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Geschichten aus Fuerteventura

Wahre und einige erfundene Geschichten aus Fuerteventura

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Robinson Club – Hochh<strong>aus</strong> und Strandrestaurant<br />

Dritte überarbeitete Auflage


Dritte Auflage<br />

Die dritte Auflage dieses Büchleins beträgt nur 30 Exemplare.<br />

Jedes Buch ist von mir signiert und von Nr. 1 bis 30<br />

durchnummeriert. Es wird nur an Menschen, die mich in<br />

besonderer Weise beeindrucken, mir viel bedeuten und an<br />

sehr gute Freunde verschenkt. Es ist nicht im Buchhandel<br />

erhältlich.<br />

Viele meiner Freunde haben die zweite Auflage dieses<br />

Buches gelesen und fragten sich anschließend:<br />

Was ist wahr und was ist erfunden? Wirklich Erlebtes und<br />

Erfundenes wird vom Leser verständlicherweise unterschiedlich<br />

wahrgenommen und beurteilt.<br />

Ich habe mich bei dieser Auflage dazu entschlossen, dies<br />

besser kenntlich zu machen, bei der komplizierten Geschichte<br />

allerdings nicht immer mit Erfolg, obwohl gerade dieses<br />

Spiel zwischen Wahrheit und Fantasie den Reiz eines Buches<br />

<strong>aus</strong>machen kann.<br />

Siegfried Kuebler<br />

Ll Aa Nn<br />

imitierte uflage r. von 30


Platon:<br />

„Alles fließt und nichts bleibt“<br />

geb. 428/427 v. Chr. in Athen oder Aigina,<br />

gest. 348/347 v. Chr. in Athen<br />

„Que fuerte aventura – welch ein<br />

großes Abenteuer!“ – soll der Eroberer<br />

Jean de Béthencourt beim ersten Betreten der Insel im<br />

Jahr 1404 gerufen haben.<br />

© Copyright 2021<br />

by Siegfried Kuebler<br />

Zur Grundel 18<br />

D 88662 Überlingen


Manches <strong>aus</strong> dem<br />

dem<br />

und über die legendäre<br />

an der menschenleeren Westküste.<br />

Dieses Buch ist all denjenigen gewidmet, die noch an Abenteuer<br />

glauben und auch bereit sind, sie einzugehen.


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort zur zweiten, überarbeiteten Auflage im Jahr 2021<br />

Vorwort zur ersten Auflage im Jahr 2010. Ich schreibe über<br />

<strong>Fuerteventura</strong> in unserer damals zweiter Heimat Südafrika<br />

Übernachtung im Freien an der wilden Westküste<br />

Oder: Es gibt keine wilden Tiere auf <strong>Fuerteventura</strong>, eine wahre Begebenheit<br />

im Herbst 1998<br />

Der Einsiedler Heinz Ruhau<br />

Wahre <strong>Geschichten</strong> <strong>aus</strong> den Jahren 1986 bis 1989. Heinz Ruhau<br />

und Tanja oder der Glaube an sich selbst kann heilen - Der Einsiedler<br />

und Monika - Der Einsiedler und Sonja<br />

Fremdgehen ist gefährlich oder die verlorene Partie<br />

Bis auf das erfundene Ende mit Ursula ist das eine wahre Geschichte.<br />

Der Israeli, eine wahre Geschichte<br />

Gold in der Villa Winter<br />

Fantasie, allerdings hätte die Geschichte um Heinz Ruhau, dem<br />

Einsiedler, durch<strong>aus</strong> so stimmen können.<br />

Der Roman „Und Dann?“, der mein Leben verändern sollte,<br />

eine wahre Begebenheit<br />

Blue Dolphin, die Beziehungsgeschichte ist erfunden, alles andere<br />

habe ich so erlebt.<br />

Die Brigantine Rose of Sharon strandet. Die Besatzung der Rose<br />

of Sharon ist eine erfundene Geschichte. Was geschah mit der Brigantine?<br />

Gustav Winter und seine Villa Winter<br />

Das Leben von Gustav Winter. Recherche über sein Leben.<br />

Wissenswertes über die Insel <strong>Fuerteventura</strong>. Das Rui Palace<br />

Tres Islas Hotel im Norden. Der Robinson Club Jandia Playa im<br />

Süden. Willy Brandt und Miguel de Unamuno auf der Insel.<br />

2015 wurde die Insel zum UNESCO-Lichtschutzgebiet erklärt<br />

6


Vorwort zur zweiten, überarbeiteten Auflage im Jahr 2021<br />

Die erste Auflage dieses Buchs mit 50 Exemplaren war bis<br />

auf wenige schnell vergriffen. Zu unserem erneuten Urlaub<br />

im Robinson Jandia Club im April 2021 hatte ich noch eines<br />

mitgenommen. Es könnte ja sein, dass sich einer der Tischgäste<br />

für die Insel interessierte, auch vielleicht deswegen, weil Interessantes<br />

über die mysteriöse Villa Winter an der Westküste<br />

der Halbinsel Jandia darin enthalten ist.<br />

Auch die Geschichte des deutschen Ingenieurs und „Abenteurers“,<br />

wenn Sie mir dieses Attribut nach Kenntnis seines<br />

Lebenslaufs gestatten, Gustav Winter, ist nach umfangreichen<br />

Recherchen darin dargelegt. In dieser Ausführlichkeit mit<br />

Quellenangaben ist dies meines Wissens nirgendwo anders<br />

beschrieben. Er war (gestorben 1972) Besitzer der ganzen Halbinsel<br />

Jandia, angefangen bei der Landenge La Pared - Costa<br />

Calma bis zur Südspitze von Jandia, wo der Leuchtturm steht.<br />

Ein riesiges Gebiet. Damals, als er es zu einem Spottpreis<br />

kaufte, mehr oder weniger wertloses, trockenes und wegen<br />

Wassermangels unfruchtbaren Landes. Der Besitz ging an seine<br />

Frau (Winter-Alth<strong>aus</strong>) und seine beiden Söhne über, die in<br />

Gran Canaria lebten. Er wurde von der bitterarmen Bevölkerung,<br />

um das Städtchen Morro und das Dorf Cofete herum,<br />

als Don Gustavo verehrt. Er war nämlich einer der wenigen,<br />

wenn nicht der einzige Arbeitgeber in dieser verlassenen Gegend,<br />

der etwas in die Landwirtschaft investierte, aber auch<br />

eine Kapelle in Morro errichten ließ und nicht zuletzt die Villa<br />

Winter baute.<br />

Das Buch hat den Titel <strong>Geschichten</strong> <strong>aus</strong> <strong>Fuerteventura</strong>. Wie<br />

der Titel schon verrät, dreht sich natürlich nicht alles um die<br />

‚Winter‘ Geschichte, sondern auch von Begebenheiten, die sich<br />

am Strand abspielten, wobei dem Einsiedler Heinz Ruhau, der<br />

7


dort fünfzehn Jahre lang in einem stillgelegten Kalkofen gelebt<br />

hatte, eine besondere Rolle zufällt.<br />

Wir lernten beim Abendessen, wie üblich an einem 6er Tisch<br />

in Coronazeiten (sonst 8ter Tische), das Ehepaar Marco und Jutta<br />

Bunte <strong>aus</strong> Bad Oeynh<strong>aus</strong>en kennen, die dort ein Baugeschäft<br />

betreiben. Ich erzählte von meinem Buch. Jutta erklärte mir<br />

am nächsten Tag, dass sie von dem Buch am Strand nicht losgekommen<br />

sei. Und Marco ergänzte, dass er abends die Geschichte<br />

um die Villa Winter verschlungen habe.<br />

Ich hatte schon lange vor, einen Nachdruck in Auftrag zu<br />

geben. Jetzt nach deren Lesespaß, überlegte ich mir, ob ich nicht<br />

für eine zweite Auflage, neue Erkenntnisse und Erlebnisse hinzufügen<br />

sollte. Stoff gab es ja noch genug.<br />

So bin ich den beiden zu Dank verpflichtet, die durch ihr<br />

Lob und ihren Zuspruch den Anstoß dazu gegeben haben.<br />

Jutta und Marco Bunte <strong>aus</strong> Bad Oeynh<strong>aus</strong>en<br />

8


Vorwort zur ersten Auflage im Jahr 2010<br />

Ich schreibe über <strong>Fuerteventura</strong> in unserer damals zweiter Heimat<br />

Südafrika<br />

Am frühen Morgen werde ich von zwitschernden Vögeln<br />

geweckt, die in den hohen italienischen, eigentlich gar nicht in<br />

die südafrikanische Landschaft passenden Pinien sitzen und<br />

sich aufplustern, um die Kühle der Nacht abzuwehren. Es sind<br />

gelbe Webervögel, Laubsänger, Kanarienvögel, Goldbrust-<br />

Nektarvögel, Lerchen, Spechte, Goldpieper, Hottentottengirlitze,<br />

schwarze Krähen und gurrende Tauben.<br />

Vielleicht ist auch das Gekrächze eines ‚Blue Crane‘, des Paradieskranichs<br />

und Nationalvogels Südafrikas, dabei. Das leise<br />

zischende Geräusch der Schwingen der Schleiereule, die in<br />

einer der Pinien ihr Nest hat,<br />

ist nicht mehr zu hören. Es<br />

ist der Nacht vorbehalten,<br />

wenn sie auf Beutezug ist<br />

und die schwarze Nacht in<br />

der Siedlung mit ihren dicht<br />

bewachsenen Gärten unheimlich<br />

machen kann. Sie<br />

hat zwei schneeweiße Junge<br />

aufzuziehen, die noch nicht<br />

flügge sind.<br />

Die bunten Nektarvögel<br />

haben es meinem englischen<br />

Nachbarn angetan. Er hat<br />

ein Vogelhäuschen aufgestellt,<br />

das mit einer Tränke<br />

versehen ist. Das mit einer<br />

Zuckerlösung versehene<br />

9<br />

Blue Crane, Nationalvogel<br />

Südafrikas


und mit einer Lebensmittelfarbe rot gefärbte Wasser in einer<br />

waagrecht aufgehängten Flasche trinken sie gern. Sie springen<br />

auf die hervorstehende Stange, die sich langsam samt der<br />

Flasche nach unten neigt, so dass die Flüssigkeit her<strong>aus</strong>tröpfeln<br />

kann. Eine raffinierte Konstruktion. Der Vogel mit dem<br />

großen roten Schwanzschweif, die ihn viel größer erscheinen<br />

lässt als er eigentlich ist, hat die Funktionsweise noch nicht<br />

gelernt. Er verjagt die anderen und versucht es immer wieder<br />

und scheitert, da er mit seinem langen Schweif das Gleichgewicht<br />

auf der Stange nicht halten kann.<br />

Dann höre ich das leise, unregelmäßige Piepsen einer Perlhuhnfamilie,<br />

die unter meinem Fenster, scheu wie diese Tiere<br />

einmal sind, vorbeihuscht. Sie suchen die herabgefallenen Körner<br />

des Vogelfutters. Mit den weißen Tupfen auf ihren grauen<br />

Federn könnte man vermuten, dass sie von den Aborigines erfunden<br />

worden seien, sozusagen als Ableger ihrer Malerei.<br />

Doch die Aborigines waren ja nie in Südafrika!<br />

Während ich meine Augen reibe, leuchten durch das Hebefenster,<br />

das, wenn man unvorsichtig ist, wie ein Fallbeil herunterfahren<br />

kann, dunkelrot die Blätter eines Bougainvilleabusches<br />

vor einem schon am Morgen tiefblauen Himmel.<br />

Entlang der langen Terrasse folgen noch die Farben Orange,<br />

Pink und Violett. Mein Blick fällt auf Regines Garten. Zunächst<br />

der Rasen. Ein einziges Grün, in dem sich das Sonnenlicht versteckt.<br />

Als ob er seine eigene Leuchtkraft entwickelt hätte.<br />

Berea-Gras! Das ist eine in Südafrika heimische Grassorte,<br />

die Ausläufer bildet und bestens auf das hiesige Klima mit langen<br />

Trockenperioden angepasst ist. Beim Anlegen des Rasens<br />

werden im Gegensatz zu den üblichen Grassorten die einzelnen<br />

Graspflänzchen gepflanzt und nicht als Samen <strong>aus</strong>gesät.<br />

Bleiwurz bildet die drei Meter hohe Hecke, die den Garten<br />

einzäunt mit violetten Doldenblüten. Geranien wachsen vor<br />

10


der Hecke. Sie sind auch<br />

„heimisch“, wofür die Südafrikaner<br />

das nicht jedem<br />

Primaner geläufige englische<br />

Wort „indigenous“<br />

verwenden. Es blühen auch<br />

einige Agapanthen in weißer,<br />

blauer und violetter<br />

Farbe. Kein südafrikanischer<br />

Garten ohne Agapanthen!<br />

Vor dem Gartenmäuerchen,<br />

das die Terrasse einfriedet,<br />

ist ein Beet mit blau<br />

Fynbos<br />

blühendem Lavendel angelegt<br />

und in einer Reihe<br />

davor blühen weiße Eisbergrosen,<br />

die in dieser Gegend<br />

in Weinbergen gerne<br />

gepflanzt werden. Bevor<br />

das Ungeziefer die Rebstöcke<br />

befällt, werden die Rosen<br />

befallen und der Winzer<br />

kann rechtzeitig reagieren.<br />

Der Bottlebrush – auf<br />

Deutsch Lampenputzer –<br />

mit seinen sonst pinkfarbenen,<br />

bürstenähnlichen Blü-<br />

Frangipani<br />

ten ist bereits verblüht, doch<br />

der neugepflanzte im englischen Rosengarten zeigt noch welche.<br />

Es wird noch einige Zeit brauchen, bis alle Rosen blühen.<br />

Der ganze Stolz von Regine ist aber der Frangipani-Baum,<br />

dessen rosa- hellgelbe Blüten die Nase verwöhnen. Kleine, wild<br />

11


gewachsene Olivenbäume, Proteas und Fynbos runden das Bild<br />

des von Sue, der gebürtigen blondhaarigen Südafrikanerin, die<br />

so schnell wie ein Wasserfall redet, entworfenen Gartens ab.<br />

Die Sonne wird heute wieder einmal den Tag bestimmen,<br />

geht es mir durch den Kopf. Wieder einmal ein perfekter Tag<br />

zum Golfen. Wer hätte das gedacht, dass ich einmal fast die<br />

Hälfte des Jahres hier in unserem eigenen Häuschen in Zevenwacht,<br />

zwischen Kapstadt und Stellenbosch gelegen, zusammen<br />

mit Regine verbringen würde?<br />

War ich nicht ein <strong>Fuerteventura</strong>-Fan gewesen? Total auf ‚Fuerte‘<br />

abgefahren? Hatte ich mir nicht vorgenommen, wenn ich<br />

einmal Rentner wäre, auf <strong>Fuerteventura</strong> zu leben? Zumindest<br />

in unserem europäischen Winter? Auch dort ist der Himmel<br />

blau, vielleicht ein Hauch blasser als hier. Der Wind bläst, dort<br />

wie hier, fast ununterbrochen. Dort der Nordostpassat, hier<br />

der Südostpassat. Wie oft war ich doch auf der Insel gewesen?<br />

1984 das erste Mal. Im Aldiana Club, aber auch im Robinson<br />

Club Jandia und im Robinson Esquinzo. 60 Mal in den vergangenen<br />

35 Jahren? Was hatte ich nicht alles erlebt in diesen Urlauben?<br />

Wie viele wilde <strong>Geschichten</strong> hatte ich gehört, wie viele<br />

hatte ich erlebt?<br />

Vielleicht sollte ich einige davon niederschreiben? Aufgemischt<br />

mit etwas Fantasie? Mir macht solches Schreiben Spaß,<br />

und vielleicht unterhält es den einen oder anderen Leser, führt<br />

ihn in eine fremde Welt auf eine Urlaubsinsel, auf der dieselben<br />

Intrigen gesponnen, innermenschliche Spannungen <strong>aus</strong>getragen<br />

werden und Abenteuer stattfinden wie bei uns zuh<strong>aus</strong>e<br />

auch. Vielleicht durch die Urlaubsstimmung und das<br />

helle warme Klima etwas <strong>aus</strong>geprägter und farbiger?<br />

12


Übernachtung im Freien an der wilden Westküste<br />

Oder: Es gibt keine wilden Tiere auf <strong>Fuerteventura</strong>,<br />

eine wahre Begebenheit im Herbst 1998<br />

Der alte Maierfeld mit seinem kreisrunden Kopf und seiner<br />

stark gewölbten Brille saß uns schon am frühen Morgen im<br />

verschwitzten Hemd am Achtertisch gegenüber. Wie es diesen<br />

ungepflegten Burschen in den Robinson Club Jandia Playa<br />

verschlagen hat, wird er uns eines Tages langatmig offenbaren.<br />

Es ist einer jener Typen, die fremden Menschen alles irgendwann<br />

von sich erzählen müssen. Er ist einer, der Zuhörer<br />

braucht. Zunächst hatte er jedoch nur einige spitze Bemerkungen<br />

bereit, die er besonders lustig fand, und beim Erzählen<br />

allerdings der Einzige blieb, der darüber lachte:<br />

„Müsst ihr denn eure Muskeln trainieren, um besser Tennis<br />

spielen zu können, wenn ihr heute eine so lange Wanderung<br />

machen wollt? Ihr werdet dadurch keinen Deut besser. Lasst<br />

es euch von einem sagen, der Tennis spielen kann.“<br />

Er klopfte sich selbstbewusst an die Brust und fuhr mit dem<br />

Handrücken über seinen Mund, um den herabtropfenden,<br />

weißen Speichel abzuwischen. Unangenehm, ihm beim Essen<br />

zuzusehen. Regine verzog leicht missbilligend ihr Gesicht und<br />

stand bei dieser Gelegenheit auf, um Wurst und Käse vom Frühstücksbuffet<br />

zu holen. Wir waren dabei, uns Brote für unsere<br />

Wanderung zu streichen. Die Rucksäcke waren schon gepackt<br />

und prall voll. Die darin verstauten Wasserflaschen machten<br />

sie auch noch schwer. Die beiden Schlafsäcke nahmen aber den<br />

meisten Platz ein. Zu mir gewandt fuhr er fort:<br />

„Nimm doch einmal einen Marathonläufer als Beispiel.<br />

Glaubst du, dass so einer jemals ein sehr guter Tennisspieler<br />

werden wird? Nein, er wird es nie werden. Er ist im Antritt zu<br />

13


langsam. Seine Reaktionszeit ist zu lang, hat unter seinem harten<br />

Training gelitten.“<br />

Mir reichten seine geistreichen Ratschläge und stand auf, um<br />

Regine bei ihrer Auswahl zu helfen. Wie anmutig sie in ihrer<br />

kurzen Hose, den braunen Beinen und ihren langen, nach oben<br />

gesteckten Haaren <strong>aus</strong>sah! Sie sah mich zum Buffet kommen.<br />

Ihre dunkelbraunen Augen lachten mich an. Wie glücklich ich<br />

war. Ein warmes Gefühl stieg mir zum Herzen hoch und umhüllte<br />

es wohlig. Wie hatte ich es nur geschafft, sie gestern<br />

Nacht zu einer solch abenteuerlichen Tour in den verlassensten<br />

Teil <strong>Fuerteventura</strong>s zu überreden, an die menschenleere<br />

Westküste der Halbinsel Jandia? Sie willigte sogar ein, mit mir<br />

am Strand zu übernachten. An der geheimnisvollen Playa de<br />

Barlovento, von der kaum einer von der Sorte eines Maierfelds<br />

je gehört hatte. Allerdings kostete das viel Überzeugungsarbeit.<br />

„Du musst keine Angst haben. Es gibt keine giftigen Tiere<br />

auf der Insel. Keine Schlangen. Keine giftigen Skorpione. An<br />

der fast vegetationslosen Westküste gibt es auch keine Mücken,<br />

die uns piesacken könnten“, sprudelte es <strong>aus</strong> mir her<strong>aus</strong>. „Wilde<br />

Raubtiere auch nicht. Keine Wölfe, keine wilden Katzen.<br />

Auch verirren sich dorthin keine Menschen. Nicht einmal Hirten.<br />

Die Pflanzen sind so spärlich, zumeist mit spitzen Dornen,<br />

dass nur Ziegen davon leben können, die mit ihren spitzen<br />

Mäulern auch noch die letzten Pflänzchen samt Wurzeln<br />

<strong>aus</strong> der Erde ziehen und dabei den Dornen geschickt <strong>aus</strong>weichen.<br />

Der Strand ist Teil eines riesigen Naturparks, den die<br />

Spanier mit einem jetzt schon verrosteten primitiven Zaun<br />

abgesteckt haben, der eigentlich keine Absperrung darstellt.<br />

Er ist nur zu Fuß nach einer viele Stunden dauernden Wanderung<br />

zu erreichen. Er ist der friedlichste Ort der Welt.<br />

Nirgendwo sonst kann man so gefahrlos und mitten in der<br />

14


Westküste<br />

Alte<br />

Fluglandepiste<br />

Gestrandeter Wal<br />

an der Playa de Cofete<br />

Roque del Moro<br />

Pass nach Cofete<br />

Cofete<br />

El Islote<br />

(Inselchen)<br />

Playa de Barlovento<br />

Unser Wanderweg<br />

Villa Winter Pico de la Zarza<br />

(Brombeerspitze)<br />

Ziegenpfad<br />

im "Gran Valle"<br />

Schlafstätte<br />

Bergkette<br />

Aussichtspunkt<br />

Dünenlandschaft<br />

Alte Straße<br />

vom Sand verweht<br />

Los<br />

Gorrinoes<br />

Punta de Jandia<br />

Leuchtturm<br />

Halbinsel Jandia<br />

Gran Valle<br />

Hafen<br />

Morro Jable<br />

Jandia Playa<br />

Robinson Club<br />

Esquinzo<br />

Aldiana Club<br />

Alter Leuchtturm<br />

Leuchtturm<br />

Überflutung<br />

Robinson Club Jandia<br />

Wanderweg (gestrichelt) vom Robinson Club Jandia Playa<br />

über die Villa Winter, Inselchen El Islote, Playa de Barlovento,<br />

am Hotel Los Gorriones vorbei zum Robinson Club Esquinzo<br />

15


Natur ohne Nachbarn im Umkreis von zehn Kilometern übernachten.<br />

Du wirst die Einsamkeit spüren und sie lieben. Unsere<br />

Gefühle zueinander werden so intensiv sein wie nie zuvor,<br />

da sie durch keine äußeren Einflüsse, vor allen Dingen nicht<br />

durch die Nähe von anderen Menschen, gestört werden können.<br />

Wir werden in eine neue Dimension unserer Liebe unter<br />

dem sternklaren Himmel eintauchen.“<br />

Etwas hochgestochen kamen mir meine Erläuterungen schon<br />

vor, das Wichtigste aber war, dass sie schließlich einwilligte.<br />

Der Wanderweg von Morro de Jable, dem ehemals kleinen<br />

verträumten Fischerdorf, das sich in den vergangenen Jahren<br />

zu einer Touristenhochburg entwickelt hat, nach Cofete soll<br />

direkt über die Berge führen. Doch als wir einen Einheimischen<br />

nach dem Weg fragten, schüttelte er nur den Kopf. Nicht<br />

einmal der spanische Eigentümer einer der führenden Autovermietungen<br />

konnte uns Auskunft geben. Er sagte:<br />

„Wie soll man über die Bergkette am Pico de la Zarza vorbei<br />

zu Fuß nach Cofete gelangen? Das ist der höchste Berg <strong>Fuerteventura</strong>s<br />

mit etwa 800 m Höhe. Bei dem Geröll und den kantigen<br />

Felsen ist das ein gewagtes Unterfangen. Bergsteiger müsste<br />

man dazu sein. An ihrer Stelle würde ich mir ein Auto mieten<br />

und die geschotterte Straße nehmen, die auch über einen Pass<br />

führt, von wo man einen unvergesslichen Ausblick hat. Von<br />

dort <strong>aus</strong> kann man sogar bis zu der kleinen Insel El Islote sehen.“<br />

Und doch hatte ich in einem Reisebericht gelesen, dass es<br />

einen solchen Weg geben soll. Darin wird er als alter Königsweg<br />

bezeichnet. Wie dieser Name entstanden ist, bleibt im<br />

Dunkel der Geschichte verborgen, denn vor dem Zweiten<br />

Weltkrieg war dieser Teil der Insel das Ende der Welt und ein<br />

König weit und breit nicht in Sicht.<br />

Wie schulterten unsere Rucksäcke und marschierten los.<br />

16


Gran Valle. Hier beginnt der Ziegenpfad durch das „Gran<br />

Valle“ Tal über einen Pass nach Cofete.<br />

Zunächst nahmen wir die Asphaltstraße nach Süden, die zum<br />

Hafen führt. Dann bogen wir in die Schotterpiste ein und gingen<br />

etwa drei Kilometer weit, bis wir das Tal Gran Valle erreichten.<br />

Dies schien mir der geeignete Einstieg zu sein, und<br />

wir folgten dem steinigen Weg, der immer weiter nach oben<br />

führte. Wir hielten uns an die linke Flanke des Tals, das mit<br />

braunen und schwarzen kantigen Steinen übersät war. Wir<br />

waren in einer Steinwüste gelandet. Fast keine Pflanzen, fast<br />

nichts Grünes. Das trockene Klima und die kargen Böden verhinderten<br />

eine nennenswerte Vegetation. Manche Steine waren<br />

mit orangefarbigen Krustenflechten überzogen. Flechten<br />

gedeihen offenbar unter den widerwärtigsten Bedingungen.<br />

Hin und wieder entdeckten wir einen gelben Ginster mit kleinen<br />

weißen Blüten. Kleine Schnecken fraßen an den wenigen<br />

Blättern. Spärlichstes Wachstum, und schon machen sich<br />

17


Schädlinge breit. Der<br />

Weg hörte plötzlich auf.<br />

Sollten wir jetzt einfach<br />

weitergehen, über die<br />

Steine klettern, bis wir<br />

den Sattel des Bergrückens<br />

erreicht hätten?<br />

Dann sahen wir einen<br />

braun gebrannten alten<br />

Mann am Hang mit seinen<br />

zwei Ziegen stehen.<br />

Ich fragte ihn mit beiden<br />

Händen in Ermangelung<br />

genügender Spanischkenntnisse<br />

gestiku-<br />

Giftige Euphorbien am Pass<br />

lierend, wo es nach Cofete<br />

ginge. Er zeigte mit den Fingern auf die andere Seite des<br />

Tals.<br />

Dort sei ein Ziegenweg. Er türmte einige größere Steine übereinander,<br />

um uns klarzumachen, dass dieser Weg in Abständen<br />

mit solchen Steintürmchen gekennzeichnet sei. Wir fanden<br />

den so beschriebenen Weg. Ohne die Steintürmchen hätten<br />

wir den nicht <strong>aus</strong>getretenen Weg spätestens nach weniger<br />

als hundert Meter verloren.<br />

Mit zunehmender Höhe wurde es etwas grüner. Gänsedisteln,<br />

etwas Klee und Goldstern wuchsen in geschützten Felsritzen,<br />

wo sich etwas Erde angesammelt hatte. Der Morgentau<br />

wird sich an den glatten Felsen niederschlagen, sammeln<br />

und tröpfchenweise zu den Pflanzen rinnen. Nur so können<br />

sie in dem fast regenlosen Gebiet überleben.<br />

Wir entdeckten an einem Abhang am Rande einer abgrundtiefen<br />

Kluft große, kandelaberförmige Pflanzen, die Kakteen<br />

18


Roque del Moro (Fels des Mauren - griech. mauros, dunkel,<br />

dunkelhäutig). Im Hintergrund erhebt sich der Pico de la Zarza, an dessen<br />

Fuß die Villa Winter liegt. Am Strand von Cofete hinter dem Felsen wurde<br />

in den 90er Jahren ein Pottwal angeschwemmt. Der Verwesungsgeruch<br />

war bei entsprechender Windrichtung auf der ganzen Halbinsel Jandia<br />

wahrnehmbar.<br />

ähnelten. Waren dies die Säuleneuphorbien – Cardón de Jandia,<br />

eine botanische Rarität der Insel –, von denen ein Lehrer<br />

am Achtertisch im Club vor einigen Tagen erzählt hatte?<br />

Mittlerweile schien die Sonne unbarmherzig auf uns herab.<br />

Mein Hemd war schon verschwitzt, und wir hatten eine Flasche<br />

Wasser leer getrunken. Wie so oft bei Wanderungen auf<br />

einen Berg glaubt man, der Gipfel müsse gleich nach der nächsten<br />

Wegbiegung kommen. Doch nach dieser gerade hinter uns<br />

gelassenen Biegung kam eine weitere. Doch diesmal müssten<br />

wir es schaffen, denn ein starker Wind hatte eingesetzt, kün-<br />

19


digte den Pass an. Er blies in voller Stärke über den Bergsattel.<br />

Wir konnten uns fast nicht mehr auf den Beinen halten. Nur<br />

hundert Meter weiter unten war es absolut windstill gewesen.<br />

Er kam von Norden. Es war der von der Insel abgelenkte Nordostpassat,<br />

der allgegenwärtig auf <strong>Fuerteventura</strong> weht. Insel der<br />

Winde, Insel der Abenteuer. Regine holte tief Luft, genoss den<br />

kühlen Wind auf ihrem Gesicht, ließ ihn über ihren Körper<br />

streichen. Ich zog mein Hemd <strong>aus</strong>. Die geheimnisvolle Westküste<br />

lag in ihrer ganzen Breite, in ihrer ganzen Schönheit vor<br />

uns.<br />

Unten dehnte sich der helle Sandstrand der Playa de Cofete.<br />

Im Norden erkannten wir das kleine Inselchen El Islote, das<br />

frühere Ziel von manchem Jeep Ausflug. Nachdem die spanische<br />

Regierung die ganze Westküste zum Naturschutzgebiet<br />

erklärt hat, ist El Islote nur noch zu Fuß zu erreichen. Dahinter<br />

wurde der ebenso weitläufige Strand Playa de Barlovento sichtbar.<br />

Von den Stränden schwangen sich die Hänge ohne Unterbrechung<br />

hinauf bis zum Pico de la Zarza. Steil waren die<br />

Bergabhänge, als ob die Berge hier abgebrochen und ins Meer<br />

gestürzt wären.<br />

Unter uns erblickten wir das kleine Dorf Cofete, eine Ansammlung<br />

von einfachen Häusern und Bretterbuden. Nur<br />

wenige Menschen wohnen hier, sie leben vom Tourismus, wenige<br />

vielleicht von gehaltenen Ziegen. Wir entdeckten die Bar<br />

Cofete, von der wir schon gehört hatten. Einige Jeeps standen<br />

davor. Machten dort einen Stopp. Weiter die Küste entlang<br />

durften sie nicht fahren. Die Teilnehmer können in der Bar<br />

Kaffee trinken oder sich ein Fischgericht servieren lassen. Doch<br />

mehr als dieser atemberaubende Ausblick schlug uns das<br />

schlossartige Gebäude in Bann, das vor uns lag.<br />

„Ist das die Villa Winter, von der du mir erzählt hast?“, wollte<br />

Regine wissen.<br />

20


Villa Winter vom Pass <strong>aus</strong> gesehen<br />

„Das ist sie“, erwiderte ich, „die legendenumwobene Villa<br />

Winter mit ihrem markanten runden Turm. Sie ist über Hunderte<br />

von Metern mit einem Steinwall eingefriedet, der die<br />

Umrisse von Jandia nachzeichnet. Eine weitere verrückte Idee<br />

von Herrn Winter. Kein weiteres H<strong>aus</strong>, keine Ansiedlung ist,<br />

so weit das Auge reicht, <strong>aus</strong>zumachen. Was hat den deutschen<br />

Ingenieur und Chemiker Gustav Winter, die Einheimischen<br />

nannten ihn Don Gustavo, dazu bewogen, in dieser unzugänglichen<br />

Einsamkeit ein solch herrschaftliches Gebäude zu errichten?<br />

Hat dieses Gebäude irgendeinen strategischen Zweck<br />

erfüllt? Es war nie von Winter noch dessen Familie bezogen<br />

worden, nie genutzt. Gerüchte gibt es genügend. Es sei im Krieg<br />

von Winter gebaut worden, sozusagen als Fluchtburg und<br />

Zwischenstation für Nazigrößen, falls eine Flucht nach Argentinien<br />

im Fall eines verlorenen Kriegs notwendig werden soll-<br />

21


te. Viele reden auch davon, dass Hitler auf <strong>Fuerteventura</strong> einen<br />

U-Boot-Stützpunkt einrichten wollte. Gepachtet hatte<br />

Winter die Halbinsel Jandia über eine dafür gegründete Gesellschaft<br />

mit anderem Namen von der Frankoregierung, man<br />

sagt schon im Jahr 1937. Das Geld hierzu soll von Berlin gekommen<br />

sein. Doch ein alter Spanier erzählte mir, dass mit<br />

dem Bau der Villa erst nach dem Krieg begonnen worden sei,<br />

er schätze im Jahr 1946. Ein alter amerikanischer Dodge-Lastwagen,<br />

der <strong>aus</strong> alten Militärbeständen der US-Armee, die im<br />

Krieg in Marokko an Land ging, um Rommel in den Rücken zu<br />

fallen, stammen könnte, habe das Baumaterial über den Pass<br />

auf einer üblen, <strong>aus</strong> Schlaglöchern bestehenden Schotterstraße<br />

zur B<strong>aus</strong>telle gefahren. Doch dieses Unterfangen sei von<br />

kurzer Dauer gewesen. Die Straße sei einfach zu schlecht gewesen<br />

und Winter habe dann Kamele für den Transport eingesetzt.<br />

Dann sagte der Spanier noch Merde Winter, ein Ausdruck,<br />

den man aufgeschmiert an den Wänden von vielen<br />

Neubauten in den 80er Jahren lesen konnte. Übersetzen muss<br />

ich dir dieses Wort sicher nicht. Winter war nach dem Krieg<br />

Besitzer des größten Teils der gesamten Halbinsel geworden.<br />

Wie und zu welchen Bedingungen bleibt wahrscheinlich im<br />

Dunkel der Vergangenheit verborgen. Woher war das Geld<br />

gekommen? Welche Motive steckten dahinter?<br />

Im Jahr 1971 wurde der Robinson Club Jandia eingeweiht.<br />

Willy Brandt, der damalige Bundeskanzler, soll dabei gewesen<br />

sein. Das war der Auftakt für einen beispiellosen Bauboom,<br />

der die Halbinsel völlig verändern sollte. Das Bauland stieg<br />

im Preis in astronomische Höhen. Die Familie Winter profitierte<br />

davon, wie man sich leicht vorstellen kann. Winter selbst<br />

hat nur den Anfang des Booms erlebt. In dem einzigen Interview,<br />

das Winter einer deutschen Zeitschrift, dem Stern, im<br />

Jahr 1971, kurz bevor er starb, gegeben hatte, behauptete er,<br />

22


dass er mit dem Bau der Villa erst 1947 begonnen hätte und<br />

erst im Jahr 1958 der jetzige Zustand erreicht worden sei. Gustav<br />

Winter war von Beruf Chemiker, so steht es zumindest in<br />

einer alten Meldekarte im Besitz des Stadtarchivs Titisee-Neustadt.<br />

Dar<strong>aus</strong> geht auch hervor, dass er am 10.5.1893 in Zastler<br />

bei Freiburg geboren wurde.“<br />

Regine hatte sich schon auf den Weg zur Villa gemacht. Ich<br />

hinterher. Von einem Weg konnte aber keine Rede mehr sein.<br />

Den Abhang hinunter mussten wir uns gegenseitig stützen. Das<br />

Geröll ließ keinen festen Tritt zu. An manchen Stellen mussten<br />

wir uns auf allen vieren fortbewegen.<br />

Ich erzählte weiter: „Gewöhnlich wird auch das Flugfeld an<br />

der Westspitze mit Winter in Zusammenhang gebracht. In<br />

Wahrheit wurde es jedoch erst lange nach dem Krieg angelegt,<br />

um den deutschen Urlaubern die mühselige Anfahrt vom<br />

alten Flughafen Los Estancos zu ersparen. Dann baute die Inselverwaltung<br />

aber den neuen Flughafen südlich der Hauptstadt<br />

Puerto del Rosario und von dort die Straße nach Morro,<br />

so dass das Flugfeld auf Jandia nie in Betrieb ging.“<br />

Wir waren jetzt an der Jandia-Einfriedung angelangt, einem<br />

etwa einen Meter hohen aufgetürmten Steinwall, den wir an<br />

einer passierbaren Stelle überquerten. Wir standen jetzt auf<br />

dem Gelände der Villa Winter. Ich hatte ein unbestimmtes<br />

Gefühl im Magen, dass ich auf diesem Gelände etwas finden<br />

würde, das Licht in die Vergangenheit der Villa bringen könnte.<br />

Mein Blick war fest auf den Boden geheftet. Aber da war<br />

natürlich auch nichts anderes als Steingeröll, mit wenigen dornenartigen<br />

Pflanzen, bei denen man ihr Grün mehr erahnen<br />

als erkennen konnte. Vielleicht würde ich alte Werkzeuge finden?<br />

An eine Münze wagte ich gar nicht zu denken.<br />

„Dort liegt ein altes verrostetes Eisengestell“, rief Regine. Wir<br />

untersuchten das alte Stück.<br />

23


Aus schwarzen Steinen aufgetürmter Steinwall um die Villa<br />

Winter mit dem Umriss von der Halbinsel Jandia<br />

Villa Winter vom Bergabhang her gesehen<br />

24


Bewohnerin in der Villa Winter<br />

„Das ist eine Lore“, antwortete ich, „wie man sie im Bergbau<br />

benützt. Ja, ich erinnere mich, von einem Stollen gelesen<br />

zu haben, den Winter in den Berg getrieben haben soll. Manche<br />

vermuten, dass er einen direkten Durchbruch bis nach<br />

Morro schaffen wollte. Andere aber sagen, dass solche leicht<br />

nach oben ansteigende Stollen auf den Kanarischen Inseln dazu<br />

dienen, Wasser zu sammeln. Wasser schlägt sich an den kühlen<br />

Stollenwänden nieder und sickert zu Boden. Manchmal<br />

tröpfelt auch Wasser direkt <strong>aus</strong> Felsspalten. Kostbares Trinkwasser<br />

für die Villa! Der Eingang des Stollens sei schon vor<br />

Jahren zugeschüttet worden. Zu schade, ich hätte gern einen<br />

Blick hineingeworfen. Unterirdische Gänge faszinieren mich<br />

immer.“<br />

Und wir entdeckten im Gelände eine trockene Grube, die<br />

vielleicht dazu gedient hatte, das <strong>aus</strong> dem Stollen her<strong>aus</strong>rin-<br />

25


Inselchen El Islote, dahinter die „Sahara“ <strong>Fuerteventura</strong>s<br />

Unberührte Westküste<br />

26


nende Wasser aufzufangen. Auf dem gusseisernen Rad der<br />

Lore war der Schriftzug Krupp zu lesen. Ich konnte mir nicht<br />

vorstellen, dass solche Loren nach dem Krieg, sagen wir Anfang<br />

der 50er Jahre, nach <strong>Fuerteventura</strong> geliefert worden waren.<br />

Vielleicht war mit dem Bau der Villa doch schon früher<br />

als vermutet begonnen worden.<br />

Vor dem Rundbogeneingang zur Villa saßen zwei zerlumpte<br />

Gestalten. Ein Mann und eine Frau. Er mit einer schmutzigen<br />

Wollschildkappe, sie mit einem bunten Wollschal um den<br />

Kopf gewickelt. Beide Gesichter vom Wind und der Sonne gegerbt,<br />

gefurcht, fast konnte man sagen, vertrocknet. Ihre kleinen,<br />

listigen Augen mit engen schwarzen Pupillen hatten uns<br />

schon längst bemerkt und eingeschätzt. „Wie viel werden die<br />

uns wohl bezahlen, um einen Blick in die Villa werfen zu können?“,<br />

dachten sie wohl. Dann aber, nach näherem Hinsehen,<br />

flüsterte die Alte wahrscheinlich ihrem Partner zu: „Fußgänger<br />

mit Rucksäcken bezahlen nichts. Sie sehen nicht so <strong>aus</strong>, als<br />

ob sie Geld hätten.“<br />

Sie schlug mit einem Stock auf den kläffenden Hund ein, der<br />

sich nicht beruhigen wollte, als er uns entdeckt hatte. Struppiges,<br />

schmutziges Fell. Promenadenmischling. Wir hatten aber<br />

nicht die Absicht, hier einen Stopp einzulegen, nickten den<br />

Alten freundlich zu, die uns immer noch feindselig anstarrten,<br />

und marschierten weiter in Richtung zum Strand.<br />

Alles ist hier Naturschutzgebiet. Bis zu Villa kommt man von<br />

der anderen Seite noch mit einem Jeep oder auch PKW. Weiter<br />

nicht. Die spanische Polizei verhängt drakonische Strafen,<br />

wenn sie einen Fahrer erwischt, der das Fahrverbot missachtet.<br />

Und der Barbesitzer in Cofete sieht alles. Noch vor wenigen<br />

Jahren hatte man am festen Strand bei Ebbe bis zum Inselchen<br />

El Islote fahren können. Wettfahren auf dem breiten, nas-<br />

27


sen Sandstrand, das waren Fahrerlebnisse, die es nicht mehr<br />

geben wird.<br />

Wir kamen am Strand an. Helles, klares Wasser. Hohe Wellen<br />

brachen herein und überschlugen sich mit wildem Getöse.<br />

Weiße Gischt. Keine Algen, keine Quallen, nur fast weißer<br />

Quarzsand. Ich warf mich ins Wasser. Wie es sich anfühlte!<br />

Das kalte Salzwasser von Sauerstoff getränkt, vom Wind gepeitscht<br />

auf meiner nackten Haut. Keine einfließenden Abwässer<br />

weit und breit. Nur der Geruch des Atlantiks, der Geruch<br />

von Salz, der Geruch von unendlicher Weite!<br />

Hin<strong>aus</strong>schwimmen sollte ich nicht. Eine lebensgefährliche<br />

Unterströmung hatte hier schon manchen Schwimmer erfasst<br />

und aufs offene Meer hin<strong>aus</strong>getragen. Mit fatalem Ausgang.<br />

Regine folgte meinem Beispiel. Wie hübsch sie <strong>aus</strong>sah. Das<br />

Wasser tropfte an ihren langen Haaren ab, rann an ihrem<br />

mädchenhaften Körper herab. Sie lachte. Der Staub der Bergüberquerung<br />

wurde weggespült. Jetzt konnten wir erfrischt<br />

weiterwandern. Schritt um Schritt gingen wir auf das Inselchen<br />

in der Ferne zu. Wir sahen keinen Menschen, so weit das<br />

Auge reichte. „Wir sind allein auf dieser Welt“, dachte ich. Ich<br />

musste mich jedoch wenigstens einmal auf den nassen Sand<br />

legen.<br />

„Leg dich zu mir“, sagte ich zu ihr.<br />

„Wir haben mit der ganzen Länge des Rückens Kontakt mit<br />

dem Sand, der sich uns anschmiegt. Fühlst du dasselbe wie<br />

ich?“<br />

„Meinst du vielleicht, dass du hier mehr mit der Erde verbunden<br />

bist als auf irgendeinem anderen Ort der Erde?“, fragte<br />

sie.<br />

„Genau das ist es. Nirgendwo meine ich die Nähe der Erde,<br />

ihre Schwere und ihre Anziehungskraft so stark zu spüren, wie<br />

gerade hier. Ich fühle mich schwer, so schwer, als ob ich die<br />

28


Schwarze Krabben<br />

klammern sich an<br />

die Felsen von El Islote<br />

ganze Erde in mir aufgenommen hätte, und dann wieder so<br />

leicht, als ob ich in der Lage wäre, zu fliegen. Ich fühle mein<br />

Herz pochen, als ob mein eisenhaltiges Blut, das natürlich nicht<br />

magnetisch sein kann, mit dem Magnetfeld der Erde im Gleichklang<br />

pulsiert. Dieses Gefühl ist einzigartig. Ich muss es in mich<br />

aufsaugen, um es erneut aufzurufen, wenn ich es einmal brauchen<br />

sollte. Körper und Seele verschmelzen hier. Du und ich<br />

sind eins. Ich liebe dich.“<br />

Wir waren am Inselchen angelangt. Es ist mit einer Sandbrücke<br />

mit dem Strand verbunden, also eigentlich eine Minihalbinsel.<br />

Wir erklommen die schroffen, ins Meer hin<strong>aus</strong>ragenden<br />

Felsen. Die Felsen an der äußersten Spitze bildeten tiefe<br />

Spalten. Die heranrollenden Wellen stauten sich und türmten<br />

sich auf. Sie sahen wie ein riesiges, Luft holendes Tier <strong>aus</strong><br />

der Vorzeit <strong>aus</strong>. Sie knallten und klatschten in die Spalten,<br />

wobei sie zu 15 m hohen Wasserfontänen explodierten. Ein<br />

grandioses Sch<strong>aus</strong>piel. Besser als das abendliche Fernsehen. An<br />

29


den mit Algen überzogenen Felsen in Wasserhöhe klammerten<br />

sich Krabben. Handgroß. Schwarz glänzend. Sogar einige<br />

rot gesprenkelte Exemplare waren darunter. Die herabstürzenden<br />

Wassermassen waren nicht stark genug, sie <strong>aus</strong> ihrer Verankerung<br />

am Fels zu lösen. Wenn dies aber geschehen sollte,<br />

würden sie von den Wellenbrechern zurück auf den Fels geschleudert.<br />

Ihr harter Panzer würde platzen. Ihr Ende. Ein gefundenes<br />

Fressen für die Seidenreiher und Seemöwen, die laut<br />

krächzend unermüdlich auf der Suche nach Nahrung umherflogen.<br />

Wir mussten weiter, sonst würden wir unser Ziel nicht rechtzeitig<br />

erreichen. Am Fuß des Inselchens würden wir im Schutz<br />

eines überhängenden Felsen aber zunächst etwas essen. Mir<br />

lief schon das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an die<br />

Brote dachte, die Regine im Rucksack hatte. Und das Wasser<br />

schmeckte. Besser als jeder Wein, als jedes Bier. Einfach nur<br />

klares, stilles Wasser. Etwas kühler hätte es allerdings sein können.<br />

Wir standen gestärkt auf, und Regine zeigte auf ein roh gezimmertes<br />

kleines Holzkreuz, das in eine Felsspalte eingeschlagen<br />

war. Wir lasen: „Wir danken unserem Lebensretter Andreas.<br />

Ute und Felix“.<br />

Hier also hatte die Tragödie stattgefunden. Mir fiel die Geschichte<br />

ein, die mir ein Animateur bei einem meiner früheren<br />

Urlaube auf Fuerte erzählt hatte. Ich gab sie an Regine weiter.<br />

„Fünf Jeeps mit jeweils vier Personen waren am frühen Morgen<br />

zu einem Ausflug vom Robinson Esquinzo Club zur Westküste<br />

aufgebrochen. Dabei ist ein schreckliches Unglück geschehen.<br />

Zwei Animateure vom Club begleiteten die Gruppe.<br />

Einer davon war Koch und normalerweise in der Küche beschäftigt.<br />

Heute musste er <strong>aus</strong>helfen, einspringen für einen<br />

Kollegen, der wegen Krankheit <strong>aus</strong>gefallen war. Damals, An-<br />

30


fang der 90er Jahre, war es noch erlaubt, mit den Jeeps am<br />

Strand der Westküste entlangzufahren. Das Ziel war das kleine<br />

Inselchen El Islote, wo sie im Schatten der überhängenden<br />

Felsen, so wie wir heute, Rast machten, und die Animateure<br />

einen Grill in Betrieb nahmen.<br />

Ein Ehepaar war mit seinen beiden Kindern Ute und Felix<br />

dabei. Zehn und acht Jahre alt. Die Animateure hatten alle<br />

Tourteilnehmer vor dem Schwimmen im Meer gewarnt. Viele<br />

Unfälle hätten sich schon ereignet. Wenn man einmal den<br />

Kontakt mit den Füßen zum Untergrund verloren hätte, würde<br />

die Strömung die Badenden unweigerlich hin<strong>aus</strong> aufs Meer<br />

treiben. Gegen die Strömung könne selbst ein geübter Schwimmer<br />

nicht ankommen. Doch in der kleinen, südlich gelegenen<br />

flachen Bucht war das sonst so kalte Wasser warm und die<br />

Versuchung groß, das Baden doch zu probieren. So gefährlich<br />

konnte es doch nicht sein! Die beiden Kinder des Ehepaars probierten<br />

es.<br />

Plötzlich gellten helle Schreie durch das Tosen der Wellen.<br />

Der Koch Andreas hörte sie. Um Gotteswillen, die Kinder, zuckte<br />

es durch seinen Kopf. Das waren die panikartigen Schreie<br />

der Mutter! Hilfe, Hilfe, meine Kinder! Sie watete schon ins<br />

seichte Wasser, um ihre Kinder vor dem Ertrinken zu retten.<br />

Doch Andreas schupste sie zur Seite und schwamm mit kräftigen<br />

Schüben auf die Kinder zu. Zuerst packte er Felix und<br />

brachte ihn an Land, wo der Vater schon bis zur Brust im Wasser<br />

stand. Andreas schwamm wieder hin<strong>aus</strong>, bis er Ute erreichte.<br />

Seine Kräfte ließen nach, aber er schaffte es, auch Ute ihrem<br />

Vater zu übergeben, als eine hohe Welle gerade in diesem<br />

Moment über ihn hinwegrollte, ihm die Beine unter dem Körper<br />

wegriss und ihn wieder aufs Meer hin<strong>aus</strong>trug. Jetzt<br />

schwamm er um sein eigenes Leben. Immer wieder schaffte er<br />

ein Stück landeinwärts. Doch die Unterströmung der nächs-<br />

31


ten Welle trug ihn wieder ein Stück weiter hin<strong>aus</strong>. Würde dieser<br />

athletische junge Mann diesen fürchterlichen Kampf um<br />

sein Leben gewinnen? Er begann zu rufen. Hilfe! Wer aber sollte<br />

ihn retten? Schließlich verschwand er <strong>aus</strong> dem Blickfeld der<br />

entsetzten und wie angewurzelt stehenden Zuschauer am<br />

Strand. Seinem Freund rannen die Tränen übers Gesicht.<br />

„Warum musste das geschehen? Warum gerade er?“, murmelte<br />

er wie benommen immer wieder vor sich her. Und plötzlich<br />

schrie er wie von Sinnen die Eltern der Kinder an: „Wir<br />

haben Sie doch gewarnt. Warum haben Sie auf Ihre Kinder<br />

nicht aufgepasst? Sie sind schuld, wenn Andreas ertrinkt! Sie<br />

allein! Sie müssen mit dieser Schuld für den Rest Ihres Lebens<br />

leben.“<br />

Die Kinder weinten, die Mutter mit. Die Leiche von Andreas<br />

wurde nie gefunden. Boote und Hubschrauber waren<br />

unterwegs gewesen. Der kalte Atlantik hatte sein Opfer nicht<br />

wieder hergegeben, hielt es fest umschlungen für ewig für sich.<br />

In einem Sarg, der größer nicht sein konnte.“<br />

„Die Geschichte war so traurig, dass beim Erzählen ungewollt<br />

Tränen <strong>aus</strong> unseren Augen quollen. Der Text brannte sich<br />

in unser Gehirn ein: „Wir danken unserem Lebensretter Andreas.<br />

Ute und Felix“.<br />

Gibt es eine Strafe für dieses leichtsinnige Verhalten der Eltern?<br />

Es war schon Nachmittag geworden, und wir wanderten<br />

nachdenklich und schweigsam am Strand weiter, dessen Sand<br />

nicht mehr so hart war und unsere Füße deshalb einsanken.<br />

Das Wandern war beschwerlich geworden. Weiter vorn türmten<br />

sich schwarze Steine zu einem Wall auf, den wir überqueren<br />

mussten. Hundert Meter nur über dieses Steinmeer, und<br />

ein weiterer langer heller Sandstrand breitete sich vor uns <strong>aus</strong>.<br />

Sicherlich der einsamste und verlassenste Strand Fuerteven-<br />

32


turas, vielleicht sogar aller Kanarischen Inseln: der Barlovento-Beach.<br />

Unnötig zu erwähnen, dass wir an diesem wolkenlosen<br />

Sommertag keinem Menschen nach den Bewohnern der<br />

Villa Winter mehr begegnet waren. An der Barlovento-Beach<br />

verirrt sich niemand. Um so erstaunter waren wir, dass wir an<br />

verschiedenen Felsen die Aufschrift lasen: Fluchtweg, mit einem<br />

Pfeil nach oben. „Was soll denn das bedeuten?“, fragte<br />

ich Regine. Dann wurde mir klar, was damit gemeint war. Auf<br />

der gesamten Länge des Strands verliefen in etwa 150 m Abstand<br />

etwa 20 m hohe Felsen, rahmten den Strand förmlich<br />

ein, umschlossen ihn. Der Tiefpunkt der Ebbe war überschritten,<br />

das Wasser strömte herein. „Wir sitzen in einer Falle“,<br />

durchzuckte es mich. „Bei Flut reicht das Wasser bis zu den<br />

Felsen, bildet einen See, dem man nicht entrinnen kann. Die<br />

glatten Felsabhänge verhindern das. Kein Entkommen.“<br />

Fluchtweg war mit weißer Farbe aufgepinselt. Hier musste<br />

eine Schneise sein. Ein Weg nach oben, wie der Pfeil andeutete.<br />

Es gab aber keine angelegten Stufen. Nichts als ein schräger<br />

Sandabhang. Uns gegenseitig stützend, schiebend, mit Händen<br />

und Füßen im wegfließenden Sand Halt suchend, gelang<br />

uns schließlich der Aufstieg. Ein Geröllfeld, wie wir so etwas<br />

nur auf dem Mond vermuteten, erwartete uns. Aber war da<br />

nicht ein schmaler, kaum erkennbarer Pfad, der von Ziegen<br />

herrühren konnte? „Den werden wir entlanggehen, bis wir eine<br />

geeignete Stelle für unser Nachtlager finden. Unseren Plan, an<br />

der Barlovento-Beach zu übernachten, können wir bei dieser<br />

Sachlage begraben“, sagte ich. Ein tiefer Barranco, eine tiefe<br />

Schlucht, versperrte zunächst unseren weiteren Weg.<br />

„In den müssen wir hinabsteigen und auf der anderen Seite<br />

wieder hoch“, murmelte ich und hoffte, dass Regine nicht protestierte.<br />

Was blieb uns auch anderes übrig?<br />

„Oh, wenn das meine Mutter wüsste. Wenn sie mich jetzt<br />

33


Wilde, menschenleere Westküste<br />

sehen könnte“, jammerte Regine, „würde sie mich glatt für<br />

verrückt erklären und sagen: Warum lässt du dich auf so etwas<br />

Gefährliches ein?“<br />

Regine litt jetzt unter Höhenangst und tat sich mit dem Abstieg<br />

schwer. Ohnehin waren unsere Schritte durch die bisherige<br />

Anstrengung unsicherer geworden. „Müssen wir denn hier<br />

übernachten? Gibt es keine andere Lösung? Ich habe jetzt<br />

Angst, mein ganzer Mut ist verflogen.“<br />

Ich erwiderte selbst etwas unsicher geworden:<br />

„Für eine Umkehr ist es jetzt zu spät. Und der Weg über die<br />

Berge in der Richtung, die wir jetzt eingeschlagen haben, ist<br />

genau so lang, wie der bis hierher zurückgelegte. Aber wir<br />

werden mit einem Abenteuer belohnt, an das wir uns bis in<br />

unser hohes Alter erinnern werden. Nicht irgendetwas Alltägliches,<br />

nein etwas Besonderes werden wir erleben. Und Beson-<br />

34


deres ist meistens mit einem Abenteuer verbunden. Die beiden<br />

Dinge gehören einfach zusammen.“<br />

„Das ist der Barranco des Infernos, der Abgrund zum Höllenfeuer.<br />

So steht es in der Karte. So sieht er auch <strong>aus</strong>, finster und<br />

bedrohlich“, sagte sie leise, ängstlich und fast etwas vorwurfsvoll.<br />

Auf der anderen Seite hochgeklettert, entdeckten wir ein kleines<br />

Steinhäuschen.<br />

„Das Häuschen würde uns etwas Schutz in der Nacht bieten“,<br />

meinte sie. Sie warf einen Blick hinein und schreckte entsetzt<br />

mit einem schrillen Schrei zurück.<br />

„Es liegt eine tote Ziege darin. Sie ist noch voller Blut. Fleischstücke<br />

sind <strong>aus</strong> ihrem Leib her<strong>aus</strong>gerissen.“<br />

„Komisch“, sagte ich und schüttelte dabei ungläubig den<br />

Kopf. „Hier gibt es doch keine Wölfe, die Tiere reißen könnten,<br />

und schon gar keine Hyänen.“<br />

Wir fanden eine besandte Fläche an einem Abhang des hinter<br />

uns steil aufragenden Berges. Wir beschlossen, hier unser<br />

Lager aufzuschlagen. Es war Abend geworden. Wir tranken<br />

Wasser und Regine zog <strong>aus</strong> ihrem Rucksack eine kleine Flasche<br />

Whiskey hervor. Ein Schluck dar<strong>aus</strong> war jetzt genau das<br />

Richtige. Der Alkohol würde unsere angespannten Nerven<br />

beruhigen. Ein Zelt hatten wir nicht dabei. Es wäre zu schwer<br />

gewesen, und wir wollten auch unter dem freien Sternenhimmel<br />

schlafen, einem Sternenhimmel, der unbeeinflusst durch<br />

irgendwelche Lichter von Straßen, Häusern, Siedlungen selbst<br />

leuchten konnte. Alles diffuse Licht, vielleicht vom Meer, das<br />

übrigens in der Nacht auch recht dunkel sein kann, würde noch<br />

zusätzlich von den schwarzen Geröllmassen absorbiert werden.<br />

Ideale Bedingungen für einen klaren Sternenhimmel.<br />

Wir packten die beiden Schlafsäcke <strong>aus</strong>. Es war ein linker<br />

und ein rechter Schlafsack. Ich traute meinen Ohren nicht, als<br />

35


der Sportverkäufer, einer meiner engen Freunde, mir erklärte,<br />

dass er einen Schlafsack, in den zwei Personen passten, nicht<br />

besorgen könne.<br />

„Ich bin doch nicht der Einzige, der einen solchen Wunsch<br />

äußert“, wendete ich ein.<br />

„Eben deshalb gibt es linke und rechte Schlafsäcke“, erläuterte<br />

er mir. „Man zippt sie zusammen. Einer hat den Reißverschluss<br />

links, der andere rechts. Deshalb linke und rechte<br />

Schlafsäcke. So wird ein großer dar<strong>aus</strong>.“<br />

Es war schon dunkel geworden, und ich versuchte mich in<br />

der Technik des Zusammenzippens. Der Sand machte den Bemühungen<br />

bald ein Ende. Er blockierte die Reißverschlüsse. Es<br />

funktionierte nicht. Dann eben nicht. Wir legten einen <strong>aus</strong>gebreiteten<br />

Schlafsack auf die Erde und den zweiten benutzen<br />

wir als Decke.<br />

„Gibt es hier wirklich keine wilden Tiere und keine Schlangen?<br />

Bist du dir da ganz sicher?“, wollte Regine nochmals bestätigt<br />

haben, als sie sich niederlegte und einkuschelte.<br />

In der Dunkelheit sah der Barranco wie ein schwarzes Loch<br />

<strong>aus</strong>, das alles verschlingen könnte, wie ein grässliches großes<br />

Tier, das nur aufs Fressen <strong>aus</strong> ist. Die Felsbrocken, die um uns<br />

herumstanden, bekamen Gesichter, sahen wie versteinerte<br />

Menschen <strong>aus</strong>, die jederzeit zum Leben erwachen konnten. Ein<br />

unheimliches Gefühl rann mir das Rückgrat hinunter. Was<br />

Einbildung bewirken kann!<br />

Kaum hatte ich mich auch hingelegt, schmerzte schon der<br />

Rücken. Der darunterliegende Sand schmiegte sich nicht an,<br />

wie ich mir das vorgestellt hatte, und ein Stein drückte. Doch<br />

ein Blick in den Himmel ließ uns beide gleich das harte Lager<br />

vergessen. Ein mächtiges Sternenmeer breitete sich über uns<br />

<strong>aus</strong>. Wolken von Sternen überall am Himmel. Manche auffallenden<br />

