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Restauro 4/2021

Kulturerbe braucht Verantwortung

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Magazin zur Erhaltung des Kulturerbes<br />

N O 4<br />

<strong>2021</strong><br />

Bewahren, sammeln, forschen<br />

Kulturerbe braucht Verantwortung<br />

OPEN ACCESS<br />

Die digitalen Sammlungen<br />

der Bayerischen Staatsbibliothek<br />

THEORIE<br />

Ein Beitrag zur Verwissenschaftlichung<br />

der Konservierung und Restaurierung<br />

CORONA-FÖRDERLINIE<br />

Erste Bilanz der Ernst von<br />

Siemens Kunstststiftung


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EDITORIAL<br />

Liebe Leser:innen,<br />

Kulturerbe bewahren heißt, Verantwortung übernehmen und den Umgang mit unserem<br />

kulturellen Erbe auf Zukunftsfähigkeit zu prüfen: Wie schützen und erhalten wir die historische<br />

Substanz für nachfolgende Generationen? Wem kommt eine herausgehobene Rolle<br />

beim Schutz, Erhalt und der Vermittlung zu? Welche Herausforderungen und Chancen ergeben<br />

sich dabei? Und wie sehen denkmalpflegerische Ansätze im internationalen Kontext<br />

aus? Für den Architekten und Wissenschaftler Professor Christian Hanus von der Donau-<br />

Universität Krems ist neben der Bewahrung unseres Kulturerbes besonders der Aspekt der<br />

Nutzung entscheidend. Wie sich Nutzung und der Perspektivenwechsel in der Praxis von<br />

Immobilienwirtschaft, Tourismus und Gesetzgebung umsetzen lässt, erklärt er im Interview<br />

auf Seite 12. Der Pariser Architekt Yves Ubelmann sorgt mit seinem Start up Iconem dafür,<br />

dass gefährdete Kulturgüter dem kulturellen Gedächtnis zugänglich bleiben. Mit 3D-Modellen<br />

lässt sein Team Welterbestätten wie die vom Islamischen Staat gesprengten Tempel<br />

von Palmyra oder die durch einen Brand beschädigte Kathedrale Notre Dame wiederauferstehen<br />

(Seite 32).<br />

Als die Museen vor einem Jahr plötzlich schließen mussten, war die Ratlosigkeit, wie es<br />

weitergehen soll, groß. Von der Regierung gab es Kurzarbeitergeld für Angestellte. Dass<br />

Freiberufler:innen an Museen große Probleme bekommen würden, war Dr. Martin Hoernes,<br />

Generalsekretär der Ernst von Siemens Kunststiftung, schnell klar. Deshalb legte die<br />

Ernst von Siemens Kunststiftung sofort ein Förderprogramm für freie Restaurator:innen<br />

und Wissenschaftler:innen auf. Das läuft bis heute. Nun zieht Martin Hoernes im Gespräch<br />

mit RESTAURO eine erste Bilanz (Seite 20).<br />

Konservator-Restaurator Dietmar Wohl und Wissenschaftsphilosoph Prof. Dr. Paul Hoyningen-Huene<br />

arbeiten derzeit gemeinsam über die Theorie der Konservierung/Restaurierung.<br />

Ein Buch zu diesem Thema ist in Vorbereitung. Beim Verfassen eines Kapitels wurde<br />

schnell klar, dass es Werke der modernen Kunst gibt, für die die bislang gültigen Prinzipien<br />

der Konservierung/Restaurierung nicht zutreffen. Anhand konkreter Beispiele wird aufgezeigt,<br />

wie bestehendes Wissen der Konservierungs- und Restaurierungsdisziplin so strukturiert<br />

und dargestellt werden könnte, dass es dem entspräche, was in den Wissenschaften<br />

üblich ist (Seite 52).<br />

Wir wünschen Ihnen viel Freude mit dieser Ausgabe und bleiben Sie gesund!<br />

Ihre RESTAURO-Redaktion<br />

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restauro_zeitschrift – und bleiben Sie auf dem Laufenden.<br />

4/<strong>2021</strong><br />

3


INHALT<br />

KULTURERBE UND VERANTWORTUNG<br />

12 Kulturerbe braucht Verantwortung und Esprit<br />

Professor Christian Hanus von der Donau-Universität Krems<br />

plädiert für einen kulturellen Wandel in der ökonomischen<br />

Nutzenbetrachtung baukulturellen Erbes<br />

19 Neuer UNESCO-Lehrstuhl in Bonn<br />

Forschung zu Mensch-Wasser-Systemen stärkt Nachhaltigkeitsziele<br />

der Vereinten Nationen<br />

Wiederaufbau-Seminar der Donau-Universität Krems<br />

in Accumoli (Italien) nach dem starken Erdbeben 2016<br />

20 „Es ist schon eine sehr kritische Situation“<br />

Dr. Martin Hoernes, Generalsekretär der Ernst von Siemens Kunststiftung,<br />

zieht nach einem Jahr der Corona-Förderlinie eine erste Bilanz<br />

25 Auf der Suche nach verschollenem NS-Raubgut<br />

Provenienzforscherin Kathrin Kleibl gewährt Einblicke in ihre Arbeit am<br />

Deutschen Schifffahrtsmuseum (DSM) in Bremerhaven<br />

26 Wie Überzeugungsarbeit den Bestand rettet<br />

Hermann Klos, Geschäftsführer der Holzmanufaktur Rottweil, verrät,<br />

wie wenige Eingriffe über 800 Holzfenstern erhalten<br />

28 Bewahren und Beleben<br />

Das Ethnologische Museum in Berlin und das Goethe-Institut Luanda<br />

unterstützen Restaurierungsmaßnahmen in Angola<br />

Marlies Giebe blickt auf ihre langjährige Tätigkeit bei<br />

den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zurück<br />

30 Nachhaltige Schädlingsbekämpfung als insektizidfreie und<br />

wirtschaftliche Alternative<br />

Wie die Nürnberger Firma APC Schädlinge nachhaltig mit<br />

Schlupfwespen aus zum Teil eigener Zucht bekämpft<br />

32 Die Kulturerbe-Aktivisten<br />

Der Pariser Architekt Yves Ubelmann sorgt mit seinem Start up dafür, dass<br />

gefährdete Kulturgüter dem kulturellen Gedächtnis zugänglich bleiben<br />

35 Gegen den Verfall<br />

Einer futuristischen Architektur-Ikone auf Sardinien droht die Zerstörung.<br />

Das Objekt versucht nun eine Initiative zu retten<br />

36 Gelebte Nachhaltigkeit und die Kunst des Farbenmachens<br />

Wie Kremer Pigmente (Aichstetten) Nachhaltigkeit bewusst lebt<br />

Geschäftsführer David Kremer und Firmengründer<br />

Dr. Georg Kremer achten auf Nachhaltigkeit im Betrieb<br />

Sabine Posselt vor Guido Renis „David mit dem Haupte<br />

Goliaths“ (Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden)<br />

39 Das Klima im Blick behalten trotz Corona<br />

Sind Strategien, die im Kampf gegen das Virus geholfen haben, auch<br />

bei der Bewältigung der Klimakrise nützlich?<br />

40 „Am Schließtag durch die Galerien zu gehen, habe ich als Privileg angesehen“<br />

Marlies Giebe, einstige Leiterin der Gemälderestaurierung der Staatlichen<br />

Kunstsammlungen Dresden, blickt auf ihre langjährige Tätigkeit zurück<br />

47 Ein Museum als Hoffnungsträger<br />

Im Herbst <strong>2021</strong> soll das Grand Egyptian Museum eröffnet werden und<br />

mehr als 50.000 Artefakte zeigen<br />

CORONA-FÖRDERLINIE<br />

48 Die Restaurierung des Gemäldes „David mit dem Haupte Goliaths“ von<br />

Guido Reni und Werkstatt, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden<br />

Wie Diplom-Restauratorin Sabine Posselt das Gemälde „David mit dem<br />

Haupte Goliaths“ der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden restauriert<br />

