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Leseprobe Meyerowitz

Joel Meyerowitz: Die Lizenz zu sehen (Masters of Photography) 128 Seiten, , Euro (D) 22.90 | Euro (A) 23.50 | CHF 33 ISBN 978-3-03876-175-4 (Midas Collection) ### Der in der Bronx geborene Joel Meyerowitz ist einer der renommiertesten Straßenfotografen der Welt. Er erhielt zwei Guggenheim Fellowship Awards, den National Endowment for the Arts Award und hatte über 350 Ausstellungen seiner Arbeiten. Während er vor allem für seine New Yorker Straßenfotografie bekannt ist, hat er auch einen unglaublichen Fundus an Dokumentar-, Landschafts-, Porträt- und Stilllebenfotografie geschaffen. Die Fotografie-Legende Joel Meyerowitz zeigt, wie Sie eine Kamera wirklich einsetzen, um sich die Straße zu eigen zu machen, warum Sie immer offen sein sollten, wenn Sie die Welt betrachten, wie Sie Ihr Motiv in Szene setzen, wie wichtig es ist, das für Sie passende Objektiv zu finden und schließlich auch, wie Sie dem Spieltrieb freien Lauf lassen. Er berichtet von seinen Einflüssen und Erfahrungen, und verrät einige wertvolle Experten-Tipps und lüftet die Geheimnisse zu seinen besten Aufnahmen.

Joel Meyerowitz: Die Lizenz zu sehen (Masters of Photography)
128 Seiten, , Euro (D) 22.90 | Euro (A) 23.50 | CHF 33
ISBN 978-3-03876-175-4 (Midas Collection) ###

Der in der Bronx geborene Joel Meyerowitz ist einer der renommiertesten Straßenfotografen der Welt. Er erhielt zwei Guggenheim Fellowship Awards, den National Endowment for the Arts Award und hatte über 350 Ausstellungen seiner Arbeiten. Während er vor allem für seine New Yorker Straßenfotografie bekannt ist, hat er auch einen unglaublichen Fundus an Dokumentar-, Landschafts-, Porträt- und Stilllebenfotografie geschaffen. Die Fotografie-Legende Joel Meyerowitz zeigt, wie Sie eine Kamera wirklich einsetzen, um sich die Straße zu eigen zu machen, warum Sie immer offen sein sollten, wenn Sie die Welt betrachten, wie Sie Ihr Motiv in Szene setzen, wie wichtig es ist, das für Sie passende Objektiv zu finden und schließlich auch, wie Sie dem Spieltrieb freien Lauf lassen. Er berichtet von seinen Einflüssen und Erfahrungen, und verrät einige wertvolle Experten-Tipps und lüftet die Geheimnisse zu seinen besten Aufnahmen.

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Die Lizenz zu sehen

Joel Meyerowitz


MASTERS OF PHOTOGRAPHY

JOEL MEYEROWITZ

Die Lizenz zu sehen

© 2020

Midas Collection

ISBN 978-3-03876-175-4

© Text 2019 Masters of Photography

© Fotos 2019 Joel Meyerowitz

Übersetzung: Claudia Koch

Lektorat: Gregory C. Zäch

Korrektorat: Friederike Römhild

Design: Nicolas Pauly and Florian Michelet

Midas Verlag AG

Dunantstrasse 3, CH-8044 Zürich

E-Mail: kontakt@midas.ch

Die englische Originalausgabe ist 2019 erschienen

bei Laurence King Publishing Ltd, London.

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über www.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne

schriftliche Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere

für die Erstellung und Verbreitung von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet.


Die Lizenz zu sehen

Midas Collection


Inhalt

1

7

Entdecken Sie Ihre

Identität als Künstler

Zeigen Sie Ihre Sicht auf die

Welt

2

11

Inspiration sammeln

Tauchen Sie ein in die

Literatur über Fotografie

7

8

47

Finde die Geschichte

Bilder erzählen Geschichten

Offen für Humor

Das Leben kann erstaunlich

sein, also achten Sie auf

lustige Momente

55

3

Die Straße

gehört Ihnen

Fotografieren Sie

selbstbewusst

17

9

Suchen Sie

das Detail

Manchmal haben die kleinsten

Gesten und Ereignisse die

größte Wirkung

61

4

Augen auf im

Alltag

Entdecken Sie die Schönheit

des Alltäglichen

25

10

Mit Herz und

Verstand

Nicht nur hinschauen,

sondern auch reflektieren,

was Sie sehen

65

5

Es lebe der Moment

Seien Sie präsent

6

31

39

Beziehungen pflegen

Schaffen Sie Verbindungen

zu den Orten und zu den

Menschen, die Sie treffen

11

Körpersprache und

Kommunikation

Wohin mit Ihnen und was tun,

wenn Sie jemand anspricht?

71


12

Visuelles Spiel

Spielen Sie mit Ihrer Sichtweise

13

Mit der Kamera

eins sein

Die Ausrüstung ist zwar

nicht alles, aber Kamera und

Objektiv sollten sich

gut anfühlen

75

81

18

Farbe oder

Schwarzweiß?

19

109

Wählen Sie den Zugang, der am

besten zu Ihrem Motiv passt

Licht als Motiv

Inspiration durch Licht und

Schatten

115

14

Die Mitte ist nicht

immer das Ideal

Verschieben Sie den Fokus

aus der Bildmitte

85

20

Bearbeiten Sie

Ihre Fotos

Geben Sie Ihrem Werk Form

und Bedeutung

123

15

Hinweise zur

Komposition

Einige Ideen zur Inspiration

91

Dank

Die Autoren

Bildnachweise

128

16

Zeigen Sie Einsatz

Seien Sie mutig und überschreiten

Sie Ihre Grenzen

97

17

Bei der Fotografie

geht es um Ideen

Was wollen Sie ausdrücken?

103


1

Entdecken Sie

Ihre Identität

als Künstler

Zeigen Sie Ihre Sicht auf die Welt

Sobald Sie eine Kamera in der Hand halten, haben Sie die Lizenz

zu sehen. Und nur ums Sehen geht es bei der Fotografie. Sie

erfahren mehr über sich selbst und über die Welt um sich

herum. In den 55 Jahren, die ich bereits fotografiere, hat mich die

Fotografie alles gelehrt, was ich über die Welt und über mich weiß.

