder Manager<br />
hat Hamlet eine klare Absicht, und vielleicht hat er auch, wie so mancher<br />
Manager, nur wenig V<strong>or</strong>stellung davon, was er auslösen wird?<br />
Jetzt noch mal ganz langsam. Das Schauspiel im Schauspiel zeigt den<br />
Akteuren ihre Rollen und ihre Realitäten. Das Theater zeigt dem Zuschauer<br />
seine Realität, sein gesellschaftliches und soziales Umfeld, sein<br />
Verwickelt-Sein. Claudius als Mörder schaut in den Spiegel des Schauspiels<br />
und beobachtet sich in der Gestalt des Lucianus. Eigentlich müsste<br />
das für jeden Beobachter in der Organisation gelten … Die Schauspieler
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da v<strong>or</strong>n auf der Bühne zeigen, in welchen Turbulenzen, Abhängigkeiten<br />
und gewaltigen Umbrüchen jeder Beobachter selber steckt. Und natürlich<br />
auch, welchen teils tragischen, teils urkomischen Anteil diese Beobachter,<br />
also die Manager, die Beteiligten, die Außenstehenden, an dem Schlamassel<br />
haben. Man sieht da v<strong>or</strong>n nur sich selber und noch dazu, wie man in<br />
einen Spiegel schaut.<br />
Und das geht noch weiter … es muss letztlich auch für mich, Harald<br />
Niedermeier, gelten. Ich schaue auch zu, und beobachte den Blick in den<br />
Spiegel. Kann denn das sein? Ich müsste sehen, wie ich in den Spiegel des<br />
Theaters schaue! Ich habe einen K<strong>not</strong>en im Hirn.<br />
Der F<strong>or</strong>tgang des Stücks interessiert mich auf einmal nicht mehr. Wenn<br />
ich diese ganzen Verstrickungen, die Beobachtung und die Gegenbeobachtung<br />
nun übertragen will <strong>–</strong> was bedeutet das für mich? Dass betriebliche<br />
Veränderungsprojekte kleine Inszenierungen im laufenden Theater der<br />
Organisation sind, in denen man sich gegenseitig beobachtet? Als Stücke<br />
im Stück gewissermaßen? Und dass man der Organisation dabei selber<br />
einen Spiegel v<strong>or</strong>hält? Vielleicht versucht die Organisation für sich herauszufinden,<br />
was an Veränderung denkbar, machbar oder verhinderbar ist?<br />
Ohne genau kontrollieren zu können, wer letztlich wen beeinflusst, verzerrt,<br />
verändert? Wieso eigentlich nicht, man sieht, welche Folgen derartige<br />
Inszenierungen haben können. Im Theater wie in der Praxis. Zum<br />
Glück hat Shakespeare auch Komödien geschrieben.<br />
Vielleicht stimmt ja doch etwas an der Parallele von Hamlet und den<br />
Managern. Nicht wenige moderne Manager machen ihren Job ebenso in<br />
intransparenten Situationen und nicht selten mit einiger Unsicherheit, was<br />
ihre Wirksamkeit angeht. Gerade, wenn es um Veränderung und Wandel<br />
geht, werden sie nicht selten in den Strudel von Mikropolitik und Prozessdynamik<br />
hineingezogen. Die Turbulenz, die ringsherum stattfindet, macht<br />
alles noch dramatischer. Der ganze Druck, die Veränderung von Arbeitsverhältnissen,<br />
Prekaritäten, ökologische und m<strong>or</strong>alische Probleme <strong>–</strong><br />
<strong>Change</strong> Management im Strudel des Wandels. Und nicht nur das <strong>Change</strong><br />
Management ist im Wandel. Derart verwickelte Situationen, hochkomplex,<br />
undurchdringlich, müssten die Leute, die Akteure unter Druck setzen,<br />
sie an Belastungsgrenzen führen, psychisch wie physisch. Die wachsenden<br />