FORSCHUNG<br />

51 Über den praktischen Umgang mit Museumsschädlingen<br />

Eine neue Homepage informiert umfassend über Integriertes<br />

Schädlingsmanagement (IPM)<br />

Fotos (v. o. n. u.): Donau-Universität Krems, Uta Baier, Kremer Pigmente, Claudia Hartwich<br />

4<br />

5/<strong>2021</strong>


52 Anmerkungen zur Verwissenschaftlichung<br />

der Konservierung/Restaurierung (Teil 2)<br />

Ein Beitrag über die Theorie der Konservierung<br />

und Restaurierung<br />

REZENSION<br />

61 „Im Digitalen ist alles Kopie“<br />

Von Fallstricken, Risiken, Mut und Pragmatismus<br />

bei der Digitalisierung von Kulturgut<br />

AUSSTELLUNG<br />

62 Rembrandts Orient. Westöstliche Begegnung in der<br />

niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts<br />

Wie reagierten die Maler des Goldenen Zeitalters auf<br />

Einflüsse des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens?<br />

RUBRIKEN<br />

6 KUNSTSTÜCK<br />

Eine Zeitreise zu Burgen des Mittelalters<br />

8 BLICKPUNKT<br />

Jubiläum: Der Verband der Restauratoren (VDR)<br />

feiert sein 20-jähriges Bestehen. Wir gratulieren!<br />

8 Messdatenerfassung mit Datenloggern<br />

9 Die neuen digitalen Sammlungen der Bayerischen<br />

Staatsbibliothek (BSB) in München<br />

10 Der ICOMOS-Nachwuchswettbewerb <strong>2021</strong><br />

11 Forschung zu neuem Oddy-Test<br />

64 TERMINE<br />

64 Veranstaltungen<br />

64 Impressum<br />

65 Vorschau<br />

66 PORTRÄT<br />

Eva Ritz, Restauratorin am Ethnologischen Museum<br />

Berlin<br />

Über 130<br />

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Cover<br />

Das Gemälde „David mit dem Haupte Goliaths“ aus der Werkstatt Guido<br />

Renis gehört aus konservatorischer Sicht seit längerem zu den behandlungsbedürftigen<br />

Bildern der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.<br />

Sabine Posselt gibt Einblicke in die Restaurierung (ab Seite 48).<br />

Kremer Pigmente<br />

Aquarellfarben<br />

Foto: Claudia Hartwich/Sabine Posselt<br />

Kremer Aquarellfarben werden in<br />

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5/<strong>2021</strong><br />