Zu Beginn besaß ich noch nicht einmal eine Kamera. Ich war Art-

Direktor einer kleinen Agentur in New York. Ich hatte eine kleine

Broschüre entworfen, und mein Chef heuerte einen Fotografen

für die Bilder in der Broschüre an. Anderthalb Stunden schaute

ich diesem Fotografen bei der Arbeit zu. Ich hatte keine Ahnung,

dass es Robert Frank war, einer der bedeutendsten Fotografen des

20. Jahrhunderts. Doch in diesen anderthalb Stunden vollbrachte er

so erstaunliche Dinge, dass die Welt für mich eine andere war, als ich

hinterher die Straße betrat. Jede Geste, jedes Ereignis auf der Straße

hatte plötzlich eine Bedeutung. Bis ich wieder im Büro war, hatte ich

den Entschluss gefasst, meinen Job an den Nagel zu hängen und dem

dringenden Gefühl nachzugeben, Fotograf werden zu wollen und zu

sehen, was mir die Welt zu zeugen hatte.

Mein Chef lieh mir seine Pentax-Kamera, und das war der Beginn

einer Reise, die über ein halbes Jahrhundert dauern sollte und bei

der ich meine Leidenschaft und meine Identität entdeckte. Nun sind

auch Sie am Beginn einer Reise. Es geht dabei vor allem darum, Ihre

Identität als Künstler und als Mensch zu finden, der ein Interesse an

der Welt um ihn herum besitzt.

Gegenüber: New York City, 1978

7


Als junger Fotograf war ich unsicher, wie sich

meine Arbeit entwickelte. Doch das gehört dazu: zu

Beginn, wenn man versucht, ins Spiel zu kommen,

sind Zweifel normal. Versuchen Sie, das zu akzeptieren,

und machen Sie weiter, denn Ihre Fotos sind

die Prüfsteine, die Ihnen Informationen liefern. Der

Akt des Fotografierens gibt Ihnen Selbstvertrauen.

Dieses Buch soll Ihnen helfen, dieses Selbstvertrauen

zu entwickeln und die Fotografie als

Ausdrucksmöglichkeit zu gewinnen – dabei geht

es darum, die Welt anzuschauen und die Details

zu erkennen, durch die man sich mit ihr verbunden

fühlt. Es geht um die Momente, in denen der

Instinkt einsetzt – Momente der Klarheit, Beobachtung

und Erkenntnis. Es geht um Achtsamkeit

und Impuls, und sobald dieser einsetzt, machen

Sie das Bild! Denken Sie dann nicht weiter nach. Lassen Sie die

intuitiven Bereiche Ihres Selbst – Körper und Geist – an diesem

Moment teilhaben, dann erhalten Sie ein Foto von etwas, das

gerade im Begriff ist, vor Ihren Augen zu verschwinden. Genau

das tut die Fotografie: Sie reißt einen Moment aus dem Fluss der

Zeit, und dieser Moment wird mit Ihnen in Verbindung gesetzt.

Sie ist ein unglaubliches Medium, um die Macht der Ideen und

Beobachtungen zu demonstrieren.

Lassen Sie also die Zweifel beiseite. Als bewusster, denkender

Mensch vertrauen Sie Ihren Leidenschaften und Gefühlen. Zögern

Sie nicht, denn in der Fotografie führt Zögern zu Verlust, und

jedes verlorene Bild ist wie eine Wunde. Ich weiß es; ich habe

einige verloren und aus diesen Erfahrungen gelernt. Vertrauen

Sie auf sich und probieren Sie alles aus.

8 Identität entdecken

Oben: Selbstporträt, 1971

Gegenüber oben und unten: New York City, 1963


2

Lassen Sie sich

inspirieren

Tauchen Sie ein in die Literatur

über Fotografie

Sie haben das Glück, in einer Zeit zu leben, in der es reichlich

Bücher über Fotografie gibt. Als ich anfing, war die Fotografie

nicht wie heute als eine Kunstform anerkannt. Damals las ich

drei Bücher: The Decisive Moment

(1952) von Henri Cartier-Bresson,

American Photographs (1938) von Walker Evans und das unglaubliche

The Americans (1958) von Robert Frank. Sie alle begegneten

mir in meinem ersten Jahr als Fotograf und veränderten mein Leben.

Ich erwähne das, weil ein Zugang zur Fotoliteratur wichtig ist – nicht,

um von diesen Künstlern zu kopieren, sondern um in ihrer Arbeit

Inspiration zu finden, was bei Ihnen zu kreativen Impulsen führt.

Cartier-Bresson, Evans und Frank entwickelten ihre Instinkte und

wurden zu bedeutenden Künstlern; schließlich waren sie in der Lage,

ihre Werke in Buchform zusammenzufassen. Ihre Bücher wurden zu

einem Teil der Geschichte dieses Mediums.

Wenn ich diese Bücher betrachte, ist es, als beträte ich einen Traum.

Die Erfahrungen dieser Fotografen, die Schauplätze und die Identitäten

der Menschen und Orte, die sie fotografierten, stehen Ihnen heute zur

Verfügung und Sie haben das Privileg, einen Vergleich zwischen Ihren

fotografischen Impulsen und denjenigen dieser Fotografie zu ziehen.

Es geht nicht darum, dass Ihre Bilder deren Fotografien ähnlichsehen;

vielmehr geht es darum, besondere Instinkte und Reaktionen

und den Erfahrungsreichtum zu erkennen, den die Welt zu bieten hat.

Gegenüber: New York City, 1963

11


Auf den Seiten dieser Bücher finden sich bemerkenswerte, unerwartete

und flüchtige Gedichte. Jede Seite, die Sie aufschlagen, verdeutlicht

das Gespür des Fotografen, in diesem Moment mitten auf einer alltäglichen

Straße oder Landschaft innezuhalten und sich seiner Intuition

hinzugeben: »Ich bin hier, jetzt, an diesem Ort. So sieht es hier aus!«

Wenn Sie diese Bücher oder andere, mit denen Sie sich identifizieren,

betrachten, nehmen Sie eine Einladung an, an diesen historischen

Momenten teilzunehmen und zu lernen, eigene vergleichbare Momente

selbst zu erkennen.