Sterne funkelten, veränderten ihr Licht. Das waren Pla-<br />

36


Beteigeuze<br />

Rigel<br />

Sternbild des Orion<br />

neten. Alle anderen, strahlten ihr Licht ohne zu flimmern <strong>aus</strong>,<br />

manche leuchteten heller als andere und manche sogar mit<br />

einem rötlichen Schimmer. Das waren alles Fixsterne, so wie<br />

unsere Sonne auch einer ist. Wenn man das Auge auf eine Stelle<br />

fokussierte, erschienen plötzlich noch mehr Sterne an diesem<br />

Ort, die man zuvor nicht gesehen hatte. Ein Weltall, das<br />

nirgends aufhört und wo anfängt? Als ich als Junge mir die<br />

Sterne von einem gebildeten Graf, ich glaube er hieß Graf Lüttichau,<br />

in der Internierung erklären ließ und wir dabei in den<br />

Himmel schauten, durch die ein weißer Wolkenstreifen zog,<br />

nämlich die Milchstraße, wie er mir sagte, wurde es mir schwer<br />

ums Herz. Ich konnte und wollte die Unendlichkeit nicht begreifen.<br />

Begreifen kann man sie auch nicht, aber ich wollte sie<br />

37


auch nicht als gegeben akzeptieren. Mein Kopf sträubte sich<br />

dagegen. Ich glaubte, verrückt werden zu müssen. Älter geworden,<br />

weiß ich, dass wir der Unendlichkeit, im weiteren Sinne<br />

den unerklärlichen Wundern, zu denen auch unsere eigenes<br />

Leben gehört, überall begegnen und damit zurechtkommen<br />

müssen.<br />

Alle diese Sterne über uns, die wir sehen konnten, gehören<br />

zum Milchstraßensystem, eingeschlossen unser eigenes Sonnensystem.<br />

Nur ein Stern am Himmel, der nicht dazugehört,<br />

ist mit bloßem Auge sichtbar. Der Andromeda-Nebel. Das ist<br />

aber kein Stern, sondern ein Spiralnebel oder auch Galaxie<br />

genannt mit Milliarden von Sternen, so wie unser Milchstraßensystem<br />

auch, von ähnlicher Größe. Und von diesen Spiralnebeln<br />

soll es im Weltall Milliarden geben? Angesichts dieser<br />

Sternenpracht flüstere ich Regine zu:<br />

„Kommst du dir auch so klein und unbedeutend vor? Wir<br />

sind nicht einmal ein Sandkorn in unserer Welt. Und doch fühlen<br />

wir uns so einzigartig, manchmal auch bedeutend, aber<br />

auf alle Fälle nicht nachahmbar. Und einzigartig ist auch unsere<br />

Liebe. Sie ist etwas ganz Besonderes und so wenig zu beschreiben<br />

wie die Unendlichkeit.“ Bei diesen Worten spürte<br />

ich, wie sie meine Hand drückte.<br />

„Siehst du den Orion dort drüben“, fragte sie. „So klar habe<br />

ich dieses Sternbild noch nie gesehen. Hier ist die Luft so rein,<br />

weil sie von den aufgepeitschten Wellen des Atlantiks gefiltert<br />

worden ist. So rein wie auf Palma, wo die größte und leistungsfähigste<br />

Sternwarte der Welt wegen der besonderen klimatischen<br />

Bedingungen, wie reine Atmosphäre, kein einfallendes<br />

störendes Licht und wolkenfreie Nächte, errichtet worden<br />

ist.“<br />

Ich wusste, dass das Sternbild des Orion aufgrund seiner<br />

Vielzahl heller Sterne und ihrer einprägsamen Anordnung das<br />

38


auffallendste Sternbild des Himmels ist. Er gilt als das schönste<br />

von der Erde <strong>aus</strong> sichtbare Sternbild und beeindruckte die<br />

Menschen schon seit jeher. Laut der griechischen Mythologie<br />

starb der göttliche Orion, als er von einem Skorpion gestochen<br />

worden war. Er wurde so an den Himmel gesetzt, dass er im<br />

Westen untergeht, wenn sein Mörder, das Skorpion-Sternbild,<br />

im Osten aufgeht. Es folgen ihm seine beiden Hunde, das Sternbild<br />

des Großen und des Kleinen Hunds, und kämpfen muss er<br />

gegen den Stier, auch ein benachbartes Sternbild. Eine andere<br />

Variante sagt, dass Artemis, die Göttin der Jagd, Orion mit einem<br />

Pfeil in den Kopf getötet haben soll. Ihr Pfeil, der nicht für<br />

Orion gedacht war, war durch den Gott der Künste Apoll, ihrem<br />

Zwillingsbruder, aber auf Orion gelenkt worden. Sie war<br />

erschrocken, und in ihrer Trauer brachte sie Orions Leichnam<br />

in ihrem silbermondfarbenen Streitwagen hoch in den Himmel<br />

und setzte ihn am dunkelsten Platz ab, so dass seine Sterne<br />

in ihrer Helligkeit alle anderen Sterne in der Nähe überstrahlten.<br />

Einer der acht Sterne des Bilds heißt Rigel am Eckpunkt<br />

des Sechsecks. Er steht an siebter Stelle in seiner Helligkeit<br />

am Nachthimmel. Die drei Sterne in der Mitte des Bilds,<br />

als Hauptmerkmal des Orion den Gürtel bildend, werden auch<br />

die drei Könige genannt.<br />

Der Beteigeuze an einem weiteren Eck des Sternbilds ist<br />

ein roter Riesenstern. Er hat, wie ich gelesen habe, den 600-<br />

fachen Durchmesser unserer Sonne.<br />

Der Beteigeuze wird als Supernova enden. Manche Astronomen<br />

erwarten, dass dies innerhalb der nächsten 1 000 Jahre<br />

geschieht. Es ist am Nachthimmel einer der interessantesten<br />

Sterne überhaupt.<br />

In diesem Fall wäre die Supernova auf der Erde unübersehbar<br />

und strahlte über das gesamte Firmament. „Dieses Ereignis<br />

werden wir wohl nicht mehr erleben“, dachte ich. Bei die-<br />

39


ser Überlegung wurde mir wieder einmal klar, dass das Weltall<br />

lebt, sich laufend verändert und nicht unbeweglich oder gar<br />

starr ist.<br />

Das Meer r<strong>aus</strong>chte. Gleichmäßig überschlugen sich die Wellen<br />

und rollten über die Felsen auf den Strand. Wir konnten<br />

nichts erkennen. Das Meer war nur eine riesige schwarze Masse.<br />

Wir wurden müde, das gleichmäßige beruhigende R<strong>aus</strong>chen<br />

half, und der Schlaf übermannte uns. Doch ich schlief unruhig.<br />

Die Decke des Schlafsacks war dünn. Es war kalt und mir<br />

fehlte ein Kopfkissen. Ich dachte immer noch an die verblutete<br />

Ziege. Ich setzte mich auf. Ich meinte, ein leises Geräusch<br />

gehört zu haben. Wie ein tiefes Schnauben. Plötzlich war ich<br />

hellwach. Ich legte mich wieder hin, als ich nichts mehr trotz<br />

angestrengten L<strong>aus</strong>chens hörte. Sicher hatte ich mich getäuscht.<br />

Meine Nerven lagen aber blank. Ich konnte mich unmöglich<br />

getäuscht haben, oder war alles nur Einbildung nach<br />

dem anstrengenden Tag? Ich schloss die Augen.<br />

Adrenalin schoss durch meinen Körper, als ich über meinem<br />

Kopf ein Ungeheuer sah. Es fletschte die scharfen weißen Zähne<br />

und knurrte gefährlich. Das war kein Traum! Der Rachen<br />

des Ungeheuers war tief und rot. Die grünen, unbarmherzig<br />

erscheinenden Augen waren unberechenbar. Ich fuhr hoch und<br />

schrie. Regine ebenfalls. Stocksteif vor Angst war sie geworden.<br />

Beide waren wir unfähig auch nur einen vernünftigen Satz<br />

her<strong>aus</strong>zubringen. Nicht einmal einen Schrei. Das Ungeheuer<br />

wich knurrend zurück und verschwand hinter einem kahlen<br />

Felsen und lauerte dahinter. Erst jetzt begann, mein Gehirn<br />

wieder richtig zu arbeiten. Das war ein Kampfhund! Einer von<br />

der Sorte, dessen Gesicht wie das eines Schweins <strong>aus</strong>sieht und<br />

dessen Fell mit kurzen Haaren ein schmutziges Hellgrau ist.<br />

Ich glaube, man nennt sie Bullterrier. Sie können ihr Unterkiefer<br />

<strong>aus</strong>haken, so dass die beiden Kiefer mit den scharfen Zäh-<br />

40


nen wie zwei Schraubstockbacken parallel zueinander zuklappen<br />

können. Eine Maulstarre verhindert dann, dass sie wieder<br />

loslassen können.<br />

Das Adrenalin wirkte immer noch in meinem Körper. Eine<br />

Eisenstange sollte ich jetzt zur Verteidigung haben. Stattdessen<br />

nahm ich einen kantigen Stein in meine Hand, Regine folgte<br />

meinem Beispiel und in der anderen hielt ich ein geöffnetes<br />

Schweizer Taschenmesser. Jeder Hundezüchter würde über<br />

meine Maßnahmen lachen. Einen <strong>aus</strong>gebildeten Kampfhund<br />

könnte man so nicht beeindrucken. Jetzt war mir auch klar,<br />

wer die Ziege so zugerichtet hatte. Aber wie kam der Hund in<br />

diese Gegend? Hatte er, von einer Pension oder einem Hotel<br />

an der Ostküste der Insel herkommend, die Ziege gejagt,<br />

schließlich gestellt und mit einem Biss so verwundet, dass die<br />

Ziege in der Hütte Zuflucht suchte und dort ihren Verletzungen<br />

erlag? War er heute auf dem Weg zu seiner Beute in der<br />

Steinhütte? Hatte er uns mit seiner feinen Nase aufgespürt,<br />

unseren Schweiß, unseren Urin gerochen? Sicher gehörte er<br />

einem der Pensionsbesitzer, die Spaß an solchen Hunden haben.<br />

Oder gar einem Gast? Es war im Prinzip belanglos, wie<br />

der Hund hierher gekommen war und wie die Besitzverhältnisse<br />

waren. Wir saßen gewissermaßen in der Falle. Aber vorsichtig<br />

aufzustehen und wegzulaufen in der finsteren Nacht<br />

durch den schwarzen Barranco zurück, wäre lebensgefährlich<br />

gewesen, wenn auch nicht so Angst einflößend, wie von einem<br />

unberechenbaren Tier zerrissen zu werden. Wir warteten<br />

sitzend den Morgen ab. Schon seit einer Stunde hatten wir<br />

den Kopf des Hunds hinter dem Felsen nicht mehr entdecken<br />

können. War er wirklich verschwunden?<br />

Hinter den Bergen wurde es heller. Der Grat des Pico de la<br />

Zarza reflektierte schon das erste Sonnenlicht. Mit zunehmender<br />

Helligkeit verschwand unsere Angst und wir freuten uns<br />

41


auf den Rest unserer Brote und auf das letzte Wasser in den<br />

Flaschen. Und dann noch einen Schluck <strong>aus</strong> der kleinen Whiskeyflasche!<br />

Über das bestandene Abenteuer breitete sich sogar eine Art<br />

Hochgefühl in uns <strong>aus</strong>. Wir hatten unser Vorhaben, trotz widriger<br />

Umstände, durchgeführt. Mit festen Schritten überwanden<br />

wir das nächste Geröllfeld und erreichten den Wüstenabschnitt<br />

mit viel Sand, Dünen, Dornbüschen, versteinerten Ästen,<br />

die den früheren Baumbestand in dieser Gegend belegten.<br />

Auf der gegenüberliegenden Seite konnten wir schon die Umrisse<br />

des Hotels Los Gorriones – was übersetzt die Spatzen heißt<br />

– erkennen. Wir passierten die vielen Windräder und gelangten<br />

schließlich zur Hauptstraße nach Morro.<br />

Wir beide wollten so schnell wie möglich in den Club zurück.<br />

Ein heißes Bad, ein kühles Bier und faul am Swimmingpool<br />

liegen! Ein PKW stoppte, nahm uns mit. Das junge sächsische<br />

Paar wollte uns nicht glauben, dass wir von Morro über<br />

die Westküste bis hierher gewandert waren. Das seien fast 50<br />

km, meinte der Sachse.<br />

Viele glauben uns bis heute die Geschichte nicht und meinen:<br />

„Habt ihr nicht ein bisschen übertrieben?“<br />

Aber so war es geschehen und so wurde es aufgezeichnet.<br />

42


Der Einsiedler Heinz Ruhau<br />

eine wahre Geschichte <strong>aus</strong> den Jahren 1986 bis 1989<br />

Ich möchte dieser Geschichte vor<strong>aus</strong>schicken, dass ich zu<br />

einem <strong>Fuerteventura</strong> Fan geworden bin. Jetzt im Juni 2021 steht<br />

wieder einmal ein <strong>Fuerteventura</strong> Urlaub bevor. Wenn ich richtig<br />

gerechnet habe, ist dies das 62igste Mal, dass ich dort hinfliege.<br />

Im Januar 1984 war es das erste Mal gewesen. Im Aldiana<br />

Club.<br />

Ich hätte damals nicht einmal im Traum daran gedacht, dass<br />

ich so viel Spaß und auch Erholung an einem solchen Cluburlaub<br />

finden würde. Auch im Jandia Robinson Club und dem<br />

im Jahre 1990 eröffneten Esquinzo Robinson Club.<br />

Die erzählte Geschichte fand in den Jahren 1986 bis 1989<br />

statt. Damals lebte der ehemalige Unternehmer, dann Tennistrainer<br />

im Robinson Club und schließlich Aussteiger Heinz<br />

Ruhau, ich glaube, ein gebürtiger Berliner, in einem stillgelegten<br />

kleineren Kalkofen an dem verlassenen Strand von Butihondo,<br />

wo sich jetzt über den Felsen der Esquinzo Club und<br />

das Jandia Princess Hotel erheben, um nur die größeren der<br />

dort jetzt angesiedelten Hotels zu nennen. Der damals menschenleere<br />

Strand ist jetzt mit Urlaubern und Sonnenhungrigen<br />

belebt, fast könnte man sagen, überfüllt. Damals war er<br />

menschenleer, nur wenige Strandgänger und auch Jogger waren<br />

unterwegs und fast schon ungesund wirkende braun gebrannte<br />

Rentner, die in aufgeschichteten Steinburgen nackt den<br />

Tag verbrachten und nicht genug von der starken Sonne bekommen<br />

konnten.<br />

Das waren die letzten Jahre unseres Einsiedlers, der dann,<br />

nachdem die spanischen Behörden kurz vor dem Baubeginn<br />

des Esquinzo Robinson Clubs in einer Nacht- und Nebelaktion<br />

mit Bulldozern seine Unterkunft dem Erdboden gleichge-<br />

43


macht, seinen Wohnwagen abgeschleppt und sein mühsam<br />

zusammengeflicktes altes Segelboot zertrümmert hatten, zurück<br />

nach Deutschland zog. Das Gerümpel hatten sie auf einen<br />

Lastwagen verladen und abtransportiert, so dass am Morgen<br />

der Strand aufgeräumt <strong>aus</strong>sah und nichts mehr an die<br />

Wohnstätte des Einsiedlers erinnerte, mit Ausnahme der herumliegenden<br />

behauenen Steine des ehemaligen Kalkofens.<br />

Nachdem ihn die Behörden zuvor immer wieder aufgefordert<br />

hatten, sein Domizil aufzugeben, hatte sich der Einsiedler<br />

in einem letzten Aufbäumen mit dem primitiven Segelboot<br />

auf die Kapverdischen Inseln absetzen wollen, und zwar auf<br />

die unbewohnte Insel Boa Vista, die in der Zwischenzeit auch<br />

schon vom Tourismus entdeckt worden ist, um dort in der Einsamkeit<br />

sein Einsiedlerleben ungestört weiterführen zu können.<br />

Dass <strong>aus</strong> dieser fixen Idee nichts werden würde, kann man<br />

leicht einsehen. Mit einem seeuntüchtigen kleinen Segelboot<br />

über eint<strong>aus</strong>end Kilometer nach Südwesten segeln! Und er<br />

schon über siebzig Jahre alt. Und die 20-jährige Sonja, seit über<br />

zwei Jahren seine Lebenspartnerin, wollte er auch noch mitnehmen.<br />

Selbst der gleichmäßig blasende Nordostpassat würde<br />

ihm dabei nicht helfen können. Der Atlantik ist und bleibt<br />

ein stürmisches und heimtückisches Meer. Niemals darf man<br />

diesen Ozean unterschätzen, sonst würde man ein solches<br />

Abenteuer mit dem Leben bezahlen müssen. Nur mit der besten<br />

Ausrüstung und Segelerfahrung hätte man eine Chance,<br />

diese Inseln zu erreichen. Beides fehlte ihm.<br />

Nachdem der Einsiedler diese Insel Boa Vista erwähnt hatte,<br />

von deren Existenz ich nicht die geringste Ahnung hatte,<br />

beschloss ich einige Monate später, als ich wieder zuh<strong>aus</strong>e war,<br />

sie selbst zu besuchen. Sal, die größte der Kapverdischen Inseln,<br />

wurde direkt von Frankfurt angeflogen. Wie aber kam<br />

man weiter von dort auf die Insel Boa Vista? Erreicht habe ich<br />

44


sie schließlich auf einem Frachter, der von einem Holländer<br />

und seiner Tochter gefahren wurde. Er hatte den etwa sechzig<br />

Meter langen, total verrosteten Stahlkoloss allein mit seiner<br />

18-jährigen Tochter über den Atlantik in eine Bucht vor Sal<br />

geschippert und das Schiff lag jetzt dort vor Anker. Er hatte<br />

den <strong>aus</strong>rangierten Frachter für nur wenige T<strong>aus</strong>end Dollar in<br />

Amsterdam zum Schrottpreis gekauft.<br />

Nach Boa Vista fuhr er, wenn sich mindestens zehn zahlende<br />

Passagiere eingefunden hatten und der Atlantik ruhig war,<br />

denn das nicht ganz ungefährliche Ein- und Ausschiffen geschah<br />

mit einem Gummiboot. Die Überfahrt dauerte fünf Stunden.<br />

Diese Insel, die von den Kapverdischen Inseln Afrika am<br />

nächsten liegt, kann den Sandstürmen <strong>aus</strong> der Sahara kommend<br />

nicht standhalten. Wanderdünen im Inselinnern zeugen<br />

von der Urgewalt der Natur. Sie sind höher und mächtiger<br />

als die größten von <strong>Fuerteventura</strong>. Das Landschaftsbild<br />

wird geprägt von kilometerlangen, einsamen Sandstränden,<br />

von Sicheldünen, die sich in Windrichtung immer wieder verlagern,<br />

bizarren Inselbergen und dem türkisfarbenen Meer.<br />

Hier wächst wenig, außer in einigen angelegten Bewässerungsoasen.<br />

Menschenleer ist diese Insel; damals gab es nicht einmal<br />

ein Hotel. Sie ist ein Paradies, das für die Bewohner wahrscheinlich<br />

nie eines war. Zu karg das Land, zu schwer das Überleben<br />

in einer so unwirtlichen Welt. Viele haben bereits aufgegeben<br />

und die Insel verlassen. Wer geblieben ist, ernährt sich von der<br />

spärlichen Landwirtschaft, der Viehzucht und der Fischerei.<br />

Thunfisch und Langusten gibt es in großer Zahl, doch „reich<br />

ist das Meer und arm das Land.“ Nicht einmal der eigene Bedarf<br />

kann gedeckt werden. Doch jetzt hat sie der Tourismus<br />

entdeckt und es wird sich alles sehr schnell ändern.<br />

Boa Vista ist eine der trockensten Inseln unserer Erde und<br />

45


Reste des damaligen Kalkofens. Das Bild wurde im Jahr 2006<br />

aufgenommen<br />

gleichzeitig eine der am dünnsten besiedelten und sonnenreichsten.<br />

Weit über 300 Sonnentage zählt man im Jahr!<br />

Bei einem späteren Urlaub im Club habe ich von einem Spanier<br />

erfahren, dass Heinz Ruhau nach der Zerstörung seiner<br />

Kalkofenhöhle mit seiner Begleiterin nach Berlin zurückgekehrt<br />

sei. Sie habe dort ihre Alkoholabhängigkeit überwunden. Woher<br />

der Spanier dies wusste, verriet er nicht. Heinz Ruhau aber,<br />

noch mit 70 in Fuerte kerngesund, habe in Berlin an Depressionen<br />

gelitten, sei krank geworden und einige Monate später<br />

gestorben.<br />

Die Umstellung seines bisherigen Lebens, das er jahrelang<br />

ohne Bekleidung in der freien Natur gewöhnt war, ohne wolkenverhangenen<br />

Himmel, ohne Nebel, ohne Kälte, dafür Helligkeit<br />

überall und eine Stille, die nur vom leichten R<strong>aus</strong>chen<br />

des Meers durchdrungen war, auf das Leben in einer Groß-<br />

46


stadt schaffte er nicht. Berlin erdrückte ihn. Ich konnte mir<br />

vorstellen, dass er <strong>aus</strong> Heimweh nach seiner Insel gestorben<br />

war, dass er das Leben in der Stadt, eingezwängt in Hosen,<br />

Hemden, Strümpfen, Schuhen, Straßen und Zimmern, nicht<br />

ertragen hat und auch nicht ertragen wollte. So wird es einem<br />

Tier ergehen, das von der Wildnis, seinem natürlichen Lebensraum,<br />

in einen Zoo gesteckt wird. Manche fressen in der Gefangenschaft<br />

nicht, bis sie sterben. Sie ziehen das Sterben einem<br />

Leben in Gefangenschaft vor. Als der Spanier mir von<br />

seinem Tod berichtete, war ich sehr traurig und Tränen kullerten<br />

ungewollt meine Wangen herab.<br />

Ich hoffe, dass ich mit meiner nachfolgenden Erzählung der<br />

Wahrheit nahekomme. Gewisse Einzelheiten sind mir entfallen,<br />

manche Ereignisse habe ich damals vielleicht auch missverstanden<br />

oder falsch interpretiert. Das möge mir der Leser<br />

nachsehen, besonders diejenigen, die das Glück hatten, Heinz<br />

Ruhau in ihrem Urlaub auf der Halbinsel Jandia kennengelernt<br />

zu haben. Jedenfalls ist alles in guter Absicht und mit<br />

Respekt vor diesem ungewöhnlichen Menschen Heinz Ruhau<br />

geschrieben worden. Die anderen vorkommenden Namen in<br />

der Geschichte sind von mir erfunden worden. Auch konnte<br />

ich mich beim besten Willen an die richtigen nicht mehr erinnern.<br />

Heinz Ruhau und Tanja. Eine wahre Begebenheit<br />

Der Wind bläst vom Atlantik. Das R<strong>aus</strong>chen des Meeres begleitet<br />

ihn. Beim Überschlagen der Wellen wird das R<strong>aus</strong>chen<br />

von einem dumpfen Grollen überlagert, das man mehr fühlt<br />

als hört und das an das Herannahen eines Erdbebens erinnert.<br />

Erst schwächer, dann stärker und sekundenlang ganz <strong>aus</strong>setzend.<br />

Nicht, dass der Wind ihn störte. Er war ihn gewohnt. Wenn<br />

47


er nicht blasen würde, würde er ihn vermissen. Das war der<br />

Nordostpassat, der im Süden der Insel durch die Berge abgelenkt<br />

auch von Norden kommen kann. Ohne den Passatwind<br />

wäre die Insel nicht <strong>Fuerteventura</strong>, nicht die Insel der starken<br />

Winde.<br />

Auch an diesem hellen Sonntagmorgen strich die kühle Meeresluft<br />

über seinen braunen, von der Sonne und der Salzluft<br />

gegerbten Körper, streichelte ihn förmlich. Die Härchen an den<br />

Unterarmen reckten sich dem Wind entgegen, sträubten sich,<br />

schafften eine Gänsehaut. Er schüttelte sich. Ganz abgehärtet<br />

gegen Wind und Wetter war er also doch noch nicht, trotz der<br />

fünfzehn Jahre, die er schon als Einsiedler auf der Insel in diesem<br />

stillgelegten Kalkofen lebte, den er mit verrosteten Wellblechen<br />

abgedeckt hatte. An dem Tag, als er den runden Ofen<br />

bezog, hatte er seine Kleidung abgelegt. Nackt, wie ihn die<br />

Natur geschaffen hatte, wollte er leben. Alle seine bisherigen<br />

Probleme hatte er zurück in Berlin gelassen. Er brauchte hier<br />

nichts. Fisch und Wasser reichten ihm. Zunächst einmal. Wenn<br />

er aber nach Morro musste, um doch etwas zu besorgen, zog<br />

er seine zerschlissene Bluejeans an, ein Poloshirt, das er in den<br />

vielen Jahren nur wenige Male im Meerwasser gewaschen hatte<br />

und <strong>aus</strong>getretene Sandalen. Und dann schnitt er sich noch mit<br />

einer rostigen Schere seinen blonden Bart, der schon mehr <strong>aus</strong><br />

weißen als blonden Haaren bestand. Er war ja schließlich nicht<br />

mehr der Jüngste.<br />

Nackt, wie er war, spürte er heute Morgen den Wind an seinen<br />

Unterarmen und in seinem Gesicht, nicht aber an seinem<br />

Körper.<br />

Das war doch seltsam, weil er immer der Ansicht war, dass<br />

sein Körper an gewissen Stellen besonders empfindlich reagierte.<br />

Er lächelte in sich hinein. Bei seiner Lebensweise litt er of-<br />

48


fensichtlich schon an Überreizung. Und doch, von dieser Art<br />

von Überreizung konnte er nie genug bekommen, obwohl er<br />

bald die 70 erreichen würde. Das Alter sah man ihm nicht an.<br />

Er hatte den Körper eines 50-Jährigen und in seinem Reden<br />

die Weisheit eines 80-Jährigen. Wenn es darauf ankäme, würde<br />

er auf seinen Händen im Handstand zehn Meter auf dem<br />

Sandstrand weit laufen. Er freute sich jetzt auf den Besuch von<br />

Hannelore, die jeden Moment vom Strand um den Felsvorsprung<br />

herum erscheinen musste. Eine schwarzhaarige, wilde<br />

Bayerin. Vielleicht vierzig Jahre alt. Sie verbrachte wieder<br />

einmal ihren vierzehntägigen Urlaub auf der Insel. Jedes Jahr<br />

zur gleichen Zeit. Sie hatte sich zu einem Massagetermin bei<br />

ihm angemeldet. Zu einer Massage auf der rauen Betonplatte<br />

vor dem Kalkofen. Sie war mit Brettern vor den neugierigen<br />

Blicken der wenigen Strandläufer geschützt. Er hatte unten am<br />

Strand ein Holzbrett in den Sand gerammt, auf dem er seine<br />

Massage anpries. Doch die Mundpropaganda brachte ihm<br />

mehr Kunden ein, vor allem aber Kundinnen, die ihren Urlaub<br />

auf der Insel verbrachten, als dieser Hinweis auf dem Brett.<br />

Eine solche Ganzkörpermassage erreichte aber nicht selten<br />

ihren Höhepunkt auf den weichen weißen Schafsfellen am<br />

Boden des Kalkofens, wenn es sich so ergab. Ob diese Fortsetzung<br />

der Massage wohl auch in der Mundpropaganda enthalten<br />

war?<br />

Durch das R<strong>aus</strong>chen des Meeres meinte man ganz schwach<br />

die helle Glocke der Kirche von Morro zu hören, die die Gläubigen<br />

zur heiligen Messe rief, obwohl dies eigentlich bei dieser<br />

Entfernung nach Morro unmöglich war. Aber es war Sonntag,<br />

und die Menschen gingen zur Kirche, um Erbauung zu finden<br />

und um ihre Sünden zu bereuen. Sie läutete auch für Hannelore,<br />

denn sie war gerade dabei, ihren groben und dazu noch<br />

fettleibigen Mann in Düsseldorf zu hintergehen und sich ganz<br />

49


der Lust hinzugeben. Wie jedes Jahr zu dieser Zeit. Einmal im<br />

Jahr musste sie wissen, musste sie fühlen, dass sie noch lebte.<br />

Weiter unten näher zum Strand hatte der Eremit, so nannten<br />

die Einheimischen den Einsiedler, einen <strong>aus</strong>rangierten<br />

Wohnwagen stehen, dessen Räder schon abmontiert waren.<br />

Vor Kurzem war eine junge Frau, mehr Mädchen als Frau, am<br />

Strand entlang gekommen, hatte ihn neugierig gemustert,<br />

wobei ihre Aufmerksamkeit weniger seiner Nacktheit galt als<br />

vielmehr dem Wohnwagen, der unbewohnt zu sein schien, und<br />

gefragt:<br />

„Vermieten Sie mir den Wohnwagen für drei Monate?“<br />

Heinz antwortete nicht gleich. Er ließ seinen Blick über ihre<br />

Figur gleiten, von unten nach oben, und als er oben angelangt<br />

war, bemerkte er einen Plastikschlauch, der oberhalb ihres<br />

Kehlkopfs her<strong>aus</strong>ragte. Das war es also, warum sich ihre Stimme<br />

so unnatürlich dünn, fast blechern anhörte. Sie atmete<br />

durch den Schlauch. Sie musste eine schwere Operation hinter<br />

sich haben. Sie blickte mit ihren wasserhellen Augen und<br />

ihrem im Wind wehenden blonden Haaren zu ihm auf und<br />

wiederholte sich: „Vermieten Sie ihn mir? Ich habe noch etwas<br />

Geld. Es ist nicht viel, aber vielleicht reicht es ja.“<br />

Er räusperte sich: „Was sagten Sie? Für drei Monate?“<br />

„Ja, danach muss ich zurück nach Hannover, wo ich ein<br />

zweites Mal operiert werden soll, wenn sich meine Krankheit<br />

gebessert hat. Die Ärzte geben mir zwar wenig Hoffnung, aber<br />

ich gebe mir eine Chance. Hier am Strand von <strong>Fuerteventura</strong><br />

will ich meinen kranken Körper Wind und Wetter <strong>aus</strong>setzen,<br />

so wie Sie nackt am Strand leben, in der Sonne liegen, Licht in<br />

mein Herz lassen, schwimmen gehen, soweit ich das mit dem<br />

offenen Atem<strong>aus</strong>gang schaffe, joggen am Meer, mit dem Walkman<br />

Musik hören, die Sterne nachts bewundern, einen Stern<br />

mir <strong>aus</strong>suchen, ihm einen Namen geben und den vom Wind<br />

50


hergewehten geflüsterten Liebesgeschichten l<strong>aus</strong>chen“, antwortete<br />

sie voller Zuversicht und auch Romantik, vielleicht<br />

ein Privileg ihrer Jugend, schwang in ihrer Stimme mit.<br />

Heinz holte tief Luft, gab sich einen Ruck und sagte: „Sie<br />

können den Wohnwagen haben. Ich will auch kein Geld von<br />

Ihnen. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich in den drei Monaten<br />

erholen könnten. So, wie Sie es sagen, ganz gesund werden<br />

würden.“ Über sein sonst so hartes Gesicht huschte ein<br />

väterliches Lächeln. Er wollte seinen eigenen Worten nicht<br />

glauben, als er sie gesprochen hatte. Den Wohnwagen kostenlos<br />

übergeben? War er verrückt geworden? Er hatte nicht hinzugefügt,<br />

dass damit der überwiegende Teil seines Einkommens<br />

wegfiel. Er müsste den Verlust mit zusätzlichen Massagen<br />

wettmachen.<br />

Sie fiel ihm fast um den Hals, als er ihr das sagte und warf<br />

ihr Bündel, den sie bei sich trug, in den Wohnwagen. Innen<br />

war der Wohnwagen spärlich eingerichtet. Eine Kochnische<br />

war da, die Butangasflasche, vom vorhergegangenen Mieter<br />

noch nicht ganz aufgebraucht, über das einfache Bett war eine<br />

Kamelhaardecke gebreitet und ein Tischchen mit zwei Klappstühlen<br />

war gegenüber der Eingangstür aufgestellt. Kerzen<br />

standen darauf. Auf dem Dach des Wohnwagens war ein kleines<br />

Solarpaneel montiert, das eine Batterie speiste, so dass die<br />

15-Watt Glühbirne über dem Tischchen funktionierte. Am Boden<br />

aufgereiht waren Taschenbücher, die von Vormietern hier<br />

gelassen worden waren. Die Abende werden lang, denn die<br />

Sonne in Fuerte geht früh unter, dachte sie, als sie die Kerzen<br />

sah und die Glühbirne wahrnahm. Sie würde sich daran gewöhnen<br />

müssen, früher als in Deutschland gewohnt ins Bett<br />

zu gehen. Alle diese Bücher lesen! Sie jauchzte vor Freude, zog<br />

ihre engen Jeans <strong>aus</strong>, ihre Bluse, trat, so wie sie Gott geschaffen<br />

hatte, hin<strong>aus</strong> ins Freie und lief zum Strand. Alle Kleidungs-<br />

51


stücke konnte sie vorläufig vergessen. Vorsichtig watete sie in<br />

das flach abfallende, kalte Atlantikwasser und mit kräftigen<br />

Armen schwamm sie aufs Meer hin<strong>aus</strong>. Der her<strong>aus</strong>ragende<br />

Plastikschlauch störte weniger als sie zunächst befürchtet hatte.<br />

Das Meer musste aber ruhig sein. Höhere Wellen könnten<br />

Probleme bereiten. Gen<strong>aus</strong>o hatte sie es sich vorgestellt. Kaltes<br />

Wasser um ihren Körper, blauer Himmel über ihr. Jede Faser<br />

ihres Körpers wollte sie spüren. Der Körper, der an Krebs<br />

erkrankt war, sollte reagieren, sollte wissen, dass sie da war<br />

und ihn brauchte. Sie würde den Krebs besiegen, in der Freiheit,<br />

die ihr diese Insel bescheren würde. Nur noch nach vorne<br />

würde sie schauen, die Schatten der Vergangenheit hinter sich<br />

lassen, sie vergessen und sie durch das Licht der Insel verschwinden<br />

lassen. In einem Jahr würde sie wieder ganz gesund<br />

sein, die her<strong>aus</strong>ragende Tracheal-Kanüle <strong>aus</strong> ihrem Hals<br />

verschwunden sein. Sie würde wieder durch ihre eigene Nase<br />

atmen können. Sie hatte einen Plan ganz tief in ihrem Innern,<br />

über den sie jedoch jetzt noch nicht reden wollte. Und dieser<br />

Plan würde sicher funktionieren. Der Glaube an sich selbst<br />

kann heilen!<br />

Heinz beobachtete sie von seinem Hochsitz <strong>aus</strong>, der eigentlich<br />

nur ein erhöhter Felsvorsprung vor seiner Hütte war. Wie<br />

graziös sie sich bewegte! Bestimmt hatte sie Ballettunterricht<br />

gehabt. Obwohl sie gut gewachsen war, alles an den richtigen<br />

Stellen hatte, wie ein Mann wie er es sich mit seinem geübten<br />

Auge wünschte, übte sie eigenartigerweise keine sexuelle Anziehung<br />

auf ihn <strong>aus</strong>. Vielleicht hing das mit der Kanüle zusammen,<br />

die <strong>aus</strong> ihrem Hals ragte, oder der Art, wie sie ihn<br />

betrachtet und mit ihm gesprochen hatte. Vatergefühle hatte<br />

er eigentlich noch nie gekannt. Doch bei diesem Mädchen dachte<br />

er darüber nach, dass so seine Tochter hätte <strong>aus</strong>sehen können,<br />

wenn er jemals eine gehabt hätte. Wie hieß das Mädchen<br />

52


noch? Hatte sie nicht gesagt, dass sie Tanja hieße? Gerade in<br />

diesem Moment, als er noch diesen Gedanken nachhing, erschien<br />

Hannelore am Strand. Sie hatte ihn entdeckt und winkte<br />

aufgeregt. Sie kam herauf zum Hochsitz, umarmte ihn zur<br />

Begrüßung und beide verschwanden hinter dem Sichtschutz<br />

vor der Betonplatte.<br />

Heinz Ruhau und Monika. Teilweise wahr mit Erfundenem<br />

In der Nussdorfer Straße in einem der alten, freistehenden<br />

Häuser, die mit dem Giebel der Seeseite zugewandt sind und<br />

die den B<strong>aus</strong>til der 30er Jahre verkörpern, lebte in einer kleinen<br />

Mansardenwohnung die 21-jährige Monika. Sie arbeitete<br />

in einem Kindergarten in Überlingen als Erzieherin. Sie war<br />

von ihren Eltern in Hannover weggezogen, wollte endlich<br />

einmal allein auf eigenen Füßen stehen und ihren Neigungen<br />

nachgehen, ohne die ewig nörgelnden Kommentare ihrer Mutter<br />

sich anhören zu müssen. Wenn sie am Wochenende auf<br />

den Stufen des Landungsstegs unterhalb des Lenkbrunnens,<br />

der Martin Walser mit Schlittschuhen auf einem Pferd zeigt,<br />

einen jungen, gut gewachsenen Burschen entdeckte, prostete<br />

sie ihm mit ihrem Alkopop kurzerhand zu und der Kontakt<br />

war hergestellt. „Geile Nacht. Hast du mal ’ne Zigarette für<br />

mich? Mit etwas Grass?“ Der Bursche schüttelte den Kopf.<br />

„Aber ich kann dir eine besorgen“, und er beugte sich hinüber<br />

zu seinem älteren Freund, der etwas widerwillig eine her<strong>aus</strong>rückte.<br />

Monika war eine Schönheit, die auffiel. Ihre langen<br />

braunen Haare wallten über ihre Schultern herab. Sie hatte sie<br />

schon seit drei Jahren nicht schneiden lassen. Sie hätte in der<br />

Werbung von L’Oréal auftreten können. Ihre dunkelblauen,<br />

fast grauen Augen standen weit <strong>aus</strong>einander. Auch ihr sinnlicher<br />

Mund war breit. Ihr Gesicht wirkte ein bisschen wie eines,<br />

das im falschen Format auf einem der neuen Fernseher in<br />

53


der Breite verzerrt worden ist. Doch dies traf nur auf ihr Gesicht<br />

zu, keinesfalls auf ihre Figur, die kein Gramm Fett erkennen<br />

ließ. Ihre weiblichen Formen waren überwältigend. Der<br />

männliche Blick blieb einfach an ihren vollen Rundungen hängen.<br />

Sie war sich dieser Wirkung auf das männliche Geschlecht<br />

wohl bewusst. Wenn sie einen Mann wollte, musste sie sich<br />

ihn nur <strong>aus</strong>suchen, ihren Augenaufschlag üben und sie konnte<br />

ihn haben. Von dieser Möglichkeit machte sie regen Gebrauch.<br />

Sie hatte keinen festen Freund, wollte auch keinen.<br />

Jetzt noch nicht. Sie war noch zu jung für eine feste Bindung.<br />

Zuerst wollte sie das gewonnene freie Leben genießen. Den jungen<br />

Mann, den sie um eine Zigarette gebeten hatte, hatte sie<br />

bereits im Visier. Das Flackern in seinen Augen verriet ihr, dass<br />

er ihr bereits ins Netz gegangen war und die Nacht mit ihr<br />

verbringen würde.<br />

Trotz ihrer Abenteuer, besonders an den Wochenenden, war<br />

sie mit ihrem Leben nicht ganz zufrieden. Irgendetwas sollte<br />

noch passieren. Irgendetwas Neues, das nichts mit Überlingen<br />

zu tun hatte, mit den Kindern im Kindergarten, mit deren<br />

Eltern, mit den oft gleichen Gesichtern am Landungsplatz oder<br />

im Galgenhölzle, wo man sich sonst zu einem Alt traf, wenn<br />

es regnete oder wenn am Landungsplatz nichts los war, weil<br />

ein kalter Wind von Bodman über den See herüberfegte. Sie<br />

hatte einen Brief von ihrer Schwester Tanja erhalten, der sie<br />

beschäftigte. Ihre Schwester war offenbar in einem alten Wohnwagen<br />

ohne jeglichen Komfort an einem weiten Sandstrand<br />

gelandet. Das war ein Abenteuer so richtig nach ihrem Geschmack.<br />

„Liebe Monika, ich fühle mich hier wohl“, so hatte<br />

der Brief begonnen. „Mein Nachbar, Heinz mit Vornamen, ist<br />

ein Aussteiger, lebt schon viele Jahre in einem verlassenen<br />

Kalkofen nicht weit von meinem Wohnwagen entfernt und<br />

versorgt mich mit den notwendigsten Lebensmitteln. Er hat<br />

54


mir den Wohnwagen kostenlos überlassen. Ich glaube, dass ich<br />

hier in <strong>Fuerteventura</strong> gesund werden kann.“<br />

Ein Gedanke hatte sich ihrer bemächtigt, der sie überall hin<br />

verfolgte und nicht mehr loslassen wollte. Ich könnte einen<br />

Flug buchen und meine Schwester besuchen! Niemand werde<br />

ich etwas sagen, ich werde einfach verschwinden. Im Kindergarten<br />

sind gerade die großen Ferien. Da würde sie niemand<br />

vermissen. Ihren Eltern würde sie ganz sicher nichts von ihrem<br />

Vorhaben erzählen. Die waren weit weg in Hannover.<br />

Gedacht, getan. Monika riss die Wohnwagentür auf. Tanja,<br />

die gerade ein Buch las, sprang auf, erkannte ihre Schwester<br />

und schon lagen sich die beiden in den Armen. „Wie hast du<br />

mich so schnell gefunden?“, fragte Tanja. „Die Leute am Flughafen<br />

wissen doch sicher nicht, wo die Esquinzo-Beach ist.“<br />

„Ein Taxifahrer <strong>aus</strong> Morro hat mich hergebracht“, antwortete<br />

Monika. „Als ich von dem Eremiten erzählte, wusste er sofort,<br />

wohin ich wollte. Jetzt bin ich hier und leiste dir Gesellschaft.“<br />

Tanja zog die Augenbrauen unmerklich hoch. Sie wollte eigentlich<br />

hier allein sein, sich ganz ihrem Plan der Heilung hingeben.<br />

„Du hast mich neugierig gemacht“, fuhr Monika fort. „Wo<br />

ist denn der Eremit, von dem du geschrieben hast?“ Tanja öffnete<br />

die Tür und zeigte nach oben. „Dort sitzt er auf seinem<br />

Felsen und denkt über sich und die Welt nach.“ Monika begutachtete<br />

den Mann. Wie ein Objekt, das es zu kaufen gibt. „Er<br />

sieht gar nicht so übel <strong>aus</strong>“, sagte sie, „obwohl er schon älter<br />

ist.“ Kurz entschlossen ging sie zu ihm hinauf und streckte ihm<br />

die Hand entgegen. „Ich bin Monika, die Schwester von Tanja.“<br />

Die Aufmerksamkeit von Heinz war geweckt. Er verschlang<br />

das Mädchen förmlich mit seinen Augen, was Monika<br />

natürlich nicht entging. Zwischen den beiden geschah etwas.<br />

Ein Funke sprang über. Wie man es auch immer beschreiben<br />

will, die Chemie stimmte. Sie zog mit ihren wenigen Hab-<br />

55


seligkeiten zu Heinz in seinen Kalkofen ein. Sie entledigte sich<br />

ihrer Jeans und ihrer Bluse. Sie brauchte hier keine Kleidungsstücke.<br />

Hier konnte sie sich bewegen, wie sie wollte. Hier gab<br />

es keine Konventionen. Und ihrer Figur musste sie sich bei Gott<br />

nicht schämen.<br />

Heinz holte eine Flasche von seinem schweren, spanischen<br />

Rotwein <strong>aus</strong> einer Felsnische hervor, öffnete sie und reichte<br />

sie dem Mädchen. Die beiden leerten die Flasche und bald hörte<br />

Tanja fröhliche Stimmen, die im Kalkofen widerhallten und<br />

leise bis zu dem Wohnwagen drangen. Tanja konnte ihre<br />

Schwester nicht verstehen, dass sie sich <strong>aus</strong>gerechnet diesen<br />

alten Mann <strong>aus</strong>gesucht hatte und sich ihm nach weniger als<br />

einer Stunde schon hingab. Das gefiel ihr ganz und gar nicht.<br />

Aber das war Monikas Leben und nicht ihres. Von Heinz war<br />

sie enttäuscht. Sie hatte geglaubt, dass er wenigstens<br />

ihretwegen vor ihrer Schwester etwas mehr Zurückhaltung<br />

üben würde.<br />

Monika war jetzt schon zwei Wochen bei Heinz, verbrachte<br />

den Tag mit Schwimmen und Joggen wie auch Tanja. Es wurde<br />

ihr schon etwas langweilig. Das Abenteuerliche an ihrem<br />

Ausflug auf diese Insel war schon von Routine abgelöst worden.<br />

Heinz fühlte sich aber wohl in seiner Rolle und beschloss<br />

eines Abends, sich ein Bier an der Bar des etwa sechs Kilometer<br />

entfernten Strand- und Surferhotels Los Gorriones zu genehmigen.<br />

Er zog sein bestes Kleidungsstück an. Das war ein<br />

alter Fred-Perry-Trainingsanzug, wie man ihn in den 70er Jahren<br />

getragen hatte. Gewaschen worden war er wohl noch nie.<br />

Das letzte Mal, als er die Bar in einer knappen Badehose betrat,<br />

wurde ihm der Zugang verweigert.<br />

„Ziehen Sie sich etwas an, wenn Sie hier etwas trinken wollen“,<br />

verkündete ihm der Barkeeper. Manche andere Hotels<br />

56


Hotel Los Gorriones (übersetzt die Spatzen)<br />

verweigerten ihm sogar den Zutritt auf ihr Gelände unabhängig<br />

davon, wie er gekleidet war. Er hatte seinen Namen weg.<br />

Heinz zog los mit schnellen Schritten am Strand entlang,<br />

kam bei der alten Strandkneipe Toni vorbei, an den Wanderdünen,<br />

die den südlichen Punkt der Sotovento-Beach bildeten,<br />

bis sich dann der kilometerbreite Strand vor dem Hotel auftat.<br />

Das war das Zentrum der Surfer. Hier hatten die Weltmeisterschaften<br />

im Surfen schon einige Male stattgefunden. Der Wind<br />

blies unablässig mit Windstärken um die 7. Ideale Bedingungen<br />

für geübte Surfer. Er setzte sich an die Bar, wo bereits vier<br />

junge, gut<strong>aus</strong>sehende Männer ein Bier tranken und sich lautstark<br />

unterhielten. Wahrscheinlich waren es Surfer, denn sie<br />

waren braun gebrannt von der südlichen Sonne, ihre Gesichter<br />

von Wind und Wetter gezeichnet. „Woher kommst denn<br />

du“, sagte der mit dem gelben Poloshirt. „Hat man dich vor<br />

57


einem Jahrhundert am Strand <strong>aus</strong>gesetzt und vergessen?“<br />

Heinz bemerkte sehr wohl die Provokation in des Jungen Stimme<br />

und ging nicht darauf ein. Er trank sein Bier in hastigen<br />

Schlucken. Eigentlich mochte er den spanischen Rotwein lieber,<br />

doch ein kühles Bier war nicht zu verachten, zumal er ja<br />

in seinem Kalkofen keinen Kühlschrank besaß und, selbst wenn<br />

er einen gehabt hätte, ihn mangels eines elektrischen Anschlusses<br />

nicht hätte betreiben können.<br />

„Wo habt ihr denn eure Mädchen“, fragte Heinz, um das<br />

Gespräch auf das Thema zu lenken, bei dem er mitreden konnte<br />

oder wenigstens glaubte, mitreden zu können. „Die wenigen<br />

Mädchen, die allein hier waren, sind vorgestern abgereist“,<br />

erklärte ein anderer der vier. „Aber du hast ja sicher keine Frau.<br />

Wer würde einen wie dich schon nehmen? Wer könnte es mit<br />

dir schon <strong>aus</strong>halten?“ Das war das Stichwort, auf das Heinz<br />

wartete. Irgendjemanden musste er doch von Monika erzählen,<br />

von dem Mädchen, wie es schöner nicht sein konnte. Und<br />

sie hatte ihn <strong>aus</strong>gewählt. Nicht einen jungen Mann. Nein ihn!<br />

Die Jungs hatten doch keine Ahnung! Und er begann von ihr<br />

zu erzählen, von ihrer Jugend ihrer Leidenschaft, ihren festen<br />

Brüsten und ihren sinnlichen Lippen. Die Jungen lachten ihn<br />

<strong>aus</strong>. „Du alter Mann willst eine 19-Jährige zur Freundin haben?<br />

Die mit dir in einem alten Kalkofen auf verschlissenen<br />

Schaffellen schläft? Willst du uns auf den Arm nehmen, uns<br />

verarschen? Da musst du schon früher aufstehen“, sagte der<br />

mit dem gelben Poloshirt. „Nein, nein“, rief Heinz, „es stimmt<br />

alles, was ich gesagt habe. Kommt doch mit und schaut selbst.<br />

Sie wartet auf mich. Sie heißt Monika. Und ihre Schwester lebt<br />

auch bei mir. In dem abgestellten Wohnwagen, den ihr sicher<br />

schon am Strand entdeckt habt.“<br />

Der mit dem gelben Poloshirt sah seine Kumpels lächelnd<br />

an: „Wie wär’s? Wir nehmen den Jeep und fahren hin. Wir<br />

58


Wanderdüne an der Sotovento Beach<br />

Sandberge an der Sotovento Beach<br />

59


nehmen den alten Penner gleich mit. Mal sehen, ob es wahr<br />

ist, was er uns hier aufgetischt hat.“<br />

Sie fuhren die Straße oberhalb des Strands entlang und bogen<br />

in den Schotterweg ein, der hinab zur Esquinzo-Beach<br />

führt. Sie hielten nicht weit vom Kalkofen. Monika kam her<strong>aus</strong>,<br />

ein Tuch um ihre Hüften gewickelt. Die Jungs schauten sich<br />

verblüfft an. So ein tolles Mädchen bei solch einem Penner!<br />

Einer der vier zauberte eine Flasche Whiskey hervor. Sie saßen<br />

rings um den Hochsitz, während die Flasche die Runde<br />

machte und das Mädchen einige Kerzen anzündete, denn es<br />

war Nacht geworden. Die Jungs erzählten Witze, das Mädchen<br />

kicherte und hing ihnen an den Lippen. Wenn Heinz etwas<br />

sagen wollte, hörte ihm niemand zu. „Wir bleiben nicht<br />

zu lange“, erklärten die Jungs. „Wir nehmen Monika mit“, sagte<br />

der im gelben Poloshirt. „Pack deine Sachen zusammen und<br />

komm! Du hast bestimmt nicht viel mitzunehmen.“ In weniger<br />

als zwei Minuten war sie bereit. Heinz wollte protestieren.<br />

Doch Monika schnitt ihm das Wort ab. „Hast du dir schon<br />

einmal überlegt, was ich bei einem alten Mann wie dir soll?<br />

Was hast du mir schon zu bieten?“, schob sie fast etwas böswillig<br />

nach.<br />

Heinz hörte, wie der Jeep mit mahlendem Geräusch die<br />

Schotterstraße hinauf rollte. War diese Episode vorbei? Würde<br />

sie vielleicht doch wiederkommen? Kaum anzunehmen.<br />

Solche Abschiede sind für immer.<br />

Er hätte das mit seiner Lebenserfahrung besser wissen müssen.<br />

Warum hatte er mit dem Mädchen angeben wollen? Um<br />

sich in ein besseres Licht zu setzen, um den anderen kundzutun,<br />

welch ein toller Hecht er ist?<br />

Dabei ist es eben so: Wenn du einen großen Diamanten besitzt,<br />

verstecke ihn an einem sicheren Ort, wo niemand hinkommt,<br />

wo ihn niemand finden oder sehen kann. Wenn du<br />

60


von ihm erzählst, um dem Zuhörer zu offenbaren, welchen<br />

Schatz du hast, ist er vielleicht schon verloren, denn der Zuhörer<br />

will auch einen solchen Diamanten besitzen. Und solche<br />

gibt es wenige. Er denkt nur noch an deinen. Er will ihn<br />

haben.<br />

Wenn dein Nachbar ihn zufällig zu Gesicht bekommt, behaupte,<br />

er sei nur ein wertloser Bergkristall. Wenn du sagst,<br />

dass es ein Diamant sei, würde er dar<strong>aus</strong> schließen, dass du<br />

reich bist. Viel reicher, als er angenommen hatte. Er wird dir<br />

das Leben schwer machen. Er gönnt dir diesen Reichtum nicht.<br />

Heinz war wieder einmal allein. Er war wieder einmal um<br />

eine Erfahrung reicher geworden, eine Erfahrung, die er aber<br />

in seinem Alter hätte haben müssen. Aber sein Alleinsein sollte<br />

nicht lange andauern.<br />

Der Einsiedler und Sonja. Wahre Geschichte<br />

Eines Abends, kurz bevor es dunkel wurde, hatte sich offenbar<br />

ein junges Mädchen an die Esquinzo-Beach verirrt. Sie ging<br />

singend am Strand in einem dünnen schwarzen Kleidchen<br />

entlang, mehr schwebend als gehend. Sie war in Trance. Heinz<br />

hatte sie sofort entdeckt, ihm entging nichts, was sich am Strand<br />

bewegte, glaubte, dass ihr etwas fehlte und lief zu ihr hinunter,<br />

fragte, ob er helfen könne. Sie schaute mit ihren glasigen<br />

Augen durch ihn hindurch. „Ich brauche die Nadel“, stotterte<br />

sie. „Ich brauche Geld. Ich muss mir etwas besorgen, egal wie.“<br />

Sie war drogenabhängig. Blau umrandete Einstiche in den<br />

Armbeugen zeugten davon. „Ich kann dir nicht helfen“, sagte<br />

Heinz, „und ich weiß nicht, ob ich dir helfen würde, wenn ich<br />

es könnte. Du musst versuchen, von der Droge wegzukommen.“<br />

Sie spuckte verächtlich in seine Richtung auf den Boden,<br />

zu oft hatte sie solche Sprüche gehört, begann zu laufen<br />

und war so schnell weg, wie sie gekommen war.<br />

61


Surferpradies an der Sotovento Beach<br />

Am nächsten Abend war sie wieder da. Sie war aber am<br />

Strand zusammengebrochen und wurde von Krämpfen geschüttelt,<br />

die von bitterlichem Weinen unterbrochen wurden.<br />

Was sollte er tun? Die spanische Polizei rufen? Das würde dem<br />

Mädchen nicht helfen. Sie würden sie in eine Zelle sperren und<br />

vielleicht erst nach Tagen in ein Hospital einliefern. Weder in<br />

der Zelle noch im Hospital würde sie ihre Drogen bekommen.<br />

Das würde für das Mädchen die fürchterlichste Hölle, die man<br />

sich vorstellen vermag, bedeuten. Da war der spanische Staat<br />

hart, besonders hart aber auf <strong>Fuerteventura</strong>, wo man sagt, dass<br />

der Handel mit Drogen blühen soll. Der Handel sei in den Händen<br />

von Banden, die <strong>aus</strong> Marokko stammen und die mit Booten<br />

vom Festland die Ware bekommen. So entschloss er sich,<br />

die junge, braunhaarige Frau in seinen Kalkofen zu tragen. Sie<br />

war nicht schwer, sie hatte einen zierlichen Körper, schwarze<br />

62


Augen und helle Haut. Sie konnte noch nicht lange auf der<br />

Insel sein, denn die Bräune auf ihrer Haut fehlte. Er flößte ihr<br />

etwas von dem schweren Rotwein ein, den er in der Felsnische<br />

hatte. Sie schluckte und leckte sich die Lippen. Noch etwas<br />

mehr, und die Wirkung des Alkohols ließ nicht lange auf sich<br />

warten. Sie schlief ein. Er verfuhr so, wenn die nächsten<br />

Krämpfe in den folgenden Tagen einsetzten. Manchmal schrie<br />

sie <strong>aus</strong> Verzweiflung, bis Schaum <strong>aus</strong> ihrem Mund quoll. Sie<br />

schrie nach ihrem Stoff, doch in Ermangelung von etwas Besserem<br />

griff sie immer häufiger zur Flasche. Könnte es sein, dass<br />

er es fertigbrächte, diese junge Frau von den Drogen wegzubekommen?<br />

Auf Alkohol umzupolen? War der Preis dafür, dass<br />

sie zur Alkoholikerin würde?<br />

Das war jedenfalls besser als heroinabhängig. Manche Tage<br />

war sie den ganzen Tag über nicht zu sehen. Wahrscheinlich<br />

war sie nach Morro getrampt, um sich Stoff zu besorgen, was<br />

ihr aber offensichtlich nicht gelang. Doch sie kam mit Geld<br />

zurück. Woher hatte sie es? Hatte sie zahlende Freier gefunden?<br />

Das war die einzige pl<strong>aus</strong>ible Erklärung. Sie gab Heinz<br />

das Geld, damit er ihr den Rotwein kaufen konnte.<br />

Ein Jahr war vergangen, als ich wieder einmal einen Urlaub<br />

im Aldiana Club verbrachte. Beim ersten morgendlichen Joggen<br />

vom Club zur Esquinzo-Beach machte ich auch diesmal<br />

eine P<strong>aus</strong>e bei Heinz, der sich immer freute, wenn er mich sah.<br />

Das Mädchen Sonja saß wie immer nackt im Kalkofen und lass<br />

eine völlig zerfledderte Illustrierte, ich glaube es war der Stern.<br />

Wie oft sie diese Ausgabe schon gelesen hatte? Sie musste die<br />

Seiten <strong>aus</strong>wendig kennen. Sie blickte kurz auf, als sie mich sah,<br />

blickte durch mich hindurch, als ob sie mich nicht kenne, und<br />

kehrte zur Lektüre des Sterns zurück. Sie war wohl betrunken.<br />

Ich konnte es kaum glauben, dass sich innerhalb von einem<br />

Jahr nichts geändert hatte. Sie sah wie immer sehr hübsch <strong>aus</strong>.<br />