5


KUNSTSTÜCK<br />

Majestätisch, schutzbietend und<br />

herausfordernd<br />

Frédéric Chaubin hat sich für seinen jüngst erschienenen Bildband „Stone<br />

Age“ auf eine Zeitreise zu Burgen des Mittelalters begeben. Herausgekommen<br />

ist ein Einblick in die spannende Zeit der Hochphase des Burgenbaus<br />

1<br />

ABSTRACT<br />

Majestic, protective and challenging<br />

Frédéric Chaubin went on a journey through time<br />

to castles of the Middle Ages for his recently published<br />

illustrated book "Stone Age". The result is<br />

an insight into the exciting time of the heyday of<br />

castle building.<br />

Fünf Jahre war der französische Journalist<br />

und Autor Frédéric Chaubin in ganz Europa<br />

unterwegs und hat über 200 mittelalterliche<br />

Burgen für seinen Bildband „Stone Age“ einer<br />

Linhof-Fachkamera fotografiert: Wir begeben<br />

uns auf eine Zeitreise von rund 400<br />

Jahren – vom Mittelalter bis ins 15. Jahrhundert.<br />

Chaubin schafft es, jedes Bauwerk seine<br />

eigene Geschichte erzählen zu lassen,<br />

gleichzeitig wirken die Bilder geheimnisvoll<br />

und verzaubernd, was auch die Kraft und Bedeutung<br />

der Burgen damals wie heute unterstreicht.<br />

Der im XL-Format gedruckte, dreisprachige<br />

Bildband ist in fünf große Kapitel<br />

eingeteilt. Im ersten Abschnitt „Stein-Zeit“<br />

geht Chaubin auf frühe Burgenbauten ein,<br />

die mit ihrer massiven Bauweise noch heute<br />

als Monumente der Vergangenheit zählen<br />

und primär den Zweck der Verteidigung und<br />

Verschanzung hatten. Hier setzt er deren<br />

Rustikalität, die inneliegende Rohheit und die<br />

unbearbeiteten Materialien in den Fokus.<br />

Das zweite Kapitel „Vertikale Wachsamkeit“<br />

geht einen Schritt weiter und zeigt Fotografien<br />

von sogenannten „Höhenburgen“, Burgen,<br />

die vornehmlich auf Hügeln erbaut worden<br />

sind und eine Wach- und Verteidigungsfunktion<br />

hatten. Chaubin schafft es, hier insbesondere<br />

bei denjenigen Burgen, die sich<br />

auf Felsen befinden, die Monumentalität und<br />

gleichzeitig auch die Schönheit der Bauten<br />

und die damals wie heute architektonische<br />

Meisterleistung des Baus auf seinen Bildern<br />

wiederzugeben. Der dritte Abschnitt zeigt<br />

unter dem Titel „Instabile Grenzen“ diejenigen<br />

Burgen, die im Hochmittelalter entstanden<br />

sind, zu einer Zeit ohne geographische<br />

Stabilität und politische Unstetigkeiten. Daher<br />

kann man in Gebieten Burgen mit verschiedenen<br />

geographischen Ursprüngen finden<br />

– mit überlagerten Typologien oder auch<br />

durch Änderungen der jeweiligen<br />

Bewohner:innen, denn sobald ein Gegner eine<br />

Burg einnahm, baute er diese seinen eigenen<br />

Vorlieben entsprechend um. In diesem<br />

Abschnitt finden sich Burgen, die durch<br />

besondere Bauelemente die so typische Silhouette<br />

bilden. Durch die geschickte Anordnung<br />

der Bilder lässt sich hier eine kleine<br />

Entwicklung der Typologie erkennen.<br />

Das vierte Kapitel steht unter dem Thema<br />

„Krieg und Frieden“ und umfasst die Zeit<br />

des Spätmittelalters, eine Zeit der Umbrüche<br />

und Neuanfänge an der Schwelle zur Renaissance,<br />

was sich auch in der vergleichsweise<br />

feineren Architektur der Burgen widerspiegelt.<br />

Aufgrund der Verfestigung der europäischen<br />

Grenzen bleibt von der ursprünglichen<br />

Bauaufgabe der Burg, Schutz und Verteidigung<br />

vor Angreifern, nicht mehr viel übrig,<br />

und der Schwerpunkt verlagert sich auf die<br />

Repräsentation. Dabei fällt jedoch auf, dass<br />

bei Burgen in Regionen, die weiterhin von<br />

unruhigen Verhältnissen geprägt sind, die<br />

Verteidigungsfunktion vorhanden bleibt.<br />

Chaubin hebt in seinen Fotografien von Burgen<br />

wie etwa Coca in Spanien diese Unterschiede<br />

gut hervor. Der letzte Abschnitt<br />

(„Von Ruinen zur Erneuerung“) zeigt Ruinen,<br />

die nichts an ihrer früheren Imposanz verloren<br />

haben und für das Ende der Hochzeit der<br />

Burgen und gleichzeitig auch für deren Revival<br />

in späteren Jahrhunderten stehen, wie<br />

man es etwa in Motiven der Malerei im 18.<br />

Jh. und später sehen kann, welche die Burgruine<br />

romantisiert und als Ort für Träume<br />

poetisiert.<br />

Fazit: Die Burg als Gebäudetyp verändert<br />

sich also über die Jahrhunderte hinweg und<br />

bleibt jedoch stets ein Symbol für die Repräsentation<br />

von Macht und Standfestigkeit.<br />

Auf der anderen Seite ist die Burg ein Medium<br />

für Träume und Fantasien. Dies hat Chaubin<br />

mit „Stone Age“ beeindruckend festgehalten:<br />

ein Einblick in die spannende Zeit der<br />

Hochphase des Burgenbaus.<br />

Mandana Bender M. A.<br />

6 4/<strong>2021</strong>


KUNSTSTÜCK<br />

2 3<br />

4<br />

1<br />

La Calahorra ist ein Renaissance-Palast, der<br />

sich hinter dem Äußeren einer Festung verbirgt.<br />

Spanien, Granada, 16. Jh.<br />

2<br />

Die Spornburg Rocca Calascio fiel keiner<br />

Belagerung, sondern einem Erdbeben zum Opfer.<br />

Italien, Abruzzen, 11./13. Jh.<br />

3<br />

Auf ihrem schiffsförmigen ovalen Sockel überstand<br />

die Burg Eltz die Zeiten und vereint in ihrer<br />

Architektur dank der gemeinschaftlichen Um- und<br />

Ausbauten einer verzweigten Familie Gotik und<br />

Renaissance. Deutschland, Rheinland-Pfalz,<br />

12./16. Jh.<br />

4<br />

Die Burg von Coca vereint Mudéjarstil und<br />

Gotik. Doppelte Ringmauern westlichen<br />

Ursprungs werden durch maurisch inspiriertes<br />

Mauerwerk vervollständigt. Spanien, Segovia,<br />

15./16. Jh.<br />

Fotos: Frédéric Chaubin / Taschen<br />

æ Frédéric Chaubin, Stone Age, 26 x 34 cm,<br />

416 S., Taschen, 50 Euro<br />

4/<strong>2021</strong><br />

7


KULTURERBE UND VERANTWORTUNG<br />

Kulturerbe braucht Verantwortung und Esprit<br />

Verantwortung gegenüber dem Kulturerbe heißt, es aus der Perspektive seiner Bedeutung für die Allgemeinheit<br />

zu betrachten. Neben seiner Bewahrung ist der Aspekt der Nutzung entscheidend für den Architekten<br />

und Wissenschaftler Christian Hanus von der Donau-Universität Krems. Doch wie lässt sich Nutzung und der<br />

Perspektivenwechsel in der Praxis von Immobilienwirtschaft, Tourismus und Gesetzgebung umsetzen? Und<br />

welche Rolle spielt Esprit dabei? RESTAURO fragte nach<br />

1<br />

1<br />

Wiederaufbau-Seminar<br />

in Accumoli. Das<br />

zentralitalienische<br />

Städtchen wurde<br />

2016/17 von einem<br />

Erdbeben beinahe<br />

vollständig zerstört<br />

RESTAURO: Der deutsche Philosoph Dieter<br />

Birnbacher brachte in seinem Aufsatz<br />

„Intergenerationelle Verantwortung und<br />

kulturelles Erbe“ den Begriff der „Stewardship“,<br />

der weisen Sachwalterschaft<br />

ins Spiel. Ähnlich einem persönlichen Erbe<br />

„Wohltat und Plage in einem“, sei Kul-<br />

muss, wie auch Goethe im Faust festhielt,<br />

ein Erbe erwerben, um es zu besitzen und<br />

auch zu nutzen. Das wenigste Erbe hat den<br />

Luxus, einzig in der Funktion des Denkmals<br />

ausgewiesen zu sein, in aller Regel hat das<br />

baukulturelle Erbe einen Nutzen zu erfüllen.<br />

Ich denke in diesem Zusammenhang an das<br />

turerbe Geschenk und Auftrag zugleich.<br />

zentralitalienische Städtchen Accumoli, an<br />

ABSTRACT<br />

Cultural heritage needs responsibility and esprit<br />

Responsibility toward cultural heritage means<br />

viewing it from the perspective of its significance<br />

for the general public. In addition to its preservation,<br />

the aspect of use is crucial for architect and<br />

scientist Christian Hanus from Danube University<br />

Krems. But how can utilization and the change of<br />

perspective be implemented in the practice of real<br />

estate management, tourism and legislation?<br />

Es soll nicht nur bewahrt, sondern auch<br />

bebaut und genutzt werden. Sie befassen<br />

sich seit vielen Jahren insbesondere mit<br />

dem gebauten kulturellen Erbe sowie mit<br />

der Frage der Sanierung von Bestandsbauten.<br />

Wie definieren Sie Ihre Verantwortung<br />

gegenüber dem Kulturerbe?<br />

Christian Hanus: Der Definition von Birnbacher<br />

kann ich vollinhaltlich beipflichten. Man<br />

dessen Aufbau nach der erdbebenbedingten<br />

Zerstörung wir arbeiten. Jedes Haus hatte<br />

eine Bedeutung, eine Aufgabe, einen Nutzen.<br />

Diesen Kontext muss man bei der Rekonstruktion<br />

verstehen. Es ist daher für<br />

Eigentümer:innen, Architekt:innen, Behörden<br />

und Politiker:innen und alle mit dem Kulturerbe<br />

Befassten wichtig sich zu vergegenwärtigen,<br />

dass nicht allein die eigene Perspektive,<br />

sondern jene gegenüber der Allge-<br />

Foto: Donau-Universität Krems<br />

12 4/<strong>2021</strong>


meinheit entscheidend ist. Das ist mitunter<br />

auch der Kerninhalt des UNESCO-Welterbes:<br />

Die Verantwortung gegenüber der gesamten<br />

Menschheit. Wichtig ist mir, dass<br />

man Kulturerbe auch für jene erhält, denen<br />

sich seine Bedeutung nicht oder noch nicht<br />

erschlossen hat. Denken Sie an die Brücke<br />

von Mostar. Die Denkmalrezeption erfolgte<br />

für viele erst mit der Verlusterfahrung durch<br />

Zerstörung und dem nachfolgenden Aufbau.<br />

Dann identifizierte sich die ganze Bevölkerung<br />

damit. Das heißt, es geht immer um eine<br />

Verantwortung gegenüber der gesamten<br />

Kultur.<br />

Der gemeinnützige Aspekt verträgt sich<br />

aber schwer mit einem wichtigen Akteur<br />

im Umgang mit historischem Gebäudebestand<br />

oder gar denkmalgeschützten Objekten,<br />

der Immobilienwirtschaft. Welche<br />

Argumente braucht es da, um gehört zu<br />

werden?<br />

Vielen Eigentümer:innen historischer Objekte<br />

ist die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft<br />

zu wenig bewusst, sobald sie beginnen,<br />

über den ökonomischen Wert nachzudenken.<br />

Der gesetzliche Schutz bzw. öffentliche<br />

Mittel reichen dazu oft nicht aus. Es<br />

müsste da ein kultureller Wandel stattfinden.<br />

Weiterer Aspekt: Wie wird das historische<br />

Objekt durch Bauträger wahrgenommen. Der<br />

Fokus liegt zumeist auf den Investitionskosten<br />

und den Rentabilitätsbetrachtungen über<br />

einen zeitlich beschränkten Zeitraum. In der<br />

Langzeitbetrachtung zeigt sich das Denkmal<br />

oftmals durch seine Beschaffenheit und damit<br />

niedrigere Folgekosten gegenüber dem<br />

Neubau als vorteilhaft; doch diese Vergleichsbetrachtung<br />

wird gegenwärtig so nicht angestellt.<br />

In unseren Analysen bestätigt sich immer<br />

wieder, dass der sanierte, historische Altbau<br />

nach etwa 30 Jahren, wenn die nächste<br />

größere Erneuerung ansteht, sich zumeist gegenüber<br />

einem vergleichbaren Neubau durch<br />

einen deutlich geringeren Investitionsbedarf<br />

auszeichnet.<br />

An meinem Department arbeiten wir gerade<br />

im Projekt „monumentum ad usum“ ein<br />

Bewertungsmodell aus, um gemeinnützigen<br />

Wohnbauträgern die Nutzungspotenziale<br />

denkmalgeschützter Objekte darzustellen.<br />

Dabei analysieren wir den Energieverbrauch,<br />

die Bauphysik, die angesprochenen Lebens-<br />

2<br />

Accumoli nova: Nach<br />

dem Erdbeben wurden<br />

neue Wohnanlagen errichtet,<br />

der Kontext der<br />

alten Stadt verblieb in<br />

den Ruinen<br />

2<br />

Foto: Peter Lamatsch<br />

4/<strong>2021</strong>


KULTURERBE UND VERANTWORTUNG<br />

1<br />

Wie Überzeugungsarbeit den Bestand rettet<br />

Seit 2019 werden über 800 Holzfenster und eine Fensterfläche von mehr als 2.000 Quadratmeter im<br />