Nutzen Sie Bücher als Bibliothek der Ideen, um sich zu ermutigen,

loszugehen und nach Dingen zu suchen, die Ihnen das Gefühl geben,

Ihre Instinkte wären richtig und wertvoll. Ich habe mich während

meines ganzen Fotografenlebens von Büchern inspirieren lassen. Es

kommen immer wieder Tage, an denen man glaubt, nichts zu sagen

zu haben, alles ist langweilig, rauszugehen erscheint sinnlos. Sie

finden unzählige Ausreden – das ist einfach. Wenn Sie sich so fühlen,

nehmen Sie ein Buch zur Hand und laden Sie damit Ihre Akkus auf.

Danach wollen Sie bestimmt losgehen und dasselbe tun. Ein Fotograf

wie Cartier-Bresson wusste, wie er diesen Enthusiasmus für das Sehen

entfachen konnte, jeden Tag wieder.

Werfen wir einen Blick auf das Foto gegenüber von Cartier-Bresson.

Wie hat er es aufgenommen? Woher wusste

er, dass er es machen

sollte? Ich vermute, dass zuerst die merkwürdige Anordnung der

Fenster seine Aufmerksamkeit erhielt. Sie sind völlig unregelmäßig.

Er dachte vermutlich: »Wow, was für ein Hintergrund. Ich bleibe mal

etwas hier.« Dann bemerkte er die spielenden Kinder und nahm sie mit

ins Bild, denn sie würden sich bestimmt nicht von ihm stören lassen.

Zusammen bilden die Kinder und die Wand einen interessanten Raum

für das Bild. Und weil Cartier-Bresson wartete und die kleine Szene

beobachtete, die ihm offenbar wichtig war, sah er den Mann durchs

Bild laufen. Durch einen glücklichen Zufall hatte der Hut des Mannes

dieselbe Größe wie eines der Fenster. Mit seinem massiven Bauch

und dem offenen Jackett wird er zur dramatischen Figur auf diesem

Spielplatz. Und Cartier-Bresson machte sein Foto.

Wir können das in Etappen herunterbrechen. Zuerst inspirierte

das Aussehen des Gebäudes Cartier-Bresson und ließ ihn innehalten.

Dann kam der Anblick der Kinder.

12 Inspirationen sammeln


Henri Cartier-Bresson, Madrid, Spanien, 1933.


Der Fotograf fand die beste Position, um sein Bild zu machen.

Schließlich betrat ein Mann die Szene und das Foto war für Cartier-Bresson

perfekt. Und alles nur, weil ihm sein Instinkt geraten

hatte: »Bleib eine Weile da. Pass auf.«

Beschäftigen wir uns mit einem anders gearteten Foto, Eineiige Zwillinge.

Roselle, N.J., 1966 von Diane Arbus. Es ist zwar völlig anders als

das von Cartier-Bresson, doch ebenso spannend und komplex. Arbus

fotografierte vor allem Porträts. Hier sehen wir Zwillinge. Was ist

das Erste, woran wir bei Zwillingen denken? »Sie sehen gleich aus,

ziehen sich gleich an, sie sind Zwillinge.« Doch Arbus schaut genauer

hin. Dieses Foto zeigt, dass die Mädchen zwar Zwillinge, aber nicht

gleich sind. Dieser Umstand war für Arbus so spannend, dass er sie

zu diesem einfachen, doch starken Foto führte.

Diane Arbus war eine humanistische Fotografin. Wenn sie sich für

jemanden interessierte, schlich sie sich nicht einfach an, fotografierte

und rann anschließend weg. Sie konnte stattdessen ins Leben

ihrer Motive eintreten und ihr Vertrauen gewinnen, denn sie zeigte

ihnen, dass sie an ihren Besonderheiten interessiert war. Wenn sie

Interesse bekundete, durch Gesten oder Worte, öffneten sich ihre

Modelle und gestatteten ihr, in ihre Rätselhaftigkeit einzudringen

und sie zu fotografieren – denn Fotos sind imstande, dieses Rätsel

für andere zu beschreiben.

Die Kunst, ein Fotoporträt aufzunehmen, ist einer der Momente

zwischen zwei Menschen, zwischen dem Fotografen und ihrem oder

seinem Modell (siehe Kapitel 6). Er sagt vieles über den Menschen

aus, der das Foto macht, ebenso über die Person, die fotografiert

wird. Sie werden viel lernen, wenn Sie beginnen, die Menschen um

sich herum zu fotografieren: Familie und Freunde, Nachbarn und

Verkäufer; Menschen, die Ihnen vertrauen und bereit sind, sich Ihnen

zu öffnen oder Ihnen zumindest die Zeit einräumen, eine Möglichkeit

zur gegenseitigen Verbindung zu finden.

Ich rede hier nicht von den Schnappschüssen im Familienalbum,

sondern von Fotografien, die das Mysterium, die wesentlichen Eigenschaften,

die Zärtlichkeit, die körperliche Schönheit und die Magie

zeigen, die den Menschen zu eigen ist, wenn sie sich öffnen, sich

nach außen kehren. Das ist Teil der Kunst der Fotografie – wie Sie

Ihre menschlichen Fähigkeiten einsetzen und Ihre Bedürfnisse anderen

kommunizieren, so dass sich diese wiederum auf Sie einlassen.

14 Inspirationen sammeln


Diane Arbus, Eineiige Zwillinge, Roselle,

N.J., 1966

Inspirationen sammeln

15


3

Die Straße

gehört Ihnen

Sie dürfen an öffentlichen Orten verweilen,

also fotografieren Sie selbstbewusst

Ich werde oft gefragt: »Wie arbeiten Sie auf der Straße? Ich würde

mich davor fürchten, ich bin zu schüchtern, ich kann Fremde

nicht fotografieren, weil man das ja eigentlich nicht macht.« Die

Menschen verspüren eine rätselhafte Angst davor, an öffentlichen

Orten zu fotografieren. Mein Verhältnis zur Street Photography: Ich

glaube, die Straße gehört uns. An einem öffentlichen Ort ist jeder

und alles Freiwild.