63


Doch, wenn sie den Mund öffnete, zeigten sich schwarze Zähne,<br />

die dieses Bild schlagartig veränderten. Sie müsste dringend<br />

zum Zahnarzt.<br />

Als wir außer Hörweite des Mädchens waren, erzählte mir<br />

Heinz die ganze Geschichte des Mädchens. Er wollte meine<br />

Meinung dazu wissen, ob er richtig gehandelt habe. Sie sei jetzt<br />

zur Alkoholikerin geworden. Doch, was sollte ich dazu sagen?<br />

Mir kam alles so unwirklich vor. So weit weg von meinem eigenen,<br />

in festen Bahnen verlaufenden Leben. Ich konnte mich<br />

nicht in die Lage des Mädchens versetzen und auch nicht in<br />

die von Heinz.<br />

„Was ist denn mit Tanja geschehen?“, wollte ich wissen.<br />

„Schau doch bei ihr vorbei. Sie ist immer noch im Wohnwagen.<br />

Du wirst sie nicht mehr wiedererkennen. Sie hat sich total<br />

verändert. Lass dich überraschen.“<br />

Meine Neugier ließ nicht zu, länger zu warten. Ich lief zum<br />

Wohnwagen hinunter und klopfte. Sie hatte mich schon durch<br />

ein Fenster bemerkt, streifte ein durchgehendes Kleid über und<br />

ließ mich herein. Mir fehlten die Worte. Eine blühende junge<br />

Frau bot mir ihre Wange zur Begrüßung. Der her<strong>aus</strong>ragende<br />

Schlauch war verschwunden. Nicht einmal eine Narbe konnte<br />

ich an der Stelle entdecken, wo die Kanüle war. Ihr Gesicht<br />

strahlte eine Freude <strong>aus</strong>, die von innen kam. „Ich kann es nicht<br />

fassen! Du bist wieder ganz gesund. Wie hast du das nur geschafft?“,<br />

rief ich. Zuerst schenkte sie mir ein Glas von dem<br />

Rotwein ein, den auch Heinz trank, und sagte dann: „Ich habe<br />

daran geglaubt, dass ich den Krebs besiegen kann, und ich habe<br />

gewonnen. Der Arzt in der deutschen Klinik in Morro hat vor<br />

wenigen Tagen Proben entnommen und zur Untersuchung eingeschickt.<br />

Es ist keine einzige Krebszelle mehr zu finden. Ich<br />

bin geheilt! Das Klima, die Luft und die Ernährung auf <strong>Fuerteventura</strong><br />

haben geholfen. Der frische Fisch jeden Tag, den ich<br />

64


mir zubereitete. Ein einheimischer Guanche brachte mir täglich<br />

seinen fangfrischen Fisch vorbei. Wenn er nicht kam, gab<br />

mir Heinz von seinem Fang etwas ab. Papageienfisch, Zackenbarsch,<br />

Thunfisch, Barrakuda, blauer Merlin, Schwertfisch,<br />

Brasse und Morrofisch zum Grillen. Jeder schmeckt anders.<br />

Besonders schmackhaft sind seine Sardinen, die er gleich nach<br />

dem Fang nach eigenem Rezept sauer einlegt. Dann die <strong>Fuerteventura</strong>-Tomaten,<br />

das Olivenöl, die kanarischen, in Salzwasser<br />

gegarten Runzelkartoffeln – patatas arrugadas –, die mit<br />

der Schale mit grüner Mojo-Kräutersoße darüber gegessen<br />

werden, nicht zu vergessen das Weißbrot und ein Gläschen<br />

Rotwein zur Abrundung. Weißt du noch, als ich letztes Jahr<br />

von einem Plan gesprochen habe, den ich niemanden verraten<br />

wollte? Ich habe ihn durchgeführt. Schau doch mal in die<br />

Vertiefung unterhalb des großen Rückfensters des Wohnwagens,<br />

das direkt zum Meer hin liegt. Dort wirst du etwas sehen.<br />

Etwas Wunderbares, das Wunderbarste, was es auf dieser<br />

Welt gibt. Es hat mich und mein Herz verändert.“<br />

In der Vertiefung, die mit Tüchern und Deckchen <strong>aus</strong>staffiert<br />

war, lag ein vielleicht drei Monate altes süßes Baby. Das<br />

war also ihr Plan gewesen. Sie wollte ein Baby! Das hatte ich<br />

schon gehört, dass sich während einer Schwangerschaft der<br />

Körper einer Frau verändern kann. Alles im Körper wird mobilisiert,<br />

um dem neuen Leben Kraft zu schenken. Krankheiten<br />

können in dieser Phase überwunden werden. Die Psyche<br />

stimmt, denn die Vorfreude auf das Kind bestimmt den Ablauf<br />

des Tages. Und Freude am Leben ist auch eine der Vor<strong>aus</strong>setzungen,<br />

um gesund werden zu können. Sie hatte das<br />

Richtige getan, die richtige Entscheidung getroffen. Das Baby<br />

hatte mitgeholfen, ihre Krankheit zu überwinden.<br />

Sie nahm das Baby in den Arm und sagte: „Das war mein<br />

Plan. Ich wollte ein Kind. Schon lange. Und hier verwirklichte<br />

65


ich ihn. Ich habe kein Problem, darüber zu reden. Ich hatte<br />

schon in den ersten Tagen einen jungen Surfer im Visier, der<br />

sich hin und wieder an diesen Strand, von der Sotovento-Beach<br />

herkommend, verirrt hatte. Er zog dann sein Surfbrett an<br />

Land, wenn er sah, wie ich dastand und ihn beobachtete. Wir<br />

redeten einige Sätze. Er war gut gebaut, hatte starke Arme und<br />

kräftige Beine und hatte ein fein geschnittenes Gesicht, das<br />

Feinfühligkeit und Intelligenz verriet. Er sagte, dass er Literaturwissenschaften<br />

studiere und vielleicht Journalist werden<br />

wolle. Eines Tages nahm ich ihn mit in meinen Wohnwagen.<br />

Ich hatte es so eingerichtet, dass das genau in meinen Empfängnistagen<br />

lag. Mit ihm war es anders als mit den anderen<br />

Männern, die ich schon hatte. Es war ein warmes Gefühl in<br />

mir, das nichts mit Sex zu tun hatte. Ich musste immer nur<br />

daran denken, dass ich bei diesem Akt ein Kind empfange. Ich<br />

war einfach nur glücklich. Und dann begann das Kind, zu<br />

wachsen. Ein Wunder geschah in meinem Körper. Es war<br />

höchste Zeit, die Kanüle an meinem Hals entfernen zu lassen,<br />

denn, Wunder über Wunder, ich konnte wieder ganz normal<br />

durch die Nase atmen. Ich fühlte das Herz des Kindes schlagen.<br />

Ich war ganz nur noch auf den Tag <strong>aus</strong>gerichtet, an dem<br />

das Kind geboren werden sollte. Es war ein Mädchen. Sie sollte<br />

Iris heißen, ein Name mit nur hellen Vokalen, um meine<br />

Freude auch in dem Namen <strong>aus</strong>drücken zu können. Der junge<br />

Surfer aber war am nächsten Tag zurück nach Hannover geflogen.<br />

Er ist seither hier nicht wieder aufgetaucht. Ich weiß<br />

nur seinen Vornamen. Jens. Er wird wahrscheinlich seine Tochter<br />

nie sehen oder kennenlernen. Schließlich weiß er auch nichts<br />

davon, dass er ein Kind gezeugt hat.“<br />

Ich hörte zu, während sie das Baby an einer ihrer prall gefüllten<br />

Brüste stillte. „Sie isst schon ein wenig von reifen zer-<br />

66


drückten Avocados. Vielleicht kannst du mir morgen eine von<br />

deinem Frühstücksbuffet im Aldiana Club mitbringen?“<br />

Nach dem Besuch bei Tanja ging ich zurück zu Heinz. Sonja<br />

richtete zum ersten Mal, seitdem ich sie kennengelernt hatte,<br />

eine Frage in ihrem Berliner Dialekt direkt an mich: „Hast du<br />

einen schwarzen Kater im Aldiana Club gesehen? Wir vermissen<br />

ihn schon seit Tagen. Hoffentlich ist er nicht überfahren<br />

worden.“ Ich versprach mich umzusehen, hatte aber wenig<br />

Hoffnung, denn in dem Club gab es sehr viele Katzen, eine<br />

Menge von denen mit schwarzem Fell. Fast konnte man meinen,<br />

dass im Club eine Katzenplage <strong>aus</strong>gebrochen war. Sie<br />

flüsterte mir dann noch ins Ohr, dass Heinz morgen 70 Jahre<br />

alt werden würde. „Das müssen wir feiern“, rief ich, und lud<br />

die beiden kurzerhand zu Kaffee und Kuchen für den morgigen<br />

Nachmittag in den Aldiana Club ein. Mir fiel ein, dass die<br />

beiden vor Kurzem von Süßigkeiten und im Speziellen von<br />

Kuchen geredet hatten. „Immer nur Fisch und salzige Morrokartoffeln<br />

in der Schale. Ich träume nachts schon von einem<br />

Schokoladenkuchen mit Schlagsahne darüber“, so hatte Heinz<br />

gesprochen. „Ich auch, ich auch“, stimmte die Kleine bei.<br />

„Ihr müsst euch nur etwas Nettes für den morgigen Nachmittag<br />

anziehen“, fügte ich hinzu. „Also bis morgen um 3.“<br />

Ich stand an der Mauer, die den Aldiana Club umgibt. Zum<br />

Strand hinunter geht es mit vielen Stufen steil abwärts. Von<br />

hier oben hatte man einen weiten Blick den Strand entlang bei<br />

guter Sicht bis zum Esquinzo-Strand, wo Heinz sein Domizil<br />

hatte. Der damalige Clubchef war von dem Besuch nicht gerade<br />

begeistert, hatte er doch dem in seinen Augen verwahrlosten<br />

Einsiedler das Betreten des Clubgeländes verboten. Doch<br />

mir, als regelmäßigem Cluburlauber, wollte er meine Bitte auch<br />

nicht abschlagen. Etwas abseits der Poolbar, wo nachmittags<br />

reger Betrieb herrschte, hatte ein Kellner einen Tisch gedeckt.<br />

67


In der Mitte türmte sich ein frisch gebackener Schokoladenkuchen,<br />

eine Schüssel mit frisch geschlagener Sahne stand<br />

daneben und eine Kanne mit dampfendem Kaffee. Der Geruch<br />

des Kaffees war mir schon in die Nase gestiegen. Hinter der<br />

Mauer kam ich mir wie Helena in Homers Ilias vor, die, vor<br />

der trojanischen Stadtmauer stehend, die in der Ebene vorbeireitenden<br />

Athener beschrieb. In der Ferne entdeckte ich dann<br />

auch die zwei Gestalten, wie sie auf den Club zukamen. Das<br />

waren sie. Er hatte seinen verspeckten, braunen Fred-Perry-<br />

Anzug an, sie das schwarze lange Kleid, das sie schon am ersten<br />

Tag trug, als sie von Heinz am Strand entdeckt worden<br />

war. Ich öffnete das verschlossene Gittertor in der Mauer und<br />

ließ sie ein. „Seid herzlich willkommen! Zu deinem 70sten<br />

Geburtstag wünsche ich dir Gesundheit und ein langes Leben<br />

hier am Strand“, sagte ich. „Nach unserem Kaffee habe ich<br />

noch ein Geschenk für dich in meinem Bungalow.“ Alle Blicke<br />

folgten uns am Pool. Manche lachten, andere schüttelten den<br />

Kopf und dachten, wie der Clubchef dies nur zulassen konnte.<br />

Der Kellner servierte und gab jedem von uns ein großes Stück<br />

Kuchen. Sahne kam darüber. Kaffee wurde eingegossen. Sie<br />

aßen, legten die Gabel weg und benutzten die Finger.<br />

Schwamm drüber! Damit hatte ich gerechnet. Aber da geschah<br />

etwas Unerwartetes. Eine schwarze Katze lief vorbei. Sonja<br />

schrie: „Das ist unser Kater. Sie haben unseren Kater gestohlen!“<br />

Beide stürzten sich auf das Tier, brachten es zum Tisch<br />

und setzten es auf der Tischplatte ab. „Wir haben endlich unseren<br />

Konrad wieder!“ Sonja schob ihren Teller mit dem Kuchenstück<br />

dem Kater hin, der zunächst die Sahne abschleckte<br />

und dann von dem Kuchen fraß. Ich hätte im Boden versinken<br />

können, denn jetzt hatten wir durch das Geschrei die Aufmerksamkeit<br />

aller an der Bar versammelten Gäste und der Sonnenhungrigen<br />

auf den Liegestühlen auf uns gezogen.<br />

68


Es war dann doch nicht solch eine glänzende Idee gewesen,<br />

sie hierher einzuladen. Ich hätte den beiden den Kuchen auch<br />

bringen können. Aber sicher wäre das nicht dasselbe gewesen.<br />

Das Ambiente hätte gefehlt.<br />

Wir kamen zu meinem Bungalow. Sonja immer noch mit dem<br />

schwarzen Kater im Arm, den sie ununterbrochen kraulte. Wie<br />

eingangs schon erwähnt, war Heinz vor vielen Jahren als Tennislehrer<br />

im Robinson Club tätig gewesen. Er hatte mich, ohne<br />

dass dies mir bewusst war, im letzten Jahr auf dem Tennisplatz<br />

beobachtet, wie ich spielte. Er bescheinigte mir, dass ich<br />

einen fürchterlichen Stil hätte, mich viel zu langsam und ineffektiv<br />

bewegen würde und den Ball überhaupt nicht schneiden<br />

könnte. Weder Slice noch Topspin. Und dabei seien dies<br />

doch die wichtigsten Schläge, mit denen man ein Match gewinnen<br />

würde. In seiner besten Zeit hätte ihn auf der Insel niemand<br />

schlagen können wegen des Schnitts, den er den Bällen<br />

verpassen konnte. Er habe einen Dunlop Maxply gespielt. Einen<br />

besseren Schläger gäbe es nicht. Ich dachte an die Überraschung,<br />

die ich für ihn zu seinem Geburtstag bereithielt. Ich<br />

zog <strong>aus</strong> meinem Koffer im Bungalow einen nagelneuen Graphitrahmen<br />

hervor, der sogar mit einer dünnen Darmsaite<br />

bespannt war und ein hohes Singen von sich gab, wenn man<br />

die Bespannung anzupfte oder mit der Hand zum Klingen<br />

brachte. Das war der allerletzte Schrei im Schlägerbau, gerade<br />

vor einer Woche auf den Markt gekommen.<br />

„Das ist mein Geschenk zu deinem 70sten Geburtstag. Ich<br />

hoffe, dass du irgendwann damit spielen kannst. Vielleicht lassen<br />

sie dich im Los Gorriones auf den Platz. Wie du weißt, lässt<br />

der Clubchef dich hier nicht spielen.“<br />

Heinz’ Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, in der die Falten<br />

seines Alters auf einmal zu erkennen waren, und dann flossen<br />

die Freudentränen in Strömen. Selbst die Augen des jun-<br />

69


gen Mädchens mit der Katze auf dem Arm wurden feucht.<br />

Heinz sprang auf dem Rasen vor dem Bungalow mit dem<br />

Schläger hin und her, ging in die Knie, zeigte, wie er den Ball<br />

schnitt, sprang wieder auf, als wolle er einen anderen ankommenden<br />

Ball zurückschlagen.<br />

„Er liegt einfach fantastisch in der Hand. So einen Schläger<br />

hätte ich früher haben sollen. Ich hätte auch in Deutschland<br />

damit kein einziges Match verloren!“<br />

Ich hätte dem alten Mann keine größere Freude zu seinem<br />

Geburtstag machen können, obwohl ich daran zweifelte, dass<br />

er ihn je <strong>aus</strong>probieren könnte. Aus Übermut und Freude machte<br />

er dann einen Handstand und lief auf seinen Händen in einem<br />

Kreis. Wer konnte das von den Gästen mit 70 im Club<br />

oder <strong>aus</strong> einem der anderen Hotels auf der Insel ihm gleichtun?<br />

Ich beobachtete noch von der Mauer <strong>aus</strong>, wie das ungewöhnliche<br />

Paar in seinem Aufzug mit dem Konrad im Geleit hinter<br />

einem Felsvorsprung auf dem Weg zu seinem Kalkofen verschwand.<br />

Im Jahr darauf, wieder beim Joggen, war nichts mehr von<br />

dem Kalkofen zu sehen. Der Wohnwagen mit der jungen Frau<br />

und mit dem Baby war verschwunden. Von dem Segelboot<br />

keine Spur. Der Rohbau des Esquinzo Robinson Clubs nestelte<br />

sich schon in die Abhänge der hohen Felsen. Kaum einer konnte<br />

von Heinz berichten. Kaum jemand erinnerte sich an ihn. Diese<br />

außergewöhnliche Einsiedlerrobinsonade war beendet, die<br />

Geschichte schon fast vergessen. Heinz Ruhau, wer war denn<br />

der? Manche späteren Urlauber im Club meinten, wenn man<br />

von dem Einsiedler redete: War seine Mutter nicht auch eine<br />

berühmte Fliegerin, die mit Hanna Reitsch befreundet war, die<br />

über 40 Flugrekorde in den 30er Jahren innehielt? Mag sein,<br />

ist aber nicht wichtig.<br />

70


Niemand konnte sich jedoch an Tanja erinnern. Was war <strong>aus</strong><br />

dieser mutigen Frau geworden, die durch ihren unbeirrbaren<br />

Glauben an sich selbst und ihre Heilung ihre Krankheit besiegt<br />

hatte, obwohl ihre Ärzte ihr nur geringe Heilungschancen eingeräumt<br />

hatten?<br />

71


Fremdgehen ist gefährlich oder die verlorene Partie<br />

Bis auf das erfundene Ende mit Ursula ist das eine wahre Geschichte.<br />

Da hat beim Schreiben die Fantasie das Ruder übernommen.<br />

Mein Freund Anton ist gerade fünfundvierzig Jahre alt geworden.<br />

In seinem scharf geschnittenen Gesicht mit einer großen<br />

Nase in der Mitte leuchten lebendige Augen, die überall<br />

sind und kein Risiko zu scheuen scheinen. Seine Hände sind so<br />

groß, dass sie eine mittlere Wassermelone fast ganz umfassen<br />

könnten. Als ich ihn vor Jahren beim Tennisspielen kennenlernte,<br />

damals war es noch üblich, beim Spielen ein breites Frotteestirnband,<br />

meistens in den Farben Rot-Weiß-Rot zu tragen,<br />

um die Augen vor dem von der Stirn tropfenden Schweiß zu<br />

schützen, hatte ich ihm meinen Schläger geliehen, weil bei seinem<br />

eine Saite gerissen war. Dabei war mir klar, dass ich ihn<br />

gegebenenfalls mit einer gerissenen Saite zurückbekommen<br />

würde. Der Griff verschwand in seiner Hand, er war viel zu<br />

klein. Bei diesem Match, in dem es um den Aufstieg seiner Tennis-Mannschaft<br />

ging, lag er schon 0 : 6 im Ersten Satz und im<br />

Zweiten 0 : 3 zurück. Ich beschloss, schon einmal ins Clubh<strong>aus</strong><br />

zu gehen, um die Schachfiguren aufzustellen und einen Kaffee<br />

zu trinken. Er würde bald kommen. In wenigen Minuten.<br />

Sein Spiel auf dem Platz war ein einziges Fiasko. Würde er jetzt<br />

bei der bevorstehenden Schachpartie weniger hektisch spielen?<br />

Kaum anzunehmen. Er liebte Schach mindestens so sehr<br />

wie sein Tennis. Seine Art zu spielen kann man wahrscheinlich<br />

von dem einem Spiel auf das andere übertragen. Günter,<br />

einer seiner Clubkameraden, der wie ich das Tennismatch verfolgte,<br />

rief mir zu:<br />

„Du kennst unseren Anton nicht. Er wird das Spiel noch herumreißen<br />

und gewinnen. Das wäre nicht das erste Mal.“<br />

72


Der H<strong>aus</strong>berg oder „Camelback“ hinter dem Aldiana Club<br />

Dann hörte ich einen lauten Schrei quer über den Platz. Das<br />

Wort, das mit Sch… beginnt und das von vielen Tennisspielern<br />

öfter gebraucht wird als irgendein anderes. Manche versuchen<br />

noch schnell ein Shit oder ein Scheibenkleister dar<strong>aus</strong><br />

zu machen, oft zu spät, denn das Wort ist schon über ihre Lippen<br />

gekommen. Aus dem Fenster sah ich, wie Anton, als er<br />

das Wort ein zweites Mal <strong>aus</strong>stieß, seinen Schläger – also meinen<br />

– quer über den Platz schleuderte, so dass er die Betonmauer<br />

am Rande des Platzes nur knapp verfehlte. Mein schöner<br />

neuer Schläger! Sein nächster Aufschlag saß. Noch ein Ass.<br />

Hopp oder Topp, so spielte er. Risiko pur. Der Schrei und das<br />

Schleudern hatten den Gegner genervt und das Spiel gedreht.<br />

So wie seinerzeit McEnroe, der sich mit dem Schiedsrichter<br />

anlegte und damit seinen Gegner <strong>aus</strong> dem Schlag brachte. Und<br />

er gewann den Satz und den Dritten auch. Günter wandte sich<br />

mir zu:<br />

73


„Das ist eben unser Anton. Unsere Mannschaft ist mit seinem<br />

Matchgewinn aufgestiegen. Auf ihn können wir uns eben<br />

verlassen.“<br />

Anton ist der Mann, der mit seinem Zwölfzylinder-BMW,<br />

wenn es sein muss, mit 260 Sachen über die Autobahn jagt.<br />

Am liebsten würde er dabei noch die Lichthupe verwenden,<br />

wenn das noch erlaubt wäre, um zu signalisieren, dass er der<br />

Schnellste ist und Raum benötigt. Er wäre sicher ein guter Rennfahrer<br />

geworden. An einem Sonntagmorgen war er in Singen,<br />

wo sein Firmensitz ist, nach München abgefahren und dort<br />

nach sage und schreibe zweieinhalb Stunden im Parkh<strong>aus</strong> am<br />

Flughafen angekommen. 320 Kilometer!<br />

So wie in seiner Freizeit verhält er sich auch in seiner Firma.<br />

Seine Hand zittert nervös, wenn er den Telefonhörer hält.<br />

Wenn andere noch schlafen, sitzt er frühmorgens schon hinter<br />

dem Schreibtisch, wenn er nicht irgendwo in Norddeutschland,<br />

Holland, Österreich oder in der Schweiz auf Kundenbesuch<br />

ist, und das auch manchen Samstag- oder Sonntagmorgen.<br />

Über hundertt<strong>aus</strong>end Kilometer ist er im Jahr mit seinem<br />

Wagen unterwegs, und er hat noch keinen nennenswerten<br />

Unfall gehabt. Einfach ein sicherer, wenn auch schneller Fahrer.<br />

Seine Firma geht ihm über alles. Er ist ihr mit Leib und<br />

Seele verschrieben und nichts ist ihm zu viel. Auch hat er schon<br />

manche kleinere, schlecht gehende Firma aufgekauft, umgekrempelt<br />

und zurück in die Gewinnzone geführt. Er hat die<br />

Überzeugungskraft, die Klarheit, den Mut zur Veränderung<br />

und die Ausstrahlung, die Mitarbeiter schätzen. Und seine<br />

Begeisterungsfähigkeit zieht alle mit. Sie als Leser können sich<br />

leicht vorstellen, dass ein solcher Mann eigentlich nie Zeit für<br />

Urlaub hat, wenn man einmal von den zwei Wochen absieht,<br />

die er jeden Sommer mit seiner langjährigen Freundin Ursula<br />

in irgendeinem Hotel in Deutschland verbringt. Heiraten will<br />

74


er sie nicht. Dafür hat er kein Geld und keine Zeit. Eine Familie<br />

muss später kommen, wenn er Zeit hat, sagt er.<br />

Mit ihm Schach zu spielen, macht Spaß. Bei seinem Temperament<br />

brütet er nicht lange über einen Zug nach, wie manch<br />

andere Gegner, die einen zur Verzweiflung bringen können,<br />

indem sie einfach nicht ziehen. Zum Schachspielen am Sonntagnachmittag<br />

hat er immer Zeit. An einem solchen Nachmittag,<br />

wir saßen über einer Partie im Clubh<strong>aus</strong>, erwähnte ich,<br />

dass ich mit einigen Tenniskameraden zur Vorbereitung auf<br />

die Medenrunde in den Club Aldiana nach <strong>Fuerteventura</strong> fahren<br />

würde. Schon in den Jahren zuvor hatte ich ihn gefragt, ob<br />

er nicht mitkommen wolle. Zehn Tage seien zu lang, sagte er.<br />

Er könne es sich nicht erlauben, so lange vom Geschäft fernzubleiben.<br />

Vielleicht einmal, wenn er etwas älter sei. Diesmal<br />

stellte ich die gleiche Frage, ohne zu erwarten, dass er zusagen<br />

würde.<br />

„Du bist jetzt älter geworden. Wie lange willst du noch warten?<br />

Bis du 75 oder 80 bist? Alle Türen sind dann schon verschlossen.<br />

Das Leben geht an dir vorbei, und du kannst das<br />

Rad nicht mehr zurückdrehen. Die Abwechslung wird dir guttun.<br />

Die Meeresluft, das Joggen am Strand, die Männergespräche<br />

um Tennis und Frauen. Du wirst mit neuen Ideen zurückkommen.<br />

Das in deiner Firma Versäumte wirst du, erholt,<br />

schnell aufholen. Der frische Sauerstoff in deinen Gehirnzellen,<br />

die außerdem durch das Schachspiel gestählt werden, wird<br />

dafür sorgen. Die Zeit ist wie eine Hure. Den einen verwöhnt<br />

sie mit süßem Honig, den anderen bestraft sie mit Bittermandeln.<br />

Lass dich mal mit süßem Honig verwöhnen.“<br />

Auf die letzten drei Sätze war ich richtig stolz. Sie trafen<br />

den Nagel auf den Kopf.<br />

Ich traute meinen Ohren kaum, als er seinen nächsten Zug<br />

machte und dazu mit fester Stimme sagte: „Schachmatt.“ Ein<br />

75


Bungalow im Aldiana Club<br />

breites Lächeln breitete sich über sein ganzes Gesicht <strong>aus</strong> und<br />

er fügte hinzu: „Ich gehe mit und nehme auch Ursula mit.“<br />

Er hatte bei dem Spiel meine Unaufmerksamkeit <strong>aus</strong>genützt.<br />

Unfair. Das wird er mir büßen müssen. Die Gelegenheit dazu<br />

würde sich im Club ergeben. Ich hatte eine Idee. Die Revanche<br />

sollte er nie vergessen. Aber ich konnte zu diesem Zeitpunkt<br />

nicht wissen, welch fürchterliche und zerstörerische Wendung<br />

dies einmal nehmen sollte.<br />

Der Aldiana Club liegt im Süden von <strong>Fuerteventura</strong>, der<br />

zweitgrößten Kanareninsel. Dieser Teil wird auch als Halbinsel<br />

Jandia bezeichnet, der nächstgelegene kleinere Ort ist Morro.<br />

Hinter dem großen, im spanischen Stil gehaltenen Rezeptionsgebäude,<br />

den vielen kleinen, weiß getünchten Bungalows<br />

mit roten Dächern in einer parkähnlichen Gartenanlage, erhebt<br />

sich ein dunkler Bergrücken, kahl, ohne erkennbare Ve-<br />

76


getation, in den blauen Himmel. Er besteht <strong>aus</strong> kantigen Gesteinsbrocken<br />

vulkanischen Ursprungs. Vielleicht ist er 400<br />

Meter hoch an seiner höchsten Stelle. Bei früheren Aufenthalten<br />

hatte ich den Berg, der eine ebenmäßige, aber auch düstere<br />

Schönheit besitzt, Camelback genannt, in Anlehnung an den<br />

ähnlich <strong>aus</strong>sehenden Bergrücken mitten in der Stadt Phoenix<br />

in Arizona, aber dessen Begehung nicht gerade zu empfehlen<br />

ist wegen der dort wimmelnden Klapperschlangen, die in jeder<br />

Felsspalte lauern können. Hier in <strong>Fuerteventura</strong> gibt es aber<br />

keine Schlangen, auch keine Skorpione oder anderes giftiges<br />

Getier. Auch keine Raubtiere wie wilde Hunde oder Schakale.<br />

Eine Wanderung durch die zerklüfteten Berge mit ihren<br />

Schluchten, Schründen, Felsvorsprüngen und Simsen ist deshalb<br />

<strong>aus</strong> dieser Sicht gesehen ganz unbedenklich. Das Einzige,<br />

was dem Wanderer wirklich gefährlich werden kann, ist ein<br />

Sturz, bei dem er sich den Fuß bricht. So schnell würde er nicht<br />

gefunden werden, denn in den verlassenen Bergen sind keine<br />

Menschen unterwegs, nicht einmal Hirten. Nur wenige Ziegen<br />

würden vielleicht an ihm herumschnuppern. Die wenigen<br />

Wassertropfen, die sich vielleicht an einem Felsüberhang<br />

vom dünnen Tau am Morgen niederschlagen würden, könnten<br />

seinen Durst nicht löschen. Das ist auch ein Aspekt, den er<br />

zu bedenken hätte.<br />

Wir hatten eingecheckt. Jeder von uns Tennisspielern hatte<br />

seinen Bungalow bezogen. Anton zusammen mit Ursula. Ich<br />

allein. Heute Nachmittag noch würden wir ein Doppel spielen.<br />

Morgen ist frei. Nach einem <strong>aus</strong>giebigen Frühstück ergriff<br />

ich die Initiative.<br />

„Anton, was hältst du von einer kleinen, etwa dreistündigen<br />

Wanderung? Über den Berg da drüben? Den Camelback?<br />

Erster Höcker, zweiter Höcker mit anschließendem Kopf? Keiner<br />

der Einheimischen hier weiß, wie er richtig heißt. Vielleicht<br />

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hat er gar keinen Namen, denn diese Gegend war gottverlassen,<br />

bevor der Tourismus in den 70er Jahren einsetzte. Die Spanier<br />

haben hier früher ihre Gefangenen <strong>aus</strong>gesetzt, politische<br />

Gegner hierher verbannt. Der für die Regierung unbequeme<br />

spanische Philosoph und Schriftsteller Miguel de Unamuno war<br />

in den 20er Jahren hierher in die Einsamkeit ohne kulturelles<br />

Ambiente, in die totale Isolierung gebracht worden. Hier konnte<br />

er kein Unheil mehr anrichten.<br />

Doch im Baedeker Reiseführer habe ich einen Namen für den<br />

Berg entdeckt: Aguda. Auf Deutsch übersetzt heißt das Wort<br />

so viel wie hoch oder spitz. Einmal war ich schon oben. Vor<br />

Jahren. Du wirst mit einer atemberaubenden Aussicht belohnt,<br />

wie man sie nicht noch einmal auf der Insel hat. Gehst du mit?“<br />

Begeistert wirkte er gerade nicht, aber er nickte. „Lass uns<br />

den Ausflug erst in einigen Tagen machen“, gab er zur Antwort,<br />

„wenn wir uns etwas eingelebt haben.“<br />

Wahrscheinlich wäre ihm ein scharfes Tennismatch lieber<br />

gewesen. Die Tage vergingen wie im Flug. Es war so weit.<br />

Ich wachte in meinem Bungalow auf und öffnete die grünen<br />

Läden. Der blaue Atlantik lag vor mir. Ich hatte ein ungutes<br />

Gefühl. Eine innere Unruhe, die ich nicht erklären konnte. Es<br />

ist doch nur ein ungefährlicher Ausflug, sagte ich mir immer<br />

wieder. Anton ist ein netter Kerl, und wir werden Spaß haben.<br />

Ich schnallte meinen kleinen Rucksack auf den Rücken. Wir<br />

überquerten die Straße und nach wenigen hundert Metern ging<br />

es schon bergauf. Steine und Felsbrocken lagen wahllos auf<br />

Schotter, der <strong>aus</strong> rundgeschliffenen Steinchen bestand. Sie rollten<br />

unter unseren Tennisschuhen weg. Wir bewegten uns dementsprechend<br />

ungeschickt wie auf Kugellagern. Sie hatten eine<br />

rostbraune Farbe, als ob sie mit Eisenoxid überzogen wären.<br />

Die Felsbrocken wurden größer und zahlreicher als es noch<br />

steiler wurde, und bald schwangen wir uns von einem Felsen<br />

78


zum anderen, immer den einfachsten und gangbarsten Weg<br />

nach oben suchend. Längst schon benutzten wir unsere Hände,<br />

um uns an hervorstehenden Vorsprüngen zu stützen und<br />

zu halten. Nach einer halben Stunde hatten wir den ersten<br />

Höcker des Bergs erreicht. Wir legten eine kurze P<strong>aus</strong>e ein.<br />

„So anstrengend hatte ich mir das nicht vorgestellt“, meinte<br />

Anton, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte.<br />

Mein Hemd war auch schon durchnässt. Die Sonne schien erbarmungslos<br />

<strong>aus</strong> dem wolkenlosen Himmel auf uns herab.<br />

„Aber ich dachte immer, dass wir doch durchtrainierte und<br />

konditionsstarke Tennisspieler sind“, bemerkte ich etwas spöttisch.<br />

Über den Bergkamm gingen wir, manchmal über mannshohe<br />

Felsen steigend, zum zweiten Höcker weiter.<br />

Ich entdeckte in einer schattigen Felsspalte eine gelbe Blume,<br />

deren Blätter <strong>aus</strong> Dornen bestanden. Eine blühende Pflanze<br />

in dieser lebensfeindlichen Umgebung! In einer Gegend, in<br />

der manchmal in einem ganzen Jahr nicht einmal ein Tropfen<br />

Regen fällt. Erstaunlich, wie stark der Willen zum Leben in<br />

solchen Pflanzen entwickelt ist. Sie blühen unter den widrigsten<br />

Bedingungen, die letzte Kraft wird mobilisiert, nur um Samen<br />

zu bilden, nur um sich fortzupflanzen. Und weit hinten<br />

im Tal vor dem höchsten Berg <strong>Fuerteventura</strong>s, dem 800 Meter<br />

hohen Pico de la Zarza, bewegten sich schwarze Punkte, Ziegen,<br />

die auch noch das letzte keimende Pflänzchen zwischen<br />

den Steinen finden und fressen werden. Ziegen, die von der<br />

EU subventioniert sind und die jede noch so spärliche Vegetation<br />

vereiteln. Kontraproduktiv. Diese gelbe Blume ist ihnen<br />

entgangen. Sie hat es bis zum Blühen geschafft.<br />

Die Wolken zogen von Westen auf, kletterten an der Westküste<br />

die steilen Abhänge hinauf und quollen über den Pico de<br />

la Zarza herein. Wie ein weißes Tischtuch, das über den Berg<br />

gezogen wird. Sie fielen in das Tal der Ziegen. Noch während<br />

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des Falls verdampften sie, ohne jemals den Talboden erreicht<br />

zu haben. Sie können nicht abregnen. Der Berg ist zu nieder.<br />

Anton und ich beobachteten das Sch<strong>aus</strong>piel. Immer wieder<br />

andere Wolkenformationen. Diese eine müsste das Tal erreichen,<br />

sie ist so groß, so mächtig, sie kann doch nicht einfach<br />

nur verschwinden? Doch plötzlich hatte auch sie sich aufgelöst.<br />

Das Kommen und Gehen der Wolken kann tagelang so<br />

weitergehen und der Beobachter wird nicht müde, zuzuschauen.<br />

Vögel kreisten über uns. Spielten sie mit dem Wind, der konstant<br />

<strong>aus</strong> Nordosten blies? Dem Nordostpassat? Sie nützten<br />

die Thermik <strong>aus</strong>. Es ist dieser Wind, mit dem manche Segler<br />

mit einem einmal gesetzten Segel auf einer Kufe, ohne Wende<br />

oder Halse, über den Atlantik segeln können und in Südamerika<br />

nach zehn Tagen ankommen. Waren es Bussarde auf der<br />

Suche nach den wenigen mageren Feldmäusen? Oder nach den<br />

putzigen Streifenhörnchen, die mehr <strong>aus</strong> Fell als Körper bestehen?<br />

Während Anton sich vor mir mit seinen feschen Waden von<br />

Fels zu Fels schwang und auf dem Geröll gelegentlich rutschte,<br />

erinnerte ich mich an eine frühere Schlitterpartie mit meinem<br />

Sohn, und ich verlor mich in Gedanken. Vor vielen Jahren,<br />

es war in den langen Sommerferien, wollte ich mit meinem<br />

Sohn schon einmal einen ähnlichen Berg besteigen. Wir<br />

verbrachten unsere Ferien an der Costa del Sol, genauer gesagt<br />

in Fuengirola nicht weit von Marbella. Als das erste richtige<br />

Geld <strong>aus</strong> meiner Firma floss und ich in eine hohe Steuerprogression<br />

geriet, wollte ich besonders gescheit sein und beteiligte<br />

mich an einer sogenannten Verlustgesellschaft. Verlustzuweisung,<br />

das war das Zauberwort der 70er Jahre. So konnte<br />

ich einen Teil meiner Steuern sparen, hatte dafür aber eine<br />

Beteiligung an einer dubiosen Firma am Hals. In diesem Fall<br />

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an der Pan-International. Das war eine neue Airline. Die neuen<br />

britischen BAC One Eleven-Maschinen wurden geflogen.<br />

Charterflüge für den Reiseveranstalter Pan Europa, eine<br />

Schwesterfirma von Pan-International und auch für andere<br />

P<strong>aus</strong>chalreiseanbieter. Das Geschäft florierte angeblich glänzend,<br />

so dass die Gesellschaft nach kürzester Zeit zwei weitere<br />

große Maschinen, die damalige, häufig geflogene Boeing 707,<br />

für den Ferntourismus hinzukaufte. Die Firma hatte einen<br />

zwanzig Seiten starken Prospekt in den Reisebüros <strong>aus</strong>liegen,<br />

der grafisch auf kaschiertem Kunstdruckpapier mit seinen<br />

Aufnahmen von fernen Ländern und von der Ausstattung der<br />

Flugzeuge dem Betrachter fast den Atem raubte. Als ich ihn<br />

durchblätterte, schwoll mir die Brust: „Das ist auch meine Firma!<br />

Die verstehen ihr Geschäft.“ Und eines Tages boten sie<br />

mir als Miteigentümer einen stark verbilligten Flug nach Malaga<br />

an. Mir und meiner großen Familie.<br />

„Wir fliegen im eigenen Flugzeug“, rief ich den Kindern zu.<br />

Natürlich stimmte das nicht, denn ich hatte nur eine kleine<br />

Beteiligung und die Firma stand kurz vor der Pleite, was ich<br />

natürlich nicht wusste. Die Finanzierungskosten für die Flugzeuge<br />

waren zu hoch, die Flugzeuge gehörten schon längst der<br />

Bank. Als dann ein Jahr später eine One Eleven kurz nach dem<br />

Start in Fuhlsbüttel in Brand geriet, danach auf der Autobahn<br />

notzulanden versuchte und an einem Brückenpfeiler zerschellte,<br />

wobei von den 115 Insassen 21 den Tod fanden, sperrten<br />

die Banken alle Kredite und die Firma ging in Konkurs. Totalverlust.<br />

Zwei bei der Firma beschäftigte Mechaniker hatten<br />

einen Fehler bei der Betankung des Flugzeugs gemacht. Anstatt<br />

destillierten Wassers hatten sie Benzin in die dafür vorgesehenen<br />

Behälter eingefüllt. Beim Starten einer voll beladenen<br />

Maschine dieses Flugzeugtyps wird nämlich Wasser in die<br />

Triebwerke zusätzlich eingespritzt, um die Schubkraft durch<br />

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die Dampfentwicklung des eingespritzten Wassers zu erhöhen<br />

und nicht Benzin, das zur Explosion der Triebwerke führt.<br />

Die Mechaniker schüttelten nur den Kopf. „Wasser, das kann<br />

nicht sein. Ein Flugzeug fliegt niemals mit Wasser.“ Und sie<br />

füllten Benzin ein, das die Triebwerke explodieren ließ.<br />

Unter Berücksichtigung der teilweise vom Finanzamt anerkannten<br />

Verluste hatte ich 50 000 DM verloren. Viel Geld für<br />

damalige Verhältnisse.<br />

So waren wir in Fuengirola gelandet. Mein Sohn war 13 Jahre<br />

alt und voller Tatendrang. Die drei Mädchen 11, 9 und 6<br />

Jahre alt. Ich hatte den Eindruck, dass er darunter litt, sich<br />

gleich mit drei Schwestern <strong>aus</strong>einandersetzen zu müssen.<br />

Vielleicht fühlte er sich auch manchmal zurückgesetzt. Mädchen<br />

weinen bei dem geringsten Anlass und setzen sich so mit<br />

ihren Wünschen eher durch. Ich dachte: „Er sollte seinen Vater<br />

einmal ganz für sich alleine haben. Einen ganzen Tag lang.<br />

Wie wäre es, wenn wir zusammen eine Wanderung in die Berge<br />

machten? Einen Tag lang nur wir beide?“<br />

Aus einem Fenster unseres Appartments konnten wir einen<br />

Berg in der Ferne erkennen. Er hatte Ähnlichkeit mit dem Camelback,<br />

den wir gerade bestiegen. „Das ist unser Ziel“, rief ich<br />

<strong>aus</strong>. „Diesen Berg werden wir erklimmen.“<br />

Wir packten für jeden ein Vesperbrot ein und nahmen einige<br />

Flaschen Wasser mit. Nach dem Frühstück machten wir uns<br />

auf den Weg. Der Weg zog sich hin und wir redeten<br />

miteinander. Ich wollte alles von ihm wissen, was ihm Freude<br />

machte, was er sich wünschte, von der Schule, seinen Lehrern<br />

und alles über seine Freunde. Was ihn bewegte. Wir hatten am<br />

Tag zuvor jeder ein Jo-Jo gekauft. Wir übten während des Gehens.<br />

Es rollte sich ab und wieder auf. Er war darin so gut,<br />

dass er bald richtige Kunststückchen damit <strong>aus</strong>führen konnte.<br />

Ich gab mich geschlagen, ich war keine Konkurrenz für ihn. Er<br />

82


freute sich darüber, dass er in dem Spiel besser war als ich.<br />

Aber nicht nur in diesem Spiel war er besser. Ich spielte hin<br />

und wieder mit ihm das chinesische Spiel „Go“. Das ist ein<br />

strategisches Brettspiel mit beliebig vielen Steinchen. Die Chinesen<br />

verwenden gelegentlich dazu auch Bohnen. Das Ziel des<br />

Spiels ist es, die Steine so zu setzen, dass die gegnerischen Steine<br />

eingezingelt werden, nicht mehr fahren können und daher<br />

weggenommen werden können. Erst kürzlich habe ich gelesen,<br />

dass es bis heute noch nicht gelungen sei, ein einigermaßen<br />

brauchbares Computerprogramm dafür zu schreiben, ähnlich<br />

einem Schachprogramm. Zu kompliziert. Der Möglichkeiten<br />

zu viele. Ich bin jedoch überzeugt, dass dieses Problem in der<br />

Zukunft auch gelöst werden wird. Meistens verlor ich. Der<br />

Junge konnte denken. Er war einfach gut.<br />

Er fragte mich: „Daddy, warum müssen wir eigentlich den<br />

Berg besteigen? Was gibt es Besonderes da oben? Wir sind doch<br />

jetzt schon so weit gelaufen.“<br />

Ich antwortete: „Weißt du, es ist immer gut, wenn man sich<br />

ein Ziel setzt. Ein besonderes Ziel ist eben der Gipfel eines Bergs.<br />

Von da geht es nicht mehr weiter. Von da kannst du nach allen<br />

Richtungen blicken. Die Aussicht ist unvergleichlich schön.<br />

Die Welt liegt dir zu Füßen. Nach dem anstrengenden Aufstieg<br />

wirst du mit einem Glücksgefühl belohnt. Du hast das<br />

dir gesteckte Ziel erreicht, das dir selbst Vorgenommene geschafft.<br />

Manche Menschen suchen sich dafür sogar sehr hohe<br />

Berge <strong>aus</strong>, wie den Kilimandscharo, den höchsten Berg Afrikas,<br />

oder den Mount Everest, den höchsten der Welt. Manchmal<br />

setzen sie dabei sogar ihr Leben aufs Spiel.“<br />

Als wir mit dem Aufstieg begannen, rutschte ich auf dem<br />

Geröll fünf Meter ab. Vergeblich versuchte er, mich zu stützen.<br />

Ich hatte mich nicht verletzt, aber er baute sich vor mir<br />

auf und sagte:<br />

83


„Auch von hier <strong>aus</strong> haben wir einen weiten Blick ins Land.<br />

Warum sollen wir denn auf die Spitze klettern? Wir werden<br />

dort nichts Anderes sehen als von hier. Es wird sehr lange dauern,<br />

bis wir oben sind. Wir werden erst in der Nacht zurückkehren.<br />

Lass uns doch lieber jetzt umkehren.“<br />

Ich überlegte. Er hatte recht. Manchmal sollte man sein sich<br />

gestecktes Ziel, wenn noch Zeit dazu ist, aufgeben. Auch in<br />

dieser schattigen Felsnische können wir die mitgebrachten<br />

Brote essen und unsere Flaschen leeren. Wir müssen dazu nicht<br />

auf dem Gipfel sein.<br />

Und gestärkt wanderten wir, immer noch Jo-Jo spielend,<br />

zurück zu unserem Appartment, kamen viel zu früh an und<br />

luden die anderen ein, mit uns Monopoly zu spielen.<br />

Meine Gedanken kehrten zurück, als Anton vor mir stolperte.<br />

Den zweiten Höcker hatten wir erreicht. Anton atmete tief.<br />

Er schaute auf meinen Rucksack. Sagte aber nichts. Ich lächelte<br />

innerlich. Er glaubte wohl, dass im Rucksack etwas zu trinken<br />

war. Kühles Wasser in Flaschen zum Beispiel, eingewickelt<br />

in nasse Tücher. Wenn er sich nur nicht täuschte. Der steilste<br />

und schwerste Aufstieg zur Bergspitze stand bevor. Klettern<br />

über hohe, kantige Felsbrocken war angesagt. Auf allen Vieren.<br />

Wir halfen uns gegenseitig. Zogen uns gegenseitig hoch.<br />

Von Felsplattform zu Felsvorsprung. Zerklüftete braune Felsen,<br />

die mit ihren bizarren Formen jede gestalterische Fantasie<br />

übertrafen. Nur jetzt nicht abrutschen. Die Tennisschuhe<br />

bewährten sich besser als ich erwartet hatte. Jetzt nur noch<br />

wenige Meter. Wir standen oben! Auf der Bergspitze! Nach<br />

dem Erklimmen eines Berggipfels breitet sich bei den meisten<br />

Menschen ein euphorisches Gefühl <strong>aus</strong>. So auch bei uns. In<br />

diesem Überschwang der Gefühle schweifte unser Blick von<br />

Norden nach Süden und von Westen nach Osten. Es war<br />

schaurig schön. Braune Wüste mit zerklüfteten, braunen Ber-<br />

84


gen. Kahl, vegetationslos. Dahinter, wie in einer plötzlich einsetzenden<br />

Farbexplosion, das blaue Meer mit einem darüber<br />

gespannten, hellblauen Himmel, über den weiße Kumuluswolken<br />

jagten. Am fernen Horizont entdeckten wir Wanderdünen.<br />

Das musste die Sotavento-Beach sein. Bunte Flecken auf<br />

dem Meer. Surfer mit ihren farbigen Segeln. Hier werden hin<br />

und wieder die Weltmeisterschaften im Surfen <strong>aus</strong>getragen.<br />

Wie die jungen Leute das Brett beherrschten. Schlugen Saltos<br />

mit ihrem Brett. Landeten auf einer Welle und sprangen wieder<br />

durch die Luft. Und dort waren größere Farbtupfer, weiß und<br />

rot. Katamarane, die das Wasser wie Butter schnitten und mit<br />

ihren Segeln fast das Wasser berührten. Unwirklich, nicht in<br />

die Landschaft passend, breitete sich vor uns ein großer, grüner<br />

Fleck <strong>aus</strong>. Wie eine Oase. Der Aldiana Club. Den leichten<br />

Wind spürten wir auf unserem Gesicht, auf unserer Haut. Wir<br />

atmeten die gefilterte pollenfreie Luft des Atlantiks ein und<br />

den Staub des Schotters <strong>aus</strong>. Reinigten so die Lungen. Der Puls<br />

ging wieder auf normal zurück. Und wieder sah ich, wie Antons<br />

Blick auf meinen Rucksack geheftet war. Zwei Meter unter<br />

uns war eine Ausbuchtung unter einem Felsvorsprung. Wie<br />

eine kleine Höhle. Davor lagen in einer Reihe drei große Steine<br />

aufgetürmt, eine Sitzgelegenheit für Anton, eine für mich und<br />

zwischen uns ein natürlicher Tisch. Meine Erinnerung von<br />

meiner ersten Besteigung hatte mich nicht im Stich gelassen.<br />

Damals hatte ich mich auf einen der Steine gesetzt und mit<br />

meinen Walkman Musik gehört. Damals jedoch hatte ich diese<br />

unerklärliche Unruhe in mir nicht gespürt.<br />

„Lass uns hier Rast machen“, schlug ich Anton vor. Ich setzte<br />

mich und nahm umständlich den Rucksack ab. Öffnete ihn<br />

langsam. Ließ die Schnur gemächlich durch die Hand gleiten.<br />

Gespannt folgte Anton dem Vorgang. Gibt es Wasser?<br />

85


Zum Vorschein kam aber ein Schachbrett! Ich griff in den Rucksack<br />

und kramte auch noch die Schachtel mit den Figuren her<strong>aus</strong>.<br />

Helle Freude breitete sich auf Antons Gesicht <strong>aus</strong>. Seine<br />

Mundwinkel strebten nach oben seinen Augen zu.<br />

„Ein Schachspiel“, rief er entzückt. „Du bist doch ein verrückter<br />

Kerl!“ Und schon hatte er das Brett auf den natürlichen<br />

Tisch zwischen uns gelegt und die Figuren aufgestellt.<br />

„Willst du Schwarz oder Weiß?“, fragte er, „und ich dachte<br />

die ganze Zeit, dass du zwei Flaschen Wasser in deinem Rucksack<br />

hättest. Aber ehrlich, lieber spiele ich mit dir eine Partie<br />

Schach und bleibe eben ein bisschen länger durstig.“<br />

„Ich spiele mit Schwarz“, und zog, während ich das sagte,<br />

zwei gekühlte Flaschen mit Wasser <strong>aus</strong> dem Rucksack her<strong>aus</strong>.<br />

„Wie du siehst, habe ich auch an den Durst gedacht.“<br />

Jetzt war das Glück perfekt. Die Seeluft des Atlantiks in den<br />

Bronchien, ein Schluck kalten Wassers in der Kehle, ein Ausblick<br />

auf die Sotavento-Beach und ein Schachspiel vor den<br />

Augen. Das alles ließ das Herz bis zum Anschlag schlagen.<br />

Anton aber wusste nicht, dass das die geplante Inszenierung<br />

für meine Revanche war. Der Ort war dazu wie geschaffen,<br />

und die Zeit gekommen. Ich wollte bei dieser Partie auch nicht<br />

den geringsten Vorteil haben, nicht einmal den Anzugsvorteil<br />

von Weiß. Deshalb hatte ich Schwarz gewählt. Er zog mit dem<br />

Königsbauern, seiner Standarderöffnung. Er liebte es, sofort<br />

anzugreifen. Mit dem größtmöglichen Risiko. Koste es, was es<br />

wolle. Wie beim Tennisspiel, Hopp oder Topp. Ich wählte die<br />

passive Caro-Kann-Verteidigung, genannt nach zwei Österreichern,<br />

die sie in den 20er Jahren erforscht hatten. Allerdings<br />

dauerte es dann sehr lange, bis sie zum ersten Mal 1958 bei<br />

einer Weltmeisterschaft angewandt wurde, und zwar von dem<br />

damals amtierenden Weltmeister Botwinnik, Meister der strategischen<br />

Planung, Meister der Verteidigung, um im Endspiel<br />

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Der Wanderweg über den H<strong>aus</strong>berg – „Camelback“<br />

mit einem Bauernvorteil das Spiel zu gewinnen. Zermürbende<br />

und nervenaufreibende Geduldspartien.<br />

Sollte Anton sich doch bei seinem überstürzten Angriff die<br />

Zähne <strong>aus</strong>beißen. Steckenbleiben. Ich hatte Zeit. Wie war das<br />

doch? Die Zeit ist wie eine Hure. Den einen verwöhnt sie mit<br />

süßem Honig, den anderen bestraft sie mit Bittermandeln. Eines<br />

Tages wird sie dich verführen, wird sie ihn verführen, den<br />

falschen Zug zu machen.<br />

Nicht, dass es zu wichtig wäre, wer gewinnt, versichert man<br />

sich gegenseitig, aber denken tut man anders. Den anderen<br />

schachmatt zu setzen ist ein geiles Gefühl. Und außerdem winkt<br />

der Wetteinsatz von zehn Euro. Die will ich wieder haben, die<br />

ich beim letzten Mal verloren hatte.<br />

Die Caro-Kann-Verteidigung glitt in die französische Verteidigung<br />

ab, die Schachvariante, die ich von allen am besten<br />

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kannte. Jetzt hatte er verloren! Und nach einigen weiteren<br />

Zügen gab er auf, nachdem er mit einer Figur im Rückstand<br />

lag. Er zog seinen Geldbeutel <strong>aus</strong> der Tasche und legte die zehn<br />

Euro auf das Brett.<br />

Wir begannen mit dem Abstieg auf der anderen Seite des<br />

Bergs. Geröll unter den Schuhen. Gefährlich. Er stürzte. Verletzte<br />

sich am Knie. Blutete. Wir mussten noch langsamer gehen.<br />

Schließlich kamen wir am Meer an, an einem breiten Sandstrand.<br />

Das Schwimmen im kalten Meerwasser wusch den<br />

Schweiß und den braunroten Staub von unserer Haut, verjagte<br />

unsere Gedanken von dem gerade zu Ende gegangenen Spiel.<br />

Und das Salzwasser desinfizierte die Wunde an Antons Knie.<br />

Dann drohte Anton: „Warte nur den heutigen Nachmittag<br />

ab. Du bist heute mein Gegner und nicht mein Partner im Doppel.<br />

Ich spiele mit Kurt. Du musst mit Frank vorlieb nehmen.<br />

Und meine Revanche im Schach kommt morgen.“<br />

Ich weiß: Nur durch Zufälle von reinster Vollkommenheit<br />

wird die Welt zur Spielerbühne. Der eine wird belohnt mit süßem<br />

Honig, der andere bestraft mit Bittermandeln.<br />

Wir waren an dem breiten Sandstrand angelangt, an dem<br />

sich Heinz‘stillgelegter Kalkofen an einer kleinen Felserhöhung<br />

anschmiegte. Heinz war der Eremit, der schon vor vielen Jahren<br />

den verlassenen Ofen bezogen hatte und von dem viele<br />

<strong>Geschichten</strong> im Umlauf waren. Ein nicht endendes Thema bei<br />

den Mahlzeiten im Aldiana Club.<br />

In einer Hinsicht waren alle einer Meinung, dass er ein hervorragender<br />

Masseur war und manch einer vom Club war<br />

schon auf der Betonplatte gelandet, die er in Arbeitshöhe vor<br />

dem Kalkofen aufgestellt hatte. Sie war mit geflochtenen Schilfmatten<br />

umgeben, um neugierige Blicke vom Strand herauf<br />

abzuhalten. Ich hatte Anton schon von diesem exzentrischen<br />

Mann erzählt, der eine sichere Existenz in Berlin aufgegeben<br />

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und gegen dieses Leben als Einsiedler einget<strong>aus</strong>cht hatte. Er<br />

brauchte keine Kleidung in diesem Klima. Er lief nackt umher,<br />

wie viele der Urlauber, die sich Steinburgen am Strand aufschütteten,<br />

um darin den Tag zu verbringen. Sie waren oft von<br />

der Sonne so gebräunt, dass man sie ohne Weiteres für Mulatten<br />

hätte halten können. Auch er war so braun, hatte strähnige<br />

blonde Haare, einen schlanken Körper und <strong>aus</strong>geprägte<br />

Gesichtszüge, denen, wenn man wollte, eine gewisse Verruchtheit<br />

andichten konnte. Denn es hatte sich natürlich herumgesprochen,<br />

dass er beileibe nicht nur massierte. Er soll eine<br />

Strichliste in seiner Beh<strong>aus</strong>ung an der Wand befestigt haben,<br />

in der er seine Eroberungen eintrug. Es sollen in den zehn Jahren<br />

über 500 Striche sein. Ehrbare Damen, die sich unbeobachtet<br />

fühlten und frei in ihrem Urlaub, waren nach einer<br />

gründlichen Massage eine leichte Beute für ihn. Der Sex war<br />

für die Damen unkompliziert, und es war einfach schön, mit<br />

einem Mann zu schlafen, der zärtlich war und potent. Ein kleines,<br />

verschwiegenes Abenteuer im Urlaub konnte nicht schaden.<br />

In dem verlassenen Kalkofen, der am Boden über und über<br />

mit weichen Schaffellen bedeckt war, roch es nach Parfüm,<br />

Liebe und auch ein bisschen nach Schaf.<br />

„Vielleicht kann er uns eine Binde für dein Knie geben“, sagte<br />

ich zu Anton. „Lass uns ihn aufsuchen. Meistens sitzt er<br />

draußen auf einem der großen Felsbrocken vor seiner Hütte<br />

und beobachtet die Menschen, die am Strand entlanggehen,<br />

wenn er gerade nichts zu tun hat.“<br />

„Das muss der Mann sein, von dem mir Ursula erzählt hat“,<br />

rief Anton. „Sie muss bei ihm gewesen sein. Ich sagte ihr, dass<br />

ich das nicht gut fände, aber sie erwiderte, es sei alles ganz<br />

harmlos und die Massage würde ihrem Rücken helfen.“<br />

Als wir uns dem Ofen näherten, hörten wir das Kichern ei-<br />

89


ner Frauenstimme. Der Zugang zum Ofen war mit einer Decke<br />

verhängt, damit man nicht hineinschauen konnte.<br />

„Heinz, hast du einen Moment Zeit?“, rief ich, wohlwissend,<br />

dass er beschäftigt war. Heinz antwortete: „Wir kommen<br />

gleich.“ Die beiden traten her<strong>aus</strong>. Er, wie immer, nackt. Sie mit<br />

einem Tuch um ihren Körper gewickelt, die blonden Haare<br />

hochgesteckt. Ich bemerkte, wie Anton kreidebleich wurde.<br />

Seine großen Hände ballten sich zu Fäusten, spreizten sich und<br />

ballten sich wieder. Alles Blut war <strong>aus</strong> seinem Kopf gewichen,<br />

als er vortrat und Heinz mit einer geraden Rechten niederstreckte.<br />

Dann fasste er die junge Frau mit beiden Händen. Sie<br />

schlossen sich um ihren Hals. Panik war in ihren Augen zu<br />

lesen. Sie wollte schreien, es gelang ihr nicht. Nur ein unterdrücktes<br />

Krächzen kam <strong>aus</strong> ihrer Kehle.<br />

„Das ist nicht so, wie du denkst, alles ist ganz anders, alles<br />

ist ganz harmlos, du musst dir keine Sorgen machen.“ Und<br />

wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Die junge Frau musste<br />

Antons Freundin Ursula sein. Sie hatte sich mit dem Eremiten<br />

eingelassen.<br />

Welch Katastrophe! Ich schrie: „Lass los, Anton, lass um<br />

Himmelswillen los“ und versuchte der jungen Frau zur Hilfe<br />

zu kommen, seine Hände <strong>aus</strong>einander zu wuchten, als mich<br />

ebenfalls ein Schlag im Gesicht traf und ich benommen zu<br />

Boden sank. Als ich wieder zu mir kam, lag Anton neben der<br />

jungen Frau im feuchten Sand weiter unten am Strand und<br />

weinte. Mit einer seiner großen Hände streichelte er zärtlich<br />

ihr Haar. Er war so verletzt, dass er sie mit seinen großen Händen<br />

in einem R<strong>aus</strong>ch von Wut und unendlicher Enttäuschung<br />

bewußtlos gewürgt hatte. Er war nicht er selbst gewesen.<br />

Neben mir lag ein kleines Handtäschchen. Ich öffnete es wie<br />

mechanisch, ohne nachzudenken, um nachzusehen, wem es<br />

wohl gehören könnte. Eine Ersatzhandlung. Ein kleines,<br />

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schwarzes Bikinihöschen kam zum Vorschein. Darunter lag<br />

ein grün-rot gestreiftes, angebrochenes Schächtelchen mit der<br />

Aufschrift Fromms Präservative. Ein Foto von Anton war auf<br />

der Klappenrückseite des Täschchens einrahmt mit der Aufschrift:<br />

„Für meine ganz große Liebe, für Ursula.“<br />

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Der Israeli<br />

eine wahre Geschichte<br />

Ich fuhr die B 31 entlang. Die Geschwindigkeit war zu hoch.<br />

Die kümmerlichen Reste der ehemaligen Heidenhöhlen waren<br />

in den rechts aufragenden Molasse-Felsen zu erkennen.<br />

Sipplingen tauchte auf. Mit dem charakteristischen schlanken<br />

Kirchturm, der zum Himmel ragte. Nicht ganz, denn die Spitze<br />

verschwand in den niedrig hängenden grauen Wolken, die<br />

langsam wie Nebelschwaden von dem noch graueren See aufzogen.<br />

Weit weg war das sich sonst im Frühjahr bietende Bild,<br />

das das Dorf und seine Umgebung in einem Farbenmeer zeigte,<br />

mit weißen Kirschblüten, hellgrünen Buchenblättern, kleinen<br />

Sanddornblüten und rosaroten Apfelblütenknospen. Farbenfrohes<br />

Sipplingen!<br />

Doch heute war ein grauer Novembertag, typisch für die<br />

Bodenseeregion. Die vorgeschriebene Geschwindigkeit durch<br />

Sipplingen war nur 30 km/h. Von der fast schwarzen Asphaltdecke<br />

spritzte schmutziges Wasser auf die Windschutzscheibe.<br />

Der Behälter für die Waschanlage war leer. Die kaputten<br />

Scheibenblätter schmierten. Ich rückte näher an die Scheibe<br />

heran, um besser sehen zu können. Eine Möwe flog tief über<br />

den Wagen. Krächzte und ließ fallen. Weißes. Die Wischer verarbeiteten<br />

auch diesen Dreck. Ein weißer Film auf der Scheibe<br />

blieb zurück. Trocknete. Es blitzte. Ich war in die Radarfalle<br />

getappt. Die Straße durch Sipplingen war für die Verkehrspolizei<br />

sicher ein einträgliches Geschäft. Hoffentlich wird das<br />

keine Punkte in Flensburg geben. Der frühe Novembermorgen<br />

fing ja heiter an. Was wird mich nur in meinem Büro in Singen<br />

erwarten, wenn der Tag schon so angefangen hat?<br />

„Sie sollen sofort zu Dr. Huber kommen“, sagte mir die Dame<br />

am Empfang lapidar, wobei sie ihr Gesicht verzog. Sie mochte<br />

92


den Doktor nicht. Ihre Vorgeherin hatte er kurzerhand r<strong>aus</strong>geschmissen.<br />

Sie hatte Angst vor ihm. Sie erwiderte meinen<br />

Gruß, allerdings ohne mich dabei anzusehen. Sie widmete sich<br />

ganz ihren Fingernägeln, die sie gerade mit einem grellen Rot<br />

lackierte. Auch gut. Sie passten zu ihrer hellen Haut, zu ihrer<br />

schlanken Figur und den viel zu hohen Stöckelschuhen, die<br />

ihre Füße schmücken sollten. Sofort zu dem Doktor kommen,<br />

verhieß nichts Gutes. Irgendetwas war wieder einmal schiefgelaufen.<br />

Ich sah ihn schon im Geiste hinter seinem protzigen<br />

Schreibtisch sitzen. Seine kleine Äuglein stachen schwarz. Er<br />

rückte auf seinem Sessel hin und her, fuhr mit seinen manikürten<br />

Fingern durch seine wild abstehenden grauen Haare,<br />

wie um sie zu bändigen, so, als ob er sich jetzt schon zusammenreißen<br />

müsste, um nicht einen cholerischen Anfall zu bekommen.<br />

Einmal jedoch, als er die Stimme viel zu laut erhob, war ich<br />

einfach <strong>aus</strong> dem Zimmer gelaufen und habe im Hin<strong>aus</strong>gehen<br />

gesagt:<br />

„Ich bin in diesem Betrieb nicht angestellt. Auf diese Weise<br />

reden Sie bitte nicht mit mir.“ Offenbar hatte er sich das gemerkt.<br />

Wenn er etwas von mir wollte, musste er höflich sein,<br />

wie es sich unter gebildeten Menschen gehörte. Auch keine<br />

lateinischen Sprüche wollte ich hören und schon gar keine<br />

Altgriechischen, die nur den Sinn haben konnten, mich daran<br />

zu erinnern, dass er im Gegensatz zu mir eine humanistische<br />

Ausbildung genossen hatte.<br />

„Endlich sind Sie da“, blaffte er.<br />

„Ich warte schon sehr lange auf Sie. Ich habe gestern Abend<br />

noch einen Anruf <strong>aus</strong> Hamburg erhalten. Die von uns nach<br />

Ihren Plänen gebaute und gelieferte Maschine ist nach kurzem<br />

Betrieb <strong>aus</strong>gefallen. Haben Sie eine Erklärung dafür? Der<br />

Kunde ist außer sich. Seine chemischen Reinigungsmaschinen<br />

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stehen. Er will uns regresspflichtig machen. Sie wissen ja, dass<br />

ich keinem Prozess <strong>aus</strong> dem Weg gehe. Ich genieße Prozesse<br />

sogar, wenn sie am Landgericht Konstanz stattfinden, aber in<br />

diesem Fall müsste ich nach Hamburg reisen, und das ist mir<br />

zu weit. Sie müssen heute noch nach Hamburg fahren und nach<br />

dem Rechten sehen“, schnauzte er im militärischen Ton, den<br />

er einfach nicht ablegen konnte. Strafbataillon 999 ließ grüßen.<br />

Wegen dieser kleinen Anlage sollte ich nach Hamburg fahren?<br />

Fast 2 000 km hin und zurück! Die Fahrt kostete mehr als<br />

die ganze Maschine wert war. Der Kunde hatte die billigste<br />

und kleinste Maschine gekauft. Ich hatte eine Vermutung. Der<br />

Bursche hatte kein Geld. Er reklamierte, damit er die fällige<br />

Rechnung nicht bezahlen musste. Ich kannte diese Masche. Ich<br />

hatte noch keinen Betreiber einer chemischen Reinigungsanlage<br />

kennengelernt, der bei uns eine Maschine gekauft und<br />

pünktlich bezahlt hatte.<br />

„Hat er denn die Rechnung schon bezahlt?“, wagte ich als<br />

Einwand.<br />

„Das spielt keine Rolle“, polterte der Doktor, der Betriebswissenschaft<br />

studiert hatte, aber immer noch Schwierigkeiten<br />

hatte, Kunden und Lieferanten <strong>aus</strong>einanderzuhalten. Irgendetwas<br />

musste in seinem Studium schiefgelaufen sein.<br />

„Und ob“, entgegnete ich. „Der Kunde spielt auf Zeit. Bei<br />

Besitzern von chemischen Reinigungsanlagen ist dies nicht<br />

verwunderlich. Keiner von ihnen hat Geld. Sie operieren am<br />

Existenzminimum. Doch wegen einer solchen Lappalie fahre<br />

ich nicht nach Hamburg. Der Aufwand ist nicht gerechtfertigt“,<br />

fügte ich noch erklärend hinzu.<br />

Der Doktor war mir nicht weisungsbefugt, da ich freier Mitarbeiter<br />

der Firma war. Bei diesem trüben Wetter auf nassen<br />

94


Autobahnen hatte ich nicht die geringste Lust auf eine zehnstündige<br />

Autofahrt nach Hamburg.<br />

Auf seinen überraschten Blick hin zeigte ich meine Bereitschaft,<br />

doch etwas zu unternehmen.<br />

„Ich rufe den Mann an. Ich biete ihm einen kleinen Nachlass<br />

auf die Rechnung an, wenn er innerhalb von 14 Tagen bezahlt.<br />

Sie werden sehen, dass er darauf eingeht und die Reklamation<br />

damit erledigt ist.“<br />

„Einverstanden. Tun Sie das aber gleich und informieren Sie<br />

mich sofort nach Ihrem Gespräch“, stichelte er weiter.<br />

Am Telefon sagte ich dem Mann zu, dass wir ihm einen weiteren<br />

Nachlass von fünf Prozent und ein verlängertes Zahlungsziel<br />

von weiteren vierzehn Tagen eingeräumt hatten. Ich<br />

sagte ihm auch zu, dass ein Monteur von uns in den nächsten<br />

zwei Wochen vorbeikommen würde, der ohnehin in Hamburg<br />

zu tun hatte. Damit war der Mann zufrieden. So falsch war<br />

also meine Einschätzung nicht gewesen. Wenn die Maschine<br />

wirklich nicht gearbeitet hätte, wäre er mit dieser Regelung<br />

sicher nicht einverstanden gewesen.<br />

Zurück in meinem Büro, finde ich meinen Schreibtisch mit<br />

Arbeit überhäuft vor. Die Werkstatt brauchte Zeichnungen.<br />

Ein Vortrag sollte in einem Ingenieurbüro in Frankfurt gehalten<br />

werden. Das Manuskript war noch nicht geschrieben. Technische<br />

Berichte sollten erstellt werden. Die Ausbildung von<br />

Technikern stand auf dem Programm, war immer wieder verschoben<br />

worden. Mein Kopf brummte nur vom Ansehen des<br />

herumliegenden Papiers. Sollte das mein Los in den besten Jahren<br />

meines Lebens sein? Ich war erst 45! Noch voller Unternehmungsgeist<br />

und Abenteuerlust! Sollte das viele Papier mich<br />

aufreiben, mich unter sich begraben? Das konnte ich doch nicht<br />

zulassen. Ich brauchte einen Befreiungsschlag!<br />

Draußen schien die Welt unterzugehen. Starker Wind war<br />

95


aufgekommen und pfiff, weiße Nebel vor sich hertreibend, um<br />

die Ecken des Hochh<strong>aus</strong>es. Ich schüttelte mich unwillkürlich,<br />

als ob der kalte Regen mir den Rücken hinunterlaufen würde.<br />

Meine Stimmung war auf dem Nullpunkt angekommen. Unserem<br />

Doktor ging es in einer solchen Stimmungslage besser.<br />

Er zog dann den Schreibtisch auf, schenkte sich einen doppelten<br />

Kognak ein, einen, den er eigentlich für Kundenbesuche<br />

bereithielt, schwenkte das Glas, bis das Getränk die richtige<br />

Temperatur erreicht hatte und zu duften anfing, und brachte<br />

es dann genüsslich zu Nase und Mund. Die Nasenflügel zitterten.<br />

Er schmatzte beim Trinken, als ob er essen würde. Französischer<br />

Kognak! Natürlich der Teuerste vom Teueren. Die<br />

Firma bezahlte ja. Kein Problem. Mir widerstrebte so etwas.<br />

Ich trank nur das im Büro, was ich auch selbst bezahlt hatte,<br />

wenn ich allein war und nicht gerade Kunden betreuen musste.<br />

Außerdem konnte ich so früh am Morgen keinen Alkohol<br />

vertragen. Er lähmte meine Initiative, blockierte meinen Verstand.<br />

Die Reisebroschüre in der Ablage starrte mich an. Bunte Segel<br />

auf azurblauem Meer. Kleine weiß getünchte Bungalows<br />

in grünen Gärten mit Palmen und Bougainvillea. Kahle Berge<br />

im Hintergrund. „Urlaub unter Freunden“ war aufgedruckt.<br />

„Gönnen auch Sie sich einen Urlaub im Aldiana Club <strong>Fuerteventura</strong>.“<br />