Absenzen, das Anwachsen der psychosozialen Erkrankungen und<br />
der Boom von Emotion und M<strong>or</strong>al in der Managementliteratur kommen
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nicht von ungefähr. Jaja, »Heulen und Zähneklappern«! Zugegeben, man<br />
findet selten Exemplare von <strong>Change</strong> Managern, die in wildem Aufdeckungsdrang<br />
die Organisation zerstören <strong>–</strong> aber vielleicht findet man derartige<br />
Tendenzen auf beiden Seiten? Zumindest fehlt beiden weitgehend<br />
die Kontrolle über die Prozesse, im Risiko des Scheiterns steckt eine Ähnlichkeit.<br />
Vielleicht entsprechen die <strong>Change</strong> Manager von heute weniger<br />
den Helden als solch gebrochenen Figuren wie Hamlet, die für sich und<br />
andere die Inszenierung als Vehikel ihrer Kommunikation dringend brauchen?<br />
So habe ich die Lage noch nie wahrgenommen! Man sieht nicht<br />
mehr, in welchem Rahmen, auf welcher Bühne das alles geschieht. Wenn<br />
die Diagnose stimmt <strong>–</strong> Himmel, was kommt da alles auf uns zu?<br />
Vielleicht wäre es den Versuch wert, diese Fragen ab m<strong>or</strong>gen einmal an<br />
Joes Transkripten durchzuspielen. Ja, das müsste gehen. Da könnte ich mit<br />
etwas mehr Ruhe und Distanz eine Analyse mitlaufen lassen, auch wenn<br />
ich dazu eigentlich keine Zeit habe. Ich bin selber von dem Spiel betroffen,<br />
ich bin Empiriker, Sozialwissenschaftler, promoviert sogar!<br />
Ich suche nach etwas zu schreiben, finde aber nichts. Das Programmheft<br />
in meinen Händen zerfällt zwar fast, als ich es auseinanderfalte, aber<br />
es geht noch. In der leeren Sitzmulde neben mir klemmt ein Kugelschreiber.<br />
Ich Glückspilz! Ich streiche das Papier glatt und <strong>not</strong>iere mir einige<br />
Stichpunkte.<br />
<br />
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<br />
<br />
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<br />
Was hat Beobachtung mit <strong>or</strong>ganisat<strong>or</strong>ischer Veränderung zu tun?<br />
Ist <strong>Change</strong> Management etwa wie ein Theater, eine Inszenierung?<br />
Gar als Inszenierung in einer Inszenierung?<br />
Sind die Manager dabei nun die Geister, die Könige, Güldensterns<br />
oder lauter Hamlets? Wer verfasst eigentlich die Skripte?<br />
Ist <strong>Change</strong> Management ein unkontrollierbarer oder ein steuerbarer<br />
Prozess, und<br />
was passiert mit den Leuten, wenn die These stimmt, dass man in<br />
undurchdringlichen, zurückschlagenden Prozessen steckt?<br />
Was kommt auf das Management zukünftig zu? Verabschieden wir<br />
uns aus bekannten Umgebungen?
16<br />
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Die Grundfrage, die sich mir dabei mehr und mehr aufdrängt, ist viel<br />
schlichter: Was passiert, wenn sich Organisationen ändern sollen? Warum<br />
und falls ja: Wie tun sie das?<br />
Aufgewühlt und nervös verlasse ich das Theater. Ich habe das Gefühl,<br />
ganz von v<strong>or</strong>n anfangen zu müssen. Es kribbelt im Bauch, gleichermaßen<br />
wohltuend und verunsichernd. Anstatt »Shakespeare in Love« »Shakespeare<br />
in der KSV« <strong>–</strong> den Arbeitstitel habe ich schon einmal! M<strong>or</strong>gen muss<br />
ich mir wieder einen Notizblock kaufen. Ohne geht es nicht.