Wie also gehen Sie beim Fotografieren auf der Straße vor? Zuerst

müssen Sie Lust auf das Leben auf der Straße haben. Die Straße

bedeutet Chaos. Wenn Sie sich im Chaos wohlfühlen, finden Sie

Ihren Weg. Auf der Straße müssen Sie das gesamte Bild im Auge

behalten. Das Territorium, das Sie durch den Sucher sehen, gehört

Ihnen. Einer der interessantesten Aspekte der Street Photography ist,

Verbindungen zwischen Dingen herzustellen, die nichts miteinander

zu tun haben, denn wenn Sie sie in dasselbe Bild holen, schaffen Sie

diese Verbindung.

Eine der größten Ängste der meisten ist, dass sie jemanden auf der

Straße fotografieren, der sich dann vielleicht beleidigt fühlt und Sie

angreift. Tatsache ist jedoch, dass uns ein freundliches Lächeln und

eine zugängliche Art sehr weit bringen können. Wenn Sie also auf

der Straße sind und Ihnen alles, was Sie beim Fotografieren sehen,

ein Lächeln ins Gesicht zaubert, wirken Sie sanfter, zugänglicher und

menschlicher. Die Menschen werden Ihnen nicht negativ gegenüber-

Gegenüber: New York City, 1976 (Ausschnitt)

Umseitig: New York City, 1974

17


treten. Doch wenn Sie das Zoom auf jemanden richten und entdeckt

werden, reagieren die Leute eher ablehnend bis ärgerlich, denn sie

fühlen sich beobachtet.

Wenn Sie schnell sind und mit dem was Sie tun zufrieden und engagiert

sind, dann senden Sie die Botschaft aus: »Hey, der ist okay, ich

muss mir keine Sorgen machen.« Ihre Intuition ist wichtig, eine positive

Ausstrahlung, Sinn für Humor – und zur rechten Zeit am rechten

Ort zu sein. Lassen Sie die Kamera immer eingeschaltet, immer ohne

Objektivdeckel. Drücken Sie bei einer Digitalkamera auch hin und

wieder mal eine Taste, damit sie immer bereit ist. All das gehört zu

Ihren Vorbereitungen als Fotograf auf der Straße.

Für einige Menschen sind bestimmte Themen tabu – sie meinen,

sie sollten zum Beispiel niemanden mit Gebrechen fotografieren.

Hier links sehen Sie ein Foto, das zeigt, was ich meine. Es stammt

aus meinem Buch Wild Flowers (1983). Ich ging eine Straße entlang

und folgte einem Mann mit einem Blumenstrauß. Ich lief weiter, um

eine Position für das Foto zu finden. In dem Moment, als ich nahe

genug an ihn heran gekommen war, tauchte eine Frau mit dickem

Verband auf der Nase aus der Menge auf. Also machte ich das Foto.

Manche sagen vielleicht: »Oh nein, aber sie ist doch … schau, wie sie

aussieht.« Doch das spielt keine Rolle. Wirklich nicht. In gewisser

Weise erkennt man die Existenz von Menschen mit Behinderungen

oder Verletzungen erst durch ein Foto wirklich an.

Wir müssen demütig genug sein, um zu würdigen, dass wir alle Menschen

sind, und zwar jeder Form, Größe und Hautfarbe. Sie machen

sich über niemanden lustig: Sie zeigen, wie es ist. So sieht die Welt

aus, und so interagieren die Menschen. Ich glaube, jeder ist Freiwild,

solange man nicht versucht, Vorteile daraus zu ziehen, oder

man sich grausam verhält. Aus humanistischer Sicht ist das Schöne

an der Fotografie die Möglichkeit, jeden in jeder Situation zu zeigen

und Werke zu schaffen, die von Herzen kommen. Auf diese Weise

sagen Sie der Welt mit Ihren Bildern, dass Sie ein warmherziger,

großzügiger, sympathischer, verletzlicher und offener Mensch sind.

Das soll nicht heißen, Sie könnten nicht auch eine brutale Sicht auf

die Dinge haben. Street Photography ist brutal, dazu brauchen Sie

ein scharfes Auge und müssen belastbar sein.

20 Die Straße zu eigen machen

Gegenüber oben: New York City, 1974

Gegenüber unten: New York City, 1963

Umseitig: New York City, 1976


4

Augen auf

im Alltag

Entdecken Sie die Schönheit und

die Bedeutung des Alltäglichen

Hin und wieder und meist nur einen Augenblick lang überrascht

uns etwas auf der Straße, etwas direkt vor uns lässt

uns vor Erstaunen tief Luft holen und die Schönheit des

Moments bewundern. Der Moment verflüchtigt sich bereits, während

die Luft unsere Lungen füllt und uns ein Licht aufgeht. Das ist

Ihr fotografischer Moment, und nur Sie können das wissen.

Wenn Sie völlig ins Straßenleben eintauchen, indem Sie zum Beispiel

an einer belebten Ecke verweilen, erweckt etwas über Kurz

oder lang Ihre Aufmerksamkeit: Menschen, die sich auf die eine

oder andere Art bewegen, alle möglichen interessanten Gesten

und Gesichter und das Zusammenspiel verschiedener Ereignisse.

Langsam verschwindet die Langeweile der Leere, die Sie vielleicht

empfinden, denn Sie beobachten, wie alltägliche Dinge ihre Besonderheiten

direkt vor Ihrer Nase entfalten. Und weil Sie dabei sind,

entdecken Sie plötzlich, wie interessant das Alltägliche doch sein

kann. Bei der Fotografie geht es nur darum, auf Dinge zu reagieren,

die Ihre Aufmerksamkeit erregen, und eine Verbindung aufzubauen.