Verführerische Werbung. Nicht, dass ich den Club<br />

nicht kannte! Doch immer wieder faszinierten mich die Bilder.<br />

Ich sah mich schon im Geiste am Strand entlanggehen.<br />

Ein Sprung ins Wasser, das über mir zusammenschlug. Ich atmete<br />

tief durch. Das Salzwasser spürte ich auf meiner Zunge.<br />

Das könnte ich alles morgen haben!<br />

Die schwarzhaarige Hannelore schwebte vorbei. Erkannte<br />

mich, lag mir in den Armen. Ich fühlte, wie sich ihre empfindliche<br />

Brust an meiner rieb. Ich war im Himmel. Ich musste jetzt<br />

96


nur den Hörer aufnehmen und sie anrufen. Ich wusste, dass<br />

sie kommen würde, wenn sie es irgendwie nur einrichten konnte.<br />

Sie brauchte mich so wie ich sie. Zumindest einmal im Jahr<br />

vierzehn Tage lang.<br />

Doch zuerst war das Reisebüro an der Reihe. Versäumte ich<br />

irgendetwas, wenn ich morgen fliegen würde? Nein, es gab<br />

nichts Wichtiges, was unaufschiebbar wäre. Nur ein undefinierbares<br />

Hemmnis war in meinem Kopf, ein Relikt meiner<br />

Erziehung. „Du kannst das nicht machen. Du hast eine Verpflichtung<br />

deiner Familie gegenüber. Deinem Brötchengeber.<br />

Deinen von dir abhängigen Arbeitnehmern. Deinen Freunden.<br />

Deinen Tennispartnern in dem bevorstehenden Aufstiegsspiel.“<br />

Meine Hand bewegte sich dann doch zum Telefonhörer,<br />

nahm ihn ab, wählte die Nummer des Reisebüros. Ich hörte<br />

mich sagen: „Morgen will ich fliegen.“ Die Reisetante kannte<br />

meine überstürzten Wünsche. Sie fragte nicht einmal nach dem<br />

Reiseziel. Zu oft hatte ich den Club schon gebucht. Sie antwortete<br />

geschäftstüchtig:<br />

„Ein Platz ist noch frei, Flug Morgen um sechs ab Friedrichshafen.“<br />

„Ist auch ein Flug von Düsseldorf noch zu haben. Ja? Buchen<br />

Sie beide!“<br />

Anstatt nach Hamburg zu dem schlitzohrigen Kunden zu<br />

fahren, war ich jetzt gewissermaßen schon unterwegs nach<br />

<strong>Fuerteventura</strong>. Hurra! Abermals griff ich zum Hörer. Wie war<br />

noch die Nummer von Hannelore? Schon vergessen? Vorwahl<br />

von Köln. Jetzt hatte ich sie.<br />

„Du rufst mich doch an, wenn du fliegst?“, hatte sie gesagt.<br />

„Sicher? Oder wirst du mich ganz vergessen?“<br />

Wenn das der Doktor wüsste! Hannelore war seine Frau gewesen.<br />

Sie hatte ihn vor fünf Jahren verlassen und war von<br />

Singen nach Köln gezogen.<br />

97


Wie könnte ich sie je vergessen, sie und die Stunden mit ihr<br />

in der aufgetürmten Steinburg am leeren Fuertestrand? Die<br />

Stunden auf dem zerwühlten Bett bei offenem Fenster auf dem<br />

Rücken liegend mit freiem Blick auf das Meer? Das Necken<br />

beim Schwimmen im Meer, das anschließende Abtrocknen ihres<br />

perfekt geformten Körpers, mit der sonnengebräunten<br />

mediterranen Haut, an der das Salzwasser nur so herunterperlte.<br />

Solche Erlebnisse brauchte ich jetzt, um meine ganz<br />

unten angekommenen Lebensgeister wieder zu wecken. Abschalten,<br />

nur noch fühlen und lieben. Keine nervtötenden Überlegungen<br />

über Produkte, Kunden, Mitarbeiter mehr anstellen,<br />

keine unnützen Gedanken über Verkaufskurven und Statistiken<br />

verlieren, die nur zu weiteren Ideen führten, und in einem,<br />

wie die Amerikaner sagen, „vicious cycle“ enden konnten,<br />

sich in einem immer schneller werdenden Strudel wiederholten,<br />

bis der Kopf zu platzen drohte. Achtung! Das wäre die<br />

Vorstufe zur Migräne oder gar einem Herzinfarkt! Den könnte<br />

ich am wenigsten brauchen.<br />

Hannelore hatte zugesagt. Erlebnisreiche Tage standen mir<br />

bevor, die ich nie vergessen sollte.<br />

Ich hasste Zwischenlandungen. Diesmal war die Zwischenlandung<br />

in Lanzarote. Das Flugzeug schwebte unruhig ein.<br />

Seitenwind. Der Pilot setzte die Maschine hart auf und haute<br />

die Bremsen rein. Landungen mit starkem Seitenwind waren<br />

auch für erfahrende Piloten ein Gräuel. Das harte Aufsetzen<br />

sollte angeblich das Flugzeug besser auf der Landebahn halten.<br />

Dann beim Starten knallte ein Triebwerk, als ob es explodieren<br />

wollte. Strömungsabriss. Kam gelegentlich bei starkem<br />

Seitenwind vor. Der Mann neben mir mit arabischen Gesichtszügen<br />

war kreidebleich. Er beugte sich nach vorn, wie um einem<br />

Absturz vorzubeugen, und murmelte: „Bis mi Allah, bis<br />

mi Allah! – im Namen Gottes, wenn es nun sein muss.“<br />

98


Aldiana Club<br />

Von Lanzarote war es nur ein Katzensprung nach Porto del<br />

Rosario, dem Flughafen von Fuerte. Die Flughöhe war nur 800<br />

Meter. Der Seitenwind blies hier gen<strong>aus</strong>o wie in Lanzarote. Die<br />

Landung war auch beschissen.<br />

Im hohen Foyer des Aldiana Clubs, im spätspanischen Stil<br />

<strong>aus</strong> Holz gebaut, mit Kastenfenstern eingerahmt und einem<br />

Boden <strong>aus</strong> groben, unregelmäßigen rotbraunen Fliesen wurde<br />

ich von der spanischen Empfangsdame hinter dem Desk<br />

freundlich begrüßt. Wie hieß sie noch? Toni? Oder Aixa? Ich<br />

verwechselte die beiden immer noch, aber nicht im Aussehen,<br />

sondern nur in ihrem Namen. Hatte ich ihr nicht das letzte<br />

Mal eine Schachtel Pralinen mitgebracht? Sie revanchierte sich<br />

und teilte mir mit einem Augenaufschlag mit, den sie sich von<br />

früheren Jahren bewahrt hatte, dass sie Bungalow Nr. 757 für<br />

mich reserviert habe. Hannelore habe den Bungalow nebenan.<br />

Ich hatte zwei Bungalows gebucht. Wegen der Etikette, und<br />

99


ein bisschen Abstand konnte auch nicht schaden. Dieser Bungalow<br />

757 war direkt über den steilen Klippen gebaut und ließ<br />

die Farbe des Meeres und die salzige Atlantikluft unmittelbar<br />

durch die offenen, grün gestrichenen Läden in den Raum strömen.<br />

Nichts verdeckte die Aussicht auf das weite Meer, und<br />

die Terrasse war nicht einsehbar. Den in meiner heimlichen<br />

Fantasie vorgestellten Liebesspielen mit Hannelore im Freien<br />

stand nichts mehr im Wege. Ich hielt das Glas mit dem Orangensaft<br />

in der Hand. Ein Animateur sprach mich mit ›Du‹ an.<br />

Jetzt wusste ich, dass ich angekommen war. Die Erholung<br />

konnte jetzt beginnen. Toni sagte mir mit einem komplizenhaften<br />

Augenzwinkern, dass der Flug von Düsseldorf um einen<br />

Tag verschoben worden sei. Hannelore wird also einen Tag<br />

später ankommen.<br />

Immer, wenn ich hier im Aldiana Club ankam, fiel mir das<br />

Fischrestaurant am Strand von Morro ein, in dem ich mit Hannelore<br />

einen köstlichen Fisch gegessen hatte. Der Duft des Fisches<br />

mit dem Knoblauch stieg mir auch diesmal schon bei dem<br />

Gedanken förmlich in die Nase. Es war im Mesón Restaurante<br />

in Morro Jable bei dem guten alten Don Pedro.<br />

Don Pedro hatte mich damals in einen Nebenraum gebeten,<br />

wo auf einem Tisch mehrere Fische <strong>aus</strong>gebreitet lagen.<br />

Darunter war auch ein etwa 40 cm langer Red Snapper. Fangfrisch<br />

<strong>aus</strong> dem klaren Atlantik.<br />

„Wollen Sie diesen haben?“, hatte er mich gefragt.<br />

„Ich bereite Ihnen den Fisch in der Art zu, wie es die Guanchen<br />

auf der Insel machen. Der Fisch wird kurz abgespült, trockengerieben<br />

und die Flossen abgeschnitten. Die Haut wird<br />

mehrmals bis zu den Gräten eingeschnitten. Koriandergrün<br />

wird mit den Stängeln in den Fisch gelegt. Abgeriebene Orangenschale<br />

wird zusammen mit Orangensaft, Chilisoße, Olivenöl,<br />

Limettensaft und Worcestersoße verrührt und mit Salz, Pfef-<br />

100


fer, Kreuzkümmel und Cayennepfeffer gewürzt. Die Hauptsache<br />

aber ist der Knoblauch. Der Fisch wird mit einer einen<br />

Zentimeter dicken Schicht von in kleine Würfel geschnittenem<br />

Knoblauch belegt und mit der Gewürzmischung übergossen.<br />

Das Ganze wird in einem speziellen, mit Holzkohle beheizten<br />

Ofen gegart und gleichzeitig von oben gegrillt, bis der Knoblauch<br />

eine goldgelbe Farbe angenommen hat und die Haut des<br />

Fisches leicht brodelt. So wird der Fisch serviert. Sie werden<br />

keine Beilagen dazu brauchen. Sie werden diese Köstlichkeit<br />

nie vergessen“, womit er recht behalten sollte.<br />

Ich nahm mir vor, noch heute Abend Don Pedro einen Besuch<br />

abzustatten, um zu fragen, wann er wieder einen Red<br />

Snapper habe, damit ich Hannelore dazu einladen konnte.<br />

Als ich bei ihm aufkreuzte, jammerte er:<br />

„Madre mia! Sind Sie schon wieder da! So viele Red Snapper<br />

gibt es in unseren Gewässern nicht. Es ist schon ein Glücksfall,<br />

wenn man einen fängt.“<br />

Ich schrieb ihm meine Handynummer auf, wohl wissend,<br />

dass dies vergeblich war, weil er mich nie anrufen würde. Zu<br />

aufwendig. Man musste einfach nur vorbeikommen und Glück<br />

haben. Nachdem ich bei ihm etwas anderes gegessen hatte,<br />

kehrte ich in einer Bar in der Nähe des Restaurants ein. Ich<br />

brauchte jetzt ein deutsches Bier auf das salzige Essen. Es gab<br />

sogar Löwenbräu. Innen empfing mich gedämpftes Licht, viel<br />

roter Plüsch, dunkle Sessel mit Glastischchen davor. Ein Barkeeper<br />

mixte die Drinks hinter der langen Theke und zwei bedienten,<br />

allesamt typische Spanier, schlank, blasse Haut,<br />

schwarze Haare, schwarze Augen und einer gewissen Verächtlichkeit,<br />

die sie fremden Gästen gegenüber durch das leichte<br />

Verziehen ihres Gesichtes zeigten, besonders, wenn die Gäste<br />

keine teueren Getränke bestellten, so wie ich jetzt mit nur einem<br />

Bier. Missinterpretierter spanischer Stolz? Der Barkeeper<br />

101


Red Snapper<br />

stellte mir die Flasche hin und überließ mir das Einschenken<br />

ins Glas. Die Bar hatte sich gefüllt. Zwei Tennisspieler, die ich<br />

bei meinem letzten Aufenthalt im Club kennengelernt hatte,<br />

saßen neben mir. Wir kamen ins Gespräch. Sie erzählten einige<br />

Witze. Junge, aufgetakelte Damen mit tiefen Ausschnitten,<br />

hohen Dominaschuhen und aufgeklebten Fingernägeln sprachen<br />

Männer an, die allein an Tischen saßen. „Do you buy me<br />

a drink?“ Die internationale Sprache in ihrem Beruf. Weiter<br />

oben an der Bar saß ein etwa 45-jähriger Mann mit einem rötlichen<br />

Zweitagesbart. Sein Gesicht war von kleinen Narben<br />

übersät, die vermutlich von Pickeln in seiner Jugend herrührten.<br />

Seine rötlichen kurzen Haaren passten zu ihm. Kein Lächeln<br />

huschte über sein Gesicht. Verbissen sah er <strong>aus</strong>. Er bestellte<br />

einen Whiskey in schlechtem Englisch.<br />

„Bitte bringen Sie mir einen Ballantine. Sie wissen doch, dass<br />

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das ein schottischer Whiskey ist“, sagte er provokativ. Der<br />

Barkeeper holte die Flasche, goss ein und schob ihm das Glas<br />

hin.<br />

„Mit Eis habe ich gesagt. Hast du das nicht gehört?“ Der Barkeeper<br />

verzieht den Mund und murmelt:<br />

„Gilipollas!“ Der Rothaarige verstand anscheinend „kommt<br />

gleich“. Dabei war das ein wüstes spanisches Schimpfwort. Der<br />

Barkeeper ließ das Eis in den Whiskey plumpsen. Es spritzte.<br />

„Können Sie nicht etwas besser achtgeben?“ Der Rothaarige<br />

schnupperte an dem Glas.<br />

„Das ist kein Ballantine. Das ist ein billiger Ersatz.“ Der Barkeeper<br />

versuchte, höflich zu bleiben. Er reichte die Flasche dem<br />

Rothaarigen.<br />

„Ihr habt ihn umgefüllt!“, schnaubte der. Der Barkeeper<br />

nahm das Glas zurück, holte eine nicht geöffnete Flasche Ballantine<br />

<strong>aus</strong> dem Schrank, öffnete sie und goss ein weiteres Glas<br />

ein. Gibt einen Eiswürfel hinzu. „Ich habe es mir anders überlegt,<br />

ich will keinen Ballantine mehr, sondern einen Regal Chivas.<br />

Ich bin überzeugt, dass ihr diesen Namen noch nie in dieser<br />

Kaff-Beize gehört habt. Ihr seid doch nichts anders als ganz<br />

gewöhnliche Provinzler. Dass ich mich als Künstler mit euresgleichen<br />

abgeben muss! Schaut mich an!“<br />

Er hob den Kopf, versuchte zu lächeln, was wirklich schief<br />

lief, denn nur ein gequältes Grinsen erschien auf seinem Gesicht.<br />

„Ich bin ein internationaler Künstler, ich spiele Klavier und<br />

gebe Konzerte. Noch nie etwas von Ben Hogan gehört? Natürlich<br />

nicht. Ihr seid doch Kulturban<strong>aus</strong>en! Ihr gehört nur zu<br />

der ganz gewöhnlichen Plebs. Doch ich bin mir sicher, dass ihr<br />

dieses Wort auch noch nie gehört habt.“ Der Barkeeper holte<br />

einen seiner Kollegen, wollte den Beleidigungen nicht länger<br />

zuhören und ließ sich von ihm ablösen. Er flüsterte ihm zu:<br />

103


„Das ist der Israeli, der uns schon letzte Woche bis aufs Blut<br />

schikaniert hat.“ Der Israeli trieb dasselbe Spiel mit dem anderen<br />

Barkeeper weiter. Es machte ihm Spaß, den Larry r<strong>aus</strong>zuhängen<br />

und die Barkeeper zu provozieren. Ich beobachtete<br />

ihn, wie er jetzt doch den Regal Chivas hinunterstürzte. Und<br />

noch einen. Und einen weiteren. Der Mann war aber schon<br />

betrunken. Das wird nicht gutgehen. Die beiden neben mir<br />

hatten ihr Repertoire an Witzen aufgebraucht. Verabschiedeten<br />

sich. Ich probierte auch einen Regal Chivas. Bei den immer<br />

neuen Spielchen, die der Rothaarige mit den Kellnern trieb,<br />

war die Zeit beim unfreiwilligen Zuhören wie im Flug vergangen.<br />

Es war zwei Uhr geworden. Der Chivas war unverschämt<br />

teuer. Bevor ich mich auf den Weg zum Club machte, suchte<br />

ich noch auf die im Keller untergebrachte Toilette auf, als ich<br />

Flüche und Schreie von oben in der Bar hörte. Ich rannte hinauf,<br />

zwei Stufen auf einmal nehmend. Die drei Kellner hatten<br />

sich den Israeli geschnappt und prügelten mit Stöcken auf den<br />

am Boden liegenden Mann ein, der vergeblich versuchte,<br />

wenigstens sein Gesicht zu schützen.<br />

„Vete a la mierda!“ Fahr zur Hölle, schrie der erste Barkeeper.<br />

Sein Mund schäumte. Seine Augen versprühten Hass. „Dir<br />

werden wir eine Lektion erteilen, die du nicht so schnell vergessen<br />

wirst“, und weiter schlugen sie auf den jetzt wehrlosen<br />

und völlig betrunkenen Mann ein. Sie traktierten ihn jetzt mit<br />

Fußtritten. Der Mann wimmerte. In seinem betrunkenen Zustand<br />

würde er allerdings nicht viel von den Schlägen spüren.<br />

Ich stand daneben, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.<br />

Sie werden den Mann töten. Wo war meine Zivilcourage?<br />

Wie konnte ich ihm helfen? Wie könnte ich die Schläger davon<br />

abringen, den Mann umzubringen?<br />

Die meisten Spanier sind sehr religiös. Sie verehren die Jungfrau<br />

Maria.<br />

104


Vielleicht half es, den Namen der Jungfrau Maria zu nennen?<br />

Vielleicht wirkte das Wunder. Der Satz kam mir wie von<br />

selbst über die Lippen, obwohl ich nur bruchweise Spanisch<br />

sprach. Es war eine Strophe des Ave Maria, die ich bei den<br />

wenigen Spanischstunden vor vielen Jahren gelernt hatte, und<br />

noch irgendwo tief in meinem Gedächtnis geschlummert hatte.<br />

„Santa Maria, mãe de Deus, rogai por nós, pecadores, agora<br />

e na hora da nossa morte. Amen.“ Heilige Maria, Muttergottes,<br />

bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.<br />

Amen.<br />

Die drei Spanier hielten mit ihren Schlägen ein, und es schien<br />

mir, als ob sie mich erst jetzt bemerkten. Ich hatte das ungute<br />

Gefühl, dass sie jetzt, ihren hasserfüllten Gesichtern nach zu<br />

urteilen, auch auf mich einschlagen würden. Doch einer von<br />

ihnen rief: „Er hat die Jungfrau Maria erwähnt!“<br />

Ich ließ mich nicht beeinflussen und fuhr in einfachem Englisch<br />

fort:<br />

„Wollt ihr ihn umbringen? Ich weiß, dass er sich euch gegenüber<br />

übel benommen, ja, euch beleidigt, euch in eurem<br />

Stolz getroffen hat. Er hat eine Strafe verdient. Aber genug ist<br />

genug. Wenn er stirbt, wie könnt ihr dann dem Antlitz der<br />

heiligen Maria gegenübertreten, ohne beschämt den Kopf senken<br />

zu müssen? Wird sie jemals wieder eure Gebete erhören?<br />

Werdet ihr nicht selbst zu Opfern ganz im Sinne dieses niederträchtigen<br />

Manns? Dann hat er sein Ziel wirklich erreicht.<br />

Ihr werdet den Rest eures Lebens im Gefängnis verbringen.<br />

Ihr seid zu jung dafür. Übergebt ihn mir, ich werde her<strong>aus</strong>finden,<br />

in welchem Hotel er abgestiegen ist und ihn dorthin bringen.“<br />

Die drei Schläger zögerten, aber ich zog den Verletzten auf<br />

die Beine. Sein Blut rann über mein weißes Hemd und Hose.<br />

105


Ich stützte ihn. Er konnte gerade noch gehen. Wir schwankten<br />

zum Ausgang.<br />

„Pírate! Pírate!“, riefen die Spanier hinter ihm her.<br />

„Verpiss dich, hau ab! Lass dich nie wieder hier blicken. Das<br />

nächste Mal kommst du nicht so glimpflich davon.“<br />

Kaum hatten wir die Bar bei stockfinsterer Nacht verlassen,<br />

schnauzte der Rothaarige mich an.<br />

„Was hast du bei mir verloren. Lass mich los.“ Er stieß mich<br />

weg. Es war ihm offenbar nicht bewusst, dass ich ihm<br />

möglicherweise das Leben gerettet hatte.<br />

Anstatt auf seine Worte einzugehen, sagte ich:<br />

„Soll ich dich in ein Krankenh<strong>aus</strong> bringen, damit sie dich<br />

untersuchen und deine Wunden versorgen können?“<br />

„Lass mich mit deinen weisen Sprüchen zufrieden, du verdammter<br />

deutscher Hurensohn.“<br />

Ich bemerkte die schlanken Finger seiner Hände. Sie waren<br />

weiß, bis auf die auf der Hand geronnenen Blutflecken. Gepflegte<br />

Fingernägel. Sie sahen <strong>aus</strong> wie die Hände eines Klaviervirtuosen.<br />

Vielleicht war er wirklich ein Künstler, wie er<br />

im R<strong>aus</strong>ch geprahlt hatte. Trotzdem war er ein Kotzbrocken.<br />

Während ich in meine Gedanken vertieft so dastand, nicht<br />

wissend, wie ich mich verhalten sollte, ballte er die Finger zu<br />

einer F<strong>aus</strong>t und rammte sie mir völlig überraschend oberhalb<br />

des Bauchnabels in den Magen. Im Fallen wusste ich, dass er<br />

mich am Solar Plexus erwischt hatte. Die Spanier würden sagen:<br />

„Fue una mierda! Das war Scheiße!“<br />

Es wurde langsam schwarz um mich herum, ich erkannte<br />

nichts mehr und ein tiefes wohliges Dunkel hüllte mich ein.<br />

Ich wachte auf. In einem großen weißen Bett. Eine Krankenschwester<br />

war im Zimmer. Sie lächelte mich an und sagte, dass<br />

der Arzt sofort käme.<br />

„Wie lange bin ich denn schon hier?“, fragte ich.<br />

106


„Zwei Tage.“<br />

„Ich muss sofort telefonieren, meiner Freundin Bescheid sagen.“<br />

„Damit warten Sie, bis der Arzt da war. Dann können Sie<br />

telefonieren.“<br />

An ihrem perfekten Deutsch erkannte ich, dass sie eine Deutsche<br />

war. Die deutschsprachige „<strong>Fuerteventura</strong> Zeitung“ lag<br />

auf meinem Nachttischchen. Automatisch las ich die Überschrift.<br />

„Israelischer Pianovirtuose stirbt nach einer Schlägerei.“<br />

Ich nahm die Zeitung zur Hand und überflog den Artikel:<br />

„Ein etwa 45-jähriger Mann wurde in einer Seitenstraße von<br />

Morro früh am Morgen schwer verletzt aufgefunden. Die Verletzungen<br />

hat er sich vermutlich bei einer Schlägerei in der<br />

nicht weit vom Fundort entfernten Bar zugezogen. Er wurde<br />

in die Klinik in Morro Jable eingeliefert, wo die Ärzte allerdings<br />

nur noch den Tod des Mannes feststellen konnten. Er war an<br />

einem Herzinfarkt und nicht, wie zunächst vermutet, an seinen<br />

Verletzungen gestorben. Aus seinen Ausweispapieren und<br />

anderen Unterlagen, die er bei sich trug, ging hervor, dass er<br />

israelischer Staatsbürger war. Er sollte in nicht ganz einer<br />

Woche ein Konzert in Berlin geben, wo Werke von Chopin und<br />

Strawinski – l‘oiseau de feu – Fassung für Klavier auf dem Programm<br />

standen.“<br />

Der Arzt war da. Er sagte, dass ich morgen entlassen werde.<br />

Ich telefonierte. Hannelore war eingetroffen. Sie wunderte sich,<br />

wo ich war.<br />

Ich konnte den nächsten Morgen fast nicht erwarten, damit<br />

die Erholungsphase auf der Insel wirklich beginnen konnte.<br />

Romantische Liebe pur unter Sternen, die nackten Körper von<br />

kühler Atlantikluft umspült.<br />

107


Die folgende Geschichte ist bereits in dem vom Autor veröffentlichten<br />

Buch „Mörder unter sich“ enthalten. Da sie in <strong>Fuerteventura</strong><br />

spielt und viele Einzelheiten über die Villa Winter<br />

beschreibt, wird sie hier wiederholt.<br />

Gold in der Villa Winter<br />

(reine Fantasie, allerdings hätte die Geschichte um Heinz Ruhau,<br />

dem Einsieder, durch<strong>aus</strong> so stimmen können)<br />

Heinz Ruhau hatte an der Technischen Hochschule in Berlin<br />

Maschinenbau studiert. Nach Abschluss des Examens stellte<br />

ihn die renommierte Firma Borsig in Berlin für die Entwicklung<br />

von Absorptions-Kältemaschinen ein, die von Professor<br />

Niebergall erfunden worden waren und für die Borsig Weltmarktführer<br />

war. Nach einigen Jahren sah er eine Möglichkeit,<br />

sich selbstständig zu machen, sein eigener Chef zu werden<br />

und dabei mehr zu verdienen. Er brauchte einfach mehr<br />

Geld in der Tasche, denn er hatte ein Luxusweib geheiratet,<br />

was ihm aber erst voll zum Bewusstsein kam, als es schon zu<br />

spät war. Um mehr Geld verdienen zu können, gründete er<br />

einen Reparaturdienst für Klimaanlagen.<br />

Trotz aller Bemühungen war er bei Borsig nie richtig vorangekommen.<br />

Sein Gehalt reichte nicht für den Luxus <strong>aus</strong>, den<br />

sich seine Frau gönnte. Ein neuer Porsche musste für sie her.<br />

Sie verkehrte in den teuersten Boutiquen und achtete beim<br />

Kauf ihrer Garderobe nicht auf den Preis. Hundert Paar Schuhe<br />

standen im Schrank, und es waren immer noch nicht genug.<br />

Sie beklagte sich über ihre H<strong>aus</strong>haltshilfe. „Sie ist faul“, fauchte<br />

sie, „und überbezahlt.“ Wenn sie mit Freunden beim Essen<br />

waren, bestellte sie Champagner, er musste <strong>aus</strong> der Region<br />

Montagne de Reims stammen. Ein deutscher Sekt tat es nicht.<br />

Dann war er nicht kalt genug oder zu warm, und der Ober<br />

108


verzog schon seine Miene, allerdings kaum merkbar, wenn sie<br />

in Begleitung ihres Mannes das Nobelrestaurant betrat, denn<br />

auch an den Speisen gab es für sie immer etwas <strong>aus</strong>zusetzen.<br />

Trotz dieses auf Vergnügen und Ausgeben <strong>aus</strong>gerichteten Lebens<br />

war sie unzufrieden und warf ihm nicht nur einmal vor:<br />

„Alle unsere Bekannten besitzen ein eigenes H<strong>aus</strong>. Sogar die<br />

Meiers am Wannsee. Nur wir nicht. Warum ist das so? Du bist<br />

doch gen<strong>aus</strong>o tüchtig wie der Meier? Oder vielleicht doch<br />

nicht? Mindestens behauptest du das immer!“<br />

Diese weinerliche und gleichzeitig schrille Stimme! Sie nervte<br />

ihn und er zog es vor, keine Antwort auf ihre Anschuldigungen<br />

zu geben, die zudem zu weiteren unsachlichen Diskussionen<br />

geführt hätte.<br />

Sie waren beide Mitglieder im elitären Berliner Tennisclub<br />

Rot-Weiß. Er war begeisterter Tennisspieler. Er machte schnelle<br />

Fortschritte, so dass er nach einigen wenigen Jahren die Clubmeisterschaft<br />

gewann und an die erste Stelle in der Herrenmannschaft<br />

gesetzt wurde.<br />

Sie hatten einen Sohn, dem er eine Lehre zur Ausbildung als<br />

Kältetechniker bei seiner früheren Firma Borsig besorgt hatte.<br />

Zu einem Studium hatte der junge, verwöhnte Mann keine Lust<br />

gehabt. Es fehlten ihm allerdings auch die Intelligenz und der<br />

Fleiß dazu.<br />

Heinz rieb sich auf mit all den Problemen, die das Führen<br />

eines neu gegründeten Kleinunternehmens mit sich brachte.<br />

Er war einfach nicht der Typ dazu, von Kunden Aufträge hereinzuholen<br />

und sich dann bei der Abwicklung mit den eigenen<br />

Mitarbeitern herumzuschlagen. Zum Ausgleich verbrachte<br />

er viel Zeit auf dem Tennisplatz, wo er dann, nachdem er die<br />

Prüfung zum Übungsleiter geschafft hatte, gelegentlich auch<br />

Tennisunterricht gab, was ihm viel Freude bereitete.<br />

Die Arbeit in seinem Unternehmen machte ihm keinen Spaß,<br />

109


sie befriedigte ihn nicht, obwohl die Firma ganz gut lief und er<br />

viel mehr Geld als zuvor verdiente, aber immer noch zu wenig<br />

in den Augen seiner Frau, die ihm das Bett mit der bekannten<br />

Ausrede von Migräne schon lange verwehrte, bis er seine<br />

Bemühungen endgültig einstellte und seine Unterhaltung im<br />

Rotlichtmilieu von Berlin fand. Sollte sein Leben so weiter verlaufen,<br />

bis er in Rente gehen konnte? Dieser Gedanke war ein<br />

Albtraum, erschreckte ihn. Wie viele Jahre noch! Er war erst<br />

fünfundvierzig.<br />

Irgendetwas musste sich ändern. Irgendetwas anderes als<br />

diese nervtötende Arbeit im Büro musste es für ihn auf dieser<br />

Welt doch geben. Eine ganz andere Lebensart zum Beispiel?<br />

Irgendwo müsste doch ein Platz zu finden sein, wo er frei von<br />

all den täglichen Sorgen in der Natur einfach nur in den Tag<br />

hinein leben konnte? Weg von der Hektik der Großstadt, weg<br />

von dem Ärger mit den Behörden, dem Finanzamt, der Berufsgenossenschaft,<br />

dem Gewerbeaufsichtsamt, dem Statistischen<br />

Landesamt, dem Zoll, den Betriebskrankenkassen, den Reklamationen<br />

von Kunden, mit den Banken, wenn es um die Finanzierung<br />

eines größeren Auftrages ging. Weg von den Bestechungsgelagen<br />

mit den Einkaufsleitern der auftragsvergebenden<br />

Firmen, den Verhandlungen mit dem Betriebsrat, der<br />

ihn ärgerte, wenn sich nur die geringste Gelegenheit dazu bot.<br />

Weg wollte er von all dem. Er wollte vor allen Dingen auch<br />

weg von seinem Luxusweibchen, dessen Ansprüche ihn anwiderten<br />

und die er auch nicht mehr erfüllen wollte, selbst wenn<br />

er es könnte. Er wollte nur noch leben, und er wusste, dass er<br />

für sich selbst nicht viel brauchte. Nur ganz einfach leben. Er<br />

war doch von Natur <strong>aus</strong> bescheiden. Er war so aufgewachsen.<br />

Er konnte sich vorstellen, in einer primitiven Hütte oder auch<br />

in einer Höhle zu wohnen, so, wie das die Urmenschen in grauer<br />

Vorzeit getan hatten, und wenn es sein müsste, auch nackt.<br />

110


Spartanisch würde er sich ernähren, von Fladenbrot, Tomaten<br />

und über Holzfeuer gegrilltem Fisch. Diese Vorstellung<br />

nahm Gestalt an und brannte sich in sein Hirn ein.<br />

Und so reifte ein Plan langsam in ihm heran. Warum sollte<br />

er hier in Berlin nicht alles aufgeben? Warum nicht <strong>aus</strong> allem<br />

<strong>aus</strong>steigen, alles um sich herum sich einfach selbst überlassen?<br />

Warum sollte er sich nicht auf irgendeine verlassene Insel absetzen,<br />

wo es warm ist, und genau dieses spartanische Leben<br />

führen? Sorgenfrei ohne ein verpflichtendes Morgen? Sollte<br />

sich doch seine Frau das neueste Porsche-Modell kaufen, mit<br />

welchem Geld auch immer, und sich einen Liebhaber nehmen,<br />

am besten gleich auch einen Porschefahrer mit Jonny-Player-<br />

Sonnenbrille, athletischer Figur und blondem Haar. Er konnte<br />

an nichts anderes mehr als an seinen Plan denken und überschrieb<br />

kurz entschlossen den Betrieb seinem Sohn.<br />

„Überweise mir zweihundert Mark einmal im Monat <strong>aus</strong><br />

dem Gewinn der Firma. Mehr will ich nicht. Das hier ist mein<br />

Konto in Madrid.“<br />

Sein Sohn versprach es ihm in die Hand. Das war seine Chance,<br />

auf die er insgeheim schon lange gewartet hatte. Jetzt konnte<br />

er auch einen Lebensstil wie seine Mutter führen. Das nötige<br />

Geld dafür würde die Firma abwerfen.<br />

Heimlich, nur mit einer Tennisumhängetasche übergeschultert,<br />

schlich Heinz eines Morgens <strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong>. Seine Frau<br />

bemerkte in den ersten Tagen sein Fehlen überhaupt nicht und<br />

gab erst nach einer Woche eine Vermisstenmeldung auf. Sein<br />

Sohn aber kannte nur den Namen der Bank und die dubiose<br />

Kontonummer in Madrid. Er hatte keine Ahnung, was sein<br />

Vater vorhatte und was er mit seinem Verschwinden bezweckte.<br />

Heinz nahm zuerst ein Flugzeug nach Wien. Von dort nach<br />

Istanbul. Er fand einen Platz auf einem schrottreifen Frachter,<br />

111


der auf dem Weg nach Kapstadt war. Auf den Kanarischen<br />

Inseln machte der Frachter zum Auftanken eine Zwischenstation.<br />

Diese Gelegenheit nutzte Heinz, um im Hafen von Santa<br />

de la Cruz das Schiff unbemerkt zu verlassen. Er konnte ein<br />

kleines Fischerboot <strong>aus</strong>findig machen, das ihn nach Morro Jable,<br />

einem Fischerdorf auf der Halbinsel Jandia im südlichen Teil<br />

von <strong>Fuerteventura</strong>, mitnahm. Niemand sah ihn ankommen.<br />

Seine Wege hierher waren so verschlungen, dass alle Nachforschungen<br />

nach seinem Verbleib im Sand verlaufen mussten.<br />

Das alles trug sich im Jahr 1977 zu, als die Insel touristisch<br />

fast unerschlossen war.<br />

Auf Jandia war allerdings einige wenige Jahre zuvor gerade<br />

der erste Robinson Club eröffnet worden, der die Keimzelle für<br />

eine unglaubliche touristische Entwicklung mit Hunderten von<br />

Hotels und Bettenburgen werden sollte. Bei der Einweihung<br />

war sogar der damalige Bundeskanzler Willy Brandt anwesend.<br />

Es war die Zeit der Null-Bock-Generation. Die Ideen der 68er-<br />

Bewegung hatten viele Menschen erfasst. Die Ideen, die über<br />

dreißig Jahre lang verhängnisvoll nachwirken sollten und die<br />

– im Irrglauben an eine mögliche totale und soziale Gerechtigkeit<br />

– Deutschland um die Jahrt<strong>aus</strong>endwende ans Schlusslicht<br />

der europäischen Länder bringen sollten, insbesondere was<br />

Bildung, H<strong>aus</strong>eigentum und Arbeitslosigkeit anging.<br />

Das Erscheinungsbild von Heinz hatte sich entscheidend<br />

verändert. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, der blondrot<br />

in seinem Gesicht stand. Seinen Körper hatte er auf dem<br />

Frachter in der Sonne bräunen lassen. Seine hellblauen Augen<br />

spiegelten jetzt schon, obwohl er gerade angekommen war, die<br />

helle Sonne <strong>Fuerteventura</strong>s wider, und seine Haare waren von<br />

der Sonne zu einem fast unnatürlich wirkenden Hellblond<br />

<strong>aus</strong>gebleicht. Der ehemalige Unternehmer <strong>aus</strong> Berlin war nicht<br />

112


wiederzuerkennen. Er schaute sich in einer Spiegelscherbe an<br />

und sagte zu sich gut gelaunt: „Jetzt endlich lebe ich, jetzt bin<br />

ich endlich frei!“<br />

Einer der schönsten Sandstrände der Welt erstreckt sich von<br />

Morro Jable, damals ein kleines, heruntergekommenes Fischerdorf,<br />

bis zur Costa Calma, einer nördlich gelegenen Siedlung,<br />

auf einer Länge von etwa dreißig Kilometern.<br />

Er suchte an diesem menschenleeren Strand nach einem geeigneten<br />

Platz, wo er sein Aussteigerleben beginnen konnte.<br />

In etwa zehn Kilometer Entfernung von Morro Jable fand er<br />

am Auslauf eines Barrancos, so nennt man in <strong>Fuerteventura</strong><br />

die Schluchten, die von Wassermassen früherer Zeiten <strong>aus</strong>gespült<br />

worden waren, neben aufragenden Felsen an einer kleinen<br />

felsigen Anhöhe, nicht einmal fünfzig Meter vom Strand<br />

entfernt, einen verlassenen Kalkofen, mit einem Innendurchmesser<br />

von etwa drei Metern.<br />

„Das ist genau das, was ich suche!“, rief er freudig erregt<br />

<strong>aus</strong> und warf seine Tasche in die Höhle. „Das ist jetzt mein<br />

Zuh<strong>aus</strong>e“, sagte er laut zu sich selbst. „Hier am Strand von<br />

Butihondo, in der Bucht von Playa Esquinzo, werde ich ein Jahr<br />

verbringen!“ Diese Namen las er auf der zerknitterten Landkarte,<br />

die er von einem Einheimischen erstanden hatte.<br />

Er wusste damals noch nicht, dass sein Aufenthalt viele Jahre<br />

dauern sollte.<br />

Er hatte etwas Geld mitgebracht. Er kaufte sich einen gerade<br />

noch fahrbaren, klapprigen PKW und einen uralten, von<br />

der Sonne vergilbten Wohnwagen, den er auf dem ebenen Gelände<br />

vor seiner Höhle in den Sand setzte. Den PKW ließ er<br />

weiter oben auf einem schlecht geschotterten Weg stehen. Den<br />

Kalkofen deckte er mit einigen verrosteten Wellblechen ab,<br />

obwohl es in <strong>Fuerteventura</strong> sehr selten regnet. Er legte auf den<br />

Boden der Höhle einen verschlissenen Teppich, darüber wei-<br />

113


Strand Butihondo in der Bucht von Playa Esquinzo zwischen<br />

Morro und Costa Calma<br />

114


Zum Teil restaurierter Kalkofen im Jahr 2000<br />

Blick vom Hochsitz aufs offene Meer<br />

115


che Schaffelle als Schlafstätte und als besonderen Luxus leistete<br />

er sich ein daunengefülltes Kopfkissen. Als er so weit eingerichtet<br />

war, besorgte er sich von einer stillgelegten B<strong>aus</strong>telle<br />

eine etwa zwei Meter lange und achtzig Zentimeter breite Betonplatte,<br />

die er seitlich vor dem Kalkofen auf zwei Steinhaufen<br />

legte, so dass sie wie ein normaler Tisch <strong>aus</strong>sah. Er schützte<br />

die Platte mit hoch stehenden, in den Sand eingegrabenen<br />

Holzbrettern vor neugierigen Blicken. Direkt vor dem Höhleneingang<br />

baute er sich <strong>aus</strong> Steinen und Sand einen Hochsitz,<br />

von dem er den ganzen Strand auf viele Kilometer Länge<br />

nach beiden Richtungen überblicken konnte, und natürlich<br />

auch das Meer, das sich unendlich blau vor ihm <strong>aus</strong>dehnte,<br />

und manchmal glaubte er, sogar die Erdkrümmung am Horizont<br />

erkennen zu können. Dann mauerte er sich eine Feuerstelle.<br />

Holz wurde am Strand immer wieder angeschwemmt,<br />

und getrockneter Tang diente ihm dazu, das Feuer in Gang zu<br />

setzen. Schlangen, Skorpione und anderes giftiges Getier oder<br />

gefährliche, wilde Tiere hatte er nicht zu fürchten, denn die<br />

gab es auf der Insel nicht. Damals, als es noch keine bewässerten<br />

Gärten rings um die Hotelkomplexe und Bettenburgen gab,<br />

waren auch Moskitos so gut wie unbekannt. Aber jeden Morgen<br />

besuchte ihn ein kleines Streifenhörnchen und wartete geduldig,<br />

bis er dem kleinen, putzigen Besucher etwas Fressbares<br />

zuwarf.<br />

Die Helligkeit der Insel machte ihn fröhlich. <strong>Fuerteventura</strong><br />

ist die Insel des Lichts. Die Lebensbedingungen für einen Einsiedler<br />

sind geradezu ideal. Selten fällt die Lufttemperatur<br />

unter achtzehn Grad. Die Sonne scheint jeden Tag unverschleiert<br />

vom blauen Himmel herunter. Regen ist auf dieser Insel<br />

fast ein Fremdwort. Ein starker Regen ist für <strong>Fuerteventura</strong><br />

etwas ganz Außergewöhnliches, seltener noch als ein Erdbeben<br />

oder ein Vulkan<strong>aus</strong>bruch. An den immer wehenden Nord-<br />

116


Blick vom Hochsitz auf den Strand<br />

ostpassat mit einer Windstärke zwischen drei und sieben gewöhnte<br />

er sich schnell. Hieß <strong>Fuerteventura</strong> nicht, auf Deutsch<br />

übersetzt, „starke Winde“? Oder vielleicht „großes Glück“, wie<br />

manche behaupteten? Das Letztere würde auf ihn zutreffen,<br />

das große Glück hatte für ihn begonnen.<br />

Im Sommer bläst hin und wieder der Schirokko, ein heißer<br />

Wind <strong>aus</strong> der nur einhundert Kilometer entfernten Sahara im<br />

Osten, von den Guanchen, den Ureinwohnern der Insel, auch<br />

Leveche genannt. Dann klettert die Temperatur sprunghaft in<br />

wenigen Stunden um mehr als zehn Grad auf über vierzig<br />

Grad. Der Wind bringt extrem trockene Luft heran. Sie ist mit<br />

feinem, gelblich-grauem Sandstaub geschwängert, der durch<br />

alle Ritzen dringt. Die Guanchen schützen sich vor dem Einatmen<br />

des Staubes mit einem dicken Tuch vor Mund und Nase,<br />

das sie zuvor ins Meerwasser tauchen. Ohne dieses Tuch glaubt<br />

man, ersticken zu müssen. Die Sicht sinkt oft auf weniger als<br />

117


zweihundert Meter. Der Schirokko weht nicht selten Wanderheuschrecken<br />

von Afrika auf die Insel herüber, die dann zu<br />

Millionen am Strand liegen und verenden, da sie hier nichts<br />

Fressbares mehr finden und außerdem von dem langen Flug<br />

geschwächt sind. Die Inselbewohner nennen dieses relativ seltene<br />

Wetter Calima.<br />

Beim letzten Schirokko verzog sich Heinz in seine Höhle,<br />

dichtete den Zugang ab und verkroch sich unter seiner Decke,<br />

bis das Schlimmste vorüber war.<br />

Bei Einbruch der Nacht trank er gewöhnlich eine halbe Flasche<br />

spanischen Rotwein, ein billiger, unverfälschter Landwein,<br />

der ihm köstlich schmeckte und auch gut bekam, und legte sich<br />

beim gleichmäßigen R<strong>aus</strong>chen der Brandung zum Schlafen, um<br />

am Morgen mit dem ersten Geschrei der Seemöwen wieder<br />

aufzuwachen.<br />

Einmal in der Woche steuerte er den alten Wagen nach Morro<br />

Jable, wo er sich Trinkwasser, Wein, Streichhölzer und Brot<br />

kaufte. Mit allem anderen wollte er sich selbst versorgen, um<br />

von der menschlichen Zivilisation so unabhängig wie möglich<br />

zu sein. Vor allen Dingen musste er lernen, wie man Fische im<br />

Meer fing, die seine Hauptnahrung werden sollten. Vielleicht<br />

wäre ein Netz von Vorteil? Und vielleicht ein kleines Boot?<br />

Kleidung brauchte er nicht. Vom ersten Tag an blieb er nackt,<br />

so, wie Gott ihn geschaffen hatte. Nur zum Einkaufen zog er<br />

eine kurze Hose über. Nach wenigen Monaten war sein ganzer<br />

Körper nahtlos von einer tiefen Bräune überzogen, und<br />

dazu war er gertenschlank geworden, kein Gramm hatte er zu<br />

viel. Zucker und Fett standen nicht auf seinem Speiseplan. Er<br />

hatte jetzt sein Idealgewicht und nicht nur das, sondern auch<br />

sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Die Hektik von<br />

Berlin war wie weggeblasen, sein Geist frei für das, was kommen<br />

sollte – ein sorgenfreies Leben, ein Leben in Meditation.<br />

118


Er hatte jetzt Zeit und Muße, über die Dinge nachzudenken,<br />

die für einen Menschen wirklich wichtig sind. Er hatte den richtigen<br />

Standort und die richtige Einstellung für sein neues Leben<br />

gefunden.<br />

Er saß auf seinem Stein vor der Hütte und dachte darüber<br />

nach, wofür er eigentlich lebte.<br />

Wo konnte man Gott näher sein als hier in der menschenleeren<br />

Natur, nur den leichten Nordostpassat im Gesicht, der<br />

warm von der Sahara herüberblies? Wo konnte er die Existenz<br />

Gottes besser in sich spüren als angesichts einer im Meer<br />

untergehenden Sonne, die den Himmel in ein glühendes Rot<br />

verwandelte? War überhaupt ein Gott vorhanden, der direkten<br />

Einfluss auf sein Leben nahm? Hatte ER ihn veranlasst,<br />

alles in Berlin aufzugeben, um ein Einsiedlerleben zu führen,<br />

das ihn glücklich machte, das aber einem anderen wahrscheinlich<br />

als Last und Entbehrung vorkommen würde?<br />

Hier könnte er über die Verhaltensweisen von Menschen<br />

grübeln, mit denen er in seinem früheren Leben zu tun hatte.<br />

Immer wieder kam ihm seine Frau vor Augen. In einsamen<br />

Stunden in den ersten Monaten begehrte er sie sogar<br />

manchmal. Dann aber verwünschte er sie wieder, weil sie<br />

immer nur an sich selbst und an ihr eigenes Vergnügen gedacht<br />

hatte. Welchen Platz hatte er denn in ihrem Leben eingenommen?<br />

War er für sie lediglich ein Objekt, eine Maschine,<br />

zur Geldbeschaffung gewesen? Hatte sie ihn wirklich jemals<br />

geliebt?<br />

Dann dachte er über seine Geschäftspartner nach, aber auch<br />

über seine angeblichen Freunde. Viele von ihnen waren, wenn<br />

er es <strong>aus</strong> seiner heutigen Sicht betrachtete, unehrlich und egoistisch,<br />

nur auf ihren eigenen Vorteil <strong>aus</strong>. Manche waren Neocheaters,<br />

Neubetrüger, die, wenn sich die Gelegenheit dazu bot,<br />

119


Geld, Wissen und Erfahrung <strong>aus</strong> ihm her<strong>aus</strong>saugten, wie ein<br />

Baby die Milch <strong>aus</strong> der Brust der Mutter.<br />

Doch bald sollte sich sein sorgenfreies Leben etwas ändern.<br />

Die kleine Bankfiliale in Morro Jable eröffnete ihm, dass kein<br />

Geld mehr auf seinem Konto sei. Es sei bei der Zentrale in<br />

Madrid auch keines mehr eingegangen. Sein Sohn hatte die<br />

Überweisung des vereinbarten Betrags nach wenigen Monaten<br />

eingestellt. Das hatte er von ihm nicht erwartet. Die Gene<br />

seiner Frau waren bei seinem Sohn offenbar voll durchgeschlagen.<br />

Ganz ohne Geld konnte er, auch wenn seine Ansprüche<br />

noch so niedrig waren, nicht existieren. Wenn es ihm auch noch<br />

so schwer viel, diese Erkenntnis zu akzeptieren, es führte kein<br />

Weg daran vorbei. Es erging ihm jetzt so, wie es vielen T<strong>aus</strong>enden<br />

von Vätern vor ihm ergangen war, die ihr Vermögen<br />

ihren Kindern zu früh überschrieben hatten und an die Liebe<br />

und die Verlässlichkeit ihrer Söhne und Töchter glaubten. Diese<br />

bittere Erfahrung musste er jetzt selbst machen. Er musste sich<br />

jetzt überlegen, wie er sich etwas Geld beschaffen konnte. Er<br />

konnte sich als Tennistrainer im Robinson Club bewerben. Diese<br />

Tätigkeit übte er dann auch eine gewisse Zeit <strong>aus</strong>.<br />

Und dann kam ihm eine weitere Idee, die funktionieren konnte,<br />

etwas Geld zu verdienen.<br />

Viele Deutsche hatten, nachdem der Robinson Club nicht weit<br />

von Morro Jable eröffnet worden war, diesen herrlichen Strand<br />

entdeckt, der zu kilometerlangen Wanderungen direkt am<br />

Meer einlud, und immer öfter sah er Menschen, die, obwohl<br />

offiziell nicht erlaubt, jedoch stillschweigend geduldet, nackt<br />

an seinem Strand vorbeispazierten. Manche von ihnen trugen<br />

die am Strand herumliegenden schwarzen Kieselsteine zusammen,<br />

häuften sie zu Steinburgen auf und verbrachten den ganzen<br />

Tag darin. Damit niemand am nächsten Tag ihnen die<br />

120


Steinburg streitig machte, brachten sie ein Schild an, auf dem<br />

stand besetzt bis... mit dem Datum ihrer Abreise.<br />

Er könnte Massagen anbieten. Er brannte mit einem glühenden<br />

Eisen in ein Brett:<br />

„Ganzkörpermassagen“, mit einem Pfeil, der zu seiner Höhle<br />

zeigte, und stellte es auf.<br />

Eine einzelne Dame im mittleren Alter war die Erste, die sich<br />

traute. Er saß auf seinem Sitz und beobachtete sie, wie sie mit<br />

einem Seidentuch um die Hüften geschlungen den kleinen<br />

Hügel zu ihm heraufkletterte. Er hatte auf der Betonplatte eine<br />

Decke <strong>aus</strong>gebreitet. Die Platte hatte die richtige Arbeitshöhe.<br />

Sie fragte nach dem Preis und legte sich auf die Platte. Er massierte<br />

sie von Kopf bis Fuß und verwendete dazu ein gut riechendes<br />

Kokosöl. Sie war zufrieden und bezahlte. Am nächsten<br />

Tag war sie wieder da und die folgenden Tage, bis ihr Urlaub<br />

zu Ende war. Unter vorgehaltener Hand empfahl sie ihn<br />

weiter. Unter den Urlauberinnen breitete sich die Nachricht<br />

von der Kunst seines Massierens in Windeseile <strong>aus</strong>.<br />

Nicht immer endete seine Massage nur mit der Bezahlung<br />

des vereinbarten Preises. Dann trug er sie auf seinen starken<br />

Armen in die Höhle und legte sie auf die weichen Lammfelle.<br />

Die Vereinigung ging wie von selbst vonstatten, wie die natürlichste<br />

Sache der Welt, was sie im Grunde auch ist. Danach<br />

lagen sie, die zuvor nur wenige Worte miteinander gewechselt<br />

hatten, gut gelaunt und lachend entspannt nebeneinander.<br />

Es kam die un<strong>aus</strong>weichliche Frage, für die bisher kein<br />

Anlass war und auch keine Zeit: „Wie heißt du eigentlich?“<br />

Und es folgte ein Glas Rotwein, um anzustoßen.<br />

Er hatte sich ein Notizbuch besorgt. Wie Robinson Crusoe<br />

die Tage zählte, so zählte er die Damenbesuche in seiner Höhle.<br />

Das Büchlein war bald gespickt mit Namen wie Hanne, Iso-<br />

121


lde, Angela oder Inge. An fast jedem Tag war mindestens ein<br />

Name eingekritzelt.<br />

Er hatte jetzt eine Geldquelle entdeckt, die seinen Lebensunterhalt<br />

bestritt. Und er musste dafür nicht einmal arbeiten, wie<br />

die armen Schweine für ihr Geld in Deutschland, denn das<br />

Massieren mit dem sich oft anschließenden Vergnügen konnte<br />

man beim besten Willen nicht als Arbeit bezeichnen. Von<br />

vornherein waren auch die Weichen so gestellt, dass keine<br />

Komplikationen auftreten konnten, denn die meisten Damen<br />

waren in festen Händen, waren verheiratet, und an einer Bindung<br />

nicht interessiert, gen<strong>aus</strong>o wenig wie er. Bei ledigen Damen<br />

aber unterließ er jeden Annäherungsversuch. In den vielen<br />

kommenden Jahren sollte er in seinem Notizbuch auf diese<br />

Weise über fünfhundert Namen notieren.<br />

Manchmal fragte er sich, wie sich die Frauen voneinander<br />

unterschieden. Jede war für sich wunderschön und einmalig.<br />

An manche konnte er sich lange erinnern, und andere hatte er<br />

schon nach wenigen Tagen vergessen. Der Beischlaf selbst verlief<br />

nach ähnlichen, fast <strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>chbaren Mustern. Diese Erkenntnis<br />

war für ihn neu und überraschend zugleich. Früher,<br />

als er noch in Berlin war und im Grunde nur mit seiner Frau<br />

schlief, wenn man von seinen Eskapaden meistens unter Alkoholeinfluss<br />

im Rotlichtmilieu absieht, glaubte er, dass es mit<br />

anderen Frauen ganz anders sein müsste. Aber er vermochte<br />

„das Andere“ nicht zu definieren. Und jetzt musste er ernüchtert<br />

feststellen, dass es dieses in seiner Vorstellung diffuse „Andere“<br />

wahrscheinlich gar nicht gab.<br />

Hatte er nicht vor Jahren einen französischen Film gesehen,<br />

in dem ein junger Mann unsterblich in eine Tänzerin verliebt<br />

war, die mit ihm schlief, ihn dann verließ und schließlich verschmähte?<br />

Niedergeschlagen und mit Selbstmordgedanken im<br />

Kopf hatte er seinem Freund gegenübergesessen und dessen<br />

122


Blick auf den Club Aldiana<br />

Trost gesucht. Sein Freund aber kramte <strong>aus</strong> seiner Westentasche<br />

ein Gruppenfoto der leicht geschürzten Tänzerinnen<br />

hervor, die alle lange, schlanke Beine hatten, und schob es ihm<br />

unter die Nase.<br />

„Zeig mir dein Mädchen auf diesem Foto“, sagte er. Der junge<br />

Mann suchte nach ihr mit scharfen Augen. „Das ist sie!“ Er<br />

korrigierte sich. „Nein, die daneben!“<br />

„Du erkennst sie nicht einmal auf diesem Foto. Sie ist die<br />

Letzte in der Reihe. Siehst du, dein Verlust kann nicht so groß<br />

gewesen sein. Tänzerinnen ähneln sich, ihre Körper sind <strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>chbar.“<br />

Der junge Mann protestierte. „Sie ist in ihrer Art ganz anders<br />

als die anderen!“, doch insgeheim musste er zumindest über<br />

das Argument seines Freundes nachdenken. War ihre Art wirklich<br />

so anders, oder war er durch seine Liebe nur blind geworden?<br />

Was wusste er schon von ihr? Wie viele Sätze hatte er<br />

123


mit ihr gewechselt? Hatte jemals ein Dialog zwischen ihnen<br />

stattgefunden?<br />

Heinz sah sich in seiner Ansicht bestätigt, nachdem er sich<br />

diese Filmszene in Erinnerung gerufen hatte, dass Sex allein,<br />

ohne eine andere menschliche Beziehung, eine <strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>chbare<br />

Sache zu sein scheint.<br />

Eine weitere Geldquelle bot sich ihm. Den vor der Höhle in<br />

den Sand gesetzte Wohnwagen, dem er die Räder abmontiert<br />

hatte, konnte er vielleicht vermieten. Er säuberte das Innere<br />

und belegte es mit Schaffellen. Ein junges Pärchen kam vom<br />

Strand herauf und fragte nach dem Wohnwagen. Über den<br />

Preis waren sie sich schnell einig, und für wenige Peseten zog<br />

es für einige Wochen ein.<br />

Seine Existenzgrundlage schien jetzt gesichert zu sein. Er<br />

pfiff auf irgendwelche Unterstützung seines Sohns, auf den er<br />

allerdings nach wie vor wütend war.<br />

Viele Stunden verbrachte er meditierend auf seinem Hochsitz.<br />

Manchmal waren auch Jogger am Strand unterwegs. In<br />

den letzten Tagen hatte er einen Mann beobachtet, dessen Verhalten<br />

zumindest eigenartig, wenn nicht sogar dekadent war.<br />

Er war schätzungsweise fünfundfünfzig Jahre alt. Er joggte<br />

nicht allzu schnell am Strand entlang, eigentlich war es mehr<br />

ein Trotten. Sein Körper hatte die Bräune von <strong>Fuerteventura</strong><br />

noch nicht angenommen. Er musste erst in den letzten Tagen<br />

angereist sein. Seine weite Jogginghose verdeckte einen Teil<br />

seines weißen Bauches. Das Dekadente an seinem Verhalten<br />

war, dass er einen jungen Mann engagiert hatte, der ihm im<br />

Abstand von etwa zwanzig Meter mit einer Wasserflasche in<br />

der Hand zu folgen hatte. Wenn er Durst verspürte, legte er<br />

eine kurze P<strong>aus</strong>e ein und ließ sich von ihm die Flasche reichen.<br />

Das erinnerte ihn an die Geschichte einer H<strong>aus</strong>angestellten,<br />

124


die der „gnädigen Frau“ in Hamburg im Bad frühmorgens die<br />

Zahnpaste auf die Bürste streichen musste.<br />

Der 55-Jährige hatte sehr wohl die sitzende Gestalt auf dem<br />

Hochsitz bemerkt und fragte sich, was diesen Mann hierher<br />

verschlagen hatte. Auch hatte er den Kalkofen entdeckt, der<br />

mit Wellblechen bedeckt war, und die Bretterverkleidung um<br />

die Betonplatte. Das Schild Ganzkörpermassage war ihm auch<br />

nicht entgangen. Sollte hier ein Einsiedler h<strong>aus</strong>en? Ein Aussteiger,<br />

der der Hektik des Berufslebens entflohen war, oder<br />

nur schlicht ein Masseur, der den Damen das Geld <strong>aus</strong> der<br />

Tasche zog? Heute hatte er den jungen Mann nicht beauftragt,<br />

mitzulaufen. Deshalb unterbrach er das Joggen und stieg, seiner<br />

Neugier folgend, den Hügel hinauf. Er wollte mehr über<br />

den Nackten erfahren. Er grüßte mit einem „Guten Morgen“<br />

und setzte sich neben Heinz auf den Boden, der ihn kritisch<br />

musterte.<br />

„Sie haben mich sicher schon beobachtet, wie ich jeden Morgen<br />

während meines dreiwöchigen Urlaubs hier am Strand<br />

entlanggejoggt bin. Ich heiße Jürgen Fass und komme <strong>aus</strong><br />

Frankfurt. Ich bin bei einer Bank beschäftigt, genauer gesagt,<br />

der Vorsitzende. Damit habe ich mich mit wenigen Worten<br />

vorgestellt und das Wichtigste über mich gesagt. Darf ich fragen,<br />

was Sie hier machen? Sie sehen <strong>aus</strong>, als ob Sie schon längere<br />

Zeit hier leben.“ Eigentlich wollte er gar nicht so viel über<br />

sich sagen, aber die klaren Augen von Heinz veranlassten ihn<br />

dazu.<br />

„Sie können es ruhig <strong>aus</strong>sprechen, was Sie denken“, erwiderte<br />