Neuen Schloss in Stuttgart saniert. Hermann Klos, Geschäftsführer der Holzmanufaktur Rottweil, verrät<br />

im Gespräch mit RESTAURO, wie mit wenigen Eingriffen Bestand erhalten und verbessert werden kann<br />

Das Neue Schloss in Stuttgart zählt zu den<br />

größten denkmalgeschützten Gebäuden in Baden-Württemberg<br />

und kann auf eine lange Geschichte<br />

bis zurück ins 18. Jahrhundert blicken.<br />

Ab 1746 in mehreren Phasen erbaut, erfolgte<br />

1807 die Fertigstellung des Schlosses. Durch<br />

Luftangriffe im Jahr 1944 wurde das Schloss<br />

nahezu völlig zerstört und brannte bis auf wenige,<br />

stehengebliebene Außen- und Innenwände<br />

ab. Um das unter Denkmalschutz stehende<br />

Gebäude vor weiterem Zerfall zu bewahren,<br />

wurde 1949 mit der Sicherung der Ruine begonnen.<br />

Der eigentliche Wiederaufbau erfolgte<br />

zwischen 1958 und 1964. Seither beherbergen<br />

die Flügel und der Mitteltrakt des Schlosses<br />

Räumlichkeiten der öffentlichen Verwaltung.<br />

Ein bauzeitliches Dokument aus der Wiederaufbauzeit<br />

des Neuen Schlosses sind über 800<br />

verbaute Verbundfenster, die nun nach über 60<br />

Jahren sanierungsbedürftig waren. Aus diesem<br />

Grund schrieb das Land Baden-Württemberg<br />

im Jahr 2019 die Sanierung von Holzfensterelementen<br />

sowie Verglasungsarbeiten im<br />

Planie- und Rosengartenflügel aus. Die Lose<br />

umfassten über 800 Holzfenster sowie eine<br />

Fensterfläche von mehr als 2.000 Quadratmetern.<br />

Es galt, die energetischen Anforderungen<br />

an ein als Verwaltung genutztes Gebäude und<br />

den Denkmalschutz in Einklang zu bringen.<br />

Den Auftrag erhielt die Holzmanufaktur Rottweil<br />

in Baden-Württemberg. Seit mehr als 35<br />

Jahren ist das Unternehmen in der Denkmalpflege<br />

tätig und auf das Erhalten von historischen<br />

Ausstattungen, besonders auf Fenster,<br />

spezialisiert. Solche Großprojekte reizen Hermann<br />

Klos, Geschäftsführer der Holzmanufaktur<br />

Rottweil: „Es macht mir sehr viel Spaß, solche<br />

Herausforderungen anzunehmen. Zu Beginn<br />

war es beschlossene Sache, dass diese<br />

800 Fenster erneuert werden. Ich habe auf<br />

Grundlage von Anregungen und Konzepten einen<br />

Weg gefunden alle Beteiligten dafür zu begeistern,<br />

dass man die Fenster nicht herauswirft,<br />

sondern, dass man sie so verbessert,<br />

dass sie allen gewünschten Anforderungen<br />

entsprechen.“ Die Grundlage der Entscheidung<br />

für die Bestands erhaltung bildeten zwei<br />

Musterfenster der Holzmanufaktur Rottweil.<br />

Foto: Holzmanufaktur Rottweil<br />

26 4/<strong>2021</strong>


KULTURERBE UND VERANTWORTUNG<br />

1<br />

BU. Nur die 1. Zahl mit<br />

Raster, Xxxxxxxx<br />

xxxxx xxxxxxx xxxxxx<br />

2<br />

Für eine Sammel-BU<br />

nur die erste Zahl wird<br />

an Grundlinienraster<br />

ausgerichtet sein.<br />

Während einer Bemusterungsphase von zwei<br />

Jahren realisierte das Unternehmen die Wünsche<br />

des Umweltschutzes, des Landeskriminalamts<br />

und der Denkmalpflege – ohne dabei<br />

tiefere Eingriffe in den Bestand ausführen zu<br />

müssen. „Unsere Arbeit begann zunächst einmal<br />

mit der Grund instandsetzung. Hier wird<br />

der Bestand überarbeitet: Nicht intakte Teile<br />

werden erneuert und die Funktion der Fenster<br />

wird überprüft, sodass sie wieder ihrer ursprünglichen<br />

Form entsprechen“, erklärt Hermann<br />

Klos. „Im nächsten Schritt gab es dann<br />

viele verschiedene Ansprüche zu erfüllen: Das<br />

Umweltministerium forderte zum Beispiel,<br />

dass die Fenster in Zukunft einen definierten<br />

Ug - Wert von 0,9 W/(m²K) vorweisen können,<br />

dass der Schallschutz und die Sicherheit gewährleistet<br />

ist und ganz wichtig, dass ein Sonnenschutz<br />

integriert wird. Denn in öffentlichen<br />

Gebäuden in Baden-Württemberg dürfen keine<br />

Klimaanlagen mehr verwendet werden, also<br />

wird eine andere Art des Sonnenschutzes<br />

benötigt.“ Die Holzmanufaktur Rottweil erreichte<br />

diese Vorgabe mit einem speziellen<br />

Glas, das gemeinsam mit der Glasindus trie<br />

entwickelt wurde. Neben den notwendigen<br />

Maßnahmen für den Einbruch- und Sicherheitsschutz,<br />

konnte so auch der Wärme- und<br />

Sonnenschutz erfüllt werden. Wichtige Ausgangsfaktoren<br />

waren, dass das neue Glas<br />

nicht zu schwer oder zu dick sein durfte und,<br />

dass unter restaurierungsethischen Vorgaben<br />

das Bestandsglas wieder verbaut wird.<br />

Hermann Klos betont: „Ein Standardglas hätte<br />

all diese Vorgaben erfüllt, doch es wäre 35 Millimeter<br />

dick gewesen. Eine solche Dicke hätten<br />

die alten und filigranen Fensterquerschnitte<br />

nicht vertragen. Also haben wir ein besonderes<br />

Glas entwickelt, das circa 18 Millimeter<br />

dick ist. Die äußere Verglasung ist nun eine<br />

sehr technische Verglasung, die innere Ebene<br />

wurde dabei nicht verändert.“ So wurden die<br />

alten, bislang nur einfach verglasten Verbundfenster<br />

in der äußeren Ebene mit einem Isolierglas<br />

ausgestattet. Im Neuen Schloss in Stuttgart<br />

sind nun gut die Hälfte der mehr als 800<br />

Fenster im laufenden Betrieb sukzessiv denkmalgerecht<br />

saniert und energetisch modernisiert<br />

worden. Dadurch werden nun 32 Tonnen<br />

CO2 pro Jahr eingespart. Hermann Klos freut<br />

sich: „Wenn man heute an den Fenstern vorbeiläuft,<br />

sind nahezu keine optischen Veränderungen<br />

zu erkennen und das war mit ganz wenigen<br />

Eingriffen in den Bestand möglich. Das<br />

sind Dinge, die finde ich reizvoll. Solche Herausforderungen<br />

mag ich: Gemeinsam Konzepte<br />

zu entwickeln, die für alle Beteiligten zufriedenstellend<br />

sind und zu zeigen, dass es doch<br />

geht. Es ist erstaunlich, dass es häufig gar<br />

nicht so schwierig ist.“<br />

Valentina Grossmann<br />

ABSTRACT<br />

How persuasion saves the stock<br />

1<br />

Das Neue Schloss in<br />

Stuttgart zählt zu den<br />

größten denkmalgeschützten<br />

Gebäuden in<br />

Baden-Württemberg.<br />

2019 starteten Sanierungsarbeiten<br />

an über<br />

800 Holzfenstern<br />

Since 2019, over 800 wooden windows and a window<br />

area of more than 2,000 square metres have<br />

been renovated in the New Palace in Stuttgart.<br />

Hermann Klos, Managing Director of Holzmanufaktur<br />

Rottweil, reveals in an interview with<br />

RESTAURO how few interventions preserve the<br />

existing building stock.<br />

4/<strong>2021</strong><br />

27


KULTURERBE UND VERANTWORTUNG<br />

Nachhaltige Schädlingsbekämpfung als insektizidfreie<br />

und wirtschaftliche Alternative<br />

Schädlinge wie der Nagekäfer oder der in Massen auftretende Messing- oder Kugelkäfer können in<br />

historischen Gebäuden, Kirchen oder Museen verheerende Schäden anrichten. Die Firma APC aus<br />