Tatsächlich ist die Fotografie ein sehr optimistischer Sport. Sie

drücken diesen Knopf und sagen: »JA. Ja, das habe ich gesehen,

das will ich.« Wenn Sie Ihre Fotos später anschauen, werden Sie

feststellen, dass Sie im Laufe eines Tages zu vielen Dingen »Ja«

gesagt haben, doch zusammen genommen geben Ihnen diese verschiedenen

Bilder eine Identität (siehe Kapitel 17).

Gegenüber: New York City, 1963

25


Sofortige Reaktionen ereignen sich

nicht nur auf geschäftigen Straßen

in großen Städten. Stellen Sie sich

vor, Sie sind außerhalb der Stadt

und entdecken aus dem Augenwinkel

alte Industrieanlagen, eine

Fabrik, einen Schlot, Lagerhäuser

– Sie sind also neugierig. Gehen Sie

hin, laufen Sie umher und schauen

Sie, was passiert.

Genau das habe ich getan, als ich an

einem Industriegelände am Rande einer Kleinstadt in der Toskana

vorbeikam, wo wir einige meiner Tutorials für die Kurse »Masters

of Photography« filmten.

Ich ging in eines der Gebäude und sah etwas, was auch eine Installation

in einem Museum hätte sein können: weiße Säcke mit

Sägespänen auf einem Haufen, in der Nähe auch Sägespäne auf dem

Boden (siehe oben), Sonnenlicht flutete den Raum und die Säcke,

dazu einige Stämme in der Ecke. Ich bemerkte erst eins der Dinge,

dann die anderen, schließlich versuchte ich, sie alle in einem Bild

über ihre ungleiche Beziehung zusammenzuführen. Alles fügte sich

vor meinem geistigen Auge zu einem atemberaubenden Stillleben

zusammen, das in Wahrheit eigentlich nur ein vergessener Ort war.

Wenn Sie also etwas Interessantes sehen, untersuchen Sie es.

Fotografieren Sie es in verschiedener Art und Weise und in unterschiedlichen

Kombinationen. Bei der Gelegenheit fotografierte ich

zuerst den Haufen Säcke, dann die Säcke mit den Sägespänen, dann

die Säcke mit dem Holz und schließlich nur das Holz.

Mein Prozess beginnt damit, Ehrfurcht zu empfinden. Halten Sie

die Augen offen und schauen Sie, was es zu entdecken gibt. Wenn

Sie Ihrem Instinkt folgen – und schließlich geht es einzig darum –,

gehen Sie, wohin Sie Ihre Wünsche führen. Sie werden unerwartete,

magische Dinge erleben. Stellen Sie sich vor, Sie würden von der

Kamera beschenkt. Die Kamera sagt: »Geh, nimm mich irgendwo mit

hin – auf ein Abenteuer.« Ob das ein Industriegelände einer Kleinstadt

oder eine Plaza in einer Metropole ist, all das wartet auf Sie.

Oben: Lagerhaus, Toskana, Italien, 2017

Gegenüber oben: Málaga, Spanien, 1966

Gegenüber unten: New York City, 1969

Den Alltag entdecken

27


St. Louis, Missouri, 1978


St. Louis, Missouri, 1977


5

Ahnen Sie einen

Moment voraus

Seien Sie präsent und bereit zu reagieren

Am meisten Spaß macht es auf der Straße, ständig wachsam

und auf das Unerwartete gefasst zu sein. Als Kind wuchs ich

in der Bronx auf, in einem rauen Arbeiterviertel. Mein Vater,

ein straßenschlauer New Yorker und athletischer Typ (Profi-Boxer),

brachte mir bei, wie ich mich schützen konnte, um nicht bei Straßenkämpfen

verletzt zu werden. Er zeigte mir, wie ich auftauchen, mich

durchschlängeln und täuschen konnte, damit die Leute nicht zu mir

schauten, um eine Aufnahme zu machen.

Mein Vater brachte mir auch bei, das Leben vor unseren Augen zu

beobachten. Oft flüsterte er: »Joel, schau dir das an.« Und wohin

er auch zeigte, passierte etwas. Jemand rutschte auf einer Bananenschale

aus oder lief gegen einen Pfahl oder zwei Menschen hörten

auf, miteinander zu sprechen und rangen auf einmal miteinander.

Er schien immer genau zu wissen, was geschah, und indem er es mir

zeigte und sagte »Schau hin«, lehrte er mich, die Straße zu lesen.

Irgendwie war es für mich normal, Fotograf zu werden, das ergab sich

aus der Notwendigkeit als Kind, auf mich selbst zu achten, und aus

dem Verständnis, dass sich die Welt immer und immer wiederholt.

Menschen liefen schon immer gegen Türen, fielen von Treppen,

kämpften oder nahmen liebevoll oder verärgert Blickkontakt auf.

Menschen tun immer dasselbe. Wenn Sie das verstehen, können

Sie die Welt mit einem Gefühl für die Wahrscheinlichkeit beo-

Gegenüber: New York City, 1975 (Ausschnitt)

31


achten, dass diese Dinge gleich eintreten werden. Sie können fast

Bewegungen, Gesten und Aktionen voraussagen. So sind Sie dem

Spiel immer einen Schritt voraus. Sie sind dann bereit, im richtigen

Moment am rechten Fleck zu sein, nahe genug, um da zu sein,

wenn sich etwas ereignet.

Wie kommt es, dass man bei den Werken großer Meister wie Cartier-

Bresson immer das Gefühl hat, er wäre immer zur rechten Zeit am

rechten Ort? Seine Bilder sind der Beweis, dass er den Moment immer

verstand, antizipierte, vorhersagte und schließlich rechtzeitig zur

Stelle war. Jeder kann vorhersagen, antizipieren – und Sie werden

ebenfalls in der Lage sein, Fotos zu machen, die Sie eigentlich sonst

nur aus Zeitschriften kennen.

Hier ein Beispiel (gegenüber

unten): Was passiert gleich

auf diesem Bild? In New York

sah ich eine Dampfwolke aus

einem Lüftungsschacht unter

der Straße aufsteigen. Was mich

an der Fotografie täglich inspiriert,

ist der Moment, wenn sich

etwas ankündigt. In diesem Fall

war es die Dampfwolke, es hätte

aber auch einfach ein vorüberfahrender

LKW oder jemand

mit einem verrückten Outfit sein können. Irgendetwas, das sagt: »Hallo,

ich rede mit dir?« Wenn Sie ein solches Signal bekommen, geben Sie

acht. Achtgeben ist eine Grundfähigkeit der Fotografie.