Aut<strong>or</strong>en und Künstler<br />
Ralf <strong>Wetzel</strong><br />
Ralf <strong>Wetzel</strong>, Dr. rer. pol., studierte Betriebswirtschaft in Chemnitz und<br />
Kings<strong>to</strong>n upon Hull (UK). Anschließend war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
am Institut für Innovationsmanagement und Personalentwicklung<br />
(ifip) der TU Chemnitz und arbeitete d<strong>or</strong>t in F<strong>or</strong>schungsprojekten zu den<br />
Themen Personal-, Organisations- und Netzwerkentwicklung. Er promovierte<br />
im Kolleg der Hans-Böckler-Stiftung »Nachhaltige Regionalentwicklung«.<br />
Seit Dezember 2007 ist Ralf <strong>Wetzel</strong> Leiter des Kompetenzzentrums<br />
für Unternehmensführung sowie Profess<strong>or</strong> für Unternehmensführung<br />
und Organisation an der Berner Fachhochschule (CH). Aktuelle<br />
Arbeitsschwerpunkte sind Organisations- und Kooperationsentwicklung,<br />
Innovationsmanagement und Beratungsf<strong>or</strong>schung.<br />
Holger <strong>Regber</strong><br />
Holger <strong>Regber</strong> studierte im Anschluss an seine Ausbildung zum Elektromonteur<br />
Berufspädagogik, Elektrotechnik/Elektronik und Betriebswirtschaft.<br />
Von 1988 bis 1990 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bezirksliteraturzentrum<br />
Karl-Marx-Stadt (Chemnitz). 1990 arbeitete er als<br />
Redakteur bei der ersten freien Zeitung der DDR, dem »Wochenblatt«. Seit<br />
1990 ist er als Trainer, Berater und Projektleiter mit dem Schwerpunkt<br />
Produktion und produktionsnahe Bereiche bei Fes<strong>to</strong> Didactic Denkend<strong>or</strong>f<br />
tätig.
149<br />
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Gudrun <strong>Stahn</strong><br />
Gudrun <strong>Stahn</strong>, Dr. rer. nat., studierte Arbeits- und Ingenieurpsychologie an<br />
der TU Dresden und arbeitete 13 Jahre an der Fakultät Maschinenbau der<br />
Universität Magdeburg. 1996 promovierte sie am Institut für Psychologie<br />
der TU Dresden über die Gestaltung von Freiräumen in Arbeitstätigkeiten.<br />
Nach einer einjährigen Beratertätigkeit bei der MA&T Sell und Partner<br />
GmbH in Aachen gründete sie im Januar 1998 zusammen mit Oliver Lilie<br />
die MA&T Organisationsentwicklung GmbH in Magdeburg. Seitdem ist sie<br />
d<strong>or</strong>t als geschäftsführende Gesellschafterin tätig und bearbeitet F<strong>or</strong>schungsprojekte<br />
und Beratungsaufträge in den Geschäftsfeldern Unternehmens-<br />
und Netzwerkentwicklung. Schwerpunkte sind Strategie- und<br />
Potenzialberatung, Geschäftsprozessgestaltung und Arbeits<strong>or</strong>ganisation<br />
sowie f<strong>or</strong>mative Evaluation.<br />
André Kozik<br />
Neben seiner Berufsausbildung zum Buchdrucker beschäftigte sich André<br />
Kozik intensiv au<strong>to</strong>didaktisch mit Malerei und Grafik. 1987 wurde er als<br />
Mitglied in den »Verband Bildender Künstler der DDR« aufgenommen.<br />
Seit 1990 arbeitet er als Bühnentechniker am Schauspielhaus Chemnitz.<br />
Angeregt durch die Arbeit am Theater entstehen v<strong>or</strong>wiegend Materialcollagen<br />
und Objekte. Seit 2001 ist André Kozik Mitglied im Bund Bildender<br />
Künstler Deutschlands und seit 2004 V<strong>or</strong>standsmitglied im Chemnitzer<br />
Künstlerbund.
150<br />
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