Nürnberg bekämpft diese Schädlinge nachhaltig mit Schlupfwespen zum Teil aus eigener Zucht<br />

1<br />

ABSTRACT<br />

Sustainable pest control as an insecticide-free<br />

and economic alternative<br />

Pests such as the common furniture beetle and<br />

the golden or shiny spider beetle can cause devastating<br />

damage in historical buildings, churches<br />

or museums. The company APC AG from Nuremberg<br />

combats these pests sustainably with beneficial<br />

insects, some of which are bred by the company<br />

itself.<br />

Als Michael Kahlo und Hans Glöckel am 1. Januar<br />

1995 die APC Schädlingsbekämpfungs<br />

GmbH in Nürnberg gründeten, startete das Unternehmen<br />

als kleiner Betrieb zur Schädlingsbekämpfung.<br />

Heute zählt die Firma mit über<br />

300 Mitarbeiter:innen zu einem der größten<br />

Schädlingsbekämpfer Deutschlands. Die ersten<br />

Kunden kamen aus der Lebensmittelbranche.<br />

Diese „Königsdisziplin“ bildet bis heute<br />

einen Schwerpunkt des Unternehmens. Doch<br />

auch andere Brachen mit Kunden aus Produktion,<br />

Handel, Industrie sowie museale und öffentliche<br />

Einrichtungen vertrauen der APC AG,<br />

die von Anfang an auf biologische sowie alternative<br />

Schädlingsbekämpfungsmethoden<br />

setzte. Darunter befinden sich selbst entwickelte<br />

Methoden, die von über zwanzig angestellten<br />

Biolog:innen und Wissenschaftler:innen<br />

ständig optimiert werden. Alexander Kassel,<br />

Vorstandsvorsitzender der APC AG, hat Biologie<br />

und Tierökologie studiert und brachte vor<br />

zwanzig Jahren die nachhaltige Schädlingsbekämpfung<br />

mit Schlupfwespen in die Firma:<br />

„Im Lehrstuhl an der Universität Bayreuth haben<br />

wir uns schon damals mit Schlupfwespen,<br />

also Parasitoiden, beschäftigt. Als erster Biologe<br />

bin ich dann nach meinem Studium in der,<br />

damals noch, Schädlingsbekämpfungsfirma<br />

APC GmbH gelandet und habe mein Wissen<br />

über Schlupfwespen mit in die Firma gebracht.<br />

30 4/<strong>2021</strong>


KULTURERBE UND VERANTWORTUNG<br />

Fotos: APC AG<br />

Zusätzlich hatte ich sehr früh Kontakt zur Biologischen<br />

Beratung in Berlin, die sich auch schon<br />

mit diesem Thema beschäftigt haben. Diese<br />

beiden Faktoren waren der Ausgangspunkt der<br />

nachhaltigen Schädlingsbekämpfung mit<br />

Schlupfwespen.“<br />

In Kirchen, Museen und Baudenkmälern ist der<br />

am meisten vorkommende Holzschädling der<br />

Nagekäfer aus der Familie der Anobiidae. Er<br />

richtet zum Teil verheerende Schäden an. Konventionelle<br />

Bekämpfungsmethoden sind häufig<br />

mit Begleiterscheinungen verbunden, dazu<br />

können ein hoher Arbeitsaufwand, eine beeinträchtigte<br />

Nutzung des Objekts und der Umweltaspekt<br />

zählen. Nicht nur der hohe Aufwand<br />

und die Beeinträchtigung der Nutzbarkeit<br />

des Objekts stellen einen negativen Aspekt<br />

dar, sondern auch die der Umwelt. Ein<br />

weiterer Nachteil der konventionellen Schädlingsbekämpfung<br />

ist, dass der Wirkstoff – das<br />

Insektizid – zum Schädling gebracht werden<br />

muss. Bei der biologischen Schädlingsbekämpfung<br />

hingegen werden Nützlinge eingesetzt,<br />

die die Schädlinge selbst finden. Der natürliche<br />

Gegenspieler des Gemeinen Nagekäfers<br />

ist die Schlupfwespenart Spathius exarator.<br />

Die Weibchen der Schlupfwespe besitzen<br />

eine Größe von fünf bis neun Millimetern und<br />

erkennen bereits aus einiger Entfernung das<br />

Vorhandensein einer Anobienlarve in den Fraßgängen<br />

im Inneren des Holzes. „Die Schlupfwespen<br />

stechen mit ihrem Legebohrer durch<br />

das Holz und lähmen die Nagekäferlarve. Anschließend<br />

legen sie ihre Eier direkt an die Larve<br />

des Nagekäfers. Die Schlupfwespenlarve<br />

sättigt sich an der Nagekäferlarve, bis letztere<br />

stirbt. Daraufhin verpuppt sich die Schlupfwespe<br />

und schlüpft als erwachsenes Tier aus dem<br />

Holz.. Deswegen kann man diese Tiergruppe<br />

sehr gut in der Schädlingsbekämpfung nutzen,<br />

um dort auch erfolgreich zu sein“, erläutert<br />

Alexander Kassel. Dieses Verfahren wurde bereits<br />

in zahlreichen Museen, Kirchen und öffentlichen<br />

Einrichtungen an renommierten Objekten<br />

in Deutschland, aber auch im Ausland<br />

angewandt. Denn nicht nur die Räume bleiben<br />

während des Behandlungsprozesses weiterhin<br />

zugänglich, auch die Besucher:innen erleiden<br />

keinerlei Störungen. Die häufig geäußerte<br />

Befürchtung, dass bei der biologischen<br />

Bekämpfung nach Reduzierung des<br />

Schädlingsbefalls ein Befall durch Nützlinge<br />

drohen könnte, kann widerlegt werden: Parasitoide<br />

brauchen zum Überleben ihre Wirtstiere.<br />

Sind hiervon nicht ausreichend vorhanden,<br />

sterben die Nützlinge ab. Neben Anobien können<br />

weitere Schlupfwespenarten Kugel- und<br />

Messingkäfer, Teppich- und Pelzkäfer sowie<br />

Textilmotten bekämpfen. Seit bereits über<br />

zehn Jahren betreibt die APC AG in eigenen<br />

Laboren im Nürnberger Hauptsitz eine stabile<br />

Massenzucht der Schlupfwespenart Spathius<br />

exarator. Knapp vier Jahre haben die<br />

Mitarbeiter:innen an der Entwicklung und Umsetzung<br />

der Zucht geforscht. Die eigenen<br />

Schlupfwespen werden auch an Kooperationspartner<br />

in Belgien, Spanien, Italien, Österreich<br />

und der Schweiz geliefert. „Denn internationale<br />

Aufträge bearbeiten wir nicht“, erzählt<br />

Alexander Kassel. „Mit unseren sechs Niederlassungen<br />

in ganz Deutschland sind wir<br />

nahezu ausschließlich in Deutschland unterwegs<br />

– mit grenznahen Aktivitäten.“<br />

Valentina Grossmann<br />

2<br />

1<br />

Biologin Dr. Judith Auer<br />

mit Schlupfwespen<br />

aus der eigenen Zucht<br />

in einem Kirchengebäude<br />

2<br />

Biologin Dr. Christine<br />

Opitz bei der Ausbringung<br />

der Schlupfwespen<br />

aus dem Transportröhrchen<br />

4/<strong>2021</strong><br />

31


KULTURERBE UND VERANTWORTUNG<br />

1<br />

Gelebte Nachhaltigkeit und die Kunst<br />

des Farbenmachens<br />

Das familiengeführte Unternehmen Kremer Pigmente aus Aichstetten bewahrt ein wichtiges<br />

Kulturerbe – die Kunst des Farbenmachens. Bewusst achtet die Manufaktur seit<br />