Ich sah also den Dampf und bewegte mich darauf zu, denn für mich

war es die Leinwand auf der Straße, auf die die Schatten der Menschen

projiziert werden würden. Plötzlich tauchte ein Paar in farblich

übereinstimmenden Mänteln auf. Auf ihren Rücken zeichneten sich

die Schatten der Menschen ab.

Das alles ereignete sich im Bruchteil einer Sekunde, so lange, wie

ein Foto braucht, um zu entstehen. Wenn das kleine Rädchen an der

Kamera sagt »1/1000 s«, heißt das, Sie könnten in einer Sekunde

theoretisch 1.000 Bilder aufnehmen. Doch Sie haben das eine, das

wirklich wichtig ist.

32 Den Moment vorausahnen

Oben: Anawanda Lake, New York, 1970

Rechts oben: New York City, 1968

Rechts unten: New York City, 1975


Dieses Bild hat einen gewissen »Zwillings«-Anspruch, ist eine Art glück-

licher Zufall. Eigentlich passiert nichts Großes, doch die Tatsache, dass

sich zwei solche Kleinigkeiten gleichzeitig ereignen, wirklich innerhalb

eines Wimpernschlags, wirkt wie ein Zaubertrick. Puff! Sie sehen es,

und schon ist es vorbei.

Dieses Foto (gegenüber oben) ist ein Beispiel für eine Doppeldeutigkeit,

obwohl die Aktion deutlich zu erkennen ist. Die Doppeldeutigkeit

ist eine der inhärenten Stärken der Fotografie, und sie wird sich zu

der Ihren entwickeln, wenn sie sich ergibt. Was passiert hier? Ein

schwarzer Mann und ein weißer Mann konfrontieren einander kurz

auf dem Fußweg. Der eine streckt beide Arme aus, während der andere

einen Arm vorreckt. Wollen sie einander umarmen? Oder freuen sie

sich, sich zu treffen? Streiten sie miteinander? Ist es gefährlich? Ein

Passant schaut hin, ein anderer bemerkt es nicht einmal. Aber ich.

Ich erkannte diesen entscheidenden Moment mit ungewissem Ausgang.

Das kann ein Foto. Nur mithilfe schneller Intuition und tiefen

Verständnisses der menschlichen Möglichkeiten können Sie auf dem

Grat der Doppeldeutigkeit wandeln.

Die Fotografie ereignet sich schnell, direkt vor unseren Augen. Wenn

Ihnen ein Zauberer einen Trick erklärt, erkennen Sie sofort Dinge,

die Sie vorher nie gesehen haben, obwohl Sie sich direkt vor Ihren

Augen abspielten.

Ebenso entfaltet sich ein Foto vor Ihnen, doch nur, wenn Sie schnell

genug sind, können Sie damit zaubern. Und das sind wir – Zauberer

mit Kameras.

»Irgendwie war es für mich normal,

Fotograf zu werden, das ergab sich

aus der Notwendigkeit, als Kind auf

mich selbst zu achten, und aus dem

Verständnis, dass sich die Welt

immer und immer wiederholt.«

Gegenüber oben und unten: New York City, 1976

Umseitig: Paris, Frankreich, 1967

Den Moment vorausahnen

35


6

Beziehungen

sind wichtig

Schaffen Sie Verbindungen zu den Orten

und zu den Menschen, die Sie treffen

Jetzt, da wir beginnen zu sehen, geht es bei einem bedeutungsvollen

Straßenfoto vor allem um Achtsamkeit. Dazu sind

Verbindungen zwischen den Ereignissen um Sie herum notwendig.

In diesem Kapitel möchte ich darüber sprechen, wie Sie eine

Verbindung zu den Menschen eingehen, denen Sie auf der Straße,

am Strand, bei einer Veranstaltung oder anderswo begegnen, um

ein Umgebungsporträt oder ein Foto mit Menschen aufzunehmen.

Übrigens hat diese Verbindung nichts damit zu tun, sich lange zu

unterhalten oder Menschen überhaupt anzusprechen. Wichtig ist

das Verständnis.

Die Porträtfotografie reicht bereits in die Anfänge der Fotografie

zurück, ins 19. Jahrhundert, ist seither einer der Hauptbereiche der

Fotografie. Um Porträts aufzunehmen, gibt es viele interessante

Möglichkeiten, aber was ist ein Porträt? Geht es um eine Person

oder um Sie, den Fotografen bzw. die Fotografin? Oder ist es eine

Kombination aus Ihnen und Ihrem Motiv? Wenn Sie beginnen, ein

Porträt aufzunehmen, entwickelt sich eine besondere Energie zwischen

Ihnen und Ihrem Modell. Sie sind in sein privates Umfeld

eingedrungen und eine Verbindung eingegangen, und Ihr Modell hat

das akzeptiert. Egal, wie vorsichtig Sie vorgehen, zwischen Ihnen

entsteht eine neue Kraft, und in diesem Sinne wird das Porträt etwas

von Ihnen enthalten. Was das sein könnte, hängt davon ab, wer Sie

in diesen Momenten der Interaktion sind und was Sie dabei von der

Person vor der Kamera entdecken.

Gegenüber: New York City, 1962

39


Ein Porträt in der Öffentlichkeit aufzunehmen, ist eine eher fließende

Situation. Eine Möglichkeit wäre, einen Fremden anzusprechen, ungefähr

so: »Etwas an Ihnen bewegt mich. Darf ich ein Porträt von Ihnen

aufnehmen?« Und dann müssen Sie charmant genug sein, sodass Sie

hören: »Ja, gerne, …!«

Wie Sie dabei vorgehen, liegt bei Ihnen, aber bedenken Sie, wo die

Person im Bild platziert ist. Vielleicht sollten Sie mit einer Nahauf-

nahme beginnen, nur mit Augen, Nase und Mund, und dann aufziehen,

sodass Sie den ganzen Kopf der Person sehen, dann die Hälfte des

Körpers und schließlich den ganzen Menschen – bis die Person am

Ende mit viel Raum um sich herum klein im Bild zu sehen ist.