Heinz. „Sie denken, dass ich ein Aussteiger bin, einer,<br />

der der Zivilisation ein für alle Mal den Rücken gekehrt hat.<br />

Damit haben Sie recht und, als ich die Entscheidung damals in<br />

Berlin traf, habe ich das einzig Vernünftige in meinem Leben<br />

getan. Jetzt bin ich unabhängig, jetzt bin ich frei, und jetzt bin<br />

125


ich glücklich, so weit das ein Mensch überhaupt über einen<br />

längeren Zeitraum sein kann.“<br />

„Vermissen Sie denn gar nichts? Einen Theaterbesuch, ein<br />

Konzert, ein schönes Essen bei gepflegter Unterhaltung unter<br />

Freunden, ein Hochzeitsfest, einen Einkaufsbummel, ein Karten-<br />

oder Schachspiel oder einen Gottesdienst?“<br />

„Nein, ganz sicher nicht, dies alles vermisse ich nicht, denn<br />

ich erlebe dafür, wie die Sonne morgens aufgeht und abends<br />

im Meer wieder verschwindet. Ich weiß, dass dies Tag für Tag<br />

geschieht, komme, was wolle, und was dazwischen liegt, ist<br />

nicht eine innere, tiefe, unerklärliche Unruhe, die die Menschen<br />

in Europa zu immer neuen Taten und Anstrengungen treibt,<br />

weil sie glauben, etwas zu versäumen, nicht alles mitzubekommen,<br />

benachteiligt zu sein oder ins Abseits zu geraten, sondern<br />

eine Ausgeglichenheit, die zu heilender Meditation und<br />

zu innerem Frieden der Seele führt. Diese unerklärliche Unruhe<br />

kommt <strong>aus</strong> unserem Unterbewusstsein und ist nicht durch<br />

unseren Willen steuerbar. Bei mir sind Furchtlosigkeit und Freude<br />

anstelle von Angst getreten. James Redfield hat über die innere<br />

Unruhe in seinem Kultbuch Die Prophezeiungen der Celestine<br />

geschrieben. Aber auch in der Bibel ist davon die Rede, z.<br />

B. Psalm 42, 6: Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig<br />

in mir?“<br />

„Sie haben recht mit der inneren Unruhe. Sie treibt mich<br />

auch, und ich kann ihr nicht entkommen. Herzrhythmusstörungen<br />

hatte ich schon. Sie haben bestimmt keine“, sagte er,<br />

indem er seinen Blick über den braun gebrannten, durchtrainierten<br />

Körper seines Gegenübers gleiten ließ.<br />

Jürgen fuhr fort:<br />

„In gewisser Weise beneide ich Sie um Ihren Mut und Ihren<br />

Lebensstil. Aber ich kenne mich, das schaffe ich nicht! Ich habe<br />

eine Villa in einer der besten Lagen in Bad Homburg. Sie liegt<br />

126


mitten in einem Park. Sie wurde von dem berühmten Architekten<br />

Professor Eiermann entworfen. Beim Bau der Villa sind<br />

nur die teuersten Materialien verwendet worden. So bestehen<br />

die Böden <strong>aus</strong> feinstem italienischem Marmor. Die Wände vieler<br />

Zimmer sind mit Kirschbaum getäfelt. Meine Frau hat einen<br />

Designer engagiert, der die gesamte Einrichtung entworfen<br />

hat. Die Möbel wurden in einer Schreinerwerkstätte nach<br />

seinen Plänen angefertigt. Sie hat teure Bilder gekauft und<br />

wurde dabei von ihm beraten. Ein Otto Dix ist dabei und Lithographien<br />

von Salvatore Dalí. Meine Frau fährt einen Porsche,<br />

daneben steht mein Wagen, der neueste Daimler, wie es<br />

sich für einen echten Schwaben, ich stamme nämlich <strong>aus</strong> Stuttgart,<br />

gehört. Unsere zwei Söhne haben studiert, der eine hat<br />

an der Business School of London promoviert und der andere an<br />

der Harvard University. Ich bin von Luxus umgeben. Doch in<br />

meiner freien Zeit, die mir meine Tätigkeit lässt, bin ich zu<br />

H<strong>aus</strong>e nicht wirklich glücklich. Glauben Sie mir, mir ist es nicht<br />

möglich, mich auch nur für eine halbe Stunde in einen Sessel<br />

zu setzen und an gar nichts zu denken oder gar nichts zu tun.<br />

Etwas treibt mich an, etwas hetzt mich, obwohl kein objektiver<br />

Grund für diese innere Unruhe vorhanden ist.“<br />

Heinz hörte aufmerksam zu und dachte an sein eigenes früheres<br />

Luxusweibchen. Wie sich die Bilder doch glichen!<br />

„Kann es sein, dass der Bankerberuf nicht der richtige für<br />

Sie ist, wenn er Sie nicht <strong>aus</strong>zufüllen vermag? Der Schreiner,<br />

der Ihnen die Möbel schreinerte, war sicher ein glücklicher<br />

Mann, denn er kann am Abend anfassen, mit seiner Hand<br />

darüber streichen, was er am Tag geschaffen hat. Können Sie<br />

das auch anfassen, was Sie am Tag geschaffen haben? Ich glaube,<br />

dass der Bankerberuf darin besteht, anderen Menschen mit<br />

den raffiniertesten Methoden Finanzprodukte und Bankleistungen<br />

aufzuschwatzen, um so an ihrem Erfolg und ihrem Geld<br />

127


teilzuhaben. Gehören die Banker, die Zöllner, die Versicherungsfachleute,<br />

ja, auch die religiösen Führer nicht zur Gattung<br />

der Spinnen, die ihre Beute <strong>aus</strong>saugen? Oder sind sie eher<br />

wie Maden, die in der Rinde des Baumes den süßesten Saft<br />

abzwacken, aber immer nur so viel, dass der Baum daran nicht<br />

zugrunde geht?<br />

Ein Schmarotzer hat es nämlich im Leben leichter. Er muss<br />

keine Wurzeln schlagen. Die Wurzeln müssen nicht tief in die<br />

Erde eindringen, um Wasser zu finden. Das angezapfte Opfer<br />

erkennt ihn oft nicht, und wenn er seinen Peiniger schließlich<br />

<strong>aus</strong>macht, glaubt es sogar, eine Symbiose mit ihm eingehen zu<br />

müssen und legt zu, um ihn mitzuernähren. Dazu muss das<br />

Opfer, wenn es zum Beispiel ein Baum ist, zusätzliche Wurzeln<br />

wachsen lassen, tiefere Wasserquellen suchen und muss<br />

die Kraft verschlingende Produktion von Samen auf ein Minimum<br />

reduzieren. Die Taktik des Aussaugens muss aber weise<br />

angelegt sein. Nicht wie die einer Spinne. Die Mutterpflanze<br />

darf nicht überstrapaziert werden. Der Aussauger muss wissen,<br />

wann er viel und wann er weniger abzweigen kann: Wann<br />

darf er in S<strong>aus</strong> und Br<strong>aus</strong> leben, und wann muss er sich einschränken,<br />

damit sein Wirt immer mit optimaler Leistung arbeiten<br />

kann? Er will nicht, dass sein Wirt kränkelt und<br />

schließlich eingeht, weil das auch sein eigenes Ende bedeuten<br />

würde.<br />

Es geht dem Gastgeber so wie dem Läufer, der seinem Ziel<br />

entgegenstrebt und dabei immer wieder stolpert, weil ihm auf<br />

dem Weg dahin ein Bein gestellt wird. Er darf aber nicht fallen<br />

und sich verletzen, denn dann kann er nicht mehr laufen und<br />

muss sein Ziel für immer aufgeben. Ich habe in einem Buch<br />

mit dem Titel Neo-Tech von Dr. Wallace, das in Amerika vor<br />

Jahren unter dem Tisch gehandelt wurde, von dem Begriff des<br />

Neocheaters gelesen. Ein erfundener Ausdruck für Neubetrü-<br />

128


ger, für Aussaugerparasiten, für Mystiker, die mit autoritären<br />

Worten, mit großartigen Ansprachen, mit Gesten, mit dem<br />

Hinweis auf Ethik, Religion, Gesetz oder ganz einfach mit dem<br />

Appellieren an das Gewissen, den Rechtschaffenen dazu verleiten,<br />

einen Teil seines Erschaffenen herzugeben; er wird, ohne<br />

das wahrzunehmen, so vom Neocheater manipuliert, dass er<br />

sich für sein eigenes Geben bei ihm noch bedankt. Die Grundlagen<br />

für seine Erkenntnisse hatte Wallace beim Pokerspiel entdeckt,<br />

ein Spiel, das durch raffinierte Täuschung der Mitspieler<br />

zum Gewinn führen kann.<br />

Ein Rechtschaffener verdient aber sein Geld mit Arbeit, mit<br />

seinen Händen und seinem Verstand, damit etwas Wertvolles<br />

entsteht, das man greifen oder begreifen kann, und nicht mit<br />

Pokerspielen.<br />

Schauen Sie sich in Ihrer Umgebung um! Wer ist denn ein<br />

solcher Aussauger?<br />

An erster Stelle ist unser eigener Staat zu nennen. Er nimmt<br />

immer so viel von seinen Bürgern, bis die Bürger resignieren<br />

und weniger schaffen, dann lockert er wieder die Zügel, um<br />

den Handwerkern, den Arbeitern, den produktiv Schaffenden<br />

wieder mehr zu lassen und neue Anreize zu geben, ihm am Laufen<br />

zu halten.<br />

Wie aber sieht es mit der Religion <strong>aus</strong>?<br />

Die Rechtschaffenen haben eigenartigerweise einen besonderen<br />

Hang zum Spirituellen. Hier lauern die religiösen Fanatiker<br />

auf ihre Opfer. Den meisten Menschen reicht die Bergpredigt<br />

nicht mehr <strong>aus</strong>. Sie kennen auch die Zehn Gebote, die<br />

teilweise, auf unser heutiges Leben angewandt, unrealistisch<br />

wirken. Sie wollen mehr, etwas, das ihren persönlichen Wünschen<br />

näher kommt.<br />

Sie wollen einen konkreteren Gott. Einen Gott, der direkt zu<br />

ihnen spricht und ihnen die innere Unruhe und auch die Angst<br />

129


vor dem Tod nimmt. Und die Religion zeigt ihnen einen Weg.<br />

Tue Buße. Opfere. Der Opferstock ist am Ausgang der Kirche!<br />

Deshalb hüte dich vor allen Menschen in schwarzen, dunkelblauen<br />

oder Nadelstreifen-Anzügen! Die Wahrscheinlichkeit<br />

ist groß, dass sie Neocheater sind.“<br />

Jürgen schüttelte den Kopf. Das war eine Anspielung auf ihn.<br />

Der Nackte hatte ihn nicht verstanden, als er von seiner inneren<br />

Unruhe sprach. Er wollte ihn auf ein anderes Thema bringen<br />

und fragte deshalb unvermittelt:<br />

„Glaubst du an Gott?“<br />

Heinz erwiderte: „Der Psalm ist noch nicht zu Ende: Harre<br />

auf Gott! Denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilft mit<br />

seinem Angesicht.“<br />

In diesem Moment kraxelte eine hübsche Brünette mit einem<br />

makellosen, nahtlos braun gebrannten Körper den mit<br />

Geröll gespickten Pfad zu Heinz‘ Höhle herauf und blieb vor<br />

den beiden stehen.<br />

„Bin ich hier richtig bei Heinz, dem Masseur? Der mit den<br />

Ganzkörpermassagen? Meine Freundin Judith hat mir begeistert<br />

von Ihnen erzählt“, und sie musterte Heinz neugierig von<br />

Kopf bis Fuß. „Hier sind Sie richtig“, sagte Heinz. „Eine Stunde<br />

kostet zwanzig Mark.“<br />

„Ich werde morgen wiederkommen“, sagte Jürgen zu Heinz.<br />

„Wir können uns dann weiter unterhalten. Ich störe jetzt nur.“<br />

Heinz bedeutete der jungen Frau, sich mit dem Bauch auf<br />

die raue Betonplatte zu legen, wobei er mit geübtem Auge sofort<br />

den Ehering an ihrer linken Hand wahrnahm, und Vorfreude<br />

stieg in ihm auf. Er ließ etwas Öl, der Geruch von Kokosnuss<br />

lag schon in der Luft, auf ihren Rücken tropfen und verteilte<br />

es und begann mit seinen starken Händen sie langsam zu massieren.<br />

Auf dem Weg zurück in den Club dachte Jürgen über den<br />

130


von Heinz gebrauchten Begriff des Neocheaters nach. War er<br />

auch einer von der Sorte? Nein, das hatte überhaupt nichts<br />

mit ihm zu tun. Er saugte die Menschen nicht <strong>aus</strong>. Er arbeitete<br />

in seiner Bank mit Produkten, die einem Kunden helfen sollten,<br />

sein Vermögen zu vergrößern, oder er räumte seinen Kunden<br />

Kredite ein, die sie in die Lage versetzten, zukunftsträchtige<br />

Pläne, die auch der Allgemeinheit nützten, anzugehen.<br />

Dann aber fiel ihm ein, wie manche Kundenbetreuer in seiner<br />

Bank alte, einfache Leute, die wenig besaßen, berieten: „Unsere<br />

Bank empfiehlt Ihnen ein Sparbuch. Da ist Ihr Geld sicher und<br />

Sie bekommen auch Zinsen auf Ihre Einlage.“<br />

Sie sprachen betont so, als ob das nicht selbstverständlich<br />

wäre: „Zwei Prozent. Sie können sogar jederzeit über Ihr Geld verfügen.<br />

Wenn Sie mehr als t<strong>aus</strong>end Mark abheben wollen, müssen<br />

Sie uns das nur sechs Wochen zuvor mitteilen.“<br />

Bundesanleihen, die noch sicherer sind als ein Sparbuch,<br />

hätten der guten alten Frau aber mindestens doppelt so viel<br />

an Zinsen eingebracht, und sie hätte die Papiere sogar jederzeit<br />

verkaufen können, ohne irgendeine Kündigungsfrist einhalten<br />

zu müssen. Doch der Kundenbetreuer würde das der alten<br />

Frau erst dann anbieten, wenn sie ein besseres Angebot einer<br />

anderen Bank erwähnen oder vorlegen würde. Man würde<br />

doch nicht auf eine lukrative Einnahmequelle verzichten, nur<br />

um einer alten Frau zu helfen?<br />

Auch auf ein Girokonto bezahlte seine Bank keine Zinsen.<br />

Wenn aber dieses Konto überzogen wurde, waren dreizehn<br />

Prozent fällig. Genau genommen war das Wucher. Er kannte<br />

diese Praxis und war nie eingeschritten. Er hätte den Vorsitz<br />

nicht mehr lange innegehabt, wenn er sichere Einnahmequellen<br />

gekappt und so den Gewinn der Bank geschmälert hätte.<br />

Der Chefmathematiker hatte ihn kürzlich wieder einmal in<br />

seiner Chefetage aufgesucht, um ihm ein neues Finanzprodukt<br />

131


vorzuschlagen. Ein Finanzderivat. Derivate sind Papiere, denen<br />

Anleihen, Aktien oder Rohstoffe zugrunde liegen. Sie sind<br />

oft so konzipiert, dass sie für den Anleger in den letzten Feinheiten,<br />

auf die es aber letztlich ankommt, unverständlich bleiben.<br />

Er muss deshalb in der Regel an die von der Bank in Aussicht<br />

gestellten Gewinnchancen glauben und sich auf die Aussagen<br />

seines Betreuers verlassen. Je weniger verständlich und<br />

je komplizierter ein Derivat ist, desto höher ist der erzielbare<br />

Gewinn für die Bank. Zertifikate, auch zur Gattung der Derivate<br />

zählend, sind besonders beliebt und lassen sich glänzend<br />

an den Mann bringen. Ein bekanntes Zertifikat bildet zum Beispiel<br />

den DAX-Index nach. Nur müsste es eigentlich besser als<br />

der DAX abschneiden, denn die Unternehmen werfen Dividenden<br />

ab, die im DAX nicht berücksichtigt sind. Wo verstecken<br />

sich aber die Dividenden im Zertifikat? Werden sie unterschlagen<br />

und bilden so den satten Gewinn der Bank?<br />

Irgendwie hat dies alles schon mit Aussaugen zu tun, musste<br />

er widerstrebend zugeben, wenn auch nicht so krass wie das<br />

Heinz darstellte. War er selbst also doch ein Mini-Neocheater?<br />

Der nächste Morgen kam, und Jürgen saß wieder zu Füßen<br />

des Einsiedlers.<br />

„Wir waren bei Gott stehengeblieben. Glaubst du an Gott?“,<br />

fragte Jürgen noch einmal.<br />

„Nun gut“, sagte Heinz. „Wer ist denn Gott? Gibt es nur einen?<br />

Denkt er wie ein Mensch? Sieht er einem Menschen ähnlich?<br />

Sieht er wie ein alter Mann mit einem langen, weißen<br />

Bart <strong>aus</strong>, wie er von manchen Religionen für den einfachen<br />

Gläubigen beschrieben und auch dargestellt wird? Nein, wirst<br />

du sagen, weil du nicht einfach bist, so sieht er bestimmt nicht<br />

<strong>aus</strong>. Gott muss anders sein. Er muss eine transzendente Macht<br />

oder auch eine Kraft sein jenseits unserer Wahrnehmung und<br />

unseres Vorstellungsvermögens, wenn du seine Existenz nicht<br />

132


von vornherein leugnen willst. Bildlicher <strong>aus</strong>gedrückt: Was das<br />

Auge nicht gesehen, noch das Ohr gehört, noch die Zunge geschmeckt<br />

hat, das ist er. Doch was bedeutet Gott für uns, wenn<br />

er keinen direkten Einfluss auf uns nimmt? An Gott glauben<br />

heißt deshalb, dass diese Macht auf unser Leben Einfluss nimmt<br />

und Orientierung gibt. Orientiere ich mich daran? Ich weiß es<br />

nicht. An Gott zu glauben, hat nicht unbedingt etwas damit<br />

zu tun, auch an ein Weiterleben zu glauben. Wie stehst du<br />

dazu?“<br />

Jürgen schwieg. Er wusste keine Antwort. Und Heinz fuhr<br />

fort.<br />

„Gott ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner vom<br />

unendlichen Universum und der Welt der Atome. Er ist allgegenwärtig<br />

und kann deshalb nicht als eine riesige Schaltzentrale,<br />

von der alles wie von einem Supergehirn gesteuert wird,<br />

aufgefasst werden. Er ist vielleicht die vierte Dimension, die<br />

unsere Welt transzend enthält. So ist er in gewisser Weise auch<br />

die Zeit. Sie ist es, die die Unruhe in unsere Welt bringt. Mit ihr<br />

entstehen erste Abläufe. Gott ist wie ein riesiges Gravitationsfeld,<br />

das – auch wenn noch so schwach und kaum messbar ist<br />

– trotzdem überall vorhanden ist, manchmal stärker,<br />

manchmal schwächer, selbst im leeren, unendlich weit entfernten<br />

Raum jenseits von uns Menschen. So ist die Aussage naheliegend:<br />

Gott ist Schöpfer unserer Welt.<br />

Ich glaube, dass Gott in dieser Definition besonders stark in<br />

uns wirkt. Wir schaffen in uns eine eigene Gottesaura, was mit<br />

dem Entstehen unseres Bewusstseins zusammenhängen kann.<br />

Das volle Bewusstsein eines Menschen entwickelt sich langsam.<br />

Man kann es an der Frage messen: „Wer bin ich?“und<br />

„kann ich Ich denken?“ Ein anderes Lebewesen als der Mensch<br />

ist nicht in der Lage, über sein eigenes Ich nachzudenken. Mit<br />

der Entstehung des Bewusstseins ist ein Stück von Gott kon-<br />

133


kret, erkennbar geworden. Das Bewusstsein aber setzt die Entstehung<br />

des Ichs vor<strong>aus</strong>. Und in uns Menschen ist das größte<br />

Geheimnis dieses eigene Ich. Es ist unangreifbar immer da.<br />

Immer zentriert, obwohl es sich im Laufe der Jahre verändern<br />

kann, dreht es sich immer um die eigene Achse und bleibt sich<br />

treu. Zwei Ichs in einem Menschen führen zu Wahnsinn oder<br />

zu einer Katastrophe, was die Natur zu verhindern sucht.<br />

Das Ich ist, wenn wir geboren werden, leer. Es wird erst langsam<br />

zum Leben erweckt, wenn Eindrücke und Erfahrungen,<br />

kurz Informationen, die vom Umfeld einwirken, also der Welt,<br />

in der wir leben, im Gehirn zunächst gespeichert, dann bearbeitet<br />

und schließlich verarbeitet werden. Das Ich kristallisiert<br />

sich <strong>aus</strong> diffuser Masse und bleibt immer das Zentrum des<br />

Menschen. Es ist vergleichbar mit einem Kreisel, der gepeitscht<br />

seine Achse beibehält, wobei die Achse selbst einen eigenen<br />

Kreis beschreiben und auf seiner Unterlage wandern kann.<br />

Der alte persische Weise und Prophet Zarathustra sagt: „Der<br />

Mensch wird als vernünftiges Wesen frei geboren und kann<br />

allein durch freie Entscheidung und persönliche Einsicht zu<br />

Gott gelangen.“<br />

So gesehen glaube ich, dass Gott in uns geboren wird und in uns<br />

bis zu unserem Ende bleibt, wie hätte sonst das Ich entstehen<br />

können? Manche Menschen besitzen die Fähigkeit, sich selbst<br />

im eigenen Spiegel und dabei IHN zu sehen und SEINE Botschaften<br />

zu empfangen. ER ist in uns, und wir nehmen Einfluss<br />

auf IHN.“<br />

„Dann glaubst du also an Gott?“, fragte Jürgen.<br />

„Ja“, war Heinz' schlichte Antwort.<br />

Jürgens Urlaub war fast zu Ende. Übermorgen startete sein<br />

Flugzeug von Puerto de Rosario, dem Flughafen von <strong>Fuerteventura</strong>,<br />

nach Frankfurt. Er hatte von dem Einsiedler viel gelernt,<br />

manches gehört, worüber er nachdenken konnte. Ein Jahr lang<br />

134


is zum nächsten Cluburlaub. Er würde sicher wieder hierher<br />

kommen. Doch zuvor würde er an einer Jeep-Safari teilnehmen,<br />

die zur verlassenen Westküste Jandias führen würde mit<br />

einem Abstecher zur sagenumwobenen Villa Winter, die, wenn<br />

man den wilden Gerüchten Glauben schenkte, als Fluchtburg<br />

und Versteck für Nazigrößen nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

gedient hatte.<br />

Die Animateure Joe Schäfer und Hans Burkau vom Robinson<br />

Club saßen im ersten Jeep. Fünf weitere Jeeps folgten im<br />

gebührenden Abstand. Kurz hinter Morro ging die Straße in<br />

eine schlecht befestigte Schotterpiste über, die zum Leuchtturm<br />

am südlichsten Punkt der Insel führte, dem Punta de Jandia.<br />

Die beiden hatten ihre Hemden <strong>aus</strong>gezogen, und ihre braun<br />

gebrannten, vom vielen Sport durchtrainierten Oberkörper<br />

samt den langen Haaren auf den Köpfen waren schon nach<br />

wenigen Kilometer mit rostbraunem Sandstaub, von durchdrehenden<br />

Rädern aufgewirbelt, überzogen. Jürgen, im letzten<br />

der sechs Suzukis am Steuer, hielt sich sein Taschentuch<br />

vor Mund und Nase, um wenigstens einen Teil des Staubes<br />

nicht einatmen zu müssen. Die beiden Animateure legten ein<br />

Tempo vor, das für Schotterpisten viel zu hoch war. Sie liebten<br />

es, dem untermotorisierten Jeep alles abzuverlangen, was<br />

in ihm steckte.<br />

Die Piste wurde enger und steiniger, voll gefährlichem Geröll.<br />

Jürgens Jeep schlitterte wie auf Kugellagern. Ohne Vierradantrieb<br />

hätte der Wagen die Fahrspur nicht halten können.<br />

An manchen Stellen war die Piste weggebrochen, und der Jeep<br />

streifte hin und wieder die seitlichen Felswände. Wieder musste<br />

eine enge Kurve um einen Barranco, eine Schlucht, die in grauer<br />

Vorzeit, als es hier noch <strong>aus</strong>giebig regnete, von herabstürzenden<br />

Wassermassen <strong>aus</strong>gespült wurde, umfahren werden.<br />

Jürgens Mitfahrer beschwerte sich:<br />

135


„Fahr doch schneller, wir verlieren den Anschluss. Soll nicht<br />

lieber ich fahren?“ Jürgen winkte entsetzt ab. Allein das Aussehen<br />

seines Mitfahrers vermittelte das eines rücksichtslosen<br />

Draufgängers, ein Unfall wäre vorprogrammiert.<br />

Der junge, allein fahrende Fahrer in seinem Jeep vor den beiden<br />

unterschätzte die Rutschgefahr. Er gab unkontrolliert Gas<br />

und freute sich wie ein Kind, wenn der leicht gebaute, vom<br />

vielen Fahren <strong>aus</strong>geleierte und <strong>aus</strong> der Spur geratene Jeep in<br />

Sätzen nach vorn schoss und dabei der Motor aufheulte. Er<br />

wollte den R<strong>aus</strong>ch des gefährlichen Fahrens an der Grenze des<br />

Möglichen voll <strong>aus</strong>kosten. Und da passierte es! Der Achtzehnjährige<br />

verlor die Kontrolle über das Fahrzeug. Die Räder glitten<br />

über das Geröll wie auf Eis, die runden Steine spritzten<br />

zur Seite. Jürgen schien es, als ob der nervig jaulende Suzuki<br />

für den Bruchteil einer Sekunde in der Luft über dem Barranco<br />

schweben würde, bis er in voller Fahrt die Schlucht hinabstürzte,<br />

sich dabei überschlug und gegen einen findlingsgroßen Felsbrocken<br />

knallte, wo er schließlich zur Ruhe kam. Der Kühler<br />

platzte und zischend entwich weißer Dampf. Jürgen stockte<br />

der Atem. Wie gelähmt schaute er zu, als ob ein Film vor ihm<br />

abspulen würde. Hatte der Junge überlebt, oder war er tot?<br />

Dann beobachtete er, wie der Blondschopf auf allen vieren <strong>aus</strong><br />

dem qualmenden, zerstörten Fahrzeug her<strong>aus</strong>kroch. Er streckte<br />

seinen linken Arm in die Höhe. Eine Ader an seinem Armgelenk<br />

war geplatzt. Ein Blutstrahl spritzte wie eine Fontäne.<br />

Dann brach der Junge zusammen. Jürgen, seinen Schock überwindend,<br />

überlegte, wie er dem Jungen zur Hilfe kommen<br />

könnte. Der Abhang war zu steil. Er würde das nicht schaffen,<br />

ohne selbst abzustürzen. So sportlich war er nicht mehr. Doch<br />

Joe und Hans waren schon zur Stelle. Mit katzenartiger Geschicklichkeit<br />

kletterten sie den Abhang zu dem Jungen hinunter.<br />

Sie rissen ein Hemd in Streifen und banden ihm den Arm<br />

136


ab. Sie führten eine Flasche Wasser an seine Lippen, der Junge<br />

trank. Jetzt stand er wieder, und sie geleiteten ihn an einer flacheren<br />

Stelle <strong>aus</strong> der Schlucht. Hans fuhr ihn zurück zum Club,<br />

wo er ärztlich versorgt werden sollte.<br />

Joe führte die verbleibenden fünf Jeeps jetzt allein an. Vorsichtig<br />

geworden, fuhr er etwas langsamer. Eine Piste, die über<br />

die Bergkette über einen Pass nach Cofete führte, vielleicht das<br />

abgelegenste Dorf der Kanaren an der menschenleeren Südwestküste<br />

<strong>Fuerteventura</strong>s, ging rechts ab. Nach vielen Serpentinen<br />

über noch gefährlicheres Geröll als auf der Piste zuvor,<br />

hielt die Gruppe auf der Passhöhe Degollada de Agua Oveja.<br />

Ein orkanartiger, sandgetränkter Wind pfiff durch die Passniederung<br />

und durch die offenen Jeeps. Jürgen stieg <strong>aus</strong> und<br />

konnte sich gegen den Wind kaum auf den Beinen halten. Dafür<br />

bot sich ihm ein atemberaubender Blick auf die Berge und die<br />

Sandstrände vor der Kulisse der hereinbrechenden, weiß<br />

schäumenden Atlantikwellen bis hin zum Inselchen El Islote,<br />

das gerade noch sichtbar im Norden lag. Der Strand Playa de<br />

Cofete zog sich bis dahin, und dahinter schloss sich der Strand<br />

von Playa de Barlovento an. Dies war also die wilde, weiträumige<br />

Schönheit der Westküste, von der mancher Besucher<br />

schon geschwärmt hatte!<br />

Cofete lag vor ihnen. Kaum als Dorf zu bezeichnen, war Cofete<br />

eine Anhäufung von heruntergekommenen, unbewohnten,<br />

lehmverschmierten Steinhäuschen und Bretterbuden, bis<br />

auf ein rechteckiges, gemauertes Gebäude, in dem eine Familie<br />

lebte und die eine Café-Bar für die wenigen Touristen betrieb,<br />

die sich hierher verirrten. Das bisschen Geld und die<br />

Milch der wenigen Ziegen, die auch die winzigste Pflanze fanden,<br />

die in der Dürre von welchem Wasser auch immer keimen<br />

sollte, sorgten für ihren Unterhalt.<br />

Und dann entdeckte er, vielleicht einen Kilometer entfernt,<br />

137


am Ende eines schroff abfallenden Hanges ein schlossartiges,<br />

zweistöckiges Gebäude mit einem alles überragenden runden<br />

Turm. Die Rundbögen an der Vorderseite gaben dem Gebäude<br />

das unverwechselbare Aussehen, wie er es von Fotografien<br />

kannte. Das war also die legendäre Villa Winter! Ein solch<br />

ungewöhnliches Herrenh<strong>aus</strong> in dieser gottverlassenen Gegend!<br />

Hinter der Villa fielen Wolken über den Pico de la Zarza, den<br />

mit über 800 Meter höchsten Berg der Insel, die beim Wälzen<br />

über die Bergspitze und beim Fallen in die Tiefe verdampften<br />

und sich in nichts auflösten.<br />

Die ganze Bergkette fiel so steil zum Meer ab, dass Jürgen<br />

sich in seiner Fantasie vorstellte, Atlantis sei hier einst abgebrochen<br />

und im Meer versunken. Ein versunkenes Atlantis,<br />

jenseits der Säulen des Herakles – jenseits der Meerenge von<br />

Gibraltar, so geheimnisvoll wie diese Villa Winter?<br />

Zurück im Wagen, folgte Jürgen den anderen, entlang an<br />

scharfen Felswänden mit dem schon gewohnten Schotter und<br />

Geröll auf der Piste. Links von ihm ging es vierhundert Meter<br />

tief, für ihn schwindelerregend, abwärts zum Meer. Er kurbelte<br />

den Jeep durch die enge Haarnadelkurve. Die Geröllpiste<br />

war kaum breiter als der Suzuki, der schon wieder ins Rutschen<br />

geriet. Er entdeckte in einer Senke, wo es tief unter der Erde<br />

vielleicht noch etwas Wasser gab, einige grüne Pflanzen in der<br />

sonst vertrockneten, braungelben Landschaft. Waren das Kakteen?<br />

Joe erklärte bei einem Halt in einer Kurve, dass es sich<br />

hier tatsächlich um eine Kakteenart handelte, eine botanische<br />

Rarität der Insel, die den Namen Cardón de Jandia trug, ein<br />

Euphorbiengewächs. Die Ziegen hatten diese Pflanzen verschont.<br />

Sie waren hochgiftig.<br />

Joe führte die Jeeps zu der genannten Bar. Sie stellten die<br />

Jeeps vor dem einstöckigen, grob gemauerten Gebäude ab. Zwei<br />

junge Hunde sprangen an den Ankömmlingen empor, die<br />

138


staubbedeckt auf der kleinen Terrasse auf den verrosteten Eisenstühlen<br />

Platz nahmen. Der hagere Wirt kam her<strong>aus</strong>:<br />

„Buenos días“, sagte er.<br />

Jürgen versuchte sein Spanisch und erwiderte: „Un cafe, por<br />

favor.“<br />

Joe setzte sich in die Mitte der Gruppe und erzählte:<br />

„Der Deutsche Gustav Winter, von den Einheimischen Don Gustavo<br />

genannt, auf Jandia meistens mit Sonnenbrille und einer Pfeife<br />

im Mund anzutreffen, kam während des Spanischen Bürgerkriegs<br />

im Jahr 1937 auf die Insel.<br />

Er soll mit den Fundamenten der Villa, die ihr am Berghang<br />

da drüben sehen könnt, während des Zweiten Weltkriegs begonnen<br />

haben. Da war der Tourismus noch ein Fremdwort auf<br />

der Insel. Auch dieses Gebäude, in dem wir uns aufhalten, hat<br />

er erstellen lassen. Der kleine Hügel, der vor uns liegt, birgt<br />

sicher auch ein Geheimnis. Er passt überhaupt nicht in die topographische<br />

Landschaft, wie ihr selbst beurteilen könnt. Wie<br />

ein künstlich aufgeschütteter Fremdkörper. Ist irgendetwas<br />

darunter versteckt?<br />

Ein Gerücht geht um, dass Winter ein deutscher General oder<br />

Admiral gewesen sei.<br />

Das trifft aber nicht zu, denn meine Nachforschungen haben<br />

ergeben, dass Gustav Winter von Beruf Chemiker war,<br />

mindestens steht es so in einer alten Meldekarte vom Stadtarchiv<br />

Titisee-Neustadt. Aus der gleichen Meldekarte geht<br />

hervor, dass er am 10.5.1893 in Zastler bei Freiburg geboren<br />

wurde. Er war mit Johanna Winter, eine geborene Adelsberger,<br />

verheiratet und hatte zwei Töchter, Isolde 1912 in Paris<br />

und Anamarie 1914 in Lissabon geboren. Im gleichen Jahr 1914<br />

zog er von Rio Grato kommend, das in Argentinien liegt, nach<br />

Neustadt im Schwarzwald, um kurz danach nach Spanien<br />

weiterzuziehen. Den Ersten Weltkrieg verbrachte er mit sei-<br />

139


Blick vom Pass auf Cofete<br />

ner Familie in Madrid, wo er sein, wahrscheinlich in Hamburg<br />

angefangenes, Ingenieurstudium 1921 beendete. Wenige Jahre<br />

danach errichtete er als junger Ingenieur das Elektrizitätswerk<br />

CICER in der Hafenstadt Las Palmas auf Gran Canaria,<br />

das 1928 in Betrieb ging. 1933 soll er zum ersten Mal kurz auf<br />

<strong>Fuerteventura</strong>, genauer gesagt, auf deren südlichem Teil Jandia,<br />

gesehen worden sein.<br />

Er war in jungen Jahren schon in vielen spanisch sprechenden<br />

Ländern unterwegs gewesen, und es ist deshalb nicht verwunderlich,<br />

dass man seinen Namen viel später in den siebziger<br />

Jahren in einer geheimen, schwarzen Liste der Alliierten<br />

über Nazi-Agenten in Spanien findet, die lange Jahre für niemanden<br />

zugänglich war und erst kürzlich offengelegt wurde.<br />

Darin steht als Winters Kurzprofil: deutscher Agent auf den<br />

Kanarischen Inseln, der für einen mit drahtloser Telefonie <strong>aus</strong>-<br />

140


Siedlung Cofete und dahinter der Strand Playa de Cofete<br />

Ist hier Atlantis abgebrochen und im Meer versunken?<br />

141


Giftige Kakteen an der menschenleeren Westküste<br />

Villa Winter (weiß eingerahmt) am Fuß des Pico de la Zarza<br />

142


Wasserrinne vom Stollen zum Wasserreservoir<br />

gerüsteten Observierungsposten verantwortlich ist und für die<br />

Versorgung von deutschen U-Booten.<br />

Winter pachtete gleich nach seiner Ankunft die ganze Halbinsel<br />

Jandia von der Familie der Grafen Santa Colma, repräsentiert<br />

durch Don Alejandro Marques de Portago. Viele Jahre<br />

später, nämlich 1962, wurde dieses Land Gustav Winter geschenkt,<br />

offiziell von der Firma Dehesa de Jandia S. A., als „Entschädigung<br />

für seine unermüdlichen Anstrengungen zur Erschließung<br />

der Halbinsel“, sicher nicht ohne den Segen von<br />

Generalissimo Franco. 2 300 Hektar! Der ganze südliche Teil<br />

von Jandia!<br />

Von wem hatte damals Winter den Auftrag erhalten, die<br />

unfruchtbare, menschenleere Halbinsel Jandia, eine Mondlandschaft<br />

ohne die geringste Infrastruktur, zu pachten? Von<br />

wem das viele Geld? Es wird gemunkelt, dass es <strong>aus</strong> der Kriegskasse<br />

Görings stammte. Vielleicht war das auch der Grund-<br />

143


Amerikanischer Dodge Lastwagen in Cofete<br />

stock für die vielen Millionen, die das Land einmal der Familie<br />

Winter einbringen sollte.“<br />

Jürgen hörte aufmerksam zu. So abwegig war die Theorie<br />

nicht, dass die Nazis einen sicheren Schlupfwinkel im Atlantik<br />

suchten, um ihre U-Boote auftanken und warten zu können.<br />

Hitlers U-Boote waren während des Krieges bekanntlich<br />

bis zum Kap und weiter zum Indischen Ozean vorgedrungen,<br />

um feindliche Schiffe aufzuspüren und zu torpedieren.<br />

Joe machte eine kurze P<strong>aus</strong>e und fuhr mit seinem Bericht<br />

fort:<br />

„In den ersten Jahren versuchte Winter, Jandia landwirtschaftlich<br />

nutzbar zu machen. Verkümmerte Reste einer begonnenen<br />

Aufforstung sind heute noch zu finden. Vor allem<br />

dieses Gebiet um Cofete, das noch vor hundert Jahren die<br />

fruchtbarste Gegend von <strong>Fuerteventura</strong> war, sollte seinen<br />

144


Villa Winter vor dem Pico de la Zarza<br />

Mystische Villa Winter im morgendlichen Gegenlicht<br />

145


Eingangstür<br />

Blick vom Garten auf den Turm<br />

146


Stolleneingang im Fels bei der Villa Winter<br />

Verrostete Bergwerkslore mit dem Schriftzug „Krupp“<br />

147


Verteilerdose mit<br />

Schriftzug „Elag“<br />

landwirtschaftlichen Versuchen dienen.<br />

In seiner Vision wollte er die karge<br />

Landschaft wieder in ein blühendes<br />

Paradies verwandeln. Warum dies<br />

aber mit einer Zwangsumsiedlung aller<br />

Bewohner dieses Gebietes in nördlichere<br />

Teile der Insel verbunden war,<br />

ist nicht verständlich. Die Halbinsel<br />

wurde kurz nach seiner Ankunft<br />

sogar zur militärischen Sperrzone erklärt<br />

und an einer der engsten Stellen,<br />

nur fünf Kilometer breit, mit Stacheldraht<br />

abgetrennt. Nur wenige <strong>aus</strong>gesuchte,<br />

einheimische Landarbeiter<br />

durften mit Sonder<strong>aus</strong>weis die Stacheldrahtgrenze<br />

passieren, die rund um die Uhr bewacht wurde.<br />

Sie haben sicher bemerkt, dass ein Teil dieses Gebäudes, in<br />

dem wir uns befinden, zugemauert ist. Ein Zugang zu diesem<br />

Teil ist nicht möglich. Auch Petro, unser Wirt, hat keinen<br />

Schlüssel. Immer wieder wurde gerätselt, was darin versteckt<br />

sein könnte. Meine Neugierde wollte ich befriedigen, und ich<br />

nagelte eine primitive Leiter zusammen, wobei mir Petro half,<br />

der einige Peseten dafür bekam. Durch ein oberes, enges, eingeschlagenes<br />

Fenster kann man in den Raum gelangen. Hat<br />

jemand Lust, mich zu begleiten?“<br />

Jürgen zwängte sich durch das Fenster und ließ sich an einem<br />

Seil auf der Innenseite des dunklen Raums hinab. Vor ihm<br />

stand ein alter Lastwagen. Ein alter amerikanischer Dodge <strong>aus</strong><br />

der Kriegszeit in erbärmlichem Zustand. Ein alter Holzvergaser,<br />

in der Bauart, wie sie im Krieg für Lastwagen in Deutschland<br />

verwendet worden waren, lag in der Ecke. Das erzeugte<br />

148


Bergwerkslore mit dem Schriftzug „Krupp“<br />

Mauerumrandung der Villa Winter im Umriss von Jandia<br />

149


Gas ersetzte das Benzin, das Mangelware war. Altes Gerümpel<br />

stand herum und verschiedene verrostete landwirtschaftliche<br />

Geräte mit deutschen Firmennamen. Die Überraschung<br />

war perfekt. Der Lastwagen hatte sicher dazu gedient, das benötigte<br />

Baumaterial für die Villa Winter vom Hafen in Morro<br />

über den Pass, den sie gekommen waren, hierher zu karren.<br />

Einheimische beteuern jedoch, dass das meiste Baumaterial<br />

auf Kamelen und Eseln hierher transportiert wurde, weil die<br />

Straße zu schlecht gewesen sei, wie Joe zu berichten wusste.<br />

Es bestand zu jener Zeit auch keine befahrbare Straße von Puerte<br />

del Rosario nach Morro.<br />

Jetzt war Jürgens Neugier voll entfacht. Wie sah die Villa<br />

selbst <strong>aus</strong>? Welche Überraschungen hatte sie zu bieten?<br />

Joe saß schon wieder in seinem Jeep und nahm den holprigen<br />

Weg in wenigen engen Kurven durch die verwilderten<br />

Felder des Anwesens hinauf zu der in den Hang hineingezwängten<br />

Villa. Imposant und stolz präsentierte sie sich, ein<br />

festungsartiger, zweigeschossiger, mit behauenen Natursteinen<br />

gemauerter Bau mit einem runden Turm an der Seite und<br />

an der Vorderfront mit Rundbögen. Die Villa war von einem<br />

weiten, mauerähnlichen Steinwall umgeben, der die Umrisse<br />

von Jandia nachzeichnete. Winter musste nicht nur ein genialer<br />

Ingenieur, sondern auch ein guter Architekt gewesen sein<br />

und über viel Fantasie verfügt haben. Oder war die Architektur<br />

der Villa derjenigen der Nazis nachempfunden? Waren<br />

nicht stilistische Ähnlichkeiten mit Hitlers Obersalzberg festzustellen?<br />

Die Frage drängte sich Jürgen erneut auf: Warum<br />

hatte Winter die Villa gerade in dieser unzugänglichen Einöde<br />

errichtet?<br />

Joe hielt mit seinem Jeep auf dem Hof hinter der Villa. Jürgen<br />

stellte sich mit seinem Fahrzeug daneben. Zwei Hunde<br />

bellten gefährlich. Es waren keine Dobermänner oder Deut-<br />

150


sche Schäferhunde, wie er eigentlich erwartet hatte, sondern<br />

Hirtenhunde, friedliche Mischlinge, wie sie auch in Morro anzutreffen<br />

waren. Trotzdem wich Jürgen zurück, bis sich einer<br />

der Hunde streicheln ließ und seine Hand leckte.<br />

Hinter ihm entdeckte er eine Kipplore, wie sie im Bergbau<br />

verwendet wird. Sie war verrostet. Der Name Krupp war auf<br />

einem Blech eingeprägt. Verbogene Schienen lagen daneben,<br />

und da rostete ein alter Traktorenmotor in der Salzluft vor sich<br />

hin.<br />

Joe setzte seine Erläuterungen fort:<br />

„Weiter oben am Berg hat Winter einen Stollen in den Fels<br />

treiben lassen. Dazu wurden solche Loren eingesetzt. Es wird<br />

vermutet, dass er eine direkte Verbindung nach Morro schaffen<br />

wollte. Doch auch einem anderen Zweck hätte der Stollen<br />

dienen können. Stollen dieser Art werden auf den Kanaren<br />

›Galerias‹ genannt. Sie führen in einer porösen Schicht, hier<br />

eine Art Mergel, etwa dreihundert Meter leicht ansteigend in<br />

den Berg. An den Wänden des Ganges perlt Wasser hervor,<br />

das sich in T<strong>aus</strong>enden von Jahren im Mergel gespeichert hat,<br />

und sammelt sich in einer Rinne am Boden. Es fließt her<strong>aus</strong><br />

und wird durch einen Kanal oder ein Rohr zu einem Wasserreservoir<br />

geleitet, in diesem Fall einem kleinen Staudamm,<br />

dessen Mauer noch zu sehen ist. Vielleicht wollte Winter so<br />

die Wasserversorgung der Villa sichern.“<br />

Ein zerlumpter, alter Mann saß am Eingang und rauchte ein<br />

Zigarillo. Sein Gesicht war <strong>aus</strong>gedörrt von der Seeluft, der<br />

immerwährenden Sonne und dem blasenden Passatwind. Er<br />

schätzte die Fremden wortlos ab. Wie viel würden sie bezahlen?<br />

Seine Augen wirkten gläsern. Vom vielen Trinken oder<br />

von den Drogen, die er konsumierte? Joe sagte, dass er Rafael<br />

heiße. Nachdem Joe ihm einige Peseten zugesteckt hatte, schaute<br />

er verächtlich auf das wenige Geld, erhob sich aber trotz-<br />

151


Don Gustavo - mit seiner Pfeiffe im Mund<br />

dem schwerfällig von seinem Sitz und öffnete die kleine Tür,<br />

die in ein halbkreisförmiges Holztor eingelassen war, groß<br />

genug, um einen Heuwagen passieren zu lassen. Sie quietschte<br />

beim Aufstoßen in ihren verrosteten Scharnieren. Das Holztor<br />

selbst war in eine drei Meter hohe, oben mit Glasscherben<br />

besetzte Mauer eingesetzt.<br />

In dem Atrium wuchsen einige Hibiskussträucher in Steintrögen,<br />

einige übermannshohe Wolfsmilchgewächse und wilde<br />

Bananenstauden um den in der Mitte stehenden, <strong>aus</strong> Stein<br />

gemeißelten Brunnen. Versiegt war der künstliche Bachlauf,<br />

der einst den Brunnen gespeist hatte. Ein Feigenbaum trug einige<br />

kümmerliche Früchte. Alle Pflanzen waren verwildert und<br />

fast verdorrt. Unrat lag herum, Müll des Alten, der einige Räume<br />

im linken Flügel der Villa bewohnte. Ein hölzerner, geschnitzter<br />

Krokodilskopf bildete das Ende einer Regenrinne.<br />

Die Villa selbst war offen. In der Eingangstür, die über einen<br />

152


Vorraum zum Wohnzimmer führte, war ein großes “ W„ eingeschnitzt,<br />

das für den Namen Winter stand. Jürgen bemerkte<br />

unwillkürlich die außergewöhnliche Dicke der Außenwände<br />

von etwa siebzig Zentimetern. Warum so dicke Außenwände,<br />

wie die von einer Festung?<br />

Joe führte die Gruppe ins Wohnzimmer, das ohne Möbel groß<br />

und kalt wirkte. Der Boden war glatt, <strong>aus</strong> poliertem Marmor.<br />

Alles war verdreckt. Braune Kügelchen von Ziegen lagen herum.<br />

Vor dem offenen Kamin waren Maiskolben zum Trocknen<br />

aufgehängt. Der Essensaufzug, der vom unteren Geschoss<br />

heraufführte, war leer. Vom Wohnzimmer ging es auf die überdachte<br />

Terrasse, die durch sechs Arkaden begrenzt war. Vom<br />

obersten Stockwerk des Turms war der Blick nach Süden und<br />

Norden über das ganze Meer frei. Ein endloses Panorama in<br />

drei Himmelsrichtungen. Ein idealer Aussichts-, aber auch<br />

Beobachtungspunkt. Am Horizont konnte Jürgen die bräunliche<br />

Linie von Gran Canaria erkennen und dahinter ganz<br />

schwach den Pico del Teide, den 3 718 Meter hohen Berg und<br />

das Wahrzeichen von Teneriffa unter den vom Wind gejagten<br />

Kumuluswolken. Mit einem Fernrohr könnte ein Beobachter<br />

den Schifffahrtsweg zwischen Gran Canaria und <strong>Fuerteventura</strong><br />

lückenlos überwachen.<br />

Jürgen entdeckte einen riesigen elektrischen Hochlast-Messerschalter,<br />

wahrscheinlich von Siemens, der sicher fünfzig Ampere<br />

schalten kann, und eine Verteilerdose mit dem eingegossenen<br />

Schriftzug ELAG. Steht vielleicht für Elektrizitäts-Aktiengesellschaft?<br />

Diese hohen Stromleistungen, wofür? Radiotelefonie brauchte<br />

damals sehr viel Strom, besonders für einen leistungsfähigen<br />

Sender. Joe meinte, dass vielleicht mit dem Strom riesige<br />

Magnetfelder erzeugt werden sollten, um die Kompasse vor-<br />

153


eifahrender Schiffe abzulenken. Vielleicht ist diese Theorie<br />

auch nur ein Gerücht.<br />

Er ging weiter in die unteren Geschosse, wo sich die Küche<br />

mit einem Backofen und einem Herd befand. Dahinter lag ein<br />

Vorrats-Kühlraum. Einige Gänge, von denen kleinere Zimmer<br />

abgingen, waren an ihrem Ende zugemauert. Wo führten sie<br />

hin? In den Fels dahinter?<br />

Joe hatte die Gruppe wieder um sich geschart:<br />

„Mit dem Bau der Villa kurz nach seiner Ankunft soll Winter<br />

auch mit dem Bau eines kleinen Fischereihafens in Morro<br />

begonnen haben. Er soll mit dem Gedanken gespielt haben,<br />

dazu eine Art Fischverarbeitung einzurichten. Vielleicht waren<br />

das ja nur Projekte, so wie auch seine landwirtschaftlichen<br />

Aktivitäten – die von ihm angelegten Tomatenplantagen von<br />

Casa de Joros sind auch ein Beispiel dafür –, um seinen wirklichen<br />

Auftrag zu tarnen.<br />

Geld schien bei seinen Unternehmungen keine Rolle gespielt<br />

zu haben. Manche bringen Winter nicht nur mit Göring, sondern<br />

auch mit dem damaligen Abwehrchef der Reichsregierung<br />

Canaris in Verbindung. Die Vermutung liegt nahe, dass<br />

er den Auftrag erhalten hatte, ganz diskret für die mit Franco<br />

befreundeten Nazis einen U-Boot-Stützpunkt zu planen. Doch<br />

wahrscheinlich sind die Vorbereitungen dazu in der unwirtlichen<br />

und logistisch ungünstigen Lage <strong>Fuerteventura</strong>s im Sand<br />

verlaufen. Man kann sich aber beim besten Willen nicht vorstellen,<br />

dass Winter, ohne einen speziellen Regierungsauftrag<br />

in der Tasche zu haben, 1937 <strong>aus</strong> rein privaten Gründen nach<br />

Jandia gekommen war. Bis in die sechziger Jahre hinein diente<br />

die Insel der spanischen Regierung nämlich dazu, unerwünschte<br />

Personen auf dem spanischen Festland nach <strong>Fuerteventura</strong><br />

abzuschieben oder nach dahin zu verbannen. Niemand wollte<br />

auf dieser verlassenen Insel ohne Zukunft, wo die Menschen<br />

154


in tiefer Armut lebten, freiwillig bleiben. Spaniens großer Dichter<br />

Miguel de Unamuno wurde 1924 hierher verbannt. Er schreibt<br />

über diese Insel: Sie ist ein spiritueller Felsen, wo nur das Herz<br />

herumstreift, von Mensch und Wüste entblößt!<br />

Die oft genannten Höhlen von Ajuy weiter nördlich von hier,<br />

die wie natürliche Einfahrten für U-Boote <strong>aus</strong>sehen, haben sicher<br />

nie ein deutsches U-Boot gesehen, gen<strong>aus</strong>o wenig wie das<br />

angelegte, nicht asphaltierte Flugfeld südlich von hier ein deutsches<br />

Flugzeug.<br />

In Wahrheit wurde das Flugfeld erst lange nach dem Krieg<br />

angelegt, um den ersten deutschen Urlaubern die mühselige<br />

Anfahrt vom alten Flughafen Los Estancos zu ersparen. Dann<br />

baute die Inselverwaltung aber den neuen Flughafen südlich<br />

der Hauptstadt und eine Straße nach Morro, so dass das Flugfeld<br />

auf Jandia nie in Betrieb gehen musste. Die gern aufgestellte<br />

These, das Flugfeld sei als Stützpunkt für die Deutsche<br />

Luftwaffe konzipiert, ist wohl ebenso irrig wie die von den U-<br />

Boot-Bunkern bei Ajuy.<br />

Fest steht, dass Gustav Winter den wenigen verbliebenen<br />

Einheimischen in Morro Arbeit gegeben hat, Straßen gebaut<br />

hat und sogar eine kleine Kirche.<br />

In dem einzigen Interview, das Winter einer deutschen Zeitschrift,<br />

dem Stern, im Jahr 1971, kurz bevor er starb, gegeben<br />

hat, behauptet er, dass er mit dem Bau der Villa erst 1947 begonnen<br />

habe und erst im Jahr 1958 der jetzige Zustand erreicht<br />

worden sei. Im gleichen Jahr verließen die Winter Jandia, wo<br />

sie in Morro lebten, und zogen nach Gran Canaria um. Fest<br />

steht, dass die Familie Winter nie in der Villa gelebt hat. Auch<br />

fehlt in dem Gebäude zum Beispiel ein Schlafzimmer. Im gleichen<br />

Bericht des Stern wird der deutsche Filmproduktionsleiter<br />

Hans Wernicke zitiert, der bei einem heimlichen Besuch in<br />

155


der Villa Kisten mit deutschen Wehrmachtsuniformen und<br />

Musikinstrumenten gefunden haben will“.<br />

Jürgen nahm die von Joe eingelegte Sprechp<strong>aus</strong>e wahr, ihn<br />

zu fragen, warum gerade Winter diese nur mühsam erreichbare<br />

Gegend von Cofete für sein Vorhaben <strong>aus</strong>gesucht hatte.<br />

Es ist kein natürlicher Hafen in der Nähe. Schiffe können nicht<br />

landen. Die Strömung ist viel zu stark und ebenso die Brandung<br />

bei den vorwiegend auflandigen Winden. Da nützt es<br />

wenig, wenn das Licht und die Menschenleere dieses Strandes<br />

den Betrachter oder Besucher in ihren Bann schlagen.<br />

Jürgen war von dem bisherigen Wissen des jungen Mannes<br />

überrascht und erfuhr von seinem Mitfahrer, dass Joe als Student<br />

deutscher Literatur und Geschichte im Robinson Club jobbte<br />

und gerade eine Abhandlung über die Spionagetätigkeit der<br />

Deutschen im Krieg schrieb.<br />

Joe hatte eine unerwartete Antwort bereit:<br />

„Ich glaube“, sagte Joe, „dass die Villa den Eingang zu einem<br />

Höhlensystem verdeckt. Meine Vermutung ist absolut<br />

nicht abwegig. Auf Teneriffa befinden sich die längsten natürlichen<br />

Tunnel der Welt, die Cueva del Viento. Sie sind durch<br />

vulkanische Aktivitäten entstanden und fünfzehn Kilometer<br />

lang. Sie ziehen sich wie ein mehrstöckig angelegtes Röhrensystem<br />

durch den Fels und sind erst zum Teil erforscht. Auch<br />

auf der Nachbarinsel Lanzarote finden sich solche vulkanischen<br />

Tunnel. Warum soll es solch ein Höhlensystem nicht<br />

auch auf <strong>Fuerteventura</strong> geben? Die Bewohner der Villa würden<br />

über sichere Fluchtwege und auch nie zu entdeckende<br />

Verstecke verfügen, die auf künstliche Weise und mit den damaligen<br />

Mitteln unter Zeitdruck nie zu schaffen gewesen wären.<br />

Warum sind denn die Gänge im Keller alle zugemauert?<br />

Wohin führen sie?“<br />

Joe beendete seinen Vortrag. Die Jeeps krochen die Geröll-<br />

156


piste zum Strand von Cofete hinab. Sie kamen an einem mysteriösen<br />

Friedhof vorbei. Wer wohl hier begraben lag? Einheimische<br />

waren es nicht. Die wurden in Morro begraben.<br />

Sie erreichten den Strand.<br />

Fünf Kilometer waren es bis zu dem kleinen Halbinselchen<br />

El Islote, wo die ankommenden Wellen sich in den Felsspalten<br />

stauen, brechen und in Wasserfontänen hoch in die Luft schießen<br />

und so ihre Energie in einem spektakulären Sch<strong>aus</strong>piel freisetzen.<br />

Die Fahrt über den festen Sand dahin wurde zu einem<br />

Jeep-Rennen. Es herrschte Ebbe. Nach einem Picknick ging es<br />

wieder zum Robinson Club zurück. Morgen früh würde Jürgen<br />

wieder nach H<strong>aus</strong>e fliegen. Die Flugzeit würde schnell vergehen.<br />

Er hatte viel in diesem Urlaub erlebt.<br />

In den Monaten nach Jürgens Heimflug sollte sich das bisher<br />

einsame und besinnliche Leben von Heinz entscheidend ändern.<br />

Er war auf seinem Hochsitz gesessen, um dem Sonnenuntergang<br />

zuzusehen, als ein junges Mädchen singend am<br />

Strand entlangschlenderte, sich schließlich setzte und dann<br />

niederlegte, um zu schlafen. Die Flut würde in der Nacht über<br />

sie hinwegrollen, weshalb er sich entschloss, sie zu wecken.<br />

Sie schaute ihn mit glasigen Augen verständnislos an und legte<br />

sich wieder zurück. Es schien ihm, als ob sie ihn gar nicht<br />

wahrgenommen hatte. Dann bemerkte er die vielen Einstiche<br />

in der Beuge ihres linken Arms. Sie war abgemagert, das Essen<br />

dem Heroin geopfert, sie sah fahl und krank <strong>aus</strong>. Einige ihrer<br />

vorderen Zähne waren schwarz gefärbt. Sie hatte nur eine<br />

kurzärmelige, dünne Baumwollbluse übergestreift. Eine verschlissene<br />

Umhängetasche lag achtlos im Sand. Dem Alter nach<br />

hätte sie seine Tochter sein können. Er konnte sie hier nicht<br />

über Nacht einfach liegenlassen. Kurz entschlossen hob er sie<br />

auf und trug sie in seine Höhle, wo er sie auf die Schafwollfelle<br />

legte, und deckte sie zu. Er legte sich neben sie, nahm sie in<br />

157


seine starken Arme und schlief ein. Am Morgen setzte sie sich<br />

entsetzt auf und starrte ihn an: „Wo bin ich? Was hast du mit<br />

mir gemacht?“<br />

Er beruhigte sie: „Ich habe nicht mit dir geschlafen, wenn<br />

du das meinst, und ich werde dich auch nicht anrühren. Ich<br />

wohne hier und habe dich vom Strand heraufgeholt, weil die<br />

Flut kam.“<br />

„Wo ist meine Umhängetasche?“, rief sie aufgeregt.<br />

„Sie ist hier“, sagte er, „aber darin ist kein Heroin mehr. Ich<br />

habe schon nachgesehen. Wenn du so weitermachst, wirst du<br />

ohnehin nicht mehr lange leben.“<br />

Sie zuckte zunächst nur mit der Schulter, bis sie von einer<br />

Art Schüttelfrost geschüttelt wurde, der mit einem Aufbäumen<br />

des ganzen Körpers, Schluchzen und Schreien verbunden<br />

war. Weißer Schaum bildete sich in ihren Mundwinkeln.<br />

Die Auswirkungen des R<strong>aus</strong>chgiftentzugs! „Wo bekomme ich<br />

die nächste Nadel, wann den nächsten Schuss? Ich muss weg<br />

von hier“, schrie sie, doch sie war schwach und wusste auch<br />

nicht, wohin. Heinz war klar, dass dies nur der Anfang von<br />

einem langen Leidensweg war.<br />

Dann stieß sie plötzlich die Worte <strong>aus</strong>: „Hilf mir, bitte hilf<br />

mir!“ Sie begann, stoßweise von sich zu erzählen. Immer<br />

wieder habe sie versucht, von der Nadel wegzukommen und<br />

es nicht geschafft. Sie habe nicht die Kraft dazu, die Droge sei<br />

stärker als sie. Und dann rollten ihr die Tränen von den knochigen<br />

Wangen.<br />

„Wenn du dies wirklich tief in deinem Innersten willst, kann<br />

ich dir vielleicht helfen. Du musst aber meinen Anweisungen<br />

genau folgen. Wenn du das nicht tust, werde ich dich zum<br />

Strand zurückbringen, und du kannst sehen, wo du bleibst.“<br />

Er gab ihr zu essen, zu trinken und etwas Wein. Der zweite<br />

Anfall setzte ein. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie<br />

158


schrie: „Ich brauche einen Schuss.“ Sie weinte, biss sich in die<br />

Lippen, versuchte die Wände in dem Kalkofen hochzugehen,<br />

doch er hielt sie fest und ließ sie nicht los. Und er erinnerte<br />

sich daran, dass er in jungen Jahren die Fähigkeit besessen hatte,<br />

zu hypnotisieren. Ein Versuch könnte nicht schaden. Der<br />

Anfall war vorbei, und sie war jetzt wieder ganz ruhig.<br />

„Willst du mir vertrauen? Dann hör mir aufmerksam zu und<br />

entspann dich! Lass dich einfach in dich selbst hinein fallen,<br />

ganz tief fallen.“ Und so redete er mit fester, tiefer Stimme mit<br />

ihr, legte ihr dabei die Hand auf die Stirn und drückte sie<br />

rückwärts in die Felle. Sie war schneller in Hypnose gefallen,<br />

als er vermutet hatte. „Noch tiefer musst du fallen, ganz tief.<br />

Nichts stört dich mehr. Du fühlst dich wohl. Du fühlst dich<br />

frei!“<br />

In diesem tiefen Hypnoseschlaf befahl er ihr:<br />

„Nie mehr wirst du Heroin spritzen oder sonst wie zu dir<br />

nehmen. Die Nadel wirst du nicht mehr in deiner Hand halten<br />

können, weder in deiner linken noch in deiner rechten. Heroin<br />

ist Gift für dich, zerstört deinen Körper und deinen Geist. Du<br />

willst das nicht und deshalb bleibst du dem Heroin ab sofort<br />

fern. Selbst, wenn du die Droge spritzt, würde sie in Zukunft<br />

bei dir nicht mehr wirken. Die Träume bleiben <strong>aus</strong>, kein Hochgefühl<br />

mehr entsteht. Deshalb kannst du auf die Droge verzichten,<br />

denn sie zerstört deinen Körper und vernichtet deinen<br />

Verstand. Doch ich gestatte dir für eine Übergangszeit einen<br />

Ersatz. Du darfst jeden Tag eine Flasche Wein trinken. Nicht<br />

mehr als eine Flasche. Der Wein wird dich betäuben. Du wirst<br />

vom Wein neue, vielleicht sogar schönere Träume haben.“<br />

Seine Therapie funktionierte. Sie trank Wein und lebte jetzt<br />

bei ihm, und er ließ sie in Ruhe, bis sie eines Nachts selbst die<br />

Initiative ergriff und nach seinem Körper griff. Er hatte das<br />

Mädchen, sie war vielleicht einundzwanzig, vom Heroin auf<br />

159


weniger gefährlichen Alkohol umgepolt. Ihre Anfälle blieben<br />

<strong>aus</strong>. Der erste Schritt zu ihrer Genesung war getan.<br />

Alfonso kam einmal die Woche vorbei. Er brachte dem Einsiedler<br />

und dem jungen Mädchen für wenige Peseten einige<br />

Fische, die er gefangen hatte.<br />

„Mein Vater ist vor wenigen Tagen gestorben“, klagte er. „In<br />

seinem Nachlass habe ich ein dickes Buch gefunden. Es ist, glaube<br />

ich, in Deutsch geschrieben. Ein deutscher Offizier war 1944<br />

im alten Hafen von Morro mit einem Motorboot angekommen.<br />

Er war dann mit Don Gustavo auf Maultieren über den Pass<br />

nach Cofete geritten. Nach einigen Tagen kam er allein zurück<br />

und übernachtete bei meiner Familie, um auf das Boot zu warten,<br />

das am frühen Morgen kommen sollte, ihn abzuholen. Das<br />

Boot legte aber nicht an. Niemand weiß in Morro, wie er<br />

schließlich die Insel verlassen hat. Das Buch hat er jedenfalls<br />

neben seiner Bettstelle zurückgelassen.“<br />

Er öffnete das Tuch, das er über die Schulter geschlungen<br />

hatte, und reichte Heinz das Buch.<br />

„Das ist ein Geschenk für dich. Du kannst doch sicher lesen<br />

oder etwa nicht?“, fügte er an sich selbst denkend hinzu. Heinz<br />

nahm das dicke Buch in die Hand. Es war schwarz in Leinen<br />

gebunden. In eingeprägten Goldbuchstaben prangte der Titel:<br />

Mein Kampf von Adolf Hitler.<br />

Als der Fischer schon längst gegangen war, holte Heinz<br />

nochmals das weggelegte Buch hervor. Das Buch Mein Kampf<br />

hatten seine Eltern auf dem Standesamt überreicht bekommen,<br />

als sie 1934 heirateten. So war es kein Wunder, dass es das Buch<br />

im Lauf der Jahre auf Millionenauflagen brachte. Der volle<br />

Buchpreis, damals um die dreizehn Reichsmark, wurde vom<br />

Staat bezahlt. Adolf Hitler soll mit den eingenommenen Tantiemen<br />

zum vielfachen Millionär geworden sein, Heinz hatte<br />

gehört, dass es sich um etwa zwanzig Millionen Reichsmark<br />

160


gehandelt haben soll, und sein Verlag soll dieses Geld in seinem<br />

Auftrag auf einer Schweizer Bank, nämlich der Schweizer<br />

Bankgesellschaft, einbezahlt haben. Seinem eigenen Staat, dem<br />

T<strong>aus</strong>endjährigen Reich, wollte er offenbar sein Geld nicht anvertrauen.<br />