Firmengründung dabei auch auf soziale, ökologische und ökonomische Grundsätze<br />

36 4/<strong>2021</strong>


KULTURERBE UND VERANTWORTUNG<br />

Seit 1977 ist Kremer Pigmente die erste Anlaufstelle<br />

für qualitativ hochwertige Produkte<br />

für die Restaurierung, die Denkmalpflege,<br />

die anspruchsvolle Malerei und das Handwerk.<br />

Das familiengeführte Unternehmen<br />

aus Aichstetten in Baden-Württemberg beliefert<br />

Kund:innen weltweit mit traditionellen<br />

Pigmenten wie Bleizinngelb, Smalte, Plossblau,<br />

Azurit, Malachit, Purpur, Atakamit, Lapis<br />

Lazuli, Beinschwarz oder Krapplack. „In<br />

der westlichen Welt ist unser Sortiment das<br />

größte, das zur Verfügung steht. Aus diesem<br />

Grund kommen Institutionen wie die Harvard<br />

University, die Vatikanischen Restaurierungsstätten<br />

oder die Werkstätten des Louvre und<br />

wollen von uns Referenzsortiment“, erzählt<br />

Firmengründer Dr. Georg Kremer. Der promovierte<br />

Chemiker hat bereits über 100 historisch<br />

überlieferte Pigmente wiederbelebt<br />

und forscht gemeinsam mit seinem Sohn<br />

David Kremer, Geschäftsführer in zweiter<br />

Generation, stetig weiter. Mittlerweile bietet<br />

der Weltmarktführer 1.500 verschiedene<br />

Pigmente an, davon werden rund 250 in der<br />

eigenen Farbmühle in aufwendiger Handarbeit<br />

hergestellt. Rohstoffe aus aller Welt<br />

werden nach alten Rezepten zu feinen Pigmentpulvern<br />

zerrieben, gesiebt, gekratzt<br />

oder gefiltert. „Durch die Recherche nach alten<br />

Rezepten zur Herstellung von historischen<br />

Pigmenten können wir längst vergessene<br />

Farben wieder ans Licht bringen. Daneben<br />

führen Experimente mit verschiedensten<br />

Materialien, wie zum Beispiel Farberden,<br />

Knochen oder Wurzeln, immer wieder zu<br />

neuen Farbtönen und -nuancen“, so David<br />

Kremer.<br />

Auch die Nachfrage an nachhaltigen oder<br />

veganen Produkten steigt stetig. Der wesentliche<br />

Teil des Sortiments enthält keine<br />

tierischen Bestandteile. Produkte mit tierischem<br />

Ursprung begrenzen sich beispielsweise<br />

auf Pigmente wie Carmin Naccarat,<br />

Purpur, Eierschalenweiß, Gofun Shirayuki,<br />

Elfenbeinschwarz, Sepia, Knochenasche,<br />

Perlmutter oder Fischsilber, Farbstoffe wie<br />

Lac Dye, Cochenille, Kermes-Läuse oder<br />

Galläpfel sowie Bindemittel wie eiweißhaltige<br />

Leime, Blätterschellack, Bienenwachs<br />

und Rinderklauenöl. Da eine Vielzahl der angebotenen<br />

Produkte natürlichen Materialien<br />

entstammt, achtet die Firma besonders bei<br />

den nachwachsenden Rohstoffen auf eine<br />

nachhaltige Bewirtschaftung und Verarbeitung.<br />

Sie verzichtet bewusst auf den Verbrauch<br />

von fossilen Rohstoffen in der Produktion.<br />

„Unser Nachhaltigkeitsverständnis<br />

in der Produktion bedeutet für uns in erster<br />

Linie eine Herstellung ohne Verbrauch von<br />

fossilen Rohstoffen. Fossile Rohstoffe im<br />

allgemeinen Sinn, sind alle Stoffe auf unserer<br />

Erde, welche noch nicht verarbeitet<br />

sind. Fossile Rohstoffe im engeren Sinn,<br />

sind Stoffe wie Erdgas, Rohöl und Kohle.<br />

Der CO2-Abdruck eines historischen Energieträgers<br />

ist umso geringer, je weniger diese<br />

drei Rohstoffe für die Herstellung notwendig<br />

sind“, erklärt David Kremer. „Ungeachtet<br />

der Art der Energiegewinnung und<br />

der entsprechenden Transportaufwendungen<br />

ist daher ein natürliches Produkt, wie<br />

zum Beispiel eine Farberde, stets klimaneutraler<br />

als weiterverarbeitete Produkte, wie<br />

zum Beispiel synthetisches Eisenoxid. Auch<br />

die Verwendung von angebauten, pflanzlichen<br />

Materialien, wie beispielsweise Indigo,<br />

ist nachhaltiger, als die Verwendung der<br />

gleichnamigen synthetischen Produkte –<br />

hier synthetischer Indigo.“<br />

Die Einbeziehung von sozialen, ökologischen<br />

und ökonomischen Grundsätzen in<br />

ihrer Unternehmenskultur ist Firmengründer<br />

Dr. Georg Kremer und Geschäftsführer<br />

David Kremer von Anfang sehr wichtig. Das<br />

Areal rund um die Farbmühle in Aichstetten<br />

ist umgeben von unberührter Natur, die<br />

weiten Wiesen und der Mühlfluss sind in ihrem<br />

ursprünglichen Zustand erhalten. Mit<br />

Hilfe der Wasserkraft des Mühlflusses Aitrach<br />

gewinnt die Manufaktur sogar seit<br />

1984 den erforderlichen Betriebsstrom eigenständig.<br />

Als unterstützende Energiequelle<br />

gibt es noch eine Photovoltaik-Anlage<br />

auf dem Mühlendach. „Wir sind auf keine<br />

fremden Energiequellen angewiesen.<br />

Wir leben inmitten der Natur und mit ihr, gesünder<br />

und nachhaltiger“, sagt David Kremer<br />

stolz. „Dieses Prinzip der gelebten<br />

Nachhaltigkeit wird auch für unsere Kunden<br />

immer wichtiger.“ So achtet das Unterneh-<br />

2<br />

ABSTRACT<br />

1<br />

Das in Aichstetten ansässige<br />

Familienunternehmen<br />

Kremer Pigmente<br />

hat seit 1984<br />

seinen Hauptsitz in der<br />

Farbmühle im idyllischen<br />

Allgäu<br />

2<br />

Geschäftsführer David<br />

Kremer (links) mit seinem<br />

Vater, Firmengründer<br />

Dr. Georg<br />

Kremer<br />

Living sustainability and the art of colour<br />

making<br />

The family-owned company Kremer Pigmente<br />

from Aichstetten preserves an important cultural<br />

heritage - the art of colour making. Since the<br />

company was founded, the manufacturer has also<br />

consciously observed social, ecological and<br />

economic principles.<br />

4/<strong>2021</strong><br />

37


KULTURERBE UND VERANTWORTUNG<br />

„Am Schließtag durch die Galerien zu<br />

gehen, habe ich als Privileg angesehen“<br />

Marlies Giebe ging 1984 als Restauratorin an die Gemäldegalerie Alte Meister an den Staatlichen<br />