Meist geht es bei Porträts um das Ergreifen von Chancen. Hier ein

Beispiel: Ich komme gerade aus einem Restaurant in Siena und sehe

den Koch vor der Tür stehen. Ich danke ihm für das Essen, schaue

ihn an und denke: »Der Typ ist ein Foto wert. Er hat etwas …« Also

mache ich ein offizielles Porträt (unten). Mir gefallen die Details

und die wunderschöne Mauer hinter ihm. Er steht ganz einfach

da. Im Grunde fotografiere ich zwei Dinge: Das Altertum und die

Geschichte des Ortes und den jungen Koch. Ich versuche, das Bild

zu füllen. Ich finde es schön, wie sein Arm herunterhängt, er wirkt

wie eine Statue und besitzt eine großartige Präsenz. Schauen Sie,

wie ruhig er in die Kamera schaut.

Bei diesem Anlass konnte ich mit dem Koch arbeiten und ihn bitten,

bei der Entstehung des Bildes mitzuwirken. Es funktionierte zwischen

uns. Wenn Sie einen Fremden porträtieren, müssen Sie eine

Verbindung herstellen, dann wird

das Porträt interessanter.

Ein anderer Ansatz ist, in eine

Situation einzutreten und dabei zu

fotografieren. Wenn Sie Ihr Motiv

gefunden haben und von ihm willkommen

geheißen oder zumindest

akzeptiert werden, müssen Sie nur

noch den richtigen Standort finden

und herumspielen.

Diese Bilder zeigen zwei Arten

von Handarbeit: Ein Mann reinigt

40 Verbindungen schaffen


Gegenüber: Siena, Italien, 2017

Oben: Wellfleet, Massachusetts, 1977


Oben: New York City, 1963

Gegenüber: Siena, Italien, 2017

Umseitig: Paris, Frankreich, 1967


Korken und eine Frau häkelt. Wichtig ist,

dass es sich in einem mittelalterlichen Hof

einer Kleinstadt in Italien abspielt. Das Bild

der Frau ist okay, für mich ist jedoch wichtig

zu sehen, wo sie ist. Ich habe ihr Leben einen

Moment lang betreten – und ich porträtiere

das Leben in Italien.

Ich habe versucht, das Motiv und den Hintergrund

zusammenzubringen, um die Grenzen

des Fotos zu überschreiten. Ich ging ganz um die Frau herum, um

sehen zu können, wie sich dieser Moment entwickelte. Ich fotografierte

ihre Hände, ihren Körper und schließlich die ganze Person mit

Hintergrund. Ein Porträt muss nicht nur von einem Menschen, es kann

auch ein Ort sein. Wichtig ist, beides zusammenzubringen, so dass es

passt und interessanter wirkt.

Überlegen Sie, den Personen nah zu sein, metaphorisch und fotografisch

gesprochen. Lassen Sie vielleicht für den Hintergrund ein

wenig Platz. Oder lassen Sie eine Person das gesamte Bild ausfüllen.

Drehen Sie den Bildausschnitt auf die Seite, sodass die eine Hälfte

leer ist, oder holen Sie viele Menschen ins Bild, die es komplett

füllen. Probieren Sie es aus.

Ein Straßenfoto ergibt sich in einem Moment. Es ist live, es geschieht

jetzt und es ist so erfinderisch und verspielt, wie Sie es wollen. Der

Prozess des Fotografierens eines Porträts trägt zum Spaß bei.

»Wenn Sie beginnen, ein Porträt

aufzunehmen, entwickelt sich eine

besondere Energie zwischen Ihnen

und Ihrem Modell. Sie sind in sein

privates Umfeld eingedrungen und

eine Verbindung eingegangen,

die das Modell akzeptiert.«

Verbindungen schaffen

43


7

Finden Sie die

Geschichte

Lassen Sie Ihre Bilder Geschichten

erzählen

Fotos sind reich an Informationen. Sie haben das Potenzial,

Geschichten zu erzählen – vielleicht nicht auf konventionelle

Weise, aber durch die Sicht des Augenblicks, den der anwesende

und bereite Fotograf auf das Bild gebannt hat.

Hier sehen Sie zum Beispiel ein Foto, das ich in Paris aufgenommen

habe. Es war das einzige Bild von diesem Moment – die Zeit reichte

nicht für ein weiteres. Ich ging eine Straße entlang, entdeckte eine

Menschenansammlung und ging darauf zu. Auf der Straße lag ein

Mann, der gestürzt zu sein und ohnmächtig schien.

Im selben Moment beobachtete ich einen Mann mit einem Hammer,

der über ihn stieg. Es wirkte, als hätte der eine Mann den anderen mit

dem Hammer zu Boden gestreckt. Natürlich war es nicht so gewesen.

Der Mann auf dem Boden war tatsächlich gestürzt, der mit dem

Hammer ging einfach seiner Arbeit nach.

Ringsum standen Menschen: ein Mann mit einem Fahrrad, der sich

im Verkehr umdrehte; ein anderer ging vorüber und schaute sich um,

während er weiterlief; ein Paketbote ging knapp einen Meter an dem

Gestürzten vorbei; und all diese Menschen an einem Bus, die nur

starrten. Keiner ging hin und half dem Mann am Boden.

Gegenüber: Paris, Frankreich, 1967 (Ausschnitt)

Umseitig: New York City, 1963

47


Was also erzählt dieses Bild? Geht es um die Interaktion zwischen

den beiden Männern und die mögliche Story, dass einer den anderen

niedergeschlagen hat? Oder hat es mit den Gaffern zu tun, von

denen keiner dem Mann zu Hilfe eilt?

