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YALLA KLIMASCHUTZ

Stylisch von Kopf bis Fuß mit Secondhand-Looks. Unsere beiden Models Ajdin und Miriam haben ihre Outfits

bei „Marlo Vintage“ gefunden. Egal ob Hemd oder Hose, Schal oder Schuh, T-Shirt oder Tasche: Für jede

Jahreszeit kommt man für wenig Geld auf ein cooles Outfit. Wir sagen: Kein „Hemdscham“-Alarm!

ZUM

HEMDSCHÄMEN?

Secondhand-Boutiquen boomen

in den letzten Jahren.

Jedoch herrscht in migrantischen

Communities immer

noch ein Stigma gegen den

Kauf von gebrauchter Kleidung.

Über Sauberkeitswahn und

Armutsvorurteile.

Text: Nada El-Azar, Fotos: Zoe Opratko

Ein Elternbesuch in Wien-Favoriten. Zum Mittagessen

trage ich meine „neue“ Lieblingsbluse im 70s-Look,

die ich wenige Tage zuvor in einem Secondhand-Shop

gekauft habe. Meiner Mutter fällt das Stück sofort auf. „Schöne

Bluse! So eine ähnliche hatte ich vor Ewigkeiten auch“, kommentiert

sie. „Danke“, entgegne ich, „die habe ich für 12 Euro

gebraucht gekauft.“ Sofort verzieht Mama das Gesicht. „Warum

kaufst du denn gebrauchte Sachen? Das hatte vorher schon

jemand an! Brauchst du Geld?“, ist ihre Antwort.

DER SECONDHAND-BOOM KOMMT

BEI MIGRA-ELTERN NICHT AN

Kaum eine Industrie ist in den letzten Jahren so stark gewachsen

wie die Bekleidungsindustrie. Statistiken zeigen, dass

jährlich mehr als 55 Millionen Tonnen Kleidung verkauft

werden – viel davon landet ungetragen wieder im Müll. Der

Boom fordert Opfer auf vielen Ebenen: Die Arbeitsbedingungen

in den Textilfabriken, die sich häufig in Ländern im Globalen

Süden befinden, verschlechtern sich stetig. Man erinnert sich

mit Schrecken an den Gebäudeeinsturz des Rana Plaza in

Bangladesch, bei dem 1000 Menschen starben. Deswegen

ist es wichtig, Kleidung bewusst zu kaufen und bereits getragenen

Stücken eine zweite Chance zu geben. Die Vorbehalte

um Secondhand-Fashion sind vor allem bei jungen Menschen

viel schwächer geworden – jedoch in migrantischen Familien

überzeugt dieser Trend oft nicht. Woran liegt das?

BURBERRY-SCHAL FÜR EINEN EURO

Ähnliche Begebenheiten, wie sie ich mit meinen Eltern erlebt

habe, schildert auch die Polin Aneta. Während sie und ihre

FreundInnen regelmäßig in Wien in Shops nach coolen Teilen

aus zweiter Hand stöbern, wollen ihre Cousinen in ihrem kleinen

Heimatort in Polen gar nicht erst gesehen werden, wie sie

mit Aneta einen Secondhandshop betreten. Zu groß ist Scham.

„Man glaubt, dass nur arme Leute in einen Secondhand-Shop

gehen und dass die Kleidung nicht sauber sei“, so die 27-jährige

Aneta. Auch ihre Eltern betrachten ihre Leidenschaft für

das „thriften“ argwöhnisch. „Die Generation unserer Eltern und

Großeltern versteht den Sinn dahinter gar nicht. Sie verbinden

das noch zu stark mit dem Sozialismus und der Armut. In

Großstädten wie Warschau sieht es anders aus, aber in den

kleinen Orten ist das Stigma noch sehr groß“, so die Studentin.

Dass die Secondhandshops vielerorts gemieden werden, ist

zu einem Vorteil für Aneta geworden. „Ich habe einmal einen

echten Burberry-Schal für einen Euro bekommen!“, erzählt sie

stolz.

SECONDHAND WIRD ZU

UNRECHT ABGEWERTET

„In der Balkan-Community ist allgemein bekannt, dass es

eine gewisse 24/7-Eitelkeit und einen Hang zum Protzen gibt.

Secondhand klingt dort alles andere als glamourös“, sagt die

Studentin Zora. Sie hat ihre Wurzeln in Nordmazedonien und

wurde über Social Media beim Kauf neuer Kleidung zunehmend

verantwortungsbewusster. „Ich habe beim Einkaufen das

Motto: ‚Hey, du brauchst nicht jeden Monat ein neues Oberteil,

das Frauen in Entwicklungsländern für einen Niedriglohn

produziert haben!‘“, so die 26-Jährige. Ihr ist es ein wenig

peinlich, wie ihre Verwandten auf Instagram mit den neuesten

Markenklamotten posen. Trotzdem versteht sie, was die

Gründe dafür sein könnten. „Ich denke, dass der Drang, teure

Marken zu kaufen und herzuzeigen, bei vielen im Kern auch mit

sozioökonomischen Komplexen zusammenhängt. Vor allem in

Arbeiterfamilien will man sich oft ‚das Gegenteil beweisen‘ und

zieht sich dafür extra neu und teuer an und gibt das auch an

die Kinder weiter“, erklärt Zora. Gleichzeitig hat sie bei vielen

migrantischen Müttern aus ihrem Umfeld einen regelrechten

Sauberkeitswahn beobachtet. „Getragene Kleidung wird nur

innerhalb der Familie weitergegeben, aber Secondhand-Shops

werden total abgewertet. Man wisse ja nicht, wer vorher die

Kleidung getragen habe, ist häufig das Argument“, lacht sie.

Dabei wird Kleidung in Secondhand-Shop selbstverständlich

immer gewaschen verkauft. Wieso nicht diese alten Muster

aufbrechen und den Gang zum Secondhand-Shop wagen?

Vielleicht wird jemandes altes Hemd dort zu deinem neuen

Lieblingsstück. ●

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