Kunstsammlungen Dresden und blieb dort für die nächsten 36 Jahre. RESTAURO<br />

sprach mit der einstigen Leiterin der Gemälderestaurierung<br />

1<br />

Das Interview mit Marlies Giebe, von 2003<br />

sagt Marlies Giebe. Und ergänzt: „Wir fokus-<br />

bis Juni 2020 Leiterin der Gemälderestaurie-<br />

sieren nicht auf Highlights, sondern unter-<br />

rung der Gemäldegalerie Alte Meister und<br />

stützen Bilder. Das gesteuerte Tageslicht<br />

Galerie Neue Meister der Staatlichen Kunst-<br />

überwiegt in den Hauptsälen. Die individuel-<br />

sammlungen Dresden und nun Rentnerin,<br />

le Zusatzbeleuchtung macht nur einen mini-<br />

beginnt mit einer Führung durch die sanier-<br />

malen Prozentsatz der Gesamtlichtmenge<br />

ten und Ende Februar neu eröffneten Alt-<br />

aus und doch ist sie wesentlich, um die Aus-<br />

meistersäle im Dresdener Zwinger. Vorbei an<br />

gewogenheit zu erzeugen. Das schöne Re-<br />

der Sixtinischen Madonna, am frisch restau-<br />

sultat ist das Ergebnis eines großen Engage-<br />

rierten Veronese-Zyklus erzählt Marlies Gie-<br />

ments vor allem des Direktors der Galerie<br />

be von den letzten sieben Jahren, in denen<br />

Stephan Koja.“<br />

die Galerie umgebaut und neu geordnet wur-<br />

Der Zusammenhang, in dem ein Bild hängt,<br />

de. In dieser Zeit konnte vieles restauriert<br />

sei bei der Entscheidung für die Restaurie-<br />

ABSTRACT<br />

"Walking through the galleries on closing day<br />

was something I considered a privilege"<br />

Marlies Giebe joined the Gemäldegalerie Alte<br />

Meister at the Staatliche Kunstsammlungen Dresden<br />

as a conservator in 1984 and remained there<br />

for the next 36 years. RESTAURO spoke with the<br />

head of painting conservation.<br />

werden, es musste aber auch viel untersucht,<br />

gemessen und entschieden werden.<br />

Zum Beispiel, wohin die fragilen Bellottos<br />

kommen und wie das Museum als Tageslichtmuseum<br />

funktioniert. Obwohl es dabei<br />

um Details ging, war das entscheidende Kriterium<br />

die Harmonie. Denn um Pracht zu<br />

entfalten, müsse man Harmonie herstellen,<br />

rungmaßnahmen an einzelnen Gemälden immer<br />

ein Thema gewesen. Dabei habe das<br />

Hauptaugenmerk Gemälden mit konservatorischen<br />

Problemen und stark gealterten Zuständen,<br />

die optisch nicht mehr tragbar waren,<br />

gegolten. Leicht vergilbte Firnisschichten<br />

allein waren für Marlies Giebe und ihr<br />

Team kein ausreichender Grund, ihn abzu-<br />

Foto: Uta Baier<br />

40 4/<strong>2021</strong>


KULTURERBE UND VERANTWORTUNG<br />

nehmen. Nur wenn die Überzüge notwendige<br />

konservatorische Eingriffe blockierten, alte<br />

Retuschen, Übermalungen und der Vergilbungsgrad<br />

die Lesbarkeit beeinträchtigten,<br />

habe sich das Team für eine Firnisabnahme<br />

entschieden. „Wir sind hier in Dresden einen<br />

Weg gegangen, der zeigt, dass Eingriffe am<br />

Bild nicht die einzige Möglichkeit sind, um<br />

seinen Zustand zu verbessern. Denn die Wirkung<br />

der Galerie setzt sich aus vielen kleinen<br />

Komponenten zusammen. Es hat mir viel<br />

Freude gemacht, daran mitzuwirken, dass<br />

der Gesamteindruck stimmt, ohne dass von<br />

allen Bildern die alten Firnisse abgenommen<br />

werden müssen“, sagt Marlies Giebe, die<br />

mit den neuen Wandfarben von Stephan Koja<br />

(ein dunkles Rot für die italienischen Gemälde,<br />

blau für die Franzosen und Spanier<br />

und grün für die Niederländer und Deutschen)<br />

sehr zufrieden ist.<br />

Einen großen Anteil an der Pracht der neu<br />

eingerichteten Säle haben die umfangreichen<br />

Restaurierungen an den Dresdener Galerierahmen.<br />

Die einheitlichen, polimentvergoldeten<br />

Barockrahmen wurden durch August<br />

III. (1696–1763) im 18. Jahrhundert eingeführt.<br />

„Durch diese einheitliche Rahmung<br />

haben wir die Chance, die Bilder wieder eng<br />

zusammenzurücken. Mit verschiedenen<br />

Rahmen wäre eine so enge barocke Hängung<br />

nicht möglich“, sagt Marlies Giebe, die<br />

mit einigen sehr strahlenden, neu vergoldeten<br />

Rahmen nicht ganz glücklich ist, aber auf<br />

die natürliche Alterung setzt.<br />

Wir stehen jetzt vor Raffaels „Sixtinischer<br />

Madonna“ und Marlies Giebe verweist auf<br />

den Rahmen, der 2012, zum 500. Jubiläum<br />

der Bildentstehung, erneuert wurde. „Das<br />

Jubiläum forderte uns heraus, das Hauptwerk<br />

der Galerie in ein neues Licht zu rücken.<br />

Wir haben es getan, durch neue technologische<br />

Untersuchungen, eine veränderte<br />

Raumgestaltung und Beleuchtung und<br />

diese Neurahmung und Neuverglasung.<br />

Nach der Rückkehr aus der Sowjetunion<br />

1956 bekam das Hauptwerk einen neuangefertigten<br />

Rahmen im Stil der Frührenaissance.<br />

Jetzt ist es wieder ein Architekturrahmen,<br />

der von Werner Murrer aus München<br />

als Kopie nach einem Rahmen von 1497 aus<br />

der Ghedini Kapelle in San Giovanni in Monte<br />

angefertigt wurde. Ich finde diese Lösung<br />

gut, weil der Tabernakelrahmen notwendig<br />

ist, um das Bild zu verstehen. Die Madonna<br />

tritt herein. Sie kommt dem Betrachter entgegen.<br />

Diesen Eindruck unterstützt der Rahmen.<br />

Auch der Vorhang und die beiden Engel<br />

bekommen mit dieser Rahmung wieder ihre<br />

räumliche Begründung.“<br />

Während wir durch die Galerie gehen und<br />

Marlies Giebe auf restaurierte und unrestaurierte<br />

Bilder und Rahmen weist, erzählt sie,<br />

wie eng die eigene Ausbildung mit der Entwicklung<br />

der Nachkriegsrestaurierung in<br />

Dresden verknüpft war. „Ich habe schon<br />

mein Vor-Praktikum in der Galerie Alte Meister<br />

gemacht und begann 1975 zu studieren.<br />

Der Studiengang Restaurierung war erst im<br />

Jahr zuvor in Dresden eingerichtet worden.<br />

Es war der einzige Diplomstudiengang für<br />

Restaurierung in der DDR. Ingo Sandner, als<br />

Gründungsdozent der Ausbildung, und sein<br />

Team hatten mit viel Engagement den Studiengang<br />

aufgebaut, Hans-Peter Schramm das<br />

naturwissenschaftliche Labor. Strahlendiagnostik<br />

war ein großes Thema. Viele externe<br />

Lehrkräfte, die Rang und Namen hatten als<br />

Restauratoren in Museen und der Denkmalpflege<br />

der DDR waren mit Blockunterricht<br />

eingebunden, wie Konrad Riemann, Johannes<br />

Voss, Karl- Heinz Weber, Ingo Timm, Roland<br />

Möller, Bernd Bünsche und andere, so<br />

daß wir unterschiedliche Berufsauffassungen<br />

kennen lernen konnten“, erzählt Marlies<br />

Giebe. Studienbegleitend seien sie viel gereist<br />

und lernten die gesamte Restauratorenausbildung<br />

im östlichen Europa – in Krakau,<br />

Leningrad, Moskau, Budapest, Prag – kennen.<br />

„Das war damals schon sehr exklusiv“,<br />

sagt Giebe. Außerdem habe es enge Beziehungen<br />

zu politisch neutraleren Ländern wie<br />

Dänemark und Österreich gegeben. „Die<br />

Wiener Restaurierungsschule war in Dresden<br />

präsent und Teil der Lehre. Ich erinnere<br />

mich an Gastvorlesungen von Hubert Dietrich,<br />

Gerald Kaspar und Franz Mairinger. Das<br />

alles hat mich geprägt.“<br />

Nach dem Studium blieb sie noch drei Jahre<br />

als Assistentin an der Hochschule. Danach<br />

wechselte sie 1984 als Restauratorin<br />

an die Gemäldegalerie Alte Meister. Und<br />

blieb für die nächsten 36 Jahre. Über diese<br />

hat RESTAURO mit Marlies Giebe nach dem<br />

Rundgang durch die Galerie gesprochen.<br />

RESTAURO: Sie haben immer in Dresden<br />

gearbeitet – was hat Sie in der Stadt gehalten?<br />

1<br />

Nach 36 Jahren ging<br />

Marlies Giebe, Leiterin<br />

der Gemälderestaurierung<br />

der Gemäldegalerie<br />

Alte Meister und<br />

Galerie Neue Meister<br />

der Staatlichen Kunstsammlungen<br />

Dresden,<br />

2020 in den Ruhestand<br />

4/<strong>2021</strong><br />

41


CORONA-FÖRDERLINIE<br />

Die Restaurierung des Gemäldes „David<br />

mit dem Haupte Goliaths“ von Guido Reni<br />

und Werkstatt, Gemäldegalerie Alte Meister,<br />

Dresden<br />

In unserer Serie „Corona-Förderlinie“ geben selbstständige, für öffentliche Museen tätige<br />