Wie dieses Bild beweist, sind auf einem Foto mehrere Ereignisse

gleichzeitig zu sehen. Zur Realität der Fotografie gehört auch, dass

Bilder flexibel sind: Sie können anhand der »Einzelköpfe« im Bild

verstanden werden oder global, anhand einer universalen Bedeutung

von Kultur, Gesellschaft und der Zeit, in der die Aufnahme entstand.

Die Fotografie ist ein elastisches Medium, das dramatischen Inhalt

ausdrückt, sie hat jedoch auch das Potenzial, Emotionen und ein

Gefühl für die Entstehungszeit zu transportieren. Sie ist ein expansives

und ausdrucksstarkes Medium.

»Zur Realität der Fotografie gehört

auch, dass Bilder flexibel sind: Sie

können anhand der ›Einzelköpfe‹

im Bild verstanden werden oder

global, anhand einer universalen

Bedeutung von Kultur, Gesellschaft

und der Zeit, in der die Aufnahme

entstand.«

50 Geschichten erzählen

Gegenüber oben: New York City, 1965

Gegenüber unten: Griechenland, 1967

Umseitig: Paris, Frankreich, 1967


Dank

Die Autoren

Dieses Werk wäre ohne die Originalversion von Chris

Ryan, dem Schöpfer des Online-Kurses Masters of

Photography, nicht entstanden. Chris entwickelte die

gesamte Serie, und als Direktor förderte er mich sowohl

professionell als auch persönlich. Nach dem Filmen

der Serie an sich, hat es vielleicht am meisten Spaß

gemacht, mit Gemma Padley an den Texten zu arbeiten.

Sie war wie eine großartige Tennispartnerin, während

wir uns die Texte hin und zurück spielten und um Worte

feilschten, um dem Text den richtigen Dreh zu geben.

Meine Studiodirektorin, Katya Barannik, lieferte mir jede

nur mögliche Unterstützung für die Bilder und Videos

und für das Buch, und für Ihre Hilfe bin ich unglaublich

dankbar. Sowohl Melissa Danny als auch Blance Craig

bei Laurence King Publishing arbeiteten unermüdlich

daran, das Buch zu realisieren und die losen Enden

wieder aufzunehmen. Ich danke Ihnen für ihre Unterstützung.

Joel Meyerowitz

Es gibt keinen Künstler, Lehrer oder Freund, mit dem

ich diese Reise in die Fotografie lieber unternommen

hätte als Joel Meyerowitz. Joels Präzision bei der Darstellung

seiner Ideen und Konzepte ist vergleichbar mit

wunderschönen, künstlerischen Pfeilen, die jedes Mal

ins Schwarze treffen.

Danke, Joel, dass du so ein inspirierender Führer und

Mentor in diesem Projekt warst, für deine Großzügigkeit

und deine Bereitschaft, deinen fotografischen Ethos mit

uns allen zu teilen. Joel ermutigt mich und alle seine

Schüler immer wieder, »mit ihm loszugehen und mal zu

schauen, was es zu entdecken gibt«. Eine andauernde

Forschungsreise, die mich auf immer höhere Pfade führt

und zu kreativerem Denken anleitet.

Ein besonderer Dank geht an meinen Gründer-Kollegen

der Masters of Photography, Gilles Storme, für seine

großzügige Unterstützung und seine Hilfe von Beginn

an. Danke an unseren Kreativ-Direktor Robin Harvey und

unseren Rechtsberater Alex Weiner für die Unterstützung,

das ganze Projekt zum Laufen zu bringen. Ein großes

Dankeschön geht an das wunderbare Team von Masters

of Photography: Nick Mays, Olivia Harvey, Camilla Wyatt,

James Stringer und Matrick Rutledge.

Danke an unser Filmteam und das Team der Postproduktion,

Producer Will Daunt, Kameramann Josh Lee,

Redakteur Rob Jury und unseren Koloristen James Willet

für die Monate brillanter Arbeit bei der Produktion der

Film-Lektionen, aus denen dieses Buch entstanden ist.

Ein riesiges Dankeschön an alle bei Laurence King

Publishing für ihre Unterstützung und ihre behutsame

Führung durch den sorgfältigen und schönen Produktionsprozess

dieses Buches.

Joel Meyerowitz

Joel Meyerowitz (geb. 1938 in New York) ist ein preisgekrönter

Fotograf, dessen Arbeiten in über 350

Ausstellungen in Museen und Galerien weltweit zu

sehen sind und waren. Er wird als Pionier der Farbfotografie

gefeiert, wurde zweimal als Guggenheim-Fellow

ausgezeichnet, erhielt sowohl die Auszeichnung

National Endowment for the Arts als auch National

Endowment for the Humanities. Ebenso ist er Träger

der Centenary Medal der Royal Society of Photography.

Masters of Photography

Das Ziel dieser Serie ist, die größten Meister der

Fotografie weltweit zusammenzubringen, um uns zu

lehren und anzuleiten. Dies sind keine technischen

Kamerakurse. Es sind inspirierende und persönliche

1:1-Lektionen, die das Wissen, das Ethos und die Philosophie

der Fotografen ausdrücken. Wir möchten einen

Spaziergang mit den Meisterfotografen unternehmen,

während sie uns beibringen, wie wir unsere Augen und

unseren Geist nutzen, um unsere Vision der Welt um

uns herum in unseren Fotos zum Ausdruck zu bringen.

Bildnachweise

13: © Henri Cartier-Bresson/Magnum;

15: © The Estate of Diane Arbus. Mit freundlicher

Erlaubnis der Fraenkel Gallery, San Francisco.

Chris Ryan

Gründer, Masters of Photography

128


»Mit der Kamera in der Hand haben

Sie die Lizenz zu sehen.«

Joel Meyerowitz

Die Lizenz zu sehen legt dar, wie der legendäre Fotograf

Joel Meyerowitz denkt, sieht und fotografiert: von Tipps zur

Street Photography, Überlegungen zur Komposition bis hin zum

Wahrnehmen der Inspiration, die uns ständig umgibt. In 20 kurzen

Kapiteln teilt Joel Meyerowitz seine Leidenschaft und seinen

ansteckenden Enthusiasmus für unglaubliche Fotografien mit uns.

ISBN: 978-3-03876-175-4

www.midas.ch

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