Eine für sich sprechende Eigenschaft vieler Diktatoren,<br />

die an ihre eigenen Versprechen nicht glauben. Ihr Wissen<br />

und ihre Schaffenskraft geben sie dem von ihnen geführten<br />

Staat, nicht aber ihr Geld, das geht in die Schweiz.<br />

Heinz' Eltern waren glühende Verehrer des Führers gewesen,<br />

und es interessierte Heinz, was denn so Besonderes am<br />

Nationalsozialismus war und welche Ziele er verfolgte. In diesem<br />

Buch müsste etwas darüber zu finden sein. Und er las in<br />

dem Buch. Wie lange schon hatte er kein Buch mehr gelesen!<br />

Er bemerkte bald, dass Hitlers Mein Kampf eine Hetzschrift,<br />

wenn nicht sogar Hassschrift war. Hitler fordert in seinem Buch<br />

den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Er predigt<br />

den Antisemitismus und weist den Juden die Schuld an vielen<br />

Fehlentwicklungen in Deutschland zu. Er sagt allen Juden, die<br />

er als Parasiten und Schmarotzer bezeichnet, den Kampf an. Er<br />

fordert das deutsche Volk zum Rassenkampf auf. Rassenkampf<br />

statt Klassenkampf! Damit will er die deutsche Arbeiterschaft<br />

gewinnen. Den Bolschewismus will er zerschlagen. Deutschland<br />

braucht Lebensraum im Osten“. Er übt Kritik am Parlamentarismus<br />

und setzt einen germanischen Führerstaat dagegen.<br />

Volksgemeinschaft anstatt Demokratie! Alles vermengt er zur<br />

Programmatik seiner Partei, der NSDAP, der Nationalsozialistischen<br />

Deutschen Arbeiterpartei. Es war Heinz schleierhaft,<br />

was seine Eltern an diesem Programm gut fanden. Oder waren<br />

sie Opfer einer verhängnisvollen Massenpsychose geworden,<br />

die einen Großteil des deutschen Volkes erfasst hatte?<br />

Hitler sah die Judenfeindschaft als seine göttliche Mission an:<br />

„So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu han-<br />

161


deln: Indem ich mich des Judentums erwehre, kämpfe ich für das<br />

Werk des Herrn.“ Den allmächtigen Schöpfer, Hitlers Ausdrucksweise<br />

für Gott, als Alibi für seinen Hass auf die Juden zu zitieren,<br />

ist pervers und offenbart seine kranke Geisteshaltung, die<br />

vor nichts zurückschreckte.<br />

Als Heinz das Buch weglegte, entdeckte er auf dem sandigen<br />

Boden einen <strong>aus</strong> dem Buch her<strong>aus</strong>gefallenen, schon etwas<br />

vergilbten Papierfetzen, der <strong>aus</strong> einem linierten Schreibblock<br />

her<strong>aus</strong>gerissen worden war. Er hob ihn auf und entzifferte die<br />

Handschrift darauf:<br />

Oberstleutnant Ramsberger<br />

25. August 1944<br />

DR 076441 bis DR 076541<br />

Elag<br />

Die Zeichnung unter der Handschrift stellte den Umriss der<br />

Halbinsel Jandia dar, und der Kreis in der Mitte war wahrscheinlich<br />

der Standort der Villa Winter am Abhang der Bergkette,<br />

die von Nord nach Süd durch Jandia führt. War das<br />

vielleicht der Name des Offiziers, von dem Alfonso gesprochen<br />

hatte und der bei dessen Eltern übernachtet hatte? Das Datum<br />

würde stimmen. Was aber bedeuteten die Buchstaben mit den<br />

Zahlen dahinter? Irgendwelche Waren oder Gegenstände, die<br />

mit Nummern versehen waren? Einhundert laufende Nummern<br />

von 076441 bis 076541. Einhundert Gegenstände? Und was bedeutete<br />

das Wort Elag? Immer wieder kreisten seine Gedanken<br />

um den mysteriösen Papierfetzen, der 1944 geschrieben<br />

worden war.<br />

Nach einem halben Jahr im Bankenhochh<strong>aus</strong> in Frankfurt<br />

hielt es Jürgen Fass in seinem klimatisierten Büro nicht mehr<br />

<strong>aus</strong>. Er musste während der Arbeit und der Sitzungen fortwährend<br />

an Heinz denken, der ein freies, sorgloses Leben in<br />

seinem Kalkofen führte und immer die frische Meeresluft ein-<br />

162


atmen konnte, nicht wie er die klimatisierte Luft im Hochh<strong>aus</strong>.<br />

Heinz scherte es nicht, ob die Aktien stiegen oder fielen, ob der<br />

Dollar schwach war und der Franken stark. Kurz entschlossen<br />

buchte er erneut einen vierzehntägigen Urlaub im Robinson<br />

Club. Schon am Ankunftstag suchte er Heinz auf. Verschwitzt<br />

vom Joggen, kühlte er sich zuerst im kalten Meer ab<br />

und setzte sich dann zu Füßen des Einsiedlers. Erst dann bemerkte<br />

er das Mädchen, das unbekleidet in der Höhle saß und<br />

in einer zerfederten, alten Ausgabe des Stern las. Eine halb <strong>aus</strong>getrunkene<br />

Weinflasche stand neben ihr.<br />

„Das ist Irene“, erläuterte Heinz, als er Jürgens fragenden<br />

Blick sah. „Sie ist mir am Strand zugelaufen. Sie wohnt schon<br />

fast ein halbes Jahr bei mir.“<br />

Jürgen hoffte, dass er mit Heinz eine Unterhaltung beginnen<br />

könnte, die an die letzte anschloss, doch Heinz blieb wortkarg<br />

und ging auf seine diesbezüglichen Fragen nicht ein. Dann<br />

aber erzählte er ihm von<br />

dem Buch, das er von Alfonso<br />

bekommen hatte. Er<br />

blätterte darin, bis er die<br />

handgeschriebene Notiz<br />

des Nazi-Offiziers fand. Er<br />

reichte den Fetzen Jürgen.<br />

„Kannst du dir<br />

vielleicht einen Reim <strong>aus</strong><br />

dem Gekritzel machen?“<br />

„Das ist ja hochinteressant“,<br />

entfuhr es Jürgen.<br />

„Jandia ist leicht zu erkennen.<br />

Ohne Zweifel ist mit<br />

dem kleinen Kreis in der<br />

Mitte die Villa Winter ge-<br />

163


meint“, sagte er und fügte hinzu: „Im Turm der Villa habe ich,<br />

wenn ich mich richtig erinnere, eine Verteilerdose gesehen, die<br />

die Aufschrift ELAG trägt. Diese Abkürzung könnte für Elektro<br />

AG stehen. Aber die Zahlen? Wie du weißt, befasse ich mich<br />

in meinem Beruf mit Geld. Geld in allen Variationen bis hin<br />

zum Gold. Ich sammle auch alte Goldmünzen. Das ist nämlich<br />

ein Hobby von mir. Vielleicht haben die Nummern sogar<br />

etwas mit Geld zu tun? Warte, ich muss überlegen. In den<br />

Kriegsjahren wurden die Goldreserven der besetzten Gebiete<br />

von Hitler gestohlen, damals hieß das ›beschlagnahmt‹, und<br />

in Goldbarren mit Reichsadler und Hakenkreuz darauf umgeschmolzen.<br />

Fein säuberlich wurden alle Barren mit fortlaufenden<br />

Nummern versehen. Vor den Nummern die Initialen der<br />

Reichsbank: RB. Aber da fällt mir ein, dass Hitler den Vorsitz<br />

der Reichsbank 1939 selbst übernommen hat. Er war nicht nur<br />

Kanzler des Deutschen Reichs, sondern auch Reichsbankpräsident,<br />

wenn man das so bezeichnen will. In dieser Eigenschaft<br />

konnte er so viel Geld drucken, wie er für seine Kriegsmaschinerie<br />

benötigte. Der Name der Reichsbank ließ er in Deutsche<br />

Reichsbank umbenennen. Jetzt machen die Initialen einen Sinn<br />

DB, für Deutsche Reichsbank. Der größte Teil des Goldes ging<br />

in die Schweiz, um Kriegsmaterial, das die Nazis brauchten,<br />

zu kaufen, denn die inflationäre Reichsmark wurde in der<br />

Schweiz oder in anderen neutralen Ländern nicht akzeptiert.<br />

Solche Goldbarren erhielten auch die Spanier, die sich nicht in<br />

den Krieg ziehen ließen. Ich glaube, dass die hier aufgeschriebenen<br />

Nummern in ein Kilo schwere Goldbarren eingeprägt<br />

sind. Das wären einhundert Kilogramm Gold, was für ein Vermögen!<br />

In der Villa versteckt? Wo könnte man das Gold besser<br />

verbergen als dort? Ein Teil des legendären Goldschatzes<br />

der Nazis hier auf Jandia?“<br />

Heinz zuckte, als er die Theorie von Jürgen hörte.<br />

164


„Die ganze Geschichte um Gustav Winter ist nur eine erfundene,<br />

sich selbst nährende Legende für unsere leichtgläubigen<br />

und sensationsgierigen Touristen“, schwächte Heinz ab.<br />

„Während des Krieges war Gustav Winter gar nicht auf Jandia<br />

anwesend, sondern in Frankreich beschäftigt. In Bordeaux<br />

leitete er von 1939 bis 1944 eine Werft der Deutschen Kriegsmarine.<br />

Er kam erst wieder 1947 in dieses Land. Seine zweite<br />

Frau, Frau Winter-Alth<strong>aus</strong>, die er übrigens 1945 in Madrid erst<br />

kennengelernt hatte, hat dies in einem Interview bestätigt. Alle<br />

Gerüchte um die Villa Winter, die sie mit den Nazis in Verbindung<br />

bringen, sind bei genauer Prüfung nicht haltbare Erfindungen<br />

sensationsgieriger Journalisten und Touristen.“<br />

Jürgen wollte sich nicht lächerlich machen. Er sagte zu sich:<br />

„Vergiss die ganze Geschichte, denn du willst sicher nicht zum<br />

Schatzgräber in der Villa werden. Und zu der brodelnden Gerüchteküche<br />

um die Villa Winter will ich auch nicht beitragen.“<br />

Er machte sich zurück auf den Weg in den Robinson Club,<br />

wo er ein Fernschreiben vorfand. „Ihre Anwesenheit in Frankfurt<br />

ist dringend geboten. Die Devisenoptionen Yen/Dollar<br />

haben sich nicht in unserem Sinne entwickelt. Sie wissen selbst,<br />

wie viel für die zukünftige Entwicklung unserer Bank auf dem<br />

Spiel steht.“<br />

Heinz fragte sich, ob er Jürgen mit seinen vorgebrachten<br />

Argumenten genügend überzeugt hatte, so dass er niemanden<br />

von ihrer Unterhaltung erzählen würde, denn, als er dessen<br />

Theorie hörte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: „Natürlich,<br />

das war die Erklärung! In der Villa sind einhundert<br />

Kilogramm Gold vergraben! Und die erwähnte Verteilerdose<br />

muss den Schlüssel dazu liefern, wo zu suchen ist.“<br />

Mit seiner Gelassenheit auf seinem Hochsitz war es vorbei.<br />

Nicht eine Stunde mehr konnte er dasitzen und auf eine Dame<br />

165


Goldbarren der<br />

Deutschen Reichsbank<br />

warten, die zum Massieren<br />

den Berg heraufkraxelte. Den<br />

ganzen Tag lang musste er<br />

nur an das Gold denken, das<br />

ihm gehören könnte. Seine<br />

Fingernägel hatte er schon<br />

wund gebissen. Die Gedanken<br />

zermarterten sein Hirn.<br />

Was könnte er alles damit<br />

anfangen! Vorbei wäre dieses<br />

elende Leben, das er sich<br />

anfangs allerdings so gewünscht<br />

hatte, in dieser verwahrlosten,<br />

nach Schweiß<br />

und Urin riechenden Hütte.<br />

Er konnte sich auf einmal<br />

vorstellen, in einem schönen<br />

Bungalow am Hügel zu wohnen, mit einem mit grünem Rasen<br />

umrandeten Swimmingpool in einem blühenden Garten. Er sah<br />

sich im Geist auf einer Liege unter einem Sonnenschirm, eine<br />

junge Dame würde ihm einen Drink reichen und mit ihm anstoßen.<br />

Die Stereoanlage würde leise klassische Musik spielen.<br />

Und dann würde er endlich wieder einmal ein Stück Schwarzwälder<br />

Kirschtorte essen können. Mit Sahne! Schon bei dem<br />

Gedanken an die Torte lief ihm das Wasser im Munde zusammen.<br />

Er wusste wirklich nicht mehr, wie eine solche Torte<br />

schmeckte. Wann war es das letzte Mal gewesen, dass er etwas<br />

wirklich Süßes zwischen den Zähnen hatte? Und dann<br />

sah er die Fische von Alfonso im Eimer, die endlich gegrillt<br />

werden mussten, was ihn auf den Boden der Wirklichkeit zurückbrachte.<br />

Und ein widerlicher Fischgeruch stieg ihm in die<br />

Nase.<br />

166


Er musste einen Plan schmieden. Er musste in die Villa gelangen<br />

und nach dem Schatz suchen. Solange er das nicht anging,<br />

würde die ihn erfasste Unruhe umbringen.<br />

Er überlegte sich, wie er vorgehen sollte. Sollte er jemanden<br />

in seine Pläne einweihen? Jemanden, der ihm helfen könnte?<br />

Irene schied <strong>aus</strong>. Sie durfte von all dem nichts erfahren. Wenn<br />

sie getrunken hatte, war ihr ohnehin nicht zu trauen.<br />

Aber wie wäre es mit Hubert, dem österreichischen Maler?<br />

Hubert Schmalzer?<br />

In dem Barranco hinter seiner Höhle hatte sich Hubert einen<br />

alten Wohnwagen aufgestellt. Er führte ein ähnliches Einsiedlerleben<br />

wie er selbst auch. Er wartete wie er auf Touristen,<br />

denen er seine Bilder anbot, die die karge Landschaft <strong>Fuerteventura</strong>s<br />

zeigten. Er porträtierte sie auf Wunsch und malte<br />

auch Akte. An Modellen an diesem Nacktstrand fehlte es<br />

ihm nicht, aber die Käufer seiner Bilder waren rar. Er war ins<br />

Alter gekommen, vielleicht sechzig, seine Haare wuchsen wild<br />

nach oben und waren immer zers<strong>aus</strong>t. Sein langer, immer noch<br />

schwarzer Bart ließen seine listigen Augen wie Edelsteine in<br />

einem eingerahmten Gesicht funkeln. Heinz hatte mit ihm<br />

schon manche Flasche Wein getrunken, immer dann, wenn<br />

Hubert eines seiner Bilder besonders teuer verkaufen konnte.<br />

Heute war wieder einmal solch ein Abend, und Heinz erzählte<br />

Hubert von der Botschaft in dem Buch. Hubert war hellwach<br />

geworden und rief: „Ich werde mit dir gehen. Wir werden<br />

die Villa auf den Kopf stellen, bis wir das Gold gefunden<br />

haben.“<br />

Heinz und Hubert in kurzen, verschlissenen Jeans, in verschmutzten<br />

kurzärmeligen Hemden und in <strong>aus</strong>getretenen Tennisschuhen<br />

hatten einen langen Fußmarsch vor sich. In einem<br />

umgehängten vergilbten Rucksack hatte Heinz eine starke<br />

Taschenlampe, Ersatzbatterien, vier Flaschen Wasser und zwei<br />

167


Flaschen mit billigem Brandy verstaut. In Huberts Rucksack<br />

waren verschiedene Werkzeuge wie Hammer, Schraubenzieher,<br />

Rohr- und Kombizangen und auch ein starker Seitenschneider<br />

zum Aufschneiden von Ketten und Drahtseilen untergebracht.<br />

Sie diskutierten darüber, ob sie die Fahrt mit<br />

Heinz' klapprigem Auto wagen sollten, doch entschieden sich<br />

dagegen, weil der Vierradantrieb fehlte und ein Steckenbleiben<br />

auf der Geröllpiste einem Verlust des Wagens gleichgekommen<br />

wäre. Zu Fuß würden sie kaum jemandem auffallen,<br />

zumal die gewählte Strecke kaum jemandem im Dorf und schon<br />

gleich gar nicht im Club bekannt sein dürfte.<br />

Ganz früh am Morgen nahmen sie zunächst die Piste, die<br />

hinter dem Hafen von Morro zum Leuchtturm führte. Nach<br />

nicht ganz einer Stunde bogen sie rechts ins Grande Valle ein.<br />

Das müsste der direkte Weg über die Berge zu der Villa Winter<br />

sein, wie das ein Ziegenhirte Heinz erklärt hatte. Nur wenige<br />

Hirten kannten den Weg, den sie Königsweg nannten und der<br />

nichts anderes war als ein schmaler, fast nicht <strong>aus</strong>zumachender<br />

Ziegenpfad. Er war das Tal aufwärts mit kleinen Steinanhäufungen<br />

in einem Abstand von etwa fünfzig Metern markiert.<br />

Den Steinhügeln folgend hatten sie den Ziegenpfadpass<br />

nach weiteren zwei Stunden auf ihrem steilen, kaum erkennbaren<br />

Trampelweg über Geröll erklommen. Ein kalter Wind<br />

empfing sie. Vor ihnen lag die Villa Winter am Bergabhang<br />

vor der Kulisse der hereinbrechenden Wellen des Atlantiks,<br />

deren Brandung bis hier nach oben dröhnte. Der Abstieg zur<br />

Villa war nicht mehr markiert und viel steiler als sie erwartet<br />

hatten. Die beiden durchtrainierten Männer mussten langsam<br />

und vorsichtig gehen, damit sie nicht abrutschten und abstürzten.<br />

Sie kamen am Eingang des Stollens vorbei, den Winter in<br />

den Berg hatte treiben lassen, dann an den Überresten des kleinen<br />

Staudamms entlang, wo Winter das Wasser <strong>aus</strong> dem Stol-<br />

168


len gesammelt hatte. Sie überquerten die Mauer, die die Umrisse<br />

von Jandia nachzeichnete. Vielleicht hatte der deutsche<br />

Offizier auf seiner Skizze gerade diese Umrisse gemeint und<br />

die Villa als Kreis in die Mitte gesetzt. Wie dem auch sei, es<br />

liefe auf das Gleiche hin<strong>aus</strong>.<br />

Der verkommene Bewohner der Villa Raphael blickte die<br />

Ankömmlinge misstrauisch an. Die Hirtenhunde bellten, aber<br />

beruhigten sich schnell, nachdem die beiden den ihnen bekannten<br />

Geruch langjähriger Inselbewohner verbreitet hatten.<br />

Heinz öffnete den Rucksack und gab dem Bewacher der Villa<br />

die Flasche Brandy. Er öffnete sie sofort, fuhr mit der flachen<br />

Hand einer alten Gewohnheit folgend über den Flaschenmund,<br />

als ob er ihn reinigen müsste, und nahm einen tiefen Schluck.<br />

Es würde nicht lange dauern, bis die Flasche leer war und er in<br />

einen seligen Dämmerschlaf fallen würde. Sie konnten sich<br />

dann in der Villa bewegen, wie und wie lange sie wollten. Darauf<br />

hatten sie beide gebaut.<br />

Sie fanden nach kurzer Suche die Verteilerdose mit dem eingegossenen<br />

Namen Elag im Turm der Villa. Hubert betrachtete<br />

sie mit dem geübtem Auge eines Malers.<br />

„Der Schraubenschlitz zeigt einen Bart, der auf ein unsachgemäßes<br />

Werkzeug schließen lässt. Jemand hat sich daran zu<br />

schaffen gemacht. Nach den Roststellen zu urteilen, muss das<br />

vor langer Zeit gewesen sein.“<br />

„Lass uns die Dose öffnen“, sagte Heinz und griff nach einem<br />

Schraubenzieher in Huberts Rucksack. Die Schraube ließ<br />

sich nicht drehen. Sie saß fest.<br />

Hubert sagte: „Das haben wir gleich“, und zauberte <strong>aus</strong> seinem<br />

Rucksack ein kleines Fläschchen mit reinem Terpentin<br />

hervor. Einige Tropfen genügten. Nach fünf Minuten Einwirkzeit<br />

ließen sich die Schrauben leicht her<strong>aus</strong>drehen. Der Deckel<br />

fiel herunter.<br />

169


Zwischen den Drähten entdeckten sie ein Papierröllchen. Das<br />

Papier war augenscheinlich <strong>aus</strong> demselben Schreibblock her<strong>aus</strong>gerissen<br />

wie die erste Nachricht. Heinz rollte es vorsichtig<br />

<strong>aus</strong> und las vor:<br />

25. August 1944<br />

Das Licht am Ende des Tunnels wird golden, wenn es den<br />

Fels trifft.<br />

Scheue nicht die Dunkelheit des Labyrinths.<br />

Vergiss nicht den Faden der Ariadne, er führt wieder hin<strong>aus</strong>.<br />

Es ist dann fünf Minuten vor zwölf und fünf vor halb eins<br />

bist du genau von Norden wieder da.<br />

Oberstleutnant Ramsberger<br />

Hubert kommentierte: „Dieser Leutnant muss eine lyrische<br />

Ader gehabt haben. Was will er uns mit diesen Worten eigentlich<br />

sagen? Der Faden der Ariadne? Die Athener wurden in<br />

der griechischen Sage von König Minos dazu verpflichtet, alljährlich<br />

je sieben Jungfrauen und Jünglinge als Menschenopfer<br />

für den Minotaurus, ein Ungeheuer mit menschlichem Körper<br />

und dem Kopf eines Stieres, nach Kreta zu schicken.<br />

Diesmal aber schloss sich der griechische Held und Königssohn<br />

Theseus freiwillig der Gruppe an. Auf Kreta betörte er<br />

die Königstochter Ariadne. Sie schenkte ihm ein magisches<br />

Schwert und ein Knäuel Wolle. Als die Opfer in das Labyrinth<br />

getrieben wurden, wo der Minotaurus h<strong>aus</strong>te, rollte er das<br />

Knäuel ab. Mit dem Schwert erschlug er den Stiergott und fand<br />

am Ariadnefaden wieder hin<strong>aus</strong>. So viel weiß ich noch von<br />

meinem Kunststudium, in dem die griechische Mythologie eine<br />

wichtige Rolle spielte.“<br />

Heinz erwiderte: „Das Labyrinth ist auch erwähnt. Vielleicht<br />

ist in der Villa tatsächlich der Eingang zu einem unterirdischen<br />

Labyrinth verborgen, wie manche schon lange vermuten.<br />

170


Vielleicht ist das Gold darin versteckt? Suchen wir doch im<br />

Keller nach einem Eingang!“<br />

Das Ende eines Ganges war zugemauert. Heinz nahm ein<br />

Brecheisen <strong>aus</strong> Huberts Rucksack und löste einen Stein. Der<br />

Mörtel war brüchig. Dahinter war der rohe Fels. Warum war<br />

das Ende überhaupt zugemauert? Einen Grund hierfür gab es<br />

nicht. Oder vielleicht doch? Zur Irreführung? Hubert öffnete<br />

die Tür, die vom Gang <strong>aus</strong> in ein kleines Zimmer führte. Die<br />

Türklinke war <strong>aus</strong> Messing, mit Grünspan überzogen. Er klopfte<br />

die Wände mit seinem Hammer ab. Keine Hohlräume. Aber<br />

am Boden entdeckte sein geübtes Auge eine eingelassene Bodenplatte,<br />

deren Fugen am Rand mit Schmutz gefüllt waren.<br />

Ein leichter Hammerschlag. Ein hohler Widerhall. Er kratzte<br />

die Fugen mit einem Messer <strong>aus</strong> und setzte das Brecheisen an.<br />

Die Platte löste sich, und sie schoben sie mit vereinten Kräften<br />

beiseite. Kalte modrige Luft schlug ihnen <strong>aus</strong> der Öffnung von<br />

über zwei Quadratmetern entgegen. Ein schräg nach unten<br />

führender Gang tat sich vor ihnen auf. Heinz leuchtete mit<br />

171


seiner starken Stabtaschenlampe hinein. Eine riesige Höhle<br />

schloss sich an, ein Raum so groß wie eine kleine Kathedrale.<br />

Nach allen Seiten gingen viele weitere Gänge ab. Hubert war<br />

der Erste, der mit offenem Mund mitten in der Höhle stand<br />

und sich staunend umschaute.<br />

„Das Licht am Ende des Tunnels“, murmelte er vor sich hin.<br />

„Damit meint er wahrscheinlich, dass irgendwo der Tunnel<br />

wieder nach draußen geht oder eine Öffnung ins Freie hat, wo<br />

Licht hereinfallen kann. Das Licht soll auf den Fels fallen, und<br />

der wird golden reflektieren. Da muss das Gold sein, wo das<br />

Licht auf den Felsen trifft. Den ersten Teil des Rätsels haben<br />

wir gelöst!“<br />

Heinz führte Huberts Gedanken zu Ende. „Es ist dann fünf<br />

Minuten vor zwölf und fünf vor halb eins bist du genau von Norden<br />

wieder da. Das bedeutet, dass die Sonne fünf vor zwölf ihre<br />

Strahlen durch das Loch auf die gesuchte Stelle wirft und das<br />

am 25. August. Wir müssen den Weg nach Norden einschlagen<br />

und dahin benötigen wir eine halbe Stunde. Er empfiehlt<br />

uns, uns den Weg gut zu merken. Der Faden der Ariadne, er führt<br />

wieder hin<strong>aus</strong>. In diesem Tunnellabyrinth ist eine Kennzeichnung<br />

des gegangenen Weges wahrscheinlich lebensrettend.“<br />

Hubert gab zu bedenken: „Wir haben aber erst den 20. August.<br />

Wird das an der Sonnenbahn und dem Zeitpunkt viel<br />

<strong>aus</strong>machen?“<br />

Heinz antwortete: „Wir versuchen es einfach. Vielleicht<br />

brauchen wir etwas länger als eine halbe Stunde, bis wir dort<br />

sind, aber immer noch in der Zeit vor zwölf.“<br />

Hubert nahm seinen Rucksack ab und kramte einen Kompass<br />

hervor. Sogar daran hatte er gedacht. Heinz war sich jetzt<br />

sicher, dass er den richtigen Partner zur Suche des Schatzes<br />

gewählt hatte.<br />

Es gab tatsächlich nur einen Gang, der direkt nach Norden<br />

172


zeigte. Das Höhlensystem war riesig, und immer wieder mussten<br />

sie andere Abzweigungen nehmen, immer diejenige, die<br />

mehr nach Norden <strong>aus</strong>gerichtet war. Sie waren über eine halbe<br />

Stunde lang über Geröll und Steinschlag mehr geklettert<br />

als gegangen und manchmal auch durch enge Öffnungen geschlüpft.<br />

Einmal mussten sie sogar durch ein eiskaltes Wasserbecken<br />

waten, das ihnen bis zur Hüfte reichte. Nur an dieser<br />

einen Stelle hatten sie Wasser entdeckt. War dieses Wasservorkommen<br />

zu weit von der Villa entfernt, um es anzuzapfen?<br />

Alle zehn Meter malte Hubert mit einem Stück Kreide<br />

<strong>aus</strong> seinen Malerutensilien einen Pfeil an die Felswand und<br />

bei jeder Abzweigung einen Kreis. Sie gelangten in eine riesige<br />

Kathedrale, deren Innenkuppel etwa dreißig Meter hoch reichte.<br />

Seitlich an der Kuppel sahen sie einen Lichtschein. Das war<br />

sicher die Öffnung nach draußen, aber noch war kein einfallender<br />

Lichtstrahl <strong>aus</strong>zumachen. Noch zehn Minuten bis zur<br />

angegebenen Zeit. Sie warteten ungeduldig und voll innerer<br />

Spannung. Und genau fünf vor zwölf fiel ein feiner Lichtkegel<br />

auf die gegenüberliegende Felswand, die zunächst einen goldenen<br />

Schimmer annahm und danach wie Gold glänzte. Die<br />

beiden waren wie gelähmt von dem Sch<strong>aus</strong>piel und stolperten<br />

dann übereinander hinweg zu dem Felsen. Mit der Brechstange<br />

konnten sie den Felsbrocken bewegen. Er war leichter<br />

zu bewegen, als sie zunächst angenommen hatten. Dahinter<br />

blendete sie das Gold, das sich vor ihnen <strong>aus</strong>breitete. Verführerisch<br />

und faszinierend zugleich. Goldbarren mit dem aufgeprägten<br />

Reichsadler, das Hakenkreuz in seinen Fängen. Einhundert<br />

Kilogramm Gold. Die beiden fielen sich um den Hals<br />

und schrien, dass es in der Kathedrale nur so widerhallte: „Wir<br />

sind reich, wir sind reich!“ und tanzten miteinander im Kreis<br />

herum, im Licht der heruntergefallenen Stableuchte gespenstige<br />

Schatten an die Wände werfend. Und der Lichtkegel brach-<br />

173


te ein mit Phosphorfarbe aufgemaltes, gespenstig wirkendes<br />

Hakenkreuz auf dem weggerollten Felsen zum Leuchten.<br />

Wie sollten sie jetzt vorgehen? Hundert Goldbarren waren<br />

zu schwer, um sie auf einmal die ganze Strecke zurückzutragen.<br />

Aber jeder von ihnen konnte fünfundzwanzig Kilogramm<br />

in seinem Rucksack verstauen. Den Rest würden sie morgen<br />

holen. Sie rollten den Felsbrocken so vor das Versteck, wie sie<br />

ihn vorgefunden hatten. Das Gold auf dem Rücken war schwerer,<br />

als sie es sich zunächst vorgestellt hatten. Sie hatten die<br />

Wasserstelle passiert. Ohne die Kreidepfeile hätten sie den Weg<br />

zurück nicht gefunden. Der Kompass schien die Richtung nicht<br />

mehr richtig anzuzeigen. Heinz richtete den Lichtkegel in einen<br />

seitlichen Gang. Er glaubte, eine Gestalt bemerkt zu haben.<br />

Seine Nerven waren bis aufs Äußerste angespannt. Er stieß<br />

Hubert an und flüsterte mit heiserer Stimme: „Sieh, da ist jemand!“<br />

Ein Totenkopf mit tiefen, unheimlichen Augenhöhlen<br />

grinste sie an. Das Skelett steckte in halb vermoderter Khakikleidung<br />

und saß aufrecht gegen die Felswand gelehnt da. Die<br />

schwarzen Stiefel hingen lose und unnatürlich an den Füßen.<br />

Manche Stellen des Skeletts waren mit lederartiger Haut überzogen.<br />

Ein Schauer durchlief Heinz' Körper, und erst jetzt fühlte<br />

er die Kälte in der Felsgrotte.<br />

„Einer war schon vor uns da“, raunte er. Hubert erholte sich<br />

als erster von dem Schock. Er untersuchte die Leiche. Vom<br />

Handgelenk, das mit seinen rohen Knochen klapperte, streifte<br />

er eine Uhr ab. Er las auf der Rückseite eingraviert: Heinrich<br />

Ramsberger.<br />

„Das ist Ramsberger“, sagte er leise zu Heinz. „Er hat Jandia<br />

nie verlassen.“ Dann entdeckte er eine flache Steinplatte,<br />

auf der die Skelettfinger des ehemaligen Offiziers ruhten. Er<br />

nahm sie in die Hand und entdeckte darauf mit einem scharfen<br />

Stein fein eingeritzt: Das Wasser ist giftig.<br />

174


Hubert sagte: „Als wir durch das Wasser wateten, das so klar<br />

wie ein Bergbach war, meinte ich einen unangenehmen Geruch<br />

wahrzunehmen. Hast du nichts bemerkt? Wahrscheinlich<br />

hat der Leutnant von dem Wasser getrunken. Jetzt wissen<br />

wir auch, weshalb Winter diese Quelle nicht angezapft hat.“<br />

Sie waren zum Ausgang gekommen. Heinz ging voran. Er<br />

meinte, einen gefährlichen Schatten ganz in seiner unmittelbaren<br />

Nähe wahrgenommen zu haben. Eine böse Vorahnung<br />

ließ ihn zur Seite hechten. Der Schlag des Brecheisens ging<br />

neben ihm in die Erde und streifte dabei leicht seinen rechten<br />

Arm. Adrenalinstöße durchzuckten seinen Körper. Hellwach<br />

fuhr er herum und blickte in das verzerrte, zu allem entschlossene<br />

Gesicht von Hubert, der im Begriff war, zum zweiten<br />

Schlag <strong>aus</strong>zuholen. Er wollte es einfach nicht glauben, was er<br />

sah. Hubert, dem er vertraut hatte, den er als seinen Freund<br />

betrachtete, wollte ihn töten. Daran gab es keinen Zweifel. Die<br />

Habgier war ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Augen, von<br />

schwarzen Haaren eingerahmt, waren die eines wilden Tieres<br />

beim Fressen seiner Beute geworden. Goldr<strong>aus</strong>ch und Habgier,<br />

das waren nicht nur Schlagworte, sie gehörten zusammen wie<br />

Feuer und Wasser und waren so alt wie die Menschheit selbst.<br />

Noch im Liegen, blitzschnell wie eine Raubkatze, hatte Heinz<br />

ein Bein seines Angreifers zu fassen bekommen. Mit dem<br />

schweren Rucksack auf dem Rücken verlor Hubert sein Gleichgewicht<br />

und fiel auf der Schräge des Weges zu Boden. Mit einem<br />

Griff hatte Heinz seinen eigenen Rucksack abgelegt und<br />

warf sich über Hubert. Heinz war größer und viel stärker als<br />

der Österreicher. Er legte seine beiden Hände um dessen Hals.<br />

Hubert, durch den schweren Rucksack gehandicapt, konnte<br />

sich schlecht bewegen. So wurde das Gold zu seinem Nachteil.<br />

Heinz drückte erbarmungslos zu. Dieser Hundesohn hat<br />

ihn ermorden wollen! Das Gold hat er alleine haben wollen!<br />

175


Er hat mit niemandem teilen wollen! Eine ohnmächtige Wut<br />

bemächtigte sich Heinz. Dieser Hundesohn hat nichts anderes<br />

verdient, als selbst zu sterben, dröhnte es ihn ihm. Aber<br />

dann dachte er an die vielen Gespräche, die er über das Leben,<br />

Gott, die Religion, die Sanftmut und die Liebe mit anderen, oft<br />

fremden Menschen geführt hatte. An seine Meditationen auf<br />

seinem Hochsitz. Den schraubstockartigen Griff um den Hals<br />

lockerte er etwas. Doch nicht genug – die Glieder des Mannes<br />

erschlafften. Erschrocken riss Heinz seine Hände von seinem<br />

Opfer weg. War Hubert schon tot?<br />

Waren jetzt die Karten neu gemischt? Gehörte ihm jetzt das<br />

ganze Gold? Kein unangenehmer Gedanke. Bis jetzt hatte er<br />

diese Möglichkeit noch nicht ins Auge gefasst. Zum Teufel<br />

damit! Ein Menschenleben ist viel mehr wert als alles Gold<br />

dieser Welt! Er legte seine Hand an die Halsschlagader des<br />

Mannes. Kein Puls mehr zu fühlen! Er beugte sich über Hubert<br />

und begann mit Wiederbelebungsversuchen. Er drückte seine<br />

Brust zusammen, ließ wieder los. Wieder und wieder. Er begann<br />

mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Er bemühte sich redlich<br />

und brach in Schweiß <strong>aus</strong> und dann in Panik. Nach einer halben<br />

Stunde stellte Heinz seine Bemühungen ein. Hubert war<br />

tot, nicht mehr ins Leben zurückzuholen. Heinz machte sich<br />

schwere Vorwürfe, eine seltsame Traurigkeit überfiel ihn. Er<br />

fragte sich, ob er jetzt zum Mörder geworden war? Er zu einem<br />

Mörder! Erst Unternehmer, dann Aussteiger, Einsiedler,<br />

meditierender Eremit und jetzt Mörder? Eine unvorhersagbare,<br />

erschreckende Entwicklung.<br />

Er konnte die Ereignisse der letzten Stunden nicht so schnell<br />

verarbeiten. Die anstehenden Dinge mussten aber trotzdem<br />

erledigt werden. Zuerst musste er die Leiche beiseiteschaffen,<br />

am besten in einem Seitengang der Höhle vergraben. Hubert<br />

würde von niemandem gesucht werden. Der Wohnwagen<br />

176


würde einfach unbewohnt dort stehen bleiben, wo er jetzt war,<br />

bis ein anderer verrückter Einsiedler den Wohnwagen entdecken<br />

und einziehen würde. Niemand würde ihn vermissen oder<br />

gar eine Vermisstenanzeige bei der hiesigen Polizei aufgeben,<br />

niemand nach seinem Verbleib forschen. Er musste auch ein<br />

Versteck für Huberts Rucksack, wenigstens bis morgen, finden.<br />

Vielleicht in dem Steinhaufen, der da drüben in seinen<br />

Blickwinkel fiel. Dann würde er den Heimweg antreten. Seinen<br />

Goldanteil im Fußboden seiner Höhle unter den Fellen<br />

verscharren. Zuvor aber musste er die Kleine wegschicken. Sie<br />

durfte auf keinen Fall von dem Gold und von dem Tod Huberts<br />

erfahren. In den nächsten vier Tagen würde er alles Gold<br />

unter der Erde in seinem Kalkofen vergraben haben. Er würde<br />

alles Gold hertransportieren. Bei jeder Tour fünfundzwanzig<br />

Barren. Er würde danach auf einhundert Kilogramm Gold<br />

schlafen, über einem unermesslichen Reichtum.<br />

Rafael schnarchte laut neben den Hunden, die ihn nur <strong>aus</strong><br />

ihren Augenwinkeln beobachteten, als er die Villa mit diesen<br />

Gedanken im Kopf und dem schweren Rucksack auf dem Rücken<br />

verließ.<br />

Als er seinen Kalkofen betrat, war die Kleine verschwunden.<br />

Er fand sie nicht am Strand und auch nicht bei der jungen Frau<br />

im Wohnwagen. Die junge Frau erzählte, dass drei junge Männer,<br />

die einen Surfurlaub im gerade neu gebauten Hotel Los<br />

Gorriones machten, hier aufgetaucht waren, zusammen mit<br />

dem Mädchen Wein tranken, scherzten, lachten und sich lautstark<br />

vergnügten. Sie konnte beobachten, dass es danach mit<br />

seinem schnell gepackten Bündel übergeschultert mit den drei<br />

Burschen weggegangen war.<br />

Erst hatte er sich vorgenommen, die Kleine wegzuschicken,<br />

wenn er zurückkam. Jetzt, nachdem sie ohne sein Zutun weggegangen<br />

war, versetzte ihm das einen Stich in sein Herz. Er<br />

177


hatte sich an ihre Anwesenheit gewöhnt. Ihr Blick, ihre Bewegungen,<br />

ihre Worte. Sie war der einzige Mensch gewesen, den<br />

er wirklich hatte und der ihm etwas nahe stand.<br />

Er hatte die Kleine wahrscheinlich an einen Jüngeren für<br />

immer verloren. Das tat weh. Er spürte zum ersten Mal, dass<br />

er alterte. Dafür hatte er jetzt viel Gold. War das ein <strong>aus</strong>reichender<br />

Ersatz? Niemals. Und er vergrub es wie geplant unter<br />

den Schaffellen im Boden und deckte die Barren mit dem goldgelben<br />

Sand seines Strands zu. Wie würde er die erste Nacht<br />

über den schweren Barren schlafen? Würden sie ihn tief in einen<br />

unbewussten Schlaf ziehen, oder würden die Schuldgefühle<br />

die Oberhand gewinnen und ihn nie mehr zur Ruhe kommen<br />

lassen?<br />

Hätte er doch seine Hände um den Hals früher gelockert.<br />

Etwas früher!<br />

Die Schuldgefühle behielten die Oberhand. Die ganze Nacht<br />

verbrachte er zwischen Wachen und abgrundtiefen Albträumen.<br />

Warum hatte er trotz aller Bemühungen Hubert nicht<br />

mehr ins Leben zurückholen können? Waren wirklich nur<br />

Bruchteile von Sekunden entscheidend zwischen Leben und<br />

Tod? Zwischen Notwehr und Mord im Affekt? Oder hatte<br />

Hubert vielleicht einen Herzinfarkt erlitten? Vielleicht hatte<br />

er in Wirklichkeit ein schwaches Herz. Das wäre eine Erklärung<br />

dafür gewesen, dass seine Wiederbelebungsversuche<br />

nichts gefruchtet hatten. Wenn er dies in seinem Innersten nur<br />

glauben könnte! Dann wäre seine Schuld weniger groß. Dann<br />

würde ihn sein Gewissen weniger peinigen. Was hatte er doch<br />

nicht alles über Gott erzählt? Als Jürgen ihn gefragt hatte, ob<br />

er an Gott glaube, hatte er schlicht mit einem Ja geantwortet.<br />

Wie kann er nur an einen Gott glauben und trotzdem eine solch<br />

schreckliche Tat begehen?<br />

Die nächsten Tage verliefen nach Plan. Alles Gold hatte er<br />

178


hergeholt. Er war Millionär geworden und trotzdem hatte er<br />

kein Geld. Denn wie und wo konnte er einen Teil des Goldes<br />

verkaufen? Käme er mit einem Goldbarren zu der kleinen<br />

Bankfiliale in Morro, würde sofort das ganze Dorf zusammenlaufen,<br />

wahrscheinlich würde ein Polizeikommissar <strong>aus</strong> Gran<br />

Canaria auf der Insel erscheinen, ihn vernehmen und am Ende<br />

des Verhörs einsperren. Die Barren zersägen? Auch zerteilte<br />

Goldstücke würden auffallen. Außer Landes bringen? Wohin?<br />

Nach Deutschland? Im Flugzeug einhundert Kilogramm? Wie<br />

den Zoll überwinden? Sollte er anstatt dessen einen Schmelzofen<br />

bauen und das flüssige Gold in einen Eimer mit Wasser<br />

werfen, so dass Nuggets entstehen würden? Nuggets zum Verkauf<br />

anbieten in dem Fischernest Morro? Ein Goldr<strong>aus</strong>ch würde<br />

über die Insel hereinfegen. Die Einheimischen würden<br />

schreien: „Wo hast du das Gold gefunden? Das Gold gehört<br />

dir nicht, es gehört uns, du hast es auf unserer Insel gefunden!“<br />

Sie würden nicht locker lassen und hätten bald seinen Schmelztiegel<br />

entdeckt, die ganze Wahrheit würde an den Tag kommen,<br />

und seine Geschichte würde auffliegen.<br />

So gesehen, änderte sich nichts an seinem Einsiedlerleben<br />

durch das Gold. Allein das Bewusstsein würde ihm bleiben,<br />

dass er reich war. Ein Reichtum, über dem er schlief, und doch<br />

konnte er nichts damit anfangen. Die Krux war die Umwandlung<br />

des Goldes in Geld, das war für ihn zu einem nicht zu<br />

lösenden Problem geworden. Eine verflixte Situation. Genau<br />

genommen war das Gold für ihn wertlos.<br />

Wie weit war er gekommen?<br />

Die innere Ausgeglichenheit war weg. Die innere Unruhe,<br />

die er glaubte überwunden zu haben, war mit voller Wucht<br />

zurückgekehrt. Schuldgefühle peinigten ihn und die nicht<br />

weichen wollenden Gedanken rund um sein Gold. Sein Mädchen<br />

war verschwunden. Der einzige Mensch, mit dem er hat-<br />

179


te reden können. Er war allein. Er hatte in einem Paradies gelebt<br />

und war durch eigenes Verschulden in einer Hölle gelandet.<br />

Wie hatte das nur geschehen können!.<br />

Nach einem weiteren halben Jahr hatte Jürgen erneut <strong>Fuerteventura</strong><br />

als Urlaubsziel <strong>aus</strong>gesucht. Er joggte zum Esquinzo<br />

Strand hinauf. Würde er Heinz mit seinem Mädchen im Kalkofen<br />

antreffen? War es immer noch bei ihm? War er immer<br />

noch mit seinem Einsiedlerleben glücklich? Hatte er neue Erkenntnisse<br />

in seinen Meditationen über Gott und die Welt gewonnen?<br />

Er rannte um den letzten Felsvorsprung, der noch den Blick<br />

auf den Kalkofen versperrte hatte. Der Kalkofen aber war verschwunden.<br />

Keine Bretterverkleidung, keine Betonplatte. Auch<br />

der alte, verkommene Wohnwagen war weg. Es bot sich ein<br />

Anblick, als ob nie irgendjemand hier gelebt hätte. Keine Spur<br />

von dem Einsiedler oder seinem Mädchen. Er verlangsamte<br />

seine Schritte und blieb schließlich enttäuscht stehen. War der<br />

Kalkofen hier oder dort gestanden? Auf diesem oder auf jenem<br />

Hügel? Er war sich seiner Sache nicht mehr sicher. Die<br />

Vergangenheit kam ihm auf einmal wie eine Halluzination vor,<br />

die er gar nicht erlebt, sondern sich selbst nur eingebildet hatte.<br />

Dabei konnte er sich doch an das Gesicht des Einsiedlers<br />

genau erinnern, die blauen Augen, das blonde Haar, die von<br />

der Sonne gegerbte und mit Fältchen durchzogene Gesichtshaut<br />

an den Stellen, wo der rotblonde Bart nicht wucherte.<br />

Alfonso trottete heran. „Wollen Sie einige frische Fische kaufen?“,<br />

fragte er und zeigte auf seinen Eimer. Jürgen schüttelte<br />

den Kopf: „Was ist mit dem Einsiedler und seinem Mädchen<br />

passiert?“<br />

Alfonso senkte den Kopf:<br />

„Das Mädchen ist mit drei Burschen abgezogen. Danach ist<br />

etwas mit dem Einsiedler geschehen, er hat sich plötzlich ver-<br />

180


ändert. Er lachte nicht mehr, er war aufbr<strong>aus</strong>end, und wenn<br />

er einen Fisch kaufte, beschwerte er sich über den zu hohen<br />

Preis und die Qualität. Ich glaube, er kam mit sich selbst nicht<br />

mehr zurecht. Er sprach davon, dass er ein altes Segelboot<br />

umbauen und eine t<strong>aus</strong>end Kilometer südlich gelegene, menschenleere<br />

Insel ansegeln wolle, um dort ein neues Einsiedlerleben<br />

zu beginnen. Diese Insel hier sei nicht mehr dieselbe. Er<br />

erwähnte, glaube ich, die Kapverdischen Inseln, wenn es so<br />

etwas gibt. Dort soll es die Insel Boa Vista geben. Diesen Namen<br />

konnte ich mir gut merken, weil das die schöne Ansicht<br />

heißt. Er klagte auch darüber, dass der Bürgermeister von<br />

Morro ihn aufgefordert hatte, seinen Kalkofen zu räumen. Der<br />

Gemeinderat hatte entschieden, dass niemand mehr direkt am<br />

Strand wohnen dürfe. Auch das Bauen am Strand war verboten.<br />

Wenn er nicht freiwillig gehen würde, kämen Bulldozer,<br />

um alles zu planieren. Die Bulldozer rückten an einem frühen<br />

Morgen an. Mitgekommene Polizisten führten Heinz in Handschellen<br />

ab. Er soll immer wieder gerufen haben. Mein Gold, in<br />

meiner Hütte ist Gold, viel Gold! Die Polizisten lachten nur über<br />

diesen Witz. Sie zweifelten ohnehin an seinem Verstand. Wenn<br />

dieser Mann Gold hätte, würde er nicht so zerlumpt in einer<br />

schmutzigen Höhle wohnen. Die Bagger schaufelten das Gerümpel<br />

auf Lastwagen, die alles zu der Müllhalde hinter dem<br />

Berg fuhren und dort in der Schlucht entsorgten.<br />

Der Einsiedler wurde seither nicht mehr gesehen. Manche<br />

behaupten, dass er nach Deutschland zurückgekehrt sei. Ich<br />

aber glaube, dass er auf der fernen, menschenleeren Insel Boa<br />

Vista einen stillgelegten Kalkofen gefunden hat.“<br />

Jürgen durchfuhr es:<br />

Vielleicht sollte ich meinen nächsten Urlaub auf Boa Vista<br />

verbringen. Vielleicht finde ich ihn dort. Über zu viele Dinge<br />

181


haben wir noch nicht gesprochen. Zu H<strong>aus</strong>e las er im Reiseführer<br />

nach:<br />

„Ausgedehnte Dattelhaine wechseln sich ab mit Dünenfeldern,<br />

gebirgigen Steinwüsten und weiten Kiesfeldern in den<br />

zumeist flach <strong>aus</strong>laufenden Tälern. Umgeben ist die Insel von<br />

einer Kette weiter heller Sandstrände. Vielleicht die schönsten<br />

der Welt. Die jahreszeitlichen Schwankungen der Lufttemperatur<br />

sind gering. Zwischen 20 und 32 Grad. Niederschläge<br />

sind extrem selten und meistens bläst eine kräftige Brise <strong>aus</strong><br />

Nord-Ost.“<br />

182


Der Roman, der mein Leben verändern sollte<br />

eine wahre Begebenheit<br />

Die Dame in einem Überlinger Reisebüro, die meine Urlaubsvorlieben<br />

kannte, buchte für mich einen Aufenthalt im Aldiana<br />

Club auf <strong>Fuerteventura</strong>, genauer gesagt auf der Halbinsel<br />

Jandia von <strong>Fuerteventura</strong>. Ich hatte zuvor schon einmal einen<br />

Urlaub in einem Aldiana Club verbracht, und zwar 1971 im<br />

Senegal. Dort hatte es mir sehr gut gefallen, und sie erinnerte<br />

sich an meine damalige Begeisterung. Ich hatte sie angerufen<br />

und sie gebeten, für mich tätig zu werden.<br />

„Wohin soll es gehen? Wie lange?“, fragte sie am Telefon.<br />

„Egal wohin. Egal, wie lange. Einfach weg! Meine einzige<br />

Bedingung ist, dass das Flugzeug morgen in aller Frühe starten<br />

muss“, antwortete ich.<br />

Ich war nämlich <strong>aus</strong> der Notaufnahme <strong>aus</strong>gerissen, um einer<br />

Operation zu entgehen, und ich wollte, auf den Druck<br />

meiner Familie hin, nicht wieder zurück ins Gefängnis, ans Bett<br />

gebunden, ins Krankenh<strong>aus</strong>. Das war es für mich nämlich: ein<br />

Gefängnis. Ich war nicht willensstark genug, liegend im Bett<br />

weiß angezogenen, ernst <strong>aus</strong>sehenden Ärzten einfach „nein“<br />

zu sagen.<br />

Ich hatte ein leichtes Ziehen in meiner linken Schulter gehabt.<br />

„Das ist dein Herz“, vermutete meine Tochter sorgenvoll.<br />

„Du musst dich von einem Spezialisten untersuchen lassen.“<br />

Der Herzspezialist stellte schwere Herzrhythmusstörungen<br />

fest und überwies mich ins Singener Krankenh<strong>aus</strong>.<br />

„Sofort melden Sie sich dort bei Professor Winter“, sagte er,<br />

„Ihr Zustand erlaubt keinen weiteren Aufschub!“<br />

Der Professor sah mich ernst an. Sein Blick wanderte von<br />

der EKG-Aufzeichnung zu mir und wieder zurück.<br />

183


„Wie alt sind Sie? Wie groß? Welches Gewicht haben Sie?“<br />

Was hatten diese Fragen mit meinem Herzen zu tun, dachte<br />

ich, als ich wie mechanisch, aber schon äußerst besorgt, seine<br />

Fragen beantworte.<br />

Er legte eine Karteikarte an und sagte:<br />

„Dieses EKG ist eine eindeutige Indikation für die Implantation<br />

eines Herzschrittmachers. Wir müssen Sie sofort stationär<br />

aufnehmen und Ihnen zum frühestmöglichen Termin,<br />

wahrscheinlich schon morgen, einen Herzschrittmacher einsetzen.“<br />

Bei seinen Worten wurde mir schwarz vor Augen, und ich<br />

saß wie gelähmt auf dem Stuhl, fast unfähig, mich zu rühren.<br />

Ich hörte, wie er weiter davon sprach, dass die Operation<br />

vergleichsweise nur ein harmloser Eingriff sei, und dergleichen<br />

mehr. Langsam wich der Schock. Gestern hatte ich noch wie<br />

wild mit meinem Freund um eine Flasche Bier Tennis gespielt,<br />

und vorgestern war ich eine Dreiviertelstunde joggen gewesen<br />

und heute dies! Ich konnte das einfach nicht glauben. Innerhalb<br />

von kaum einer Stunde diese Diagnose! Wie ein Blitz<br />

<strong>aus</strong> heiterem Himmel! Was war überhaupt ein Herzschrittmacher?<br />

Helmut Schmidt hatte einen. T<strong>aus</strong>end andere auch.<br />

Würde ich dadurch zum Halbkrüppel werden? Kein Tennis<br />

mehr, kein Waldlauf? „Nein, natürlich nicht“, meinte der Professor<br />

– ich hatte anscheinend laut gesprochen –, „und ob Sie<br />

später noch Tennis spielen können, werden wir sehen.“<br />

Wie benommen stand ich auf. Zitternd stand ich da, wankte<br />

fast.<br />

„Ich werde jetzt nach H<strong>aus</strong>e fahren“, sagte ich so bestimmt<br />

wie möglich.<br />

„Das kann ich nicht zulassen“, erwiderte er, „Sie würden<br />

den Verkehr in Ihrem gegenwärtigen Zustand gefährden.“ Und<br />

184


schon lag ich auf der Station in einem Bett in der Notaufnahme.<br />

Nachts entronnen, ließ ich im Auto meinen Tränen freien<br />

Lauf, beklagte mein Schicksal, sah mich schon, wenn nicht<br />

gleich als Krüppel, dann aber als Behinderter, und als ich zu<br />

H<strong>aus</strong>e ankam, hatte ich wieder etwas Mut gefasst. Ich erinnerte<br />

mich an einen Rat, den mir mein inzwischen längst verstorbener<br />

Vater gegeben hatte:<br />

„Glaube dem Ersten nicht, auch nicht dem Zweiten. Hör den<br />

Dritten an und auch den Vierten und tu dabei niemals etwas<br />

gegen deine eigene Überzeugung.“ Dieser Rat hatte mir schon<br />

bei vielen geschäftlichen Entscheidungen gute Dienste geleistet.<br />

Warum sollte ich ihn jetzt, bei einer so viel wichtigeren<br />

Frage, die mich persönlich betraf, nicht auch beherzigen?<br />

Ich war fest davon überzeugt, dass mein Körper mit den<br />

Herzrhythmusstörungen, sofern sie überhaupt von der Art<br />

waren, die einen Schrittmacher erforderten und die beiden<br />

Ärzte mit ihrer Diagnose richtig lagen, selbst fertig werden<br />

konnte. Ich musste nur mir selbst und meinem Körper die<br />

Chance zur Selbstheilung geben und auch die äußeren besten<br />

Vor<strong>aus</strong>setzungen für die Heilung schaffen. Das Klima der Kanarischen<br />

Inseln hatte schon manchen Kranken geheilt.<br />

Vielleicht würden die frische Atlantikluft und das kühle Meerwasser<br />

auch mir helfen. Wie war es eigentlich zu den Rhythmusstörungen<br />

gekommen? Was hatte ich falsch gemacht?<br />

Bisher erfreute ich mich immer bester Gesundheit. Ich war<br />

immer fit, spielte bei schönem Wetter Tennis, und wenn es regnete,<br />

joggte ich mit unserem Dalmatiner, dem die Nässe nichts<br />

<strong>aus</strong>machte, durch den tropfenden Wald. Ich hatte das Rauchen<br />

schon vor vielen Jahren aufgegeben und hatte auch kein<br />

Übergewicht. Ab und zu ein bisschen Alkohol, aber eigentlich<br />

nur an Wochenenden.<br />

185


Sicher war ich mit Arbeit überhäuft. Die Arbeit war es aber<br />

nicht, die mir schadete. Es war der damit verbundene Stress,<br />

der mich zermürbte und nachts nicht schlafen ließ.<br />

Neben dem Tennisgeschäft war ich nach wie vor, nämlich<br />

seit 24 Jahren, freiberuflich für die Firma Gohl mit der Entwicklung<br />

von Kühltürmen tätig. Sie hatte von mir die Lizenz<br />

zum Bau von Kompaktkühltürmen erworben, die hauptsächlich<br />

für Klimaanlagen eingesetzt wurden. Gohl war zuvor auf<br />

diesem Gebiet nicht bewandert. Mit meinen Kühltürmen war<br />

sie aber dann zum Marktführer in Deutschland aufgestiegen.<br />

Laufend waren jedoch Entwicklungsanstrengungen nötig, um<br />

diese Position halten zu können. Das war mein alleiniges Resort.<br />

Über 50 Patentanmeldungen liefen auf meinen Namen.<br />

Ungezählte Konstruktionszeichnungen und Skizzen hatte ich<br />

erstellt.<br />

Immer wieder traten technische Probleme bei installierten<br />

Anlagen auf. Die Firma vertrat die Ansicht, dass das auch in<br />

mein Resort falle und ich die Verantwortung dafür trage. Verantwortung<br />

hieß in diesem Fall: ein Großteil des finanziellen<br />

Risikos. Ich sei schließlich der Konstrukteur!<br />

Bei etwa 30 000 installierten Anlagen kann selbstverständlich<br />

nicht immer alles glatt laufen. Viele Probleme ließen sich<br />

nicht einfach am grünen Tisch lösen. Oft standen hohe Summen<br />

auf dem Spiel, weil manche Anlagen aufgrund miserabler<br />

Aufstellungsverhältnisse die zugesagten Leistungen nicht<br />

erbrachten und dann im schlimmsten Fall der Abriss der Anlage<br />

mit entsprechenden Schadenersatzforderungen drohte.<br />

Das war mit häufigem Reisen verbunden. Die wichtigen Arbeiten<br />

am Schreibtisch mussten warten.<br />

Darüber hin<strong>aus</strong> wurden immer mehr technische Unterlagen<br />

angefordert. Neue Prospekte mit allen Daten und andere technische<br />

Ausarbeitungen mussten für Werbezwecke laufend neu<br />

186


gestaltet werden, die ich allein entwarf und druckfertig vorlegte.<br />

Auch die Ausbildung neuer und gestandener Mitarbeiter<br />

verschlang Zeit und Nerven. Kaufmännische Probleme<br />

gesellten sich dazu, die auch mit der an mich zu bezahlenden<br />

Lizenz zu tun hatten. Neu eingestellte Mitarbeiter warteten<br />

mit eigenen Ideen und Vorstellungen auf und stellten anfangs<br />

oft alles bisher Bewährte infrage, so dass es dabei hin und<br />

wieder zu heftigen Meinungsverschiedenheiten kam, die ich<br />

zwar zu vermeiden suchte, die aber dennoch un<strong>aus</strong>weichlich<br />

waren, wenn man der bisherigen erfolgreichen Linie treu bleiben<br />

wollte. Diese Querelen und Rechthabereien waren nervenaufreibend,<br />

zumal ich als freier Mitarbeiter keine Weisungsbefugnis<br />

gegenüber Angestellten der Firma hatte.<br />

Die Tennisschläger, die in meiner eigenen Firma hergestellt<br />

wurden, bereiteten auf einmal auch Probleme. Ich wurde verklagt.<br />

Ich hatte Prozesse am Landgericht München, am Oberlandgericht<br />

und am Europäischen Patentamt zu führen. Das<br />

kostete Zeit und Nerven!<br />

Auf diese Weise war ich Stresssituationen <strong>aus</strong>gesetzt, die ich<br />

nicht einfach abschütteln konnte. Stress war latent da, ständiger<br />

Begleiter über Wochen, Monate, Jahre.<br />

Ich musste <strong>aus</strong> diesem Teufelskreis <strong>aus</strong>brechen, mich von<br />

allen Stresssituationen lösen, denn die waren es, die mir<br />

schließlich auf mein Herz schlugen. Ich hatte die Warnung<br />

verstanden. So durfte ich nicht weitermachen.<br />

Und jetzt ein Urlaub zum ersten Mal in diesem Club! Hier<br />

werde ich meine Chance wahrnehmen. Ich werde in mich gehen,<br />

mein Leben überdenken. Meine Ess- und Trinkgewohnheiten<br />

ändern. Fett vermeiden, Zucker und Alkohol weglassen.<br />

Versuchen, schlanker zu werden, meine Gedanken neu zu<br />

ordnen. Ruhiger werden. Stress nicht an mich herankommen<br />

lassen. Nicht einmal einen Gedanken an irgendein bisheriges<br />

187


stressbeladenes Problem zulassen. Solche Gedanken werde ich<br />

›einkapseln‹ und ›im Kleingehirn vergraben‹, so wie die Lunge<br />

Tuberkulosebazillen einkapselt und dadurch unschädlich<br />

macht. Schuldgefühle muss ich bis zur nächsten Beichte aufheben,<br />

aber da ich ja nicht beichte, sollte ich sie gleich ins nächste<br />

Leben verbannen. Endlich will ich her<strong>aus</strong>finden, was für<br />

mich wirklich wichtig ist. Das Buch ›Sorge Dich nicht, lebe!‹<br />

von Dale Carnegie will ich noch einmal lesen, mehr Freude<br />

am Tennisspielen haben und laut am Achtertisch des Clubs<br />

lachen. Entspannt will ich am Meer joggen und danach die<br />

Endorphin-Ausschüttungen beim anschließenden Duschen<br />

genießen. Ich will meinen Körper spüren, mich an ihm freuen<br />

und in ihm wohlfühlen. Pollenfreie, vom Atlantik gefilterte<br />

Luft, will ich atmen und meinen nackten Körper Wind und<br />

Sonne <strong>aus</strong>setzen, dabei braun werden und für das andere Geschlecht<br />

begehrenswerter machen.<br />

Das alles hatte ich mir vorgenommen. Doch vor allen Dingen<br />

musste ich meinen Kopf freibekommen. Ihn von all dem<br />

Müll und den Schlacken der vergangenen Jahre reinigen. Frei<br />

von Patentanmeldungen „schruppen“, frei von fehlgeschlagenen<br />

Entwicklungen, frei von sorgenbeladenen Gedanken<br />

über meine Familie. Frei von Gedanken über meine Kunden<br />

und meine Mitarbeiter. Mein Gehirn für Neues öffnen. Alles<br />

löschen, was nicht wichtig war, was mich jedoch belastete. Für<br />

wen trage ich eigentlich Verantwortung? Gibt es denn für einen<br />

Menschen überhaupt so einen Begriff, wie ›Verantwortung<br />

tragen‹, wenn sie nicht mit Geld bezahlt werden muss? Politiker<br />

tragen Verantwortung. Sagt man. Sagen sie. Dann übernehmen<br />

sie manchmal sogar die Verantwortung, treten dann<br />

zurück und werden dafür mit einer fürstlichen Rente bis an<br />

ihr Lebensende belohnt. Ihnen konnte wahrscheinlich nichts<br />

Besseres passieren. Geld bezahlen sie jedenfalls nicht und ins<br />

188


Gefängnis wandern sie deswegen auch nicht. Ihr Ruf ist<br />

vielleicht geschädigt, ihre Karriere beendet. Doch, um Wilhelm<br />

Busch zu zitieren: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich‘s völlig<br />

ungeniert.“<br />

Doch ich glaube, dass ich für meine Kinder Verantwortung<br />

getragen habe. Jedenfalls, solange sie klein waren und Hilfe<br />

brauchten. Jetzt sind sie aber nicht mehr klein. Die Jüngste ist<br />

21 und der Älteste 27 Jahre alt.<br />

Das alles trug sich im März des Jahres 1984 zu. Der Club<br />

war erst wenige Monate zuvor eröffnet worden. Er liegt an<br />

einem breiten Sandstrand, fünfzig Minuten zu Fuß nördlich<br />

vom Robinson Club Jandia entfernt, der seit 1970 besteht.<br />

Mit einem neuen, ungewöhnlichen Projekt könnte ich meinen<br />

Kopf freibekommen. Eine vage Vorstellung hatte ich schon.<br />

War ich dieser Aufgabe gewachsen? Konnte ich so etwas<br />

überhaupt? Einen Roman schreiben? Ohne besondere Ausbildung,<br />

einfach so <strong>aus</strong> dem Stegreif? Hinsetzen und schreiben?<br />

Bei offener Tür saß ich vor dem Schreibtisch in meinem spartanischen<br />

Aldiana-Bungalow, und mein Blick wanderte vom<br />

weiten Horizont über das dem Auge so wohltuende Blau des<br />

Meeres zu dem weißen Blatt Papier auf dem Tisch. Wie anfangen,<br />

wie schreiben, welches Thema? Nicht irgendein Thema.<br />

Ich will schon etwas Besonderes sagen. Der Leser soll etwas<br />

von mir erfahren, das er nicht so schnell vergessen soll. Ich<br />

will ihn mit meiner Geschichte fesseln. Spannend muss sie<br />

werden. Mit Wendungen, die nicht alltäglich und auch überraschend<br />

sind. Es genügt sicher nicht, nur schreiben zu wollen.<br />

Etwas muss in einem schlummern, das nach draußen dringen<br />

will, etwas, worauf man selbst eine Antwort finden will.<br />

Ich ging vor die blau gestrichene, einfach <strong>aus</strong> Brettern zusammengefügte<br />

Tür, blickte in das sich vor mir <strong>aus</strong>breitende<br />

Tal. Der Gärtner sagte, es sei das ›Valluelo de la Cal‹. Das sei<br />

189


der direkte Weg zum 800 Meter hohen ›Pico de la Zarza‹. So<br />

wird der am Horizont sichtbare höchste Berg <strong>Fuerteventura</strong>s<br />

genannt, über dessen Spitze um diese Jahreszeit des Nordostpassats<br />

Wolken ins Tal fallen und sich dabei auflösen. Es sieht<br />

<strong>aus</strong>, als ob ein weißes Tischtuch über die Bergspitze gezogen<br />

wird. In der Ferne sah ich, wie sich die blütenweißen Wolken<br />

gegen den blauen Himmel abhoben. Das Tal hingegen sah trostlos<br />

und zum Wandern überhaupt nicht einladend <strong>aus</strong>. Trotzdem,<br />

ich wagte es. Schwarzbraune Steine wechselten sich mit<br />

helleren ab, die von <strong>aus</strong>getrockneten Flechten rötlich schimmerten.<br />

Schon hatte ich meine Tennisschuhe mit griffigem<br />

Profil angezogen und machte mich auf den Weg. Ohne lang<br />

zu überlegen, schlug ich den direkten Weg ein. Der anfängliche<br />

Pfad endete nach wenigen Kilometern am einem Bergabhang.<br />

Das konnte kein Grund zur Aufgabe sein. Auf allen vieren<br />

kletterte ich hoch. Der Schweiß rann mir von der Stirn.<br />

Durstig war ich. Wasser hatte ich in der Eile vergessen. Nach<br />

weiteren zwei Kilometern erreichte ich aber wieder einen Pfad,<br />

der anscheinend zur Bergspitze führte. In dieser bereits erklommenen<br />

Höhe entdeckte ich in den schattigen Spalten der wettergeschlagenen<br />

Steine mehr Pflanzen als weiter unten. Sie<br />

waren den spitzen Mäulern der Ziegen entronnen. Auf einem<br />

Stein saß ein Mauergecko gut getarnt. Sah <strong>aus</strong> wie eine große<br />

Flechte. Eine goldgefärbte Eidechse rannte vor mir über den<br />

Pfad und blieb unvermittelt auf einem Stein bewegungslos sitzen.<br />

Sie weiß um die Gefahr. Bussarde kreisten über dem gesamten<br />

Gebiet und suchten nach Beute. Immer wieder sah ich<br />

Büsche mit gelben Blüten und kleinen, fast könnte man meinen,<br />

unterentwickelten Blättchen, auf denen kleine Schnecken<br />

saßen. Die toten weißen Schneckengehäuse lagen verstreut<br />

unter den Büschen. Man könnte sie leicht mit kleinen, weißen<br />

Kieselsteinen verwechseln. Ein anderer Busch heißt ›Tabaiba‹,<br />

190


ein purpurrot blühendes Wolfsmilchgewächs. Er besteht hauptsächlich<br />

<strong>aus</strong> Stacheln. Viele dieser Sträucher sind so vertrocknet,<br />

dass man glauben könnte, sie seien abgestorben, was aber<br />

nicht stimmt. Sie leben und trotzen den gefräßigen Ziegen.<br />

Wie stark das Leben doch ist! Es überwindet die widerwärtigsten<br />

Bedingungen und passt sich immer wieder aufs Neue<br />

an. Auch Aloe-vera-Pflanzen waren verstreut zu sehen, und<br />

zwar die Aloe vera ›Barbadensis‹, die vorherrschende Art auf<br />

<strong>Fuerteventura</strong> und diejenige, der man die größte Heilkraft zuschreibt.<br />

Ich erreichte die Wolke. Sie war als solche nicht mehr<br />

zu erkennen. Ich sah aber, wie sich Nebenfetzen absonderten<br />

und ins Tal fielen, immer dünner wurden und sich auf einmal<br />

in Nichts auflösten. Ich war im Nebel, der nicht so dicht war,<br />

wie ich mir das vorgestellt hatte. Doch die großen Felsbrocken,<br />

unter denen ich mich jetzt befand, waren nass. In tellerförmigen<br />

Mulden sammelte sich sogar Wasser. Kondenswasser. Ich<br />

beugte mich darüber und trank. Es war kühl und schmeckte<br />

süß. Die Büsche um mich herum waren jetzt saftig grün. Der<br />

Nebel wurde lichter und plötzlich stand ich auf der Spitze des<br />

Bergs und wie durch ein Wunder brach die Sonne hervor und<br />

gab den Blick frei über einen senkrecht abfallenden Abgrund<br />

auf die gelblich schimmernde Sandküste und das tiefblaue<br />

Meer der Westküste. Ein grandioser Ausblick. Verschlafen und<br />

gleichzeitig geheimnisvoll wirkte die Villa Winter, die wie ein<br />

Fremdkörper am Abhang lag.<br />

Ich stellte mich auf den meterhohen Felsen. Das ist die höchste<br />

Stelle <strong>Fuerteventura</strong>s. Das ist die Stelle, wo ich mich entscheiden<br />

wollte. Nackt will ich dazu sein. Nackt am Körper<br />

und nackt in meinen Gedanken.<br />

Fast pathetisch zog ich mich <strong>aus</strong>, breitete meine Arme <strong>aus</strong><br />

wie die Christusfigur in Rio und schloss meine Augen. Ich richtete<br />

mich nach Norden:<br />

191


„Ich grüße euch alle in Europa. Euch alle, die ihr auf eure<br />

Kultur so stolz sein wollt. Zu Recht? Oder seid ihr nicht anders<br />

als alle anderen Menschen auch?“<br />

Ich verbeugte mich nach Westen.<br />

„Ihr Amerikaner mit eurem ›American way of life‹. Habt<br />

ihr nicht sehr oft, bei allem, was ihr tut, ein Dollarzeichen in<br />

den Augen? Seid ihr wirklich so christlich wie ihr immer behauptet?<br />

Unkompliziert? Seid ihr darauf stolz? Oder seid ihr<br />

nicht anders als alle anderen Menschen auch?“<br />

Und jetzt nach Süden.<br />

„Ihr Völker Afrikas! Werdet ihr die Armut überwinden?<br />

Durch Bildung den Anschluss an die Annehmlichkeiten der<br />

Zivilisation finden? Jetzt schon seid ihr nicht anders als alle<br />

anderen Menschen auch.“<br />

Und im Osten?<br />

„Ich nehme an, ihr seid Buddhisten. Ihr wollt die Gewaltlosigkeit<br />

und den Frieden. Alle von euch? Warum lächelt ihr<br />

dabei? Seid ihr stolz auf eure euch nachgesagten Tugenden?<br />

Oder seid ihr nicht anders als alle anderen Menschen auch?“<br />

Nackt will ich sein und so wie ihr alle auch: nur ein ganz<br />

gewöhnlicher Mensch. Ich will nur leben, Freude haben und<br />

etwas Glück finden. Wie lange will ich leben? Unendlich lange?<br />

Unendlich lange würde irgendwann sehr langweilig werden.<br />

Es würde im persönlichen Chaos enden. Doch das Christentum<br />

verspricht uns das ewige Leben. Sozusagen als Belohnung<br />

für ein tugendhaftes Benehmen. Ein ewiges Leben muss<br />

demnach doch für viele Menschen sehr erstrebenswert sein!<br />

Ich erinnerte mich daran, dass ich schon mit vierzehn eine<br />

längere Geschichte schreiben wollte. Sie sollte den Lebensweg<br />

eines erfolgreichen Mannes beschreiben, der, nachdem er alle<br />

seine selbst gesetzten Ziele erreicht hatte, plötzlich und für ihn<br />

völlig unerwartet vor dem Nichts stand und nicht mehr wuss-<br />

192


Pico de la Zarza<br />

te, was er mit sich anstellen sollte. Solche Gedankengänge<br />

waren wohl ungewöhnlich für einen Jungen dieses Alters, aber<br />

in den ersten Nachkriegsjahren war vieles ungewöhnlich. Ich<br />

stellte mir wohl damals selbst die Frage: Warum soll ich so viel<br />

lernen? Warum denn überhaupt etwas werden wollen? Der<br />

Aufwand lohnt sich doch nicht. Alles endet doch ähnlich und<br />

zum Schluss bleibt nur die Langeweile übrig. Einen Titel für<br />

diese Geschichte, der diese Gedankengänge am besten umschreibt,<br />

hatte ich mir <strong>aus</strong>gedacht: ›Und dann?‹ Sollte ich jetzt<br />

diese Geschichte als Roman schreiben? Ohne Zeitdruck schreiben,<br />

ohne die Verpflichtung, den Roman je fertig schreiben zu<br />

müssen, nur wenn es mir Spaß machte? Mit einem überraschenden<br />

Schluss? Eine verrückte Idee! Ich hatte schon so viel<br />

verrückte Dinge in meinem Leben getan, auf eine weitere kam<br />

es sicher nicht an.<br />

Ich verabschiedete mich von den Völkern der vier Himmel-<br />

193


ichtungen und legte mich etwas weiter unten auf eine flache<br />

Felsformation, so dass mein nackter Körper engen Kontakt mit<br />

dem nassen Basalt hatte. Ich wollte die Gravitationswellen<br />

dieser Erde spüren. T<strong>aus</strong>ende Meter von hartem Basalt unter<br />

mir. Die Einzelheiten zu dem Roman hier und jetzt erfinden.<br />

Sozusagen ein Romangerüst erstellen, eine Kurzzusammenfassung<br />

der Handlung, das ›Exposé‹ entwerfen.<br />

Ich zog aber zunächst den alten Sony-Walkman <strong>aus</strong> der Tasche<br />

und legte den ›Feuervogel‹ ein. Strawinsky. Seine Musik<br />

passt zu der bizarren Landschaft. Volle Lautstärke. Mein Herz<br />

vibrierte schon bei den bei den ersten Akkorden. Ich sah im<br />

Geiste den Feuervogel im Garten des Zauberers ›Kastschej‹<br />

tanzen, der ihn gefangen hielt, dargestellt von einer betörenden<br />

Balletttänzerin in einem freizügigen roten Kostüm. Prinz<br />

Iwan lässt den Vogel frei und erhält dafür eine rote Feder. Die<br />

Wunderfeder schützt den Prinzen fortan und rettet ihm sogar<br />

später das Leben. Die magische, rhythmisch wechselnde Musik,<br />

zwischen Harmonie und Disharmonie, rüttelt den einen<br />

auf, erregt ihn, dem anderen aber widerstrebt sie, er will sie<br />

abschalten. Bei mir wirkt sie wie ein Katalysator für fantasievolle<br />

Gedanken, die fassbar werden. Ich sah, wie die Figuren<br />

des Romans in meinem Kopf Gestalt annahmen. Iwan führt<br />

indessen den Feuervogel zu einer Höhle, wo ein großes Ei versteckt<br />

ist, worin die Seele des Zauberers gefangen ist. Der Prinz<br />

zerschlägt das Ei und der gehasste Zauberer stirbt. Die dreizehn<br />

Jungfrauen, die der Zauberer gefangen gehalten hat, sind<br />

frei. Das Crescendo folgt. Die letzten Trompetenstöße. Plötzlich<br />

herrscht totale Stille. Meine Gedanken wanderten. Ich<br />

glaubte, jetzt den Nebel fallen zu hören. Das Exposé des Romans<br />

entstand.<br />

Der rote Faden des Romans musste deutlich her<strong>aus</strong>gestellt<br />

werden. Ich musste an einem Beispiel durchspielen und darle-<br />

194


gen, dass die ewige Jugend ein Zustand ist, den auf Dauer niemand<br />

ertragen kann und der deshalb auch für niemanden erstrebenswert<br />

ist.<br />

Wenn jemand nicht mehr altern kann, wird er, da er genügend<br />

Zeit hat, fast jedes berufliche Ziel erreichen können, das<br />

er sich vorgenommen hat. Er braucht dazu vielleicht 50 Jahre,<br />

500 oder gar 1 000. Aber irgendwann wird er es schaffen. Er<br />

könnte zum Beispiel Präsident der Vereinigten Staaten werden,<br />

wenn er sich dieses Ziel gesetzt hätte. Irgendwann einmal.<br />

Und ich überlegte zunächst, ob ich den Helden der Geschichte,<br />

ich wollte ihn ›Peter Grant‹ nennen, nicht gerade diese Laufbahn<br />

nehmen lassen sollte. Doch dann beschloss ich, dass Peter<br />

Grant ein junger, mäßig begabter Tennisspieler sein sollte,<br />

der sich auf der Tour schwertut und bisher noch nie ein bedeutendes<br />

Turnier gewonnen hat. Mit Tennisspielern kannte<br />

ich mich besser <strong>aus</strong> als mit Präsidenten. Auch ein Tennisspieler<br />

kann Großes erreichen. Er kann z. B. alle vier Grand-Slam-<br />

Turniere in einem Jahr gewinnen.<br />

Das Problem tat sich auf: Wie soll in dem Roman dieser junge<br />

Mann die ewige Jugend erhalten? Einigermaßen glaubhaft<br />

für den Leser?<br />

Einer Droge, einer unerforschten Pflanze <strong>aus</strong> dem Amazonasbecken<br />

könnte man am ehesten eine solche Wirkung zutrauen.<br />

Aber sie sollte beim Menschen nicht nur das Altern<br />

verhindern, sondern auch alle seine Bewegungen im Zeitlupentempo<br />

ablaufen lassen, wenn er sich auf eine Sache stark<br />

konzentriert. Die Nebenwirkung soll sein, dass er im Laufe der<br />

Zeit impotent wird. Dies alles sollte die Droge bewirken. In einem<br />

Roman geht so etwas natürlich.<br />

Als Peter Grant von dieser Droge abhängig wird, heißt sein<br />

Schicksal, von nun an immer jung zu bleiben. Bevor er jedoch<br />

anhängig wurde, war er von Indianerinnen, die ihn nach ei-<br />

195


nem Flugzeugabsturz über dem Amazonasgebiet noch lebend<br />

<strong>aus</strong> einem Sumpf gezogen haben, gepflegt und gesund gepäppelt<br />

worden. Sie hatten ihre Männer umgebracht, die bei täglichen<br />

Drogenräuschen ihre Potenz verloren hatten. Damit war<br />

der Stamm dem Aussterben geweiht. Doch der mächtige Manitu<br />

oder wie immer ihr Gott hieß, ließ einen blonden jungen<br />

Mann vom Himmel fallen. Was sich dann abgespielt hatte,<br />

kann man leicht erraten. Er hatte dafür zu sorgen, dass der<br />

Stamm nicht <strong>aus</strong>starb.<br />

Peter genoss dieses Leben zunächst. Jeden Tag ein anderes<br />

junges Mädchen. Er hielt sich körperlich fit, indem er tagsüber<br />

der Jagd nachging und im nahe gelegenen See seine Runden<br />

schwamm.<br />

Doch dann kamen ihm Zweifel. Er war auf einmal mit diesem<br />

Leben nicht mehr zufrieden. Nur noch körperlichen Sex?<br />

Ohne Zärtlichkeit der Worte? Ohne Kommunikation? Ohne<br />

geistigen Anspruch? Auf Dauer nicht <strong>aus</strong>zuhalten. Er sehnte<br />

sich nach ›Liebe‹, so wie er seine Freundin Diana geliebt hatte,<br />

die mit abgestürzt war. Was war nur <strong>aus</strong> ihr geworden?<br />

Er begann, die Droge zu nehmen, der die alten unter den Indianerinnen<br />

die ›ewige Jugend‹ zuschrieben. Vielleicht half sie,<br />

bei R<strong>aus</strong>chzuständen, die sich gelegentlich einstellten, die Eintönigkeit<br />

zu besiegen. Sie half nicht. Er musste zurück in die<br />

Zivilisation. Er musste fliehen.<br />

Er erreichte schließlich auf abenteuerliche Weise Miami, wo<br />

er seine Tenniskarriere fortsetzen wollte. Hier waren die Vor<strong>aus</strong>setzungen<br />

für Tennisspieler ideal.<br />

Die Auswirkungen der Droge, von der er nicht mehr wegkam,<br />

waren zunächst überraschend. Seine geistigen und körperlichen<br />

Funktionen schalteten auf Höchstleistung, ohne dass<br />

er sich dabei sonderlich anstrengen musste. Er lernte schneller<br />

und müheloser als je zuvor, obwohl er jetzt alle Zeit der Welt<br />

196


esaß und Eile durch nichts gerechtfertigt gewesen wäre. Weil<br />

er aber genügend Zeit hatte, brachen alle Barrieren, Vorurteile,<br />

Ängste und Komplexe in sich zusammen und machten Platz<br />

für ein grenzenloses Selbstvertrauen. Nie erwartete Leistungen<br />

und Erfolge stellten sich ein. Damit nahmen aber auch die<br />

Aufgaben ab, und die Langeweile wurde erst schüchterner,<br />

dann ständiger Begleiter in seinem Leben. Schon der Gedanke,<br />

immer jung zu bleiben, ließ ihn das Wachsein immer mehr<br />

fürchten. So fehlten ihm Ideen, seinen Geist zu füttern, und<br />

Aufgaben, seinen Körper zu beschäftigen. Er erkannte, dass<br />

das so oft gepriesene ewige Leben die Hölle ist und im Wahnsinn<br />

enden musste. Irgendwann wird er alles, gedacht und alles<br />

geschaffen haben, und dann’?<br />

Ich musste anfangen zu schreiben. Sofort. Den Abstieg schaffte<br />

ich leichten Fußes, zumeist rennend.<br />

Das leichte Ziehen des Röhrchentuschefüllers über das Papier<br />

auf dem <strong>aus</strong> Beton gegossenen Schreibtisch in meinem<br />

Bungalow vermischte sich mit dem gleichmäßigen R<strong>aus</strong>chen<br />

der vom Nordostpassat getriebenen Wellen, das über die Klippen<br />

ins Zimmer drang. Ich schrieb! Zuerst mühsam, zaghaft,<br />

dann aber sprudelten die aufgestauten Gedanken nur so<br />

hervor, und der Füller glitt immer schneller über das Papier.<br />

Nach einigen Stunden legte ich die Feder weg und war einfach<br />

glücklich. Ein glückliches Gefühl von grenzenloser Freiheit.<br />

Ich konnte auf dem Papier Menschen erfinden, ihnen spezifische<br />

Charaktereigenschaften geben und Begabungen. Ich<br />

konnte die Handlung in eine bestimmte Richtung lenken, um<br />

sie später zu korrigieren oder in eine andere Richtung zu zwingen.<br />

Gibt es überhaupt eine andere Form der Kunst, die dem<br />

Schaffenden so viel Spielraum, so viel Freiheit lässt wie das<br />

Schreiben einer erfundenen Geschichte?<br />

197


Der Roman ‚Und dann?‘<br />

Ich schrieb also den Abenteuerroman „Und dann?“<br />

Wie konnte ich damals wissen, dass dieser Roman mir so viel<br />

Geld einbringen sollte wie keine meiner Tätigkeiten zuvor? Wie<br />

konnte ich wissen, dass ich durch ihn einige Millionen Dollar<br />

verdienen würde, obwohl das spätere Buch praktisch unverkäuflich<br />

war? Als Leser werden Sie sich fragen: Wie ist so etwas<br />

überhaupt möglich? Nur wenige Bücher sind verkauft<br />

worden, und trotzdem ist das Buch ein großer finanzieller Erfolg<br />

geworden?<br />

Unter der Wirkung der Droge <strong>aus</strong> dem Amazonasbecken<br />

erschienen ihm alle Bewegungen im Zeitlupentempo, so dass<br />

er z. B. einen hochgeworfenen Ball mit dem Schläger äußerst<br />

genau treffen und somit auch platzieren konnte. Trotzdem war<br />

er mit der Präzision seines Schlags nicht zufrieden. Sollte<br />

vielleicht die immer wieder auftretende Abweichung des vom<br />

Boden aufspringenden Balls vom anvisierten Punkt trotz der<br />

198


Resonanzschläger<br />

perfekten Schlagbewegung gar nicht an ihm, sondern am<br />

Schläger liegen? Diese Vermutung hatte sein Trainer und wissenschaftlicher<br />

Berater Dr. Helmholtz schon längst geäußert.<br />

Der Schläger musste es sein! Welche Stellung hatte er eigentlich,<br />

wenn der Ball den Schläger verließ? Der Schläger musste<br />

genauer werden! Aber wie? Er verbog sich doch beim Aufprall<br />

des Balls. Könnte man wohl einen Schläger konstruieren, der<br />

mit dem Ball sozusagen im Gleichschritt zurückginge und<br />

gen<strong>aus</strong>o wieder vorschnellte? Würde dieses Resonanzprinzip<br />

auch für die Drehbewegung um die Schlägerlängsachse an-<br />

199


US Patent<br />

wendbar sein? Könnte man schlussendlich beides miteinander<br />

verknüpfen? – In einem Roman ist alles möglich! Das ›Resonanz-Racket‹<br />

war zumindest auf dem Papier schon geboren,<br />

und der Romanheld erreichte mit diesem neuen Schlagwerkzeug<br />

problemlos die Ziele, die er sich als Spieler gesteckt hatte.<br />

Vielleicht erraten Sie jetzt, warum diese Buch so viel eingebracht<br />

hat. Diese Idee habe ich, nachdem ich von <strong>Fuerteventura</strong><br />

zurückgekehrt war, zum Patent angemeldet. Viele Versuche<br />

waren dann nötig, bis schließlich ein ›Resonanz-Racket‹<br />

verwirklicht worden war. Als es dann auf der Sportartikelmesse<br />

in München 1985 präsentiert wurde, war die Sensation perfekt.<br />

Das Racket spielte genauer und besser als herkömmliche<br />

Schläger.<br />

Net Post, Verkaufsleiter von Wilson, der größten Sportfirma<br />

der Welt, war begeistert: „You have invented a frequency<br />

matched racket! Sie haben einen frequenzabgestimmten Schläger<br />

erfunden! Wir wollen eine Lizenz von Ihnen erwerben.“<br />

200


Kurz danach kamen die Wilson-Schläger nach dem neuen<br />

Prinzip auf den Markt. 18 Jahre lang bauten sie die Schläger.<br />

Einige Millionen. Viele Jahre hindurch waren sie die bestverkauften<br />

Schläger in Amerika. Die Idee in dem Buch war verwirklicht<br />

worden. Wenige Autoren sind durch das Schreiben<br />

eines Buchs finanziell so belohnt worden wie ich mit dem Roman<br />

›Und dann?‹!<br />

Im Roman aber perfektionierte Peter Grant also seinen Aufschlag<br />

mit dem neuen Schläger, der nach den Vorstellungen<br />

des Doktors gebaut worden war, und gewann in Folge alle vier<br />

Gran-Slam-Turniere: in Melbourne, Paris, Wimbledon und<br />

New York. Er hatte keine ernstzunehmenden Gegner mehr. Mit<br />

seinen Aufschlägen allein gewann er alle Spiele. Auf längere<br />

Ballwechsel musste er sich schon gar nicht einlassen. Zurückgekehrt<br />

nach Miami, hatte er keinen Biss mehr, weiterzutrainieren.<br />

Seine Ziele waren erreicht, sein Ehrgeiz verbraucht. Er,<br />

der nie in seinem Leben innerlich daran geglaubt hatte, auch<br />

nur eines dieser Turniere zu gewinnen, hatte alle Großen im<br />

Tennis besiegt. Er bemerkte, dass die dritte Wirkung der Droge<br />

ebenfalls eingetreten war. Er war impotent geworden. Das<br />

andere Geschlecht reizte ihn nicht mehr.<br />

Über Florida zog ein Hurrikan herauf. Ein zweiter Hurrikan<br />

folgte im dichten Anstand. Eine Katastrophe bahnte sich an.<br />

Die beiden Wirbelstürme implodierten ineinander zu einem<br />

Super-Hurrikan. Der Unterdruck im Auge des Hurrikans war<br />

so abgefallen, dass eine 20 m hohe Welle entstand, die ähnlich<br />

einer Tsunami-Welle über das nur wenige Meter über dem<br />

Meeresspiegel liegende Florida hinwegrollte. Peter Grant verlor<br />

bei dieser Naturkatastrophe alle Freunde, die er hatte. Auch<br />

sein Trainer Dr. Helmholtz war unter den Opfern. Wie durch<br />

ein Wunder blieb er aber selbst am Leben.<br />

Nichts blieb ihm auf dieser Welt. Er alterte nicht und lebte<br />

201


deshalb für immer. Er hatte das erreicht, was ihm in seinem<br />

Leben einmal als unerreichbares Ziel vorgeschwebt war. Es<br />

blieb ihm kein Anreiz mehr irgendetwas zu schaffen oder zu<br />

erreichen. Frauen interessierten ihn auch nicht mehr. Alle seine<br />

Freunde hatte er verloren. Heimat hatte er keine.<br />

Also sah er auch keinen Grund, weiterzuleben. Doch wenn<br />

er von dieser Welt gehen sollte, sollte dies mit einem ›Big Bang‹<br />

geschehen. Einmal noch wollte er die Headlines der Zeitungen<br />

besetzen. Ein Sprung von der ‚Golden Gate Bridge‘? Als<br />

der T<strong>aus</strong>endste?<br />

Er sprang nicht. Eine Rockerbande schlug ihn auf der Brücke<br />

mit Ketten nieder. Er landete in der Notaufnahme eines<br />

Krankenh<strong>aus</strong>es. Der Arzt fand bei ihm die Droge und ließ sie<br />

untersuchen. Peter hatte den Stoff von Rio mitgebracht, nachdem<br />

der Vorrat von den Indianerinnen zu Ende gegangen war.<br />

„Sind sie drogenabhängig?“, fragte ihn der Arzt. „Nehmen<br />

sie die Droge, die wir bei ihnen gefunden haben?“<br />

Peter nickte.<br />

„Wissen Sie nicht, dass dies nur ganz normaler Traubenzucker<br />

ist, was sie bisher eingenommen haben?“<br />

„Traubenzucker? Das ist unmöglich!“, antwortete Peter ungläubig.<br />

Der Arzt aber wiederholte: „Unsere Untersuchungen<br />

lassen keinen Zweifel zu. Sie haben ganz gewöhnlichen Traubenzucker<br />

eingenommen.“<br />

Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Bei dem Indianerstamm<br />

hatte er die wirkende Droge erhalten. Danach aber hatte<br />

ihn der Verkäufer in Rio hereingelegt. Er hatte ein kleines Vermögen<br />

für den Stoff bezahlt, den er jetzt dabei hatte.<br />

„Traubenzucker, Traubenzucker!“, schrie er jetzt jubilierend,<br />

nachdem er erfasst hatte, welche Konsequenzen das nach sich<br />

zog.<br />

„Dann lebe ich ja ganz normal, altere wie alle anderen Men-<br />

202


schen auch. Das Zeitlupentempo habe ich mir nur eingebildet!<br />

Die Impotenz auch! Ich bin gar nicht impotent! Alles habe ich<br />

mir nur eingebildet! Ich bin ein ganz normaler Mensch wie<br />

jeder andere auch! Dann möchte ich natürlich nochmals von<br />

ganz vorn anfangen.“ Er fragte sich: „Wie viele Kinder sind<br />

mir eigentlich geboren worden? Die Kinder brauchen mich<br />

vielleicht. Ich könnte ihnen einiges beibringen. Zum Beispiel<br />

lesen und schreiben. Ich habe eine neue Aufgabe!“<br />

Im Laufe der Tage und Wochen hatten meine Herzbeschwerden<br />

aufgehört, und am Ende des Urlaubs hatte ich vergessen,<br />

dass ich sie je hatte. Hatte ich meine ganz persönliche Therapie<br />

gefunden?<br />

Nachdem ich wieder zu H<strong>aus</strong>e war, hatte ich einen Verleger<br />

für das Buch gefunden. Das Buch wurde im Oktober 1985 auf<br />

der Buchmesse in Frankfurt vorgestellt. Ich wollte dabei sein.<br />

Niemand war auf dem kleinen Stand anzutreffen außer dem<br />

Verlagsbesitzer Becker. Kein Kunde, kein Interessent nahm das<br />

Buch in die Hand und blätterte darin. Enttäuschend.<br />

„Das wird sich ändern“, sagte ich zu ihm. Ich schickte ihm<br />

am nächsten Tag zehn der Resonanzschläger, die als Neuheit<br />

zur selben Zeit auf der Sportmesse in München vorgestellt<br />

worden waren. Her Becker rief mich begeistert an: „Ein voller<br />

Erfolg. Es läuft. Bitte schicken Sie mir nochmals fünfzig.“ Er<br />

hatte die Schläger verkauft und kein Buch! Dabei hatte ich vor,<br />

den ersten zehn Buchkäufern ein Racket dazuzuschenken,<br />

sozusagen als Demonstration für die im Buch entwickelte<br />

Schlägertheorie.<br />

Die Herzrhythmusstörungen waren nicht wie weggeblasen.<br />

Diese einmalige Therapie wäre auch zu einfach gewesen.<br />

Manchmal legte ich auch den rechten Daumen auf das Innere<br />

meines linken Handgelenks, um den Puls zu fühlen. Eine Unregelmäßigkeit<br />

– Aussetzer – konnten mich nicht mehr son-<br />

203


derlich aufregen. Ich beruhigte mich: Bei Sportlern kommen<br />

Aussetzer häufig vor. Doch wenn ich einen Schmerz in der<br />

Herzgegend verspürte oder ein gemeines Ziehen im linken<br />

Arm, rief ich die Dame im Reisebüro an. So kam es, dass ich in<br />

manchen Jahren drei- oder viermal im Aldiana Club auftauchte.<br />

Schon nach dem Landen auf dem Flugplatz in <strong>Fuerteventura</strong><br />

waren alle Beschwerden verschwunden. Keine Aussetzer<br />

mehr, keine Schmerzen. War das alles nur Einbildung? So wie<br />

bei dem Romanhelden Peter Grant und seiner Droge? Der<br />

Anblick der kargen Insel, wo ich auf dem Berg beobachten<br />

konnte, wie sich das Leben in den Pflanzen und wenigen Tieren<br />

behaupten kann, wie groß der Wille zum Leben ist, genügte,<br />

um frei und gesund die wunderbare Atlantikluft einzuatmen<br />

und alles abzuschütteln, was an mir hing. Die Dame musste<br />

wie immer Bungalow 757 buchen, wo ich an dem Betontisch<br />

vor dem offenen Fenster mit Blick auf das Meer den Roman<br />

geschrieben habe. Ich habe mich in diesen Bungalow verliebt.<br />

Am liebsten würde ich ihn mit nach H<strong>aus</strong>e nehmen, wenn<br />

das möglich wäre.<br />

Anmerkung:<br />

Und dann? Geschichte eines Tennisspielers, Roman, The<br />

World of Books Ltd. ISBN 3-88325-334-0, S. Kuebler.<br />

204


Blue Dolphin<br />

die Beziehungsgeschichte ist erfunden, alles andere habe ich so<br />

erlebt.<br />

Herbert ist ein kleiner, untersetzter Mann im besten Mannesalter<br />

von 42 Jahren. Er war wie vom Donner gerührt, als er<br />

erfuhr, dass seine jüngere Frau, gerade 30 Jahre alt, mit einem<br />

anderen Mann ins Bett gegangen war. Sie hatte ihm, während<br />

beide im Aldiana Club auf <strong>Fuerteventura</strong> im ›Las Gaviotas‹-<br />

Restaurant über den Klippen mit Blick über das Meer ihr Langschläferfrühstück<br />

einnahmen und sie in das mit Butter bestrichene<br />

Croissant biss, mitgeteilt, dass sie endlich den Mann<br />

gefunden habe, den sie wirklich lieben und dem sie sich mit<br />

jeder Faser ihres Lebens hingeben könne. Er wäre so ganz anders<br />

als er. Gefühlvoller, männlicher. Er würde sie verstehen, auf<br />

ihre Wünsche eingehen. Nicht so wie er. Er sei doch nichts<br />

anderes als ein kalter, gefühlloser Geschäftsmann. Heute in<br />

den Morgenstunden waren sie erst nach einer durchzechten<br />

Nacht in großer Runde <strong>aus</strong> der Clubdiskothek Blue Dolphin in<br />

ihr Domizil zurückgekehrt, ohne dass Unstimmigkeiten zwischen<br />

ihnen aufgetreten waren. Oder doch? Hatte sie nicht<br />

immer wieder mit Manfred getanzt, der ihr Golflehrer in<br />

Deutschland war und der mit seinem Freund Ringo ebenfalls<br />

im Club Urlaub machte, jeder allerdings in seinem eigenen<br />

Bungalow? Sie würde ihre Sachen packen und zu Manfred ziehen.<br />

Beim Hin<strong>aus</strong>gehen hatte sie noch gerufen: „Ich werde die<br />

Scheidung einreichen. Du wirst von Dr. Kolbing hören.“ Das<br />

war der gewiefteste Scheidungsanwalt in Wiesbaden, wo sie<br />

wohnten.<br />

War das nur ein Zufall oder war das alles so geplant?<br />

Wie konnte es anders sein: Der Mann, der sie angeblich so<br />

205


gut verstand, war natürlich ihr Golflehrer. Früher waren es<br />

gewöhnlich Skilehrer, dann Tennistrainer und heute eben Golflehrer,<br />

die die Frauen so gut verstehen und auf die sie abfahren.<br />

Aber er war immer der Ansicht gewesen, dass dieser Golflehrer<br />

schwul war und mit einem anderen Mann zusammenlebte.<br />

Mit der Hand strich er seine fast glatten schwarzen Haare<br />

<strong>aus</strong> seinem Gesicht. Er wusste, dass er nicht gerade ein Adonis<br />

war, doch als Vorsitzender einer der größten Versicherungsgesellschaften,<br />

er war einer der Jüngsten in der Bundesrepublik,<br />

die es in diesem Alter so weit geschafft hatten. Er hatte<br />

auch Chancen bei Frauen. Mindestens bildete er sich das bisher<br />

ein. Die Sekretärinnen im Büro himmelten ihn förmlich an und<br />

bei Betriebsfesten hatte er schon hin und wieder an einen der<br />

provozierend hervorstehenden Busen gefasst oder eine Hand<br />

unter einen Rock geschoben, wenn eine von ihnen auf seinem<br />

Schoß saß. Aber das war höchst gefährlich. Bei einer diesbezüglichen<br />

Anzeige hätte er seinen Posten schneller losgehabt<br />

als ihm lieb sein konnte. Sexuelle Belästigung im Büro! Das<br />

übersteht heutzutage auch kein Aufsichtsratvorsitzender<br />

mehr. Also hatte er solche Spielchen in letzter Zeit unterlassen,<br />

selbst wenn sich eine Gelegenheit noch so verführerisch<br />

darbot. Unwillkürlich wanderte sein Blick auf die wurstigen<br />

Finger seiner rechten Hand, die bei diesen Aktionen immer im<br />

Spiel war.<br />

Außerdem hatte er Dorothea geheiratet. Vor drei Jahren. An<br />

andere Frauen dachte er nicht mehr. Sie bot ihm alles, was er<br />

brauchte. Er liebte sie!<br />

Die Scheidung würde wohl kaum zu vermeiden sein. Dass<br />

sie aber schon Dr. Kolbing verpflichtet hatte, verletzte ihn auf<br />

eigenartige Weise. Er kam sich so leer vor. Unfähig, klar zu<br />

denken. Unfähig, alle Konsequenzen realistisch abzuschätzen.<br />

206


Ihre Ansprüche würden ihn teuer zu stehen kommen. Er wollte<br />

sich das gar nicht <strong>aus</strong>malen. Sie war eben ein kleines Luxusweibchen<br />

und raffiniert dazu. Kurz gesagt, ein Luder. Zum<br />

ersten Mal sagte er es laut, obwohl er allein im Zimmer war<br />

und ihn niemand hören konnte.<br />

„Sie ist ein Luder.“<br />

Irgendwie kam es ihm im Nachhinein so vor, als ob sie alles<br />

sorgsam im Vor<strong>aus</strong> geplant und eingefädelt hätte.<br />

Während er noch an romantische Liebe glaubte, mit Liebesschwüren,<br />

Urlaub auf einsamen idyllischen Inseln, war der<br />

ganze Ablauf wie ein Drehbuch in ihrem nicht allzu intelligenten<br />

Köpfchen schon geschrieben gewesen. An diese unendliche<br />

Liebe hatte er geglaubt. Er hatte sie auch mit Dorothea<br />

erlebt. Der wohlige Schauer einer Zärtlichkeit, das Kribbeln<br />

und Spannen der Haut, das Vortasten der Finger, die aufkeimende<br />

Begierde, der Geruch, der alles Denken betäubte, die<br />

Gier, die Atemlosigkeit, das Keuchen, das Versinken im Anderen,<br />

das Fließen, die Hin- und Hergerissenheit zwischen Lachen<br />

und Weinen, zwischen Vertrauen und Eifersucht. Das<br />

Gefühl, im zeitlosen Unendlichen eingetaucht zu sein. Das alles<br />

hatte er mit ihr erlebt. Und siedend heiß lief es seinen Rücken<br />

hinunter: Hatte nur er das alles erlebt, gefühlt, während<br />

sie nur sch<strong>aus</strong>pielerte? Kann jemand überhaupt ein so guter<br />

Sch<strong>aus</strong>pieler sein?<br />

Und schließlich auf einmal dieses fassungslose Anstarren und<br />

das Nicht-Begreifen des Gegenübers. Keine Farben eines<br />

Schmetterlings in ihrem Gesicht waren nun zu erkennen, auf<br />

einmal nur widerliches Wachs und Schminke. Und trotzdem:<br />

„Ich will sie nicht verlieren!“<br />

Hatte sie in den zurückliegenden Jahren wenigstens ein bisschen<br />

von dem Glück gespürt wie er? Oder war sie wirklich<br />

eine so perfekte Sch<strong>aus</strong>pielerin gewesen, dass er in all dieser<br />

207


Zeit nichts merken konnte? Hatte sie wenigstens auch die tiefe<br />

Traurigkeit gespürt wie er, wenn sie beide nicht zusammen<br />

waren?<br />

Und jetzt hatte er das Ende seiner Liebe erlebt. Der bedingungslose<br />

Rückzug <strong>aus</strong> dem Liebeswahn. Das Gefühl, verraten<br />

worden zu sein. Von dem einzigen Menschen verraten<br />

worden zu sein, mit dem man das einzige wirkliche Wunder<br />

dieser Welt erlebt hatte. Man war zusammen ganz tief in der<br />

Unendlichkeit vereint.<br />

„Ich kann dich nicht so lieben wie du mich“, waren ihre<br />

Worte gewesen.<br />

„Ich habe dich nie wirklich geliebt. Du mit deiner hässlichen<br />

Hasenscharte im Gesicht, mit deinen überhängenden Falten<br />

am Bauch und deinen gefühllosen dicken Fingern.“<br />

Das war gemein. Doch alle Luder sind gemein. Er hatte<br />

immer schon unter seiner Figur gelitten, doch Falten am Bauch<br />

hatte er wirklich nicht. Die scharfe Klinge ihrer Worte schnitt<br />

ihm ins Herz. Dieser unbarmherzige, alles <strong>aus</strong>löschende<br />

Schmerz zerstörte alles, was einmal war.<br />

Und er dachte: So wird der Augenblick sein, wenn die Welt<br />

untergeht. Wenn meine Liebe so stirbt, stirbt auch mein mühsam<br />

zurechtgebastelter Sinn meines Lebens. Es ist wie ein Tod.<br />

Wenn ich wieder an irgendetwas glauben soll, muss viel geschehen.<br />

Wie soll ich mein Selbstbewusstsein jemals wiederfinden?<br />

Er fühlte, wie sich sein Schmerz langsam in Wut verwandelte.<br />

Der gemeine Schmerz verwandelte sich in überschäumende<br />

Wut.<br />

Und die Wut verlangte Rache. Ja, er würde sich an ihr und<br />

auch an ihrem Geliebten rächen. Der Zeitpunkt würde in nicht<br />

allzu ferner Zukunft kommen.<br />

208


Der Golf-Pro Manfred stand auf der Driving Range und<br />

wartete auf seinen nächsten Schüler, in diesem Fall eine Dame.<br />

Ein sportlicher, groß gewachsener Kerl von etwa 35 Jahren.<br />

Dunkle dichte Haare, ein jugendliches Gesicht mit einem Eintagebart.<br />

Er trug kurze Khakihosen mit einem Gürtel <strong>aus</strong> Kudu-<br />

Leder, die ihm fast bis zum Knie reichten, und ein hellgelbes<br />

Greg-Norman-Golftrikot mit Kragen, so wie es die Golfetikette<br />

vorschrieb. Eine elegante Erscheinung, die Frauenherzen<br />

höher schlagen ließ. Wie viele Stunden er jeden Tag auf dieser<br />

langweiligen Driving Range verbringen musste! Manchmal<br />

zwölf Stunden am Stück. Gibt es etwas Eintönigeres, als immer<br />

wieder den gleichen Schwung zu lehren? Aufschwung im Zeitlupentempo,<br />

Zehn-Grad-Weise, Abwinkeln der Handgelenke<br />

und Auflösen im Treffmoment. Ganz sicher keine natürliche<br />

Bewegung. So wenig wie Cha-Cha-Cha tanzen. Tagelang, monatelange<br />

ein ganzes Leben lang? Manche meinen zwar, dass<br />

ein richtig <strong>aus</strong>geführter Golfschwung nach dem Stabhochsprung<br />

die komplizierteste Bewegung sei, die einem Menschen<br />

abverlangt werden kann. Andere halten dagegen, dass vor<br />

wenigen Jahren ein junger Kanadier, der in seinem Leben noch<br />

nie eine Stunde gehabt hatte, einen Golfball weiter geschlagen<br />

hatte als irgendjemand vor ihm.<br />

Aber er verdiente gutes Geld, denn eine Golfstunde ist eigentlich<br />

nur eine halbe. Sie wird aber ›Stunde‹ genannt und<br />

die Vergütung ist so hoch wie die eines teueren Handwerkers<br />

für zwei ganze Stunden. Aber wer würde schon wagen, einen<br />

Golflehrer mir einem Handwerker zu vergleichen? Das wäre<br />

so, als ob man einen Arzt mit einem Heilpraktiker vergleichen<br />

würde. Ein Golf-Pro ist ganz oben angesiedelt, so wie früher<br />

ein Tennislehrer. Der Schwarm von Mädchen und Frauen in<br />

ihren Dreißigern. Dorothea war so alt. Und sie nahm Stunden<br />

bei ihm. Er fasste sie an den Hüften, um ihr die Drehung um<br />

209


das Rückgrat beim Schwung zu demonstrieren. Dabei lief ihr<br />

ein Schauer den Rücken hinunter. Es war so ganz anders, verglichen<br />

mit einer Berührung ihres Mannes. Es dauerte nicht<br />

lange, bis sie im Bett in seiner kleinen Wohnung landete. Was<br />

sie aber nicht wusste, war, dass viele andere junge Damen<br />

schon vorher dasselbe Bett mit Manfred geteilt hatten, alles<br />

Affären von nur wenigen Monaten. Aber, was sie wirklich<br />

nicht vermuten konnte, war, dass er auch Beziehungen zu jungen<br />

Männern verzweifelt suchte, die ihn weit mehr zu bieten<br />

hatten als jede Frau. Nur waren die Chancen hier wesentlich<br />

geringer, einen Partner zu finden, der ihm gefiel und den er<br />

lieben konnte. Dorothea hatte in ihrer Naivität nur noch ihre<br />

neue Liebe im Kopf und malte sich <strong>aus</strong>, wie sie von dem Geld,<br />

das sie bei einer Scheidung von ihrem Mann her<strong>aus</strong>schlagen<br />

würde, eine Penthousewohnung mit Blick auf den See kaufen,<br />

mit Manfred einrichten und mit ihm zusammen einziehen<br />

würde. Vielleicht konnte sie mit ihm zusammen sogar noch<br />

eine Familie gründen. Beide waren sie ja noch jung genug dazu.<br />

Sie würde ihr zukünftiges Leben in reinem Glück verbringen.<br />

Von seinem Intimfreund Ringo hatte sie nicht die blasseste<br />

Ahnung. Es gelang ihr, Manfred zu überreden, in dem Club<br />

zur gleichen Zeit wie sie Urlaub zu machen. Überrascht war<br />

sie allerdings, als er in Begleitung seines Freundes erschien. Auf<br />

die Idee, dass die beiden schwul sein könnten, wäre sie aber<br />

nie gekommen.<br />

Herbert kannte den Clubchef Hoffmann von früheren Urlauben.<br />

Er war mit ihm schon früher auf der Insel unterwegs<br />

gewesen. Als die Insel noch wenige Urlauber hatte, war fast<br />

alles erlaubt. Mit dem Jeep konnte man die Westküste am<br />

Strand entlangr<strong>aus</strong>chen, Wettfahrten veranstalten, Sanddünen<br />

hochfahren und wieder hinunter, bis man stecken blieb<br />

und von einem anderen her<strong>aus</strong>gezogen werden musste. Die<br />

210


eiten hinterlassenen Reifenspuren störten niemanden, und<br />

dass die Dünen langsam eingeebnet wurden, auch niemanden.<br />

Das war die Zeit, als er mit Hoffmann mit einem solchen Jeep<br />

sogar querfeldein, buchstäblich über Stock und Stein, den Pico<br />

de la Zarza, den 800 m hohen Berg, hochgefahren war. Das<br />

gemeinsame Abenteuer verband. Hoffmann, der in der großen,<br />

im spanischen Stil gehaltenen Empfangshalle mit einer<br />

langen, auf einem Podium angebrachten Bar und einer darüber<br />

liegenden Empore sich bei vorgerückter Stunde öfter mal ans<br />

Klavier setzte und zur Belustigung der Gäste einige einstudierte<br />

Evergreens sang – zur Belustigung deshalb, weil er eigentlich<br />

gar nicht singen konnte, was auch der Grund für den tosenden<br />

Beifall war und der Einzige, der dies nicht merkte, war<br />

er selbst –, hatte Herbert erzählt, dass sich im Club ein Hypnotiseur<br />

aufhielte. Und er erfuhr noch Weiteres.<br />

Der Club hatte einen Hypnotiseur engagiert, der sich selbst<br />

zum Schamanen Krypta-Lo ernannt hatte. Die Gäste im Club<br />

konnten spezielle Kurse zur Raucherentwöhnung belegen.<br />

Aber auch bei anderen Gebrechen wie Verspannungen, Unwohlsein<br />

und allgemeiner Nervosität könnte die Hypnose des<br />

Schamanen helfen.<br />

Die Raucherentwöhnung durch Hypnose war der eigentliche<br />

Grund gewesen, weshalb Dorothea den Urlaub im Aldiana<br />

Club gebucht hatte. Ihre Freundin hatte ihr davon erzählt,<br />

dass sie nach einigen Sitzungen mit einem Schamanen keine<br />

Zigarette mehr angerührt habe. Dieser Schamane habe auch<br />

den Weltrekord in der klassischen hypnotischen Disziplin ›Kataleptische<br />

Brücke‹ in der Clubdisco Blue Dolphin aufgestellt.<br />

Steife, übereinander geschichtete Menschen. Zwölf übereinander<br />

auf vier Stühlen! Allerdings hatte er für diese Vorführung<br />

nur junge Leute zugelassen.<br />

Er hatte sie so trainiert, dass er nur mit den Fingern der rech-<br />

211


ten Hand zweimal schnalzen musste, und sie blieben auf der<br />

Stelle steif stehen, unfähig sich zu rühren. In der Starre wurden<br />

sie dann von bereitwilligen Helfern auf die Stühle gelegt.<br />

Der Kopf mit Schulter des Hypnotisierten lag auf der einen<br />

Kante des Stuhls und die Füße auf dem gegenüberliegenden.<br />

Die ›Kataleptische Brücke‹. Auf die beiden anderen Stühle<br />

wurde der Zweite in gleicher Anordnung gelegt. Quer dazu<br />

wurden die zwei Nächsten aufgelegt, bis sich ein Turm von<br />

zwölf übereinander geschichteten, steifen Menschen bildete.<br />

Nach der Auflösung der Brücke hatte keiner über Ermüdungserscheinungen<br />

der Muskulatur geklagt, was unter Fachleuten<br />

als Beweis von tiefer Hypnose gilt. Die deutschsprachige Zeitung<br />

von <strong>Fuerteventura</strong> hatte Aufnahmen gemacht, um den<br />

Weltrekord entsprechend zu würdigen.<br />

Herbert hatte schon einmal vom ›posthypnotischen Verhalten‹<br />

gehört, Befehle, die während des Hypnosetiefschlafs suggeriert<br />

wurden und die zu einem späteren Zeitpunkt vom<br />

Hypnotisierten <strong>aus</strong>geführt werden. Er hatte die zündende Idee.<br />

Er konnte Krypta-Lo für seine Ziele einsetzen. Geld macht<br />

fast alles möglich!<br />

Dorothea war bereits in der Rauchergruppe. Wenn sie die<br />

unbeweglichen, nie blinzelnden Augen des bärtigen Krypta-<br />

Lo vor sich hatte, die am ehesten mit den sich nicht bewegenden<br />

Augen einer Schlange verglichen werden konnten, die ihr<br />

Froschopfer durch ihren Blick in unbewegliche Starre versetzt,<br />

fiel sie schon in einen tiefen Schlaf. Sie hörte seine tiefe, monotone<br />

Stimme nur noch von weitem: „Du fällst immer tiefer,<br />

immer tiefer in den wohltuenden Schlaf. Nichts wird dich stören.<br />

Du fühlst dich wohl. Deine Glieder sind schwer, so schwer<br />

wie Blei. Du bist gefangen, aber du fühlst dich wohl. Du weißt,<br />

dass Zigaretten Gift für dich sind. Reines Gift. Der Rauch der<br />

Zigaretten zerstört deine Lunge, macht dich krank. Du wirst<br />

212


ab sofort nur noch gesund leben. Die Zigaretten werden in deinem<br />

Leben keine Rolle mehr spielen. Du wirst sie <strong>aus</strong> deinem<br />

Leben verbannen. Wenn du nur in der Nähe einer Zigarette<br />

sein solltest, wird dir speiübel. Richtig speiübel. Du willst nur<br />

noch diesem Geruch entkommen. Du wirst jetzt noch tiefer in<br />

den Schlaf fallen.“ So, oder so ähnlich hatte sie die Stimme<br />

gehört. An das, was danach kam, konnte sie sich nicht mehr<br />

erinnern. Sie war in einen hypnotischen Tiefschlaf gefallen, an<br />

den man sich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern kann.<br />

Vielleicht konnte er den Hypnotiseur gegen gute Bezahlung<br />

dazu bringen, Dorothea von Manfred auf Ringo umzupolen.<br />

Und dann wieder zurück auf Manfred – Ringo und Manfred -<br />

Dorothea. Die entstehenden Verwicklungen müssten zur Katastrophe<br />

führen. Irgendjemand würde umgebracht werden,<br />

ganz nach dem Drama ›Geschlossene Gesellschaft‹<br />

des französischen Schriftstellers und Philosophen Jean-Paul<br />

Sartre. Jeder ist verdammt dazu, die anderen beständig zu<br />

quälen und selbst von den anderen gequält zu werden. Der<br />

schwule Manfred verzehrt sich nach Ringo, der aber von ihm<br />

nichts wissen will und sich an Dorothea heranmacht. So dürstet<br />

jeder nach der Hilfe eines der beiden anderen, aber sich diesem<br />

nähernd, verletzt er zugleich zutiefst den anderen. Sie<br />

können weder voneinander lassen noch voreinander fliehen.<br />

Sie könnten sich gegenseitig umbringen. Aber wie? Sie sind doch<br />

bereits tot. Und so gilt auf ewig: ›Die Hölle, das sind die anderen‹.<br />

Herbert hatte in seiner beruflichen Laufbahn gelernt: Komplizierte<br />

Vorgänge bringen dich beruflich voran, lösen aber<br />

selten Probleme. Funktionierte das, was er vorhatte? Wie konnte<br />

er überprüfen, ob solche Situationen, die er sich <strong>aus</strong>gemalt<br />

hatte, überhaupt eintraten? Außerdem wäre Ringo involviert,<br />

den er gar nicht kannte und der ihm nichts zuleid getan hatte.<br />

213


Der Schamane sollte Dorothea im Tiefschlaf suggerieren, eine<br />

Jeepfahrt mit ihrem Geliebten zur Villa Winter an die Westküste<br />

zu unternehmen. Nach etwa einstündiger Fahrt über<br />

Schotterpisten kämen sie an den Pass ›Roque de Moro‹, der nach<br />

dem Dörfchen Cofete führt. Der Westwind würde ihnen ins<br />

Gesicht schlagen. In engen Kurven auf wegspritzenden Steinen<br />

der Schotterpiste würde es an einer Steilwand hinunter<br />

nach Cofete gehen. Nach der dritten Schleife kommt eine<br />

besonders enge Stelle. Dorothea sollte fahren. An der Stelle,<br />

wo sich die ersten Euphorbien auf der rechten Seite zeigten,<br />

sollte Dorothea das Bremspedal mit dem Gaspedal verwechseln.<br />

Das musste Krypta-Lo Dorothea suggerieren. Der Jeep<br />

würde beschleunigen und ungebremst in die Schlucht hinunterrasen.<br />

In dem schwarzen Barranco würde der Jeep zerschellen,<br />

und explodieren. Die beiden hätten ihre gerechte Strafe<br />

gefunden.<br />

Krypta-Lo hatte zunächst Bedenken. Doch als die Summe,<br />

die Herbert bot, immer höher wurde, willigte er schließlich ein.<br />

„Sie werden an die Westküste fahren. Nach Cofete. Nach<br />

dem Pass, an dem der Wind so heftig bläst, werden sie nach<br />

einigen scharfen Kurven auf der linken Seite Euphorbien sehen.<br />

Sie drücken das Gas mit ihrem rechten Fuß bis zum Anschlag,<br />

um den höllischen Geistern zu entkommen, die sie seit<br />

dem Pass verfolgt haben. So werden sie ihnen entfliehen können.<br />

Bis zum Anschlag. Bis zum Anschlag.“<br />

Der nächste Tag kam. Herbert lag auf der Lauer und beobachtete<br />

versteckt, wie Dorothea und Manfred in den verhängnisvollen<br />

Jeep einstiegen. Dorothea saß am Steuer. Es war einer<br />

der Suzuki-Jeeps, dessen Spur durch das andauernde Fahren<br />

über holprige Schotterstraßen und Sanddünen so verstellt<br />

war, dass es eine Kunst war, sogar auf einer asphaltieren Stra-<br />

214


ße gerade<strong>aus</strong> zu fahren. Die beiden bogen in die Straße nach<br />

Morro ein und verschwanden <strong>aus</strong> seinem Gesichtsfeld.<br />

Der Tag verging langsam. Er verbrachte den Vormittag mit<br />

Trainerstunden bei dem schwedischen Tennisprofi Bergelin,<br />

der Borg trainiert hatte. Er war jetzt von der Tennisschule Evercourt<br />

engagiert. Wenn ein Unfall geschehen wäre, wäre sicher<br />

schon ein Hubschrauber unterwegs gewesen, Polizeisirenen<br />

wären zu hören gewesen. Sicher hätte sich die Nachricht eines<br />

schweren Unfalls von Cluburlaubern im Club in Windeseile<br />

herumgesprochen. Nichts war zu hören. Spät in der Nacht<br />

saß er an der langen Bar im Blue Dolphin. Um Mitternacht<br />

wurde immer eine scharfe Gulaschsuppe serviert. Das beste<br />

Mittel gegen zu viel Alkohol. Der Hals brannte ihm von dem<br />

Chilipfeffer. Er sah, wie Dorothea am Arm von Manfred in die<br />

Bar hereinstürmte. Sie warf ihm einen kurzen, vernichteten<br />

Blick zu, als sie ihn wahrnahm. Beide waren unverletzt und<br />

bestellten sich einen Drink. Er überhörte, wie sie sich unterhielten.<br />

„Ich war immer der Meinung“, sagte Dorothea, „dass Euphorbien<br />

Kaktusgewächse mit den großen saftigen Blättern<br />

seien, auf denen Läuse gezüchtet werden und die auch Kaktusfeigen<br />

tragen. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Als ich<br />

die Kakteen am Ortsrand von Cofete sah, hatte ich das dringende<br />

Bedürfnis, Gas zu geben, das Gaspedal bis zum Anschlag<br />

niederzudrücken, um den Wagen so schnell wie möglich zu<br />

beschleunigen. Ich konnte dagegen nichts tun. Das wäre verhängnisvoll<br />

gewesen, wenn das weiter oben gewesen wäre, wo<br />

die richtigen Euphorbien wachsen, wie ich jetzt weiß. Wir<br />

wären in der Schlucht zerschellt. Mir ist alles so vorgekommen,<br />

als ob ich einem Zwang folgen musste, der tief in mir saß.<br />

So ist der Wagen kurz nach Cofete zum Stehen gekommen,<br />

215


weil du das Steuer herumgerissen hast und mit deinem rechten<br />

Fuß die Bremse gefunden hast.“<br />

Krypta-Lo erschien bei Herbert am nächsten Tag und verlangte<br />

sein Geld. Da der Erfolg <strong>aus</strong>geblieben war, verweigerte<br />

Herbert die Bezahlung. Doch der Schamane drohte, die Sache<br />

aufliegen zu lassen. So einigten sie sich auf eine niedrigere<br />

Summe.<br />

Einige Tage später entdeckte Herbert, wie Dorothea mit Ringo<br />

an einem Tisch saß, während Manfred an einem anderen<br />

Tisch Platz genommen hatte. War der zuerst gehegte Plan zur<br />

Wirklichkeit geworden? War es jetzt zu dieser Dreierbeziehung<br />

gekommen, in der alle nur verlieren konnten? Würde Dorothea<br />

so ihre Strafe finden, die sie, wie er glaubte, verdient hatte?<br />

Mit Genugtuung stieg Herbert in den Bus ein, der ihn zum<br />

Flugplatz bringen sollte, wo das Flugzeug nach Frankfurt in<br />

zwei Stunden starten würde.<br />

Noch im Bus summten die letzten Schlager in seinem Kopf,<br />

die im Blue Dolphin p<strong>aus</strong>enlos <strong>aus</strong> den Lautsprechern tönten<br />

… YMCA‘s ›Junge, Junge‹ … und Olivia Newton-John’s ›Xanadu,<br />

a place where nobody dared to go, the love that we came<br />

to know, they called it Xanadu‹.<br />

216


Die Brigantine Rose of Sharon strandet<br />

Im Jahre 1986 strandete die Brigantine Rose of Sharon an der<br />

Playa de Matorral de Jandia im Süden von <strong>Fuerteventura</strong> auf<br />

dem Strandabschnitt zwischen dem Robinson Club und dem<br />

Aldiana Club. Eine Brigantine ist ein Segelschiff mit einem<br />

vorderen Fock- und einem hinteren Großmast mit Rahsegeln,<br />

wie sie die alten spanischen Galeeren hatten und wie sie auf<br />

dem Bild nebenan gezeigt sind. Am Großmast ist zusätzlich<br />

ein Gaffelsegel angebracht. Dazu kommen mehrere Stagsegel<br />

im vorderen Bereich. Im Hafen von Morro Jable soll die ›Rose<br />

of Sharon‹ mehrere Tage zuvor angelegt haben. Anscheinend<br />

waren die Holzplanken des Segelschiffes über der Wasserlinie<br />

so <strong>aus</strong>getrocknet, dass nach dem Auslaufen <strong>aus</strong> dem Hafen<br />

Wasser ins Boot eindringen konnte. Die Lenzpumpen waren<br />

überfordert.<br />

Vielleicht führte auch ein nicht fachgerechtes Kreuzen<br />

entlang der Ostküste der Insel gegen den Nordostpassat,<br />

schwierig bei einer Brigantine, die gerade 70° bis 60° hoch an<br />

den Wind segeln kann, zum ersten Bodenkontakt, was das Ende<br />

der ›Rose of Sharon‹ bedeuteten sollte, wie erfahrene Segler<br />

sich vorstellen können. Sie saß auf Grund fest.<br />

Alle Bemühungen der <strong>aus</strong> jungen Leuten bestehenden Crew<br />

scheiterten, sie ohne den Einsatz von in diesem Seegebiet nicht<br />

zur Verfügung stehenden Schleppern wieder flott zu bekommen.<br />

Die Crew gab sie auf und überließ sie ihrem Schicksal.<br />

Die starke Brandung hatte die Rose of Sharon im folgenden<br />

Winter bei einem heftigen Sturm dann ganz auf den Sandstrand<br />

geworfen. Sie verrottete zusehends von Jahr zu Jahr.<br />

Zuerst verschwanden die Segel, die Masten, dann die Planken.<br />

Nur das Gerippe blieb zunächst übrig. Viele Jahre hindurch<br />

war das Wrack Anziehungspunkt vieler Standurlauber, die ihre<br />

217


eigenen Spekulationen<br />

über das Schiff<br />

und dessen Geschichte<br />

anstellten und Fotos<br />

fürs Album schossen.<br />

Ein Spaßvogel<br />

malte mit weißer Farbe<br />

auf den Rumpf<br />

›Cuxhaven‹, nachdem<br />

der ursprüngliche<br />

Name nicht mehr<br />

<strong>aus</strong>zumachen und in<br />

Vergessenheit geraten<br />

war. Die ›Rose of<br />

Sharon‹ senkte sich<br />

mehr und mehr in<br />

den Sand, der nun<br />

fast die Eigenschaften<br />

von Treibsand<br />

Rahsegel<br />

aufwies, bis fast<br />

nichts mehr zu sehen war. Manche behaupten, dass die spanischen<br />

Behörden das letzte Holzgerippe entfernen ließen, andere<br />

aber meinen, dass alles im Sand versunken sei. Seit 2006<br />

deutet jedenfalls nichts mehr darauf hin, dass jemals ein 37 m<br />

langes Segelschiff hier gestrandet ist.<br />

Alles andere in der folgenden Geschichte ist frei erfunden,<br />

die Charaktere, die Handlung, der Ablauf. Alles nur der Fantasie<br />

entsprungen!<br />

218


Die Besatzung der Rose of Sharon,<br />

erfundene Geschichte<br />

Es war im Sommer des Jahres 1986. Peer beschleunigte seinen<br />

Porsche bis zum Anschlag des Gaspedals. Der Wagen<br />

schoss über die Autobahn nach Hamburg, wo er früher zu<br />

H<strong>aus</strong>e war. Der Wind jagte über sein Gesicht. Seine nicht allzu<br />

langen braunen Haare flatterten über seinem Zweitagebart.<br />

Sein Hemd mit dem Haifischemblem von Paul & Shark war<br />

offen, zeigte seine stark behaarte Brust auf einem athletischen,<br />

von der Sonne gebräunten Körper. Dieses Gefühl der Kraft des<br />

Wagens, dieses Gefühl sich am Limit zu bewegen, ber<strong>aus</strong>chte<br />

ihn, ließ seinen Adrenalinspiegel steigen. Kaum etwas wirkte<br />

auf seinen Spiegel so wie eine viel zu hohe Geschwindigkeit in<br />

einem offenen Wagen. Er hatte das Gefühl, dass der Wagen<br />

kurz vor dem Abheben war. Seine Augen hatten einen samtenen<br />

Glanz. Das Braun ging fast unmerklich in das Schwarz<br />

der Pupillen über. Von einer gewissen Entfernung konnte man<br />

den Übergang überhaupt nicht <strong>aus</strong>machen. Auf viele junge<br />

Frauen wirkten sie anziehend, vielleicht sogar sexy, auf jeden<br />

Fall aber exotisch-romantisch. Auf andere konnten sie abweisend,<br />

leer und starr wirken, manche glaubten darin Gefühllosigkeit,<br />

Gemeinheit, wenn nicht sogar Gr<strong>aus</strong>amkeit zu entdecken,<br />

besonders dann, wenn er einen Joint geraucht hatte.<br />

Peer, gerade 23 Jahre alt geworden, musste aufpassen, denn<br />

er hatte schon zehn Punkte in Flensburg gesammelt. Wenn er<br />

auf einer Strecke mit Geschwindigkeitsbeschränkung geblitzt<br />

werden würde, wäre er seinen Führerschein los. Deshalb gab<br />

er auf die Verkehrszeichen acht, so schwer ihm das auch fiel.<br />

Den Führerscheinverlust konnte er sich nicht leisten.<br />

Peer war <strong>aus</strong> gutem H<strong>aus</strong>e, was nicht heißt, dass er auch gut<br />

erzogen war. Seine Eltern hatten ihm alles ermöglicht, was er<br />

219


Brigantine oder Zweimasten-Rahsegler<br />

sich wünschte. Alles, woran er Freude hatte. Fast immer. So<br />

hatte ihm sein Vater sogar diesen Porsche zum Geburtstag<br />

geschenkt. Das Abitur hatte er gerade noch so geschafft, bei<br />

der Bundesmarine hatte er gedient und jetzt wusste er nicht,<br />

was er mit seinem Leben anstellen sollte. Studieren? Was bitte?<br />

Ingenieurwissenschaften? Wozu! Medizin? Viel zu lange!<br />

Jura oder Volkswirtschaft? Viel zu trocken! Sport? Viel zu<br />

anstrengend! Nein, studieren musste er nicht. Er würde<br />

ohnehin alles von seinen Eltern erben. Geld verdienen musste<br />

er nicht, obwohl er sich dem süßen Geruch des Geldes – es<br />

musste sich aber schon um eine hohe Summe handeln – nicht<br />

entziehen konnte. Das musste in seinen Genen verankert sein.<br />

Und seine Großmutter lebte auch noch. Sie hatte ein Vermögen,<br />

das dem seiner Eltern in nichts nachstand. Sie hatte ihn<br />

sogar als Alleinerben eingesetzt. Sie hatte das nicht nur einmal<br />

erwähnt.<br />

220


Die gestrandete ‚Rose of Sharon‘ c. 1987<br />

Ja, Playboy konnte er werden. Oder war er das schon? Wenn<br />

er an die Partys in seines Vaters Villa auf Mallorca dachte! Und<br />

auf dessen Yacht! Mit all den blonden Puppen. Der Alkohol<br />

war dabei immer in Strömen geflossen. Der Konsum von Marihuana,<br />

gelegentlich auch das in Harzform erhältliche, stärkere<br />

Haschisch, mit Tabak zusammen geraucht oder in Alkohol<br />

gelöst und gespritzt, ließ seine Sinne in eine andere Welt<br />

abgleiten. Trotzdem, über so viel Geld zu verfügen, wie seine<br />

Eltern oder seine Großmutter es hatten, wäre ein geiles Gefühl<br />

und würde sein Selbstwertgefühl steigern. Zu seiner Großmutter<br />

wollte er jetzt fahren. Sie musste ihm helfen. Mit Geld! Sein<br />

Freund Jan, den er auf einer Trekkingtour kennengelernt hatte,<br />

hatte ihn von Tanger <strong>aus</strong> angerufen.<br />

„Peer“, hatte er gesagt, „hier im Hafen von Tanger liegt ein<br />

Traum von einem Segelschiff. Das scheint wie zugeschnitten<br />

221


für unsere Pläne zu sein. Ein Schoner mit Rahsegeln, ein Zweimaster,<br />

37 m lang, 400 Quadratmeter Segelfläche, er soll bei<br />

Blohm & Voss 1936 vom Stapel gelaufen sein. Ich aber glaube,<br />

dass das Schiff in England gebaut wurde, da die Schiffsdieselmotoren<br />

auf einem englischen Hersteller hinweisen. Der Zustand<br />

des Schoners ist zwar nicht der beste, aber er ist seetüchtig.<br />

Er soll nur 150 000 Mark kosten. Er war zuletzt auch unter<br />

englischer Flagge gesegelt und ist gerade <strong>aus</strong> Israel kommend<br />

hier eingelaufen. Er heißt ›Rose of Sharon‹. Der Eigentümer,<br />

gleichzeitig auch Kapitän des Schiffs, konnte seine Schulden<br />

nicht bezahlen und ist spurlos verschwunden. Der Schoner<br />

wurde vom Gläubiger konfisziert und zum Verkauf angeboten.<br />

Ein Käufer findet sich aber in Tanger nicht so schnell. Er<br />

ist deshalb auf den genannten unglaublich niedrigen Preis heruntergegangen.<br />

Wir müssen uns beeilen, sonst wird uns das<br />

Schiff vor der Nase weggeschnappt. Ob ›Rose of Sharon‹ der<br />

ursprüngliche Name des Schoners ist, kann niemand sagen. In<br />

den Schiffspapieren steht der Name jedenfalls nicht. Ich kann<br />

mir aber nicht vorstellen, dass in der Nazizeit ein Schiff mit<br />

einem Namen jüdischen oder biblischen Ursprungs in Deutschland<br />

vom Stapel gelaufen wäre. Schon <strong>aus</strong> diesem Grund ist<br />

er eher in England gebaut worden. Du musst sofort herfliegen<br />

und dir die ›Rose of Sharon‹ ansehen, bevor das Schiff weg ist.<br />

Setz dich heute noch ins Flugzeug!“<br />

Das hatte er getan und sich eine befristete Kaufoption auf<br />

das Schiff geben lassen. Seine Großmutter würde ihn schon<br />

nicht im Stich lassen. Er hatte von Frankfurt <strong>aus</strong> fliegen müssen<br />

und war jetzt auf dem Rückweg nach Hamburg. Er hatte<br />

den Zweimaster gesehen. Die ›Rose of Sharon‹ war ein<br />

Schnäppchen. Sie war genau richtig für ihren Zweck. Mit diesem<br />

Schiff könnten sie viel Geld verdienen. Mit Marihuana<br />

und Haschisch Schmuggel. Es galt jetzt, die geforderte Sum-<br />

222


me zu beschaffen und noch etwas mehr, denn gewisse Reparatur-<br />

und Umbauarbeiten waren wahrscheinlich unumgänglich.<br />

Seine Großmutter Gerda Beilharz, die Mutter seines Vaters,<br />

war die richtige Anlaufstelle. Er bereitete sich in Gedanken<br />

im Geschwindigkeitsr<strong>aus</strong>ch des Fahrens auf das Gespräch<br />

mit seiner Großmutter vor. Die Fahrzeit verrann wie im Flug,<br />

jetzt noch durch den Elbtunnel, und schon parkte er vor dem<br />

schmucken, reetgedeckten Fachwerkh<strong>aus</strong> in Blankenese, eine<br />

der besten Wohngegenden Hamburgs. Gerda war da. Sie empfing<br />

ihren Enkel an der H<strong>aus</strong>türschwelle mit einer kräftigen<br />

Umarmung.<br />

„Wo bist du gewesen? Denkst du auch einmal wieder an<br />

deine Großmutter? Komm herein! Erzähl mir von dir. Ich mache<br />

uns einen Kaffee.“<br />

Peer setzte sein charmantestes Lächeln auf. Sie glaubte in<br />

seinen Augen die ihres verstorbenen Mannes zu sehen. So hatte<br />

ihr Mann sie angesehen, wenn er etwas von ihr wollte. „Rose<br />

of Sharon“, wiederholte sie, nachdem sie seine Story und diesen<br />

Namen von Peer gehört hatte, und rollte dabei die beiden<br />

›Rs‹ fast genüsslich mit der Zunge.<br />

„Viel Geld, das du von mir haben willst. Ich hoffe, dass du<br />

Erfolg mit deinem Vorhaben hast, Touristentörns um die Kanarischen<br />

Inseln zu veranstalten. Vielleicht bekomme ich dann<br />

mein Geld irgendwann einmal zurück. Wenn nicht, geht es<br />

eben von deinem Erbe ab“, fügte sie fast unhörbar für Peer hinzu,<br />

so, als ob sie zu sich selbst reden würde. Dass Peer einen<br />

windigen Freund Jan hatte und den Schoner für einen ganz<br />

anderen Zweck einsetzen wollte, konnte sie natürlich nicht<br />

ahnen.<br />

„Rose of Sharon ist ein schöner Name für ein Segelschiff, versprich<br />

mir, dass du ihn nie ändern wirst. Er erinnert mich an<br />

meine Jugend.“<br />

223


Die Blume Rose of Sharon<br />

Ihr württembergischer Dialekt drang durch. Bei ihren wasserblauen<br />

Augen hatten allerdings die Kelten und nicht die<br />

Römer die Oberhand behalten.<br />

„Weißt du eigentlich, wo ich geboren bin?“, fragte sie ihren<br />

Enkel.<br />

Peer hatte schon davon gehört, dass sie irgendwo in Palästina<br />

geboren war. War sie nicht Mitglied einer pietistischen Sekte<br />

gewesen, deren Anhänger Mitte des neunzehnten Jahrhunderts<br />

nach dem damaligen, unter türkischer Herrschaft stehenden<br />

Palästina <strong>aus</strong>gewandert waren? Sie wollten versuchen, dort<br />

im Lande Jesu das Reich Gottes – den Tempel Gottes – nach<br />

ihren eigenen religiösen Vorstellungen zu errichten. Absolut<br />

nicht nachvollziehbar für Peer. Das waren ja nur religiöse Fantasten!<br />

„Ich bin in Sarona geboren“, fuhr sie fort. „Wir gehörten der<br />

Sekte der Templer an, die allerdings nichts mit dem Templerorden<br />

zu tun haben, der schon im frühen Mittelalter aufgelöst<br />

worden war, falls du das von unserem letzten Gespräch vergessen<br />

haben solltest. Fast alle Einwanderer waren <strong>aus</strong><br />

224


Württemberg gekommen. Sarona war eine ihrer landwirtschaftlichen<br />

Siedlungen mit damals wenigen Hundert Einwohnern.<br />

Es gehört heute zu dem Stadtgebiet von Tel-Aviv. Und<br />

jetzt kommen wir zu dem Namen ›Sarona‹. Die Siedlung wurde<br />

nach der von Tel-Aviv nördlich gelegenen ›Saron-Tiefebene‹,<br />

auch ›Sharon‹ geschrieben, benannt. Und in dieser Tiefebene<br />

wächst wild die ›Rose von Sharon‹ mit herrlichen rosaroten<br />

Blütenblättern und rotem Kelch. Ich habe sie in meiner<br />

Jugend im Frühjahr gesucht und gepflückt, einen Strauß meiner<br />

Mutter gebracht. Sie ist aber keine richtige Rose, sondern<br />

eine Hibiskusart, deren Blüten aber nicht weniger schön sind.<br />

Nach ihr ist euer Schiff benannt! Ich glaube nicht, dass du das<br />

Geld von mir bekommen hättest, wenn dies nicht der Name<br />

des Schiffs gewesen wäre. Er hat mein Herz berührt.“<br />

Gerda, die während des Zweiten Weltkriegs im Gefangenen<strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>ch<br />

nach Deutschland gekommen war – sie hatte die<br />

deutsche Staatsangehörigkeit nie verloren und die Engländer,<br />

die Palästina als Mandatsgebiet nach dem Ersten Weltkrieg<br />

verwalteten, hatten sie und alle anderen in Palästina lebenden<br />

Württemberger im Zweiten Weltkrieg interniert – war still<br />

geworden. Sie sah für ihre 65 Jahre noch gut und attraktiv <strong>aus</strong>.<br />

Gleichmäßige Gesichtszüge. Glatte Haut. Sie achtete auf ihr<br />

Äußeres. Das war sie ihren Produkten schuldig. Die von ihr<br />

gegründete Firma ›Gerda Kosmetik‹ wuchs ständig und war<br />

zu einem gefürchteten Konkurrenten selbst für solch renommierte<br />

Firmen wie ›L’Oréal‹ und ›Nivea‹ geworden. Das Geld,<br />

das sie mit dieser Firma verdiente, konnte sie nie mehr <strong>aus</strong>geben,<br />

selbst, wenn sie hundert Jahre alt werden würde.<br />

Palästina und Templer? Was konnte Peer mit solchen Begriffen<br />

schon anfangen? Alte Kamellen! Interessierten ihn nicht.<br />

Jetzt kam endlich der Satz, auf den Peer so sehnsüchtig gewartet<br />

hatte:<br />

225


Junge Cannabis Pflanze – Hanfpflanze, <strong>aus</strong> der auch Seile und Kleidung<br />

hergestellt werden, seit 12.000 Jahren von den Menschen<br />

genutzt. Mit Cannabis werden die getrockneten Pflanzenteile der<br />

weiblichen Pflanze bezeichnet. Mit Haschisch, das dar<strong>aus</strong> gewonnene<br />

Harz, das hauptsächlich in den Blüten vorkommt.<br />

„Wie viel brauchst du?“<br />

„200 000 Mark“, sagte er.<br />

Gerda Beilharz schluckte, stand auf, ging an den altmodischen<br />

Sekretär und zog den quietschenden Rollladen auf. Sie<br />

kramte in der Schublade herum, fand einen Scheckvordruck,<br />

setzte den Betrag mit ihrem Füller ein und unterschrieb ihn<br />

etwas zittrig, aber mit einer wundervollen Handschrift. Peer<br />

glaubte, noch nie eine solch schöne Handschrift gesehen zu<br />

haben, besonders aber die Zahl ›zweihundertt<strong>aus</strong>end‹ in Tinte<br />

<strong>aus</strong>geschrieben. Er umarmte seine Großmutter, nahm den<br />

Barscheck an sich und war schon wieder unterwegs zurück<br />

nach Tanger. Peer konnte nicht wissen, dass Jan und seine holländische<br />

Freundin Katja ein doppeltes Spiel mit ihm trieben.<br />

Aber Gerda wusste in diesem Moment, dass sie einen verhängnisvollen<br />

Fehler begangen hatte. Dieses Geld würde ih-<br />

226


Haschisch (auf Arabisch Gras) – Chocolata Marokkaner, vom Handelszentrum<br />

Ketama in der Provinz Tetouan, Marokko, im Rif-Gebirge<br />

südöstlich von Tanger.<br />

rem Neffen nicht guttun. Er hatte in seinem jungen Leben schon<br />

so viele krumme Dinge gedreht. Darunter soll sogar Totschlag<br />

an einem Klassenkameraden gewesen sein. Nur das Jungenschutzgesetz<br />

hatte ihn bisher vor längeren Gefängnisstrafen<br />

bewahrt.<br />

Jan war Südafrikaner. Er hatte Peer erzählt, dass er in Kapstadt<br />

aufgewachsen sei. Er habe bei der südafrikanischen Armee<br />

in der Apartheid gedient und dabei eine Terroristen<strong>aus</strong>bildung<br />

erhalten. Danach habe er als Wildhüter im Krüger-<br />

Nationalpark gearbeitet. Dort habe er zum ersten Mal von<br />

Marihuana gehört und erfahren, wie viel Geld man damit verdienen<br />

kann. Der Marihuanaanbau habe in Südafrika eine lange<br />

Tradition. Bereits vor der Ankunft der Bantustämme <strong>aus</strong><br />

Zentralafrika sei Marihuana von den Buschmännern in der<br />

Kapstadtregion verwendet worden. Das Zentrum des Anb<strong>aus</strong><br />

liege aber in der mit normalen Straßenfahrzeugen unzugäng-<br />

227


Cannabis bei Ketama<br />

lichen Bergregion von Hhohho im Swaziland. Da seien die<br />

Wachstumsbedingungen für die Pflanze geradezu ideal. Die<br />

Substanz THC, die für die Drogenwirkung beim Menschen<br />

verantwortlich ist, sei besonders konzentriert in den Pflanzen<br />

enthalten, die dort wachsen, besonders konzentriert aber in<br />

den weiblichen Blüten. In Hhohho könne man den Stoff äußerst<br />

billig kaufen. Bei einem möglichen Wiederverkauf in<br />

Europa könne man sein Geld vert<strong>aus</strong>endfachen. Eine unvorstellbare<br />

Gewinnspanne.<br />

Aber nicht Südafrika sei das Hauptanbaugebiet für Marihuana,<br />

das auch mit Cannabis bezeichnet werde. Das größte<br />

Anbaugebiet der Welt liege gerade vor der Tür. Südöstlich von<br />

Tanger. Relativ leicht mit dem Auto zu erreichen. Ketama in<br />

der Provinz Tetouan, im Rif-Gebirge, sei das Welthandelszentrum<br />

für Haschisch. Dort könne man auch sehr billig kaufen,<br />

aber vor allen Dingen die beste Qualität.<br />

Haschisch, das wusste Peer, war das <strong>aus</strong> den Blüten gewonnene<br />

Harz der Cannabis-Pflanze und hatte naturgemäß eine<br />

228


viel höhere Konzentration des Wirkstoffs THC als die Blätter.<br />

Schmuggel von Haschisch, auch ›Dope‹ oder ›Shit‹ genannt,<br />

würde einfacher sein als ›Grass‹, wie die Marihuanablätter<br />

neben vielen anderen Namen gelegentlich genannt werden.<br />

Diese Gedanken durchkreuzten den Kopf von Peer, als er<br />

zum Flughafen nach Frankfurt raste. Cannabis war also auch<br />

in Ketama billig. Nicht nur in Hhohho. Selbst die beste Sorte.<br />

Jan hatte erwähnt, dass dies Marokko Cream oder Chocolata<br />

Marokkaner sei. Peer wusste von seinem letzten Urlaub im Robinson<br />

Club Jandia in <strong>Fuerteventura</strong>, dass auf der Insel ein blühender<br />

Markt für Haschisch bestand. Die Dealer erzielten Spitzenpreise,<br />

aber nur für die beste Qualität. ›Chocolata‹ war die<br />

richtige Sorte. Schon der Name klang vielversprechend. Auf<br />

der 37 Meter langen Brigantine wäre reichlich Platz. Das in<br />

Plastikfolie eingeschweißte Haschisch könnte man in dem verwinkelten<br />

Inneren des langen Rumpfs gut verstecken, so dass<br />

es nicht so leicht gefunden werden konnte. Das Problem war<br />

jedoch der von dem Haschisch <strong>aus</strong>gehende Geruch. Selbst in<br />

Folie eingeschweißt würde ein gut <strong>aus</strong>gebildeter Schnüffelhund<br />

des Zolls den Stoff aufspüren. Man müsste einige läufige Hündinnen<br />

an Bord mitführen, die den Geruchssinn des Rüden<br />

verwirren würden.<br />

Peer rechnete in Gedanken <strong>aus</strong>, dass sie mit nur 200 kg Haschisch<br />

einen Gewinn von fast einer Million erzielen könnten.<br />

Das wäre ein Geschäft nach seinem Geschmack!<br />

Es galt jetzt die ›Rose of Sharon‹ zu kaufen, das Nötigste instand<br />

zu setzen, den Stoff zu besorgen und eine Crew zusammenzustellen,<br />

die die nicht einfach zu segelnde Brigantine auch<br />

steuern konnte.<br />

Jan und Katja saßen in einem kleinen Straßencafé vor dem<br />

Souk der Altstadt. Die Gerüche von Gewürzen vermischten<br />

229


sich mit dem Kaffeeduft. Katja, ein hübsches Mädchen, gut<br />

gewachsen, mit braunen langen Haaren und in geflickten, enganliegenden<br />

Jeans lachte und sagte:<br />

„Der erste Teil unseres Plans hat ja geklappt. Die alte Beilharz<br />

ist ja wieder einmal auf ihren Enkel hereingefallen. Peer<br />

hatte offenbar keine großen Probleme, das Geld <strong>aus</strong> ihr her<strong>aus</strong>zupressen.<br />

Für sie ist die Summe ja nur ein Pappenstiel,<br />

wenn man die Gewinne ihres Konzerns in der Börsenzeitung<br />

nachliest. Hundert Millionen im letzten Jahr! Ihre Kosmetikfirma<br />

ist zu einem ernstzunehmenden Wettbewerber für<br />

L‘Oréal geworden, und das heißt schon etwas.“<br />

Jan wunderte sich immer wieder über die Intelligenz und<br />

das Wissen seiner Freundin, die er jetzt schon etliche Jahre<br />

kannte. Aber erst vor wenigen Tagen hatte er erfahren, dass<br />

sie Betriebswirtschaft studiert hatte. Sie hatte sich über die alte<br />

Beilharz informiert. Einen Artikel in der Financial Times gelesen.<br />

Immer wieder gelang es ihr, ihn aufs Neue zu überraschen.<br />

„Der Schmuggel von Haschisch ist mit großen Risiken für<br />

uns verbunden“, fuhr sie fort. „Wenn sie uns erwischen, werden<br />

wir uns mit unseren Vorstrafen in einem der üblen spanischen<br />

Gefängnisse wiederfinden. Danach habe ich überhaupt<br />

kein Verlangen. Wir könnten Peer einen Deal vorschlagen. Wie<br />

ich ihn kenne, wird er nicht nein sagen und mitmachen. Wir<br />

werden seine Großmutter erpressen. Ihr sagen, dass wir Peer<br />

in unserer Gewalt hätten. Ihm würde Schreckliches widerfahren,<br />

wenn sie nicht auf unsere Lösegeldforderung von zwei<br />

Millionen einginge. Wir würden seiner Oma androhen, ihm<br />

zuerst die Finger abzuhacken, dann die Ohren abzuschneiden,<br />

wenn sie nicht zahlen will. Ihn langsam zu Tode quälen. Für<br />

jede Woche Verzögerung mit der Geldübergabe würden wir<br />

eine Million mehr verlangen.“<br />

Jan überlegte. Ließ ihren Vorschlag auf sich einwirken.<br />

230


Schnalzte mit den Fingern. Da wäre das Problem der Geldübergabe.<br />

Das müsste zuerst gelöst werden. Vielleicht hatte<br />

Peer dazu eine Idee. Aber auf den Haschischschmuggel wollte<br />

er diesmal nicht verzichten. Alles war schon eingefädelt, verlief<br />

nach Plan. Jussuf hatte den Stoff in Ketama schon besorgt.<br />

In vier Stunden würde das Haschisch an der Anlegestelle der<br />

›Rose of Sharon‹ im weitverzweigten Hafen von Tanger sein.<br />

In Marokko mussten sie sich keine Sorgen machen, entdeckt<br />

zu werden. König Hassan II. duldete stillschweigend den Anbau<br />

und den Verkauf von Cannabis, der die Existenzgrundlage<br />

von fast einer Million Marokkaner war, und außerdem waren<br />

alle Beamten am Hafen mit wenig Geld zu bestechen.<br />

„Deinen Plan werden wir verschieben. Wir werden zuerst<br />

den Stoff nach <strong>Fuerteventura</strong> bringen und dort zunächst<br />

einmal abkassieren. Mir wird schon etwas einfallen, dass uns<br />

der größte Teil des Gewinns bleibt“, war dann schließlich seine<br />

Antwort.<br />

Peer war in Tanger eingetroffen. Die ›Rose of Sharon‹ lag in<br />

einem Außenbecken des Hafens. Die Formalitäten des Kaufs<br />

waren schnell getätigt. Er war jetzt stolzer Schiffseigner und<br />

Kapitän. Eine Brigantine zu segeln, durfte auf keinen Fall unterschätzt<br />

werden. Er brauchte gute Leute für den Job. Jan hatte<br />

wenig Erfahrung. Aber einige Seeleute, die das Schiff hierher<br />

gesegelt hatten, konnte er vielleicht anheuern, die wenigsten<br />

die Befehle zum Wenden und zum Halsen, zum Fieren und<br />

Brassen verstanden. Beim Bund hatte er eine halbjährige Ausbildung<br />

auf der ›Georg Fock‹, dem Segelschulschiff der Deutschen<br />

Marine, absolviert. Außerdem war er mit der Zwölfmeter-Yacht<br />

seiner Großmutter in der Kieler Bucht schon segeln<br />

gewesen und hatte an Regatten teilgenommen. Er fand vier<br />

Seeleute von der ›Rose of Sharon‹. Sie wurden sich über die<br />

231


Heuer schnell einig. Eine Gruppe junger deutscher Studenten,<br />

sechs junge Männer und vier junge Frauen, hatte er bei einem<br />

Trinkgelage an einem Abend zuvor in einer der vielen Bars<br />

rings um den Hafen kennengelernt. Er musste sie nicht lange<br />

dazu überreden, mit nach Fuerte zu segeln. Die jungen Leute<br />

ließen kein Abenteuer <strong>aus</strong>. Wie es der Zufall wollte, hatten die<br />

Jugendlichen zwei Hündinnen dabei. Das war es, was Peer<br />

noch an Bord brauchte. Wie der Zufall so spielte.<br />

Jussuf hatte den Stoff, in sechs zugeschweißten Foliensäcken<br />

verpackt, in einem alten Lieferwagen angeliefert. Bei Dunkelheit<br />

wurden die Säcke an Bord getragen und tief im Rumpf<br />

der Brigantine zwischen Bordwänden verstaut. Nur Jan, Katja<br />

und Peer wussten von der Transaktion. Und ein anderer:<br />

Jörg Bucher.<br />

Gerda Beilharz, Geschäftsfrau durch und durch, wollte mehr<br />

über die ›Rose of Sharon‹ wissen. Sollte nun ihr Enkel Peer doch<br />

noch auf den richtigen Weg kommen? Ausflugsfahrten mit<br />

dem Zweimaster für Touristen? Sie konnte sich nicht so richtig<br />

vorstellen, dass dabei ein Gewinn her<strong>aus</strong>springen würde.<br />

Eine Crew von zumindest zehn Mann wäre zu bezahlen. Sie<br />

hatte ihre Zweifel an Peers Geschichte und beauftragte<br />

kurzerhand einen Detektiv, der her<strong>aus</strong>finden sollte, wo die<br />

›Rose of Sharon‹ lag, welche Freunde ihr Enkel hatte und welche<br />

Crew er engagiert hatte. Jörg Bucher war dafür der geeignete<br />

Mann. Er hatte das Aussehen und die Art von Philip Marlowe,<br />

wie Raymond Chandler seinen Detektiv in seinen Kriminalromanen<br />

beschrieben hatte. „Was kann ich für Sie tun,<br />

Lady?“, war der Satz, mit dem er seine Kundinnen zu empfangen<br />

pflegte. Bucher war wie Peer auch nach Tanger geflogen.<br />

Es war nicht schwer, Informationen über Jan und seine<br />

Freundin Katja zu erhalten. Ein sauberes Pärchen! Wegen Dealen<br />

mit Drogen, im Besonderen mit Haschisch, schon vorbe-<br />

232


straft. Der Verdacht lag nahe, dass die ›Rose of Sharon‹ nicht<br />

zufällig im Hafen von Tanger lag. War Marokko nicht der<br />

weltgrößte Lieferant für Haschisch und einer der wichtigsten<br />

Umschlagplätze? Es kostete ihm einige T<strong>aus</strong>end Dirhams an<br />

Bestechungsgeldern, bis er von einem Zollbeamten am Hafen<br />

erfuhr, dass Jussuf der Mittelsmann war, der den Stoff besorgte<br />

und an Bord bringen sollte. Sein Warten hinter einer H<strong>aus</strong>ecke<br />

an der Pier hatte sich gelohnt. Ein kleiner Lieferwagen<br />

war nachts vorgefahren, und drei Männer waren damit beschäftigt,<br />

einige Säcke an Bord zu tragen. Er folgte dem wieder<br />

wegfahrendem Lieferwagen. Jussuf war auch bestechlich. Er<br />

erzählte von den 200 kg ›Chocolata‹. Er wusste auch, wohin<br />

die Reise gehen sollte. Nach <strong>Fuerteventura</strong>. Zum südlichen<br />

Hafen Morro Jable. In drei Tagen dürfte die ›Rose of Sharon‹<br />

dort einlaufen, wenn der Wind richtig stand.<br />

Gerda Beilharz war über diese Nachricht eigentlich nicht<br />

überrascht. Trotzdem konnte sie eine gewisse Enttäuschung<br />

nicht leugnen. Es war schlimmer: Sie spürte einen Stich in ihrem<br />

Herzen. Warum nur ließ sich der Junge auf solche kriminellen<br />

Freunde ein? Warum nur war er selbst mit von der Partie?<br />

Hatte er nicht alles gehabt? War ihm nicht jeder Wunsch<br />

von seinen Lippen abgelesen worden?<br />

Sie rief das Reisebüro an. „Buchen Sie mir eine Woche in einem<br />

Pueblo im Robinson Club Jandia. Ich will morgen fliegen.“<br />

Im Hochh<strong>aus</strong> wollte sie nicht untergebracht sein. Nachts<br />

dröhnten oftmals vom Niteclub die Discomusik und das Gegröle<br />

von denjenigen herauf, die zu viel getrunken hatten. Im<br />

Hochh<strong>aus</strong> war es nachts zu laut.<br />

Die ›Rose of Sharon‹ war zum Auslaufen bereit. Peer hatte<br />

die jungen Deutschen einigermaßen eingewiesen, was sie zu<br />

tun hatten. Die vier Seeleute kannten das Schiff. Die Segel<br />

waren noch nicht gesetzt. Er ließ den Dieselmotor an, der das<br />

233


Schiff nur langsam bewegen konnte. Sie fuhren zum Hafen<br />

hin<strong>aus</strong> und nahmen Kurs <strong>Fuerteventura</strong> über den Atlantik. Es<br />

wehte eine leichte Brise <strong>aus</strong> Nord. „Segel setzen!“, rief Peer.<br />

„Mit dem obersten Royalsegel am Fockmast beginnen.“ Die vier<br />

Seeleute kletterten hoch.<br />

„Lass fallen das Segel.“ Der Wind fing sich sofort in dem<br />

Segel.<br />

„Lass fallen das Bramsegel.“ Auch dieses Segel blähte sich<br />

sofort.<br />

„Lass fallen das Obermars, lass fallen das Untermars und<br />

jetzt lass fallen das größte Segel an diesem Masten, die Fock.<br />

Die Stagsegel setzen!“ Diese Segel waren ähnlich einer Fock<br />

einer Zwölfmeter-Yacht.<br />

„Und jetzt an den Großmasten.“ Die deutschen Studenten<br />

mussten nun die Prüfung bestehen. Sie waren natürlich nicht<br />

so geschickt wie die Seeleute, aber es gelang ihnen, die Befehle<br />

<strong>aus</strong>zuführen:<br />

„Lass fallen das Großroyal, das Großbram, das Großobermars,<br />

das Großuntermars und das Groß.“ Jetzt musste nur noch<br />

das letzte Segel gesetzt werden, das am Großmast angebracht<br />

war, das Briggsegel.<br />

„Klar zum Brassen“, rief Peer.<br />

„Klar bei“, riefen die Seeleute.<br />

„Fiert auf die Backbord und etwas brassen!“<br />

„Klar bei.“<br />

So gingen die Befehle hin, und die Bestätigungen mit „Klar<br />

bei!“ kamen zurück.<br />

Das Schiff war voll aufgetakelt und hatte den Nordwind jetzt<br />

voll von achtern. Der Motor war schon längt abgestellt, und<br />

das 37 Meter lange Schiff segelte mit leichtem R<strong>aus</strong>chen in den<br />

Segeln leicht dahin, glitt über die See, dass ein Seglerherz ins<br />

Schwärmen geraten konnte. Die Rahen, alle an den zwei Mas-<br />

234


ten angebrachten zehn Segel, die wie ein Spinnacker bei einer<br />

Segelyacht den Wind einfingen, wölbten sich, ohne irgendwelche<br />

Falten zu bilden. Das Segelschiff war richtig getrimmt,<br />

jedenfalls war das Peers Gefühl. Sie konnten sich alle zurücklehnen<br />

und sich einen Drink genehmigen. Der Mannschaft von<br />

solchen Briggsegelschiffen ist es im Allgemeinen untersagt, auf<br />

See alkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Aber Peer sah<br />

das gelassener und er prostete seinen Leuten zu. Jan und Katja<br />

hatten das Manöver mit Interesse verfolgt, zumal Jan Peer die<br />

Kapitänsrolle nicht zugetraut hatte.<br />

Es war wahrscheinlich, dass sie bis zum Hafen von Morro<br />

weder Wenden noch Halsen mussten, so ideal stand der Wind.<br />

Kurz vor den Kanaren würde wahrscheinlich der Wind etwas<br />

nach Osten drehen. Sie würden den Nordostpassat erreichen,<br />

mit dem schon so manche Segler von den Kanarischen<br />

Inseln <strong>aus</strong> über den Atlantik nach Rio sozusagen auf einer Kufe<br />

gesegelt sind. Einige von Peers Freunden hatten diesen Törn<br />

schon gemacht. Der gleichmäßige Wind mit einer Windstärke<br />

zwischen 6 und 8 ermöglichte eine Überfahrt in weniger als<br />

zehn Tagen. Peer wusste das noch von der Schule: Der Nordostpassat<br />

auf der nördlichen Halbkugel (Südostpassat auf der<br />

südlichen Halbkugel) entsteht durch die Erddrehung. Er bläst<br />

entgegengesetzt der Drehung zum Äquator hin. Verantwortlich<br />

dafür ist eine Querbeschleunigung, die der französische<br />

Physiker Coriolis entdeckt und berechnet hat. Sie wird deshalb<br />

auch Corioliskraft genannt.<br />

Peer mit seiner Mannschaft segelte an der Westküste der<br />

schwarz-roten Vulkaninsel Lanzarote vorbei, und die Sandhügel<br />

mit spärlicher Vegetation von <strong>Fuerteventura</strong> erschienen.<br />

Sie erblickten den Leuchtturm an der Südspitze von Jandia.<br />

Jetzt war es nicht mehr weit bis zum Hafen von Morro Jable.<br />

„Segel bergen“, befahl Peer. Das letzte Stück wollte Peer mit<br />

235


Kanarische Inseln<br />

dem Motor fahren, damit er ein umständliches Kreuzen mit<br />

komplizierten Wenden umgehen konnte. Eine Brigantine<br />

schafft gegen den Wind gerade noch 60°, im Gegensatz zu einer<br />

modernen Yacht, die bis zu 25° hoch an den Wind kommen<br />

kann.<br />

Sie machten an einem Hafensteg fest. Das Segelschiff erweckte<br />

die Neugierde der Einwohner von Morro und der Touristen.<br />

Die Neugierigen kamen in Scharen. Der kleine Hafen war überlaufen.<br />

Ein Zollbeamter kam an Bord. Er hatte einen Hund<br />

dabei, einen Jack-Russell-Terrier. Ein kleiner süßer Hund mit<br />

einem weißen Fell mit größeren braunen Flecken. Der Hund<br />

schnüffelte schon auffällig, als eine der Hündinnen aufgeregt<br />

<strong>aus</strong> einer der unteren Kojen an Bord sprang. Sofort nahm der<br />

Schnüffelhund die Verfolgung auf. Die Hündin entzog sich dem<br />

Zugriff des Rüden und sprang über Bord auf den Vorplatz in<br />

236


die gaffende Menge. Der Jack Russell hinterher. Die Menschen<br />

stoben <strong>aus</strong>einander. Die Rufe des Zollbeamten waren vergeblich.<br />

Der Rüde hatte keine Ohren mehr für seinen Herrn. Der<br />

Zollbeamte fand nichts und gab das Schiff frei. Peers Rechnung<br />

war aufgegangen.<br />

Doch die Hafenbehörde gab dem Kapitän – also Peer – die<br />

Anweisung, dass das Boot den Hafen am frühen nächsten<br />

Morgen zu verlassen habe. Es seien umfangreiche Bauarbeiten<br />

im Gange, und das Boot sei ein Hindernis. Die vieleckigen<br />

herumliegenden gegossenen Betonpoller von 3 m Höhe gaben<br />

ein Zeugnis dieser von der EU finanzierten Hafenerneuerung.<br />

Die Zuschauer würden gefährdet sein und der Liegeplatz wurde<br />

zudem benötigt.<br />

Doch Jan war seiner Aufgabe gewachsen. In der Nacht war<br />

sein Mittelsmann von der den Drogenhandel der Insel kontrollierenden<br />

marokkanischen Mafia aufgetaucht und hatte die<br />

geschmuggelte Ware von Bord geschafft.<br />

Bargeld war geflossen. Peer erhielt einen Anteil von 300 000<br />

Mark.<br />

„Mein Anteil beträgt aber 500 000 Mark“, protestierte Peer.<br />

„Wir konnten aber nur 600 000 anstatt einer Million erzielen.<br />

Die Preise sind gefallen“, erwiderte Jan lakonisch. Katja<br />

fügte hinzu:<br />

„Wir müssen froh sein, dass alles so reibungslos über die<br />

Bühne gegangen ist.“<br />

Peer hatte das ungute Gefühl, dass die beiden ihn betrogen<br />

hatten. Kaum hatte die ›Rose of Sharon‹ am nächsten Morgen<br />

den Hafen verlassen, blies der Nordostpassat ziemlich heftig<br />

mit einer Windstärke von acht von vorn.<br />

„Segel setzen, und brassen!“ Kreuzen war angesagt.<br />

Gerda Beilharz hatte ihr Quartier im Robinson Club bezo-<br />

237


gen. Die Pueblos – im Bungalowstil gebaute Unterkünfte – lagen<br />

in einem von Bougainvillea, Hibiskus und Oleander geschmückten<br />

Garten, der zur Strandseite hin mit einer Hecke<br />

<strong>aus</strong> roten Feigenkakteen vor Blicken und ungewünschten Besuchern<br />

geschützt war. Gerda hatte hier, wenige Jahre nach<br />

der Eröffnung des Clubs im Jahr 1970, als sogar Willy Brandt<br />

Gast war, schon einen Urlaub verbracht. Den jetzt amtierenden<br />

Clubchef kannte sie. Er bot ihr an, sie zu benachrichtigen,<br />

wenn das erwartete Segelschiff in Morro eingelaufen sei. Als<br />

der Anruf schließlich kam, konnte er nur noch berichten, dass<br />

in diesem Moment die ›Rose of Sharon‹ den Hafen mit Kurs<br />

nach Norden verlassen würde.<br />

Schiefgelaufen. Sie würde Peer nicht zur Rede stellen können.<br />

Sie ging die wenigen Schritte zum Strandrestaurant und<br />

nahm ihr Fernglas mit. Sie konnte das Schiff schon erkennen,<br />

wie es um die Morro-Spitze herumkam. Die Besatzung setzte<br />

gerade die Rahsegel, nicht gerade schnell und professionell,<br />

wie sie das als erfahrene Seglerin zu beurteilen wusste. Die See<br />

war rau. Meterhohe Wellen spülten über den weiten Sandstrand.<br />

Die Brigantine segelte nach Osten und nicht direkt nach<br />

Norden, weil sie nicht hoch genug an den Wind kam. Die Besatzung<br />

versuchte jetzt überraschend, eine Wende einzuleiten.<br />

Die Befehle klangen ihr im Ohr:<br />

„Klar zum Wenden!“<br />

„Luv zum Wenden!“<br />

„Ree!“<br />

„Rund achtern!“<br />

„Rund vorn!“<br />

„Beim Wind steuern!“<br />

Die Rahsegel hatten zu flattern begonnen und wieder den<br />

vollen Wind gefangen. Sie blähten sich, bis sie richtig gebrasst<br />

waren. Die Brigantine war schon fast auf der Höhe des Aldia-<br />

238


na Clubs angekommen – immer noch in Sichtweite von Gerda<br />

Beilharz und ihrem Fernstecher – und bewegte sich schnell<br />

bedrohlich nahe auf die Küste zu. Dann geschah das Unerwartete.<br />

Die Brigantine versuchte, mit dem Wind auf den anderen<br />

Bug zu gehen. Sie halste! Anscheinend wollte Peer zurück zum<br />

Hafen! Das konnte nicht gut gehen! Sie würde auf den Strand<br />

auflaufen! Dies vor Augen, ging Gerda schnellen Schrittes den<br />

Strand entlang dem Schiff entgegen. Sie sah, wie das Schiff<br />

auf den Strand zusteuerte und dann auf Grund festsaß. Sie<br />

glaubte, das Knirschen des Kiels auf dem groben Sand und den<br />

schwarzen Steinen zu hören.<br />

Manche sprangen schon von Bord, um schwimmend das<br />

seichte Wasser zu erreichen.<br />

Peer hatte die Katastrophe kommen sehen. Kurz, nachdem<br />

sie den Hafen verlassen hatten, schlugen meterhohe Wellen<br />

heftig gegen den Rumpf. Wahrscheinlich war es eine morsche<br />

Planke, die brach, jedenfalls strömte Wasser in großen Mengen<br />

in den Rumpf. Jetzt zeigte sich, dass es ein Fehler war, die<br />

Brigantine in Tanger nicht überholen zu lassen. Zu viele Eignerwechsel<br />

hatte sie in den vergangenen Jahren über sich ergehen<br />

lassen müssen, von denen jeder eine kostspielige Renovierung<br />

gescheut hatte. Die Lenzpumpen waren viel zu<br />

schwach, eine funktionierte überhaupt nicht und das Wasser<br />

stieg. Wollte er in dieser Situation zum Hafen zurück? Würde<br />

die ›Rose‹ die Strecke schaffen, ohne Schlagseite zu bekommen<br />

und zu sinken? Und was sollte im Hafen geschehen? Das<br />

Leck abzudichten, wäre dann vielleicht schon zu spät. Er spürte,<br />

wie das Schiff den Sand berührte. Es war ein schürfendes<br />

Geräusch. Sie würde von selbst nicht mehr freikommen, wenn<br />

sie einmal aufgelaufen war. Nur ein Hochseeschlepper könnte<br />

das schaffen. War sein Traum vom eigenen Schiff <strong>aus</strong>geträumt?<br />

239


Er musste sofort zurück zum Hafen, Dichtungsmaterial besorgen,<br />

die Lenzpumpen reparieren lassen, falls es einen kompetenten<br />

Mechaniker auftreiben konnte, und das Boot mit einem<br />

Schlepper her<strong>aus</strong>ziehen lassen. Wenn er ehrlich war,<br />

zweifelte er an einem Erfolg. Das würde alles sehr teuer werden<br />

und seinen Gewinn aufzehren, den er unter seiner Hose in<br />

einem wasserdicht verschweißten Plastikbeutel bei sich trug.<br />

Er wollte kein Risiko eingehen und die Scheine in seiner Koje<br />

lassen. Die angeheuerten Seeleute würden bei einem solchen<br />

Betrag hohe Risiken eingehen, vielleicht sogar Gewalt anwenden,<br />

und den deutschen Studenten traute er auch nicht über<br />

den Weg.<br />

Ein Versuch war es wert. Er schwamm an Land und machte<br />

sich auf den Weg zum Robinson Club, um von dort mit einem<br />

Taxi zum Hafen zu fahren.<br />

Er war kaum einige Schritte gegangen, als er sie erkannte.<br />

Seine Großmutter Gerda! Hier? Das war doch ganz und gar<br />

unmöglich! Er hatte niemanden, weder einem Familienmitglied<br />

noch einem seiner Bekannten, erzählt, dass das Schiff in Tanger<br />

lag und das Ziel <strong>Fuerteventura</strong> war.<br />

„Peer“, sagte sie, „was hast du getan! Ist es dir nicht immer<br />

gut gegangen? Hast du nicht immer alles gehabt, was du für<br />

ein angenehmes Leben brauchtest? Nein, du musst Drogen<br />

schmuggeln! Drogen, die viele Menschen ins Unglück stürzen.<br />

Die daran zugrunde gehen und ihre Angehörigen mit ins Unglück<br />

ziehen. Ein Mensch braucht bis zu dreißig Tage, um den<br />

aufgenommenen Stoff von nur einem einzig gerauchten Joint<br />

abzubauen. Hast Du jemals daran gedacht, was du mit deinem<br />

Tun anrichtest?“<br />

Peer war die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Wie<br />

hatte seine Großmutter das her<strong>aus</strong>finden können?<br />

Er gab keine Antwort. Sie hatte ihn zur Begrüßung diesmal<br />

240


auch nicht in ihre Arme geschlossen. Nur Tränen der Enttäuschung<br />

liefen ihre Wangen herunter.<br />

„Wie viel Geld hast du bekommen? Lüge mich nicht an!<br />

Nenne die Summe jetzt und gleich. Oder willst du, dass ich<br />

mich hier umdrehe, weggehe und dich nicht mehr kennen<br />

werde? Dich <strong>aus</strong> meinem Leben streichen? Mit all den verbundenen<br />

Konsequenzen?“<br />

Peer sah seine Chancen schwinden. Wollte er sein Erbe aufs<br />

Spiel setzen?<br />

„300 000 DM habe ich bekommen“, presste er schließlich<br />

her<strong>aus</strong>.<br />

„Gib mir das Geld!“, forderte Gerda ihn unmissverständlich<br />

auf.<br />

Er zog den Plastikbeutel <strong>aus</strong> seiner Hose.<br />

„Ist das auch wirklich alles?“<br />

„Ich schwöre, es ist alles.“<br />

„Ich werde dieses Geld einer Suchhilfegruppe übergeben, die<br />

sich der Rehabilitation von Drogensüchtigen widmet. Dein<br />

Geld soll wenigstens den Schaden etwas begrenzen, den du<br />

mit deinen kriminellen Drogengeschäften anrichten wirst oder<br />

schon angerichtet hast. Darüber hin<strong>aus</strong> wirst du weder von<br />

mir, und ich werde dafür sorgen, noch von deinem Vater irgendwelche<br />

finanziellen Mittel mehr bekommen. Ich geb dir<br />

aber eine Chance: Du kannst in meinem Betrieb im Lager anfangen<br />

und dich hocharbeiten wie jeder andere Angestellte<br />

auch. Du wirst dabei keine bevorzugte Behandlung erfahren,<br />

weil ich deine Großmutter bin und du ein ›Beilharz‹ bist. Diesen<br />

Namen musst du dir zuerst verdienen. Das wollte ich dir<br />

sagen, und deshalb bin ich hierher geflogen. Heute noch geht<br />

mein Flugzeug zurück. Ich erwarte dich in einer Woche in<br />

meinem Büro in Hamburg.“<br />

Würde der Junge auf ihren Vorschlag eingehen? Sie hoffte<br />

241


es inständig, aber innerlich glaubte sie nicht daran. Sie wusste:<br />

Ist jemand einmal auf die schiefe Bahn geraten, wird er<br />

meistens dort bleiben. Schon Charles Dickens hatte 1837 in<br />

seinem Buch ›Oliver Twist‹ geschrieben: ›Monks‹, Halbbruder<br />

von Oliver Twist, blieb kriminell, obwohl er durch sein Erbe<br />

reich geworden war und Betrügereien für seinen Lebensunterhalt<br />

nicht mehr nötig waren.<br />

Damit ließ sie Peer stehen und ging langsam am Strand über<br />

den festgetretenen Sand zum Club zurück.<br />

Peer stand mit leeren Taschen da. Das Boot retten zu wollen,<br />

war gegenstandslos geworden. Er hatte kein Geld, um irgendwelche<br />

Reparaturen, geschweige denn einen Schlepper zu bezahlen.<br />

Jan und Katja würden von ihrem Anteil nichts her<strong>aus</strong>rücken.<br />

Das Angebot der Großmutter würde er im Leben nie annehmen.<br />

Was dachte sich die alte Frau denn bei ihrem Vorschlag?<br />

Im Lager arbeiten? Er? Niemals in hundert Jahren. Da würde<br />

er eher auf den Vorschlag von Jan und Katja eingehen. Eine<br />

Erpressung der alten Dame würde ein viel einträglicheres Geschäft<br />

sein als Drogen zu schmuggeln. Sie würde bezahlen. Er<br />

hatte immer noch die verträumten Augen, die auch Gerdas<br />

Mann gehabt hatte. Er würde die beiden in Frankfurt treffen,<br />

um einen gemeinsamen Plan für eine vorgetäuschte Entführung<br />

<strong>aus</strong>zuhecken.<br />

Wie in Trance kehrte er zur Unglücksstätte zurück. Alle Bemühungen<br />

der Crew, unterstützt von Strandurlaubern, waren<br />

natürlich vergeblich, das Boot wieder flott zu kriegen. Eine<br />

37 Meter lange Brigantine!<br />

242


Was geschah mit der Brigantine?<br />

In den Jahren von 1986 bis 2006, das war das Jahr, in dem<br />

die letzten Reste der Rose of Sharon im Sand verschwunden<br />

sind, habe ich, als Erzähler dieser Geschichte, 36-mal Urlaub<br />

im Aldiana Club gemacht und bezog, wenn immer möglich,<br />

den Bungalow 757 über den Klippen. Regelmäßig war ich am<br />

Strand joggen, oft an dem Wrack vorbei bis zum Mäuseturm,<br />

wie der alte Leuchtturm von den eingefleischten <strong>Fuerteventura</strong>-Urlaubern<br />

im Süden der Insel genannt wird. Von Jahr zu<br />

Jahr konnte ich beobachten, wie das Segelboot mehr und mehr<br />

verrottete und verwitterte. Schnell waren die Segelfetzen weg,<br />

dann die Masten. Der Rumpf brauchte länger. Doch nach zwanzig<br />

Jahren hatten der Wind, die Wellen, der Sand und die Sonne<br />

ihr Werk vollendet. Nichts war von dem gestrandeten Schiff<br />

mehr übrig, nichts erinnerte mehr an das Wrack der ›Rose of<br />

Sharon‹. Wieder einmal wurde mir bewusst, dass nichts auf<br />

dieser Welt von Dauer ist. Alle von Menschenhand geschaffenen<br />

Werke gehen denselben Weg: Gehen verloren, verrotten,<br />

verschwinden. Eine Frage der Zeit.<br />

Jetzt schon kann sich offenbar niemand mehr an die damalige<br />

Crew erinnern. Oder doch?<br />

Der Eingang zum Bungalow 757 ist beidseitig mit Hibiskusbüschen<br />

bepflanzt. Ich entdeckte einige Blüten darunter, die<br />

der Rose of Sharon-Hibiskusblüte sehr ähnelten. Und dieser Hibiskusbusch<br />

hält bei mir auch in den kommenden Jahren die<br />

Erinnerung an das gestrandete Segelschiff wach.<br />

243


Gustav Winter und seine Villa Winter<br />

Was ist Wirklichkeit, was Legende, was wilde Spekulation,<br />

wenn es um die Frage geht: Wer war Gustav Winter? War er<br />

General, Admiral, Spion, der für Canaris arbeitete, oder war<br />

er Chemiker und Ingenieur? Welchen Zweck sollte die geheimnisvolle<br />

Villa Winter an der menschenleeren Westküste von<br />

<strong>Fuerteventura</strong> erfüllen, an der sich die Fantasie vieler Besucher<br />

schon entzündet hat?<br />

Ich habe versucht <strong>aus</strong> den vielen Veröffentlichungen und<br />

auch den Informationen, die im Internet zu finden sind, im<br />

Folgenden eine chronologische Zusammenstellung aufzulisten.<br />

Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Manche Aussagen<br />

müssen sogar vielleicht korrigiert werden, wenn neue<br />

Erkenntnisse gewonnen werden sollten. Einige der Quellen, die<br />

für die Recherchen benutzt worden sind, sind hier aufgeführt:<br />

• Stern, 04.04.1971, Die Glücksritter<br />

• Neue Züricher Zeitung, 10.4.1993<br />

• Frankfurter Rundschau, 13.12.1997, Das Geheimnis des<br />

Gustav Winter<br />

• Frankfurter Neue Presse, 29.03.1999, Mysteriöses Nazi-<br />

Erbe auf <strong>Fuerteventura</strong><br />

• http:www.fuerteventura2000.de/Villa Winter<br />

• Die Woche, 12.04.2001, Seite 46, H<strong>aus</strong> im Süden<br />

• Eigene Recherchen: Stadtarchiv Titisee-Neustadt, 27. Juni<br />

2002, Hansestadt Lübeck, 4. Juli 2002<br />

• http://www.villawinter.com/chronik.htm, 2002<br />

• http://www.philosophie.at/cofete/site3.htm, 2002<br />

244


• Das Buch: Die Kette, Thriller von Wolfgang Kaes, März<br />

2005, im rororo Taschenbuchverlag<br />

• n-tv.de, Rätsel auf <strong>Fuerteventura</strong>, Die Villa Winter, 28.<br />

April 2006<br />

• La leyenda de Cofete, von Gustavo Winter-Alth<strong>aus</strong> (Sohn<br />

von Gustav Winter), Las Palmas de Gran Canaria 2005<br />

• http://hispanismo.org/reino-de-las-canarias/5643-laleyenda-de-gustav-winter-espia-nazienfuerteventura.html<br />

Publicado en Historia 16, abril y mayo de 2005: La Ley<br />

enda de Gustav Winter: ¿Espía nazi en <strong>Fuerteventura</strong>?,<br />

Don Cosme<br />

• http://viajarafuerteventura.blogspot.com/2005/09/<br />

janda-el-nido-del-halcn.html (Publicado en Historia 16,<br />

abril y mayo de 2005)<br />

Das Leben von Gustav Winter<br />

Der Name Gustav Winter ist mit der Insel <strong>Fuerteventura</strong> fest<br />

verbunden, da er dort die „Villa Winter“ gebaut hat, ein magischer<br />

Anziehungspunkt für alle Inseltouristen. Er wurde von<br />

den Einheimischen „Don Gustavo“ genannt und ist unter diesem<br />

Namen immer noch den in dem Städtchen Morro Jable<br />

alt gewordenen Menschen ein Begriff.<br />

Herr Vogelbacher vom Stadtarchiv Titisee-Neustadt schrieb<br />

an den Autor am 27. Juni 2002:<br />

„Bei meinen Nachforschungen konnte ich eine alte Meldekarte<br />

finden, die auf Gustav Winter <strong>aus</strong>gestellt war. Er wurde<br />

am 10.05.1893 in Zastler bei Freiburg geboren. Er zog am<br />

29.09.1914, von Rio Cuarto, einer Stadt in Argentinien, wohin<br />

ihn im Jahr 1913 sein jugendliches Temperament verschlagen<br />

hatte, kommend nach Neustadt/Schwarzwald in die Wilhelm-<br />

245


straße 1. Als Beruf wurde Chemiker angegeben. Verheiratet<br />

war Winter mit Johanna Winter geb. Adelsberger, geb. am<br />

06.02.1891 in Bermersbach bei Rastatt. Als Kinder sind auf der<br />

Meldekarte eine Isolde, geb. am 10.01.1912 in Paris, und eine<br />

Anamarie, geb. am 03.09.1914 in Lissabon, vermerkt. Im Januar<br />

1920 verzog die Familie nach Lübeck.“ (Anmerkung des<br />

Autors: Laut Auskunft der Meldestelle der Hansestadt Lübeck<br />

konnte Gustav Winter als in dieser Zeit gemeldet nicht ermittelt<br />

werden, auch nicht im Nebenregister-Archiv. Vielleicht<br />

war auch nur seine Frau mit den beiden Kindern nach dorthin<br />

verzogen, da er sich ja in dieser Zeit in Madrid aufhielt, wie<br />

folgender Absatz beschreibt.)<br />

Seine ersten Studien hatte er in Hamburg absolviert wahrscheinlich<br />

vor 1912.<br />

Gustav Winter kam bei einer Reise (oder einem Einsatz?) im<br />

Ärmelkanal 1915, also im Krieg, in englische Gefangenschaft.<br />

Die Engländer bezichtigen ihn der Spionage. Er wurde auf einem<br />

Schiff, das vor Portsmouth/England vor Anker lag, gefangen<br />

gehalten. Er konnte aber von dem Schiff fliehen und<br />

soll schwimmend das niederländische Schiff „Hollandia“ erreicht<br />

haben, das Kurs auf das neutrale Spanien nahm. Er gab<br />

sich dort als Engländer <strong>aus</strong>, was ihm Vorteile verschaffen sollte.<br />

Sein Name „Winter“ ist ein häufig vorkommender englischer<br />

Nachname, und er sprach die englische Sprache auch<br />

fließend. Er wurde deshalb vom britischen Konsulat in Madrid<br />

wie ein <strong>aus</strong> Seenot geretteter britischer Staatsbürger behandelt<br />

und bekam sogar finanzielle Unterstützung, von denen,<br />

die ihn Wochen zuvor als deutschen Spion verdächtigt<br />

hatten.<br />

In Madrid beendete er 1921 sein Ingenieurstudium. Mit erst<br />

drei Jahren Berufserfahrung auf dem spanischen Festland erhielt<br />

er den Auftrag, für die „Compañía Insular Canaria Colo-<br />

246


nial de Electricidad“ in Las Palmas de Gran Canaria 1924 das<br />

„Elektrizitätswerk CICER“ zu planen und den Bau zu überwachen.<br />

Es wurde am 21.10.1928 eingeweiht und in Betrieb<br />

genommen.<br />

Es gibt Hinweise, dass Winter sich erstmals im Jahr 1933<br />

kurz nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland auf der<br />

Halbinsel Jandia von <strong>Fuerteventura</strong> aufgehalten haben soll<br />

(nach Aussagen des Leiters des Historischen Archivs auf <strong>Fuerteventura</strong>,<br />

Francisco Navarro Artiles). Sein Sohn Juan Miguel<br />

kann sich erinnern, dass er sogar zunächst liebäugelte,<br />

Lobos, die kleine Insel zwischen <strong>Fuerteventura</strong> und Lanzarote,<br />

zu kaufen, dann aber doch all seine Bemühungen auf Jandia<br />

lenkte. Jandia ist die südliche Halbinsel von <strong>Fuerteventura</strong>,<br />

ein damals verlassenes, völlig unterentwickeltes Gebiet,<br />

fern jeder Zivilisation. Ein Wüstengebiet. Doch ein Verkauf von<br />

größeren Landflächen