Restaurator:innen Einblicke in ihre Projekte, die durch die Ernst von Siemens Kunststiftung gefördert<br />

werden. Diplom-Restauratorin Sabine Posselt restauriert das Gemälde „David mit dem Haupte Goliaths“<br />

der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden<br />

1<br />

Seit der Wiedereröffnung der Gemäldegale-<br />

behandlungsbedürftigen Bildern. Die einge-<br />

rie im Semperbau im Frühjahr 2020 können<br />

hende technologische Untersuchung im<br />

neben den vertrauten Hauptwerken nun<br />

Rahmen des Projekts zur Bestandserfassung<br />

auch zahlreiche Bilder der Öffentlichkeit ge-<br />

der Werke Bologneser Malerei machte dies<br />

ABSTRACT<br />

The Conservation of the Painting "David with<br />

the Head of Goliath" from the Workshop of Guido<br />

Reni, Old Masters Picture Gallery, Dresden<br />

In our series, freelance conservators working for<br />

public museums provide insight into projects that<br />

are supported by the Ernst von Siemens Kunststiftung.<br />

Graduate conservator Sabine Posselt conserves<br />

the painting "David with Goliath's Head"<br />

from the Dresden State Art Collections.<br />

zeigt werden, die vorher in dichter Hängung<br />

im Depot verwahrt wurden. Manche dieser<br />

Gemälde verdanken ihre Ausstellungsfähigkeit<br />

jüngsten konservatorischen und restauratorischen<br />

Maßnahmen während der umbaubedingten<br />

Schließzeit von 2013 bis 2020.<br />

Auch „David mit dem Haupte Goliaths“,<br />

bislang als Arbeit aus der Werkstatt Guido<br />

Renis katalogisiert (Gal.-Nr. 332), gehört aus<br />

konservatorischer Sicht seit längerem zu den<br />

erneut evident. Bildgebende Infrarotreflektografie-<br />

und Röntgenuntersuchungen machten<br />

erstmalig mehrere Pentimenti innerhalb<br />

der Untermalungsschichten sichtbar. Diese<br />

neuen Erkenntnisse ermöglichen Rückschlüsse<br />

auf den Entstehungsprozess des<br />

Bildes und werfen neue, interessante Fragestellungen<br />

zur kunsthistorischen Einordnung<br />

des Bildes auf. Entsprechend stark war der<br />

Wunsch nach einem ungehinderten Blick auf<br />

Foto: Claudia Hartwich<br />

48 4/<strong>2021</strong>


CORONA-FÖRDERLINIE<br />

die Malschichtoberfläche und führte zur Entscheidung,<br />

die älteren Firnisse und Übermalungen<br />

von dem Gemälde zu entfernen.<br />

Das Bild geht auf eine Gemäldefassung zurück,<br />

die Reni erstmals um 1605/06 während<br />

seines Aufenthalts in Rom malte und die<br />

sich heute im Louvre befindet. Doch kann es<br />

nicht als Kopie nach dem Pariser Werk aufgefasst<br />

werden, da es im Detail signifikante<br />

Unterschiede gibt. Insbesondere durch die<br />

invenzione der geöffneten Augen Goliaths<br />

erhält das Dresdner Bild eine spezifische<br />

Aussage, die sich konzeptuell von drei weiteren<br />

überlieferten Fassungen Renis abhebt.<br />

So ist Goliaths Kopf nicht mit geschlossenen,<br />

sondern geöffneten Augen gezeigt, und<br />

er ist dabei deutlich zu David gedreht.<br />

Der konservatorische Zustand des Bildes<br />

ist recht gut, da eine ältere Kleisterdoublierung<br />

aus dem 19. Jahrhundert den Bildträger<br />

und somit das gesamte Materialgefüge noch<br />

immer ausreichend stabilisiert. Besonders<br />

die Horizontalausprägungen des Craquelés<br />

teilen sich durch Schüsselbildung der Malschichtschollen<br />

auf der gesamten Bildfläche<br />

sehr deutlich mit. Sie legen die Vermutung<br />

nahe, dass das Bild einmal gerollt gelagert<br />

oder transportiert wurde. Wenige Lockerungen<br />

von Malschicht und Grundierung beschränken<br />

sich auf die Randbereiche. Der<br />

hohe Grad an Firnisgilbung hat im Laufe der<br />

Zeit die Farbwirkung stark verändert. Er beeinträchtigte,<br />

ebenso wie einzelne ältere Retuschen,<br />

die Gesamtwirkung der Malerei so<br />

erheblich, dass es zuletzt nur noch eingeschränkt<br />

möglich war, die malerischen Details<br />

und farbigen Valeurs abzulesen.<br />

Der Spannrahmen, auf den das Gemälde<br />

im Anschluss an die Doublierung gebracht<br />

worden war, scheint umfunktioniert und nur<br />

grob angepasst worden zu sein. Für die<br />

nachgewiesene originale Bildbreite von<br />

153,5 Zentimetern war er zu schmal. Der<br />

Umschlag des linken Bildrandes bis auf die<br />

Rückseite des Spannrahmenschenkels führte<br />

zu zwei Bruchkanten innerhalb der Malschicht,<br />

entlang derer es seitdem zu Lockerungen<br />

und kleinen Verlusten gekommen ist.<br />

Für die Rückführung des Randumschlages in<br />

die Bildfläche musste bedacht werden, in<br />

welchem Maß die Anpassung des Spannrahmens<br />

an die ursprüngliche Bildbreite möglich<br />

ist, ohne bei der Falzvergrößerung am originalen<br />

barocken Galerierahmen dessen Stabilität<br />

zu schwächen.<br />

Zuerst war es notwendig, das ausgeprägte<br />

Craquelé mit Schüsselbildung minutiös zu<br />

untersuchen, um Lockerungstendenzen der<br />

Malschichtschollen zu erkennen.<br />

Bei der Abnahme des Firnisses kamen die<br />

dazu ausgewählten Lösungsmittel in hochviskoser<br />

Form zum Einsatz, um den Lösungsmitteleintrag<br />

so gering wie möglich zu<br />

halten und somit das Anlösen von vorhandenen<br />

Klebe- und Bindemitteln im Bildgefüge<br />

zu verhindern.<br />

Für die Applikation festigender Konservierungsmittel<br />

war die vorangegangene Firnisabnahme<br />

günstig, da sie den Zugang zum<br />

Malschichtgefüge öffnete.<br />

1<br />

Diplom-Restauratorin<br />

Sabine Posselt bei der<br />

Restaurierung des Gemäldes<br />

„David mit<br />

dem Haupte Goliaths“<br />

aus der Werkstatt des<br />

Guido Reni, Gemäldegalerie<br />

Alte Meister,<br />

Dresden<br />

Zitat von Sabine Posselt<br />

»Die Zeit der Pandemie, nur ein Wimpernschlag im „Leben“<br />

der jahrhundertealten Objekte. Für die Sammlungskonservatoren<br />

eine Herausforderung, Projekte kontinuierlich weiter zu<br />

betreiben. Für uns Selbständige schnell eine existenzielle Frage<br />

der beruflichen Zukunft. Dank der Ernst von Siemens<br />

Kunststiftung, die geistesgegenwärtig entscheidet, eine Zeit<br />

mit Möglichkeiten.«<br />

4/<strong>2021</strong><br />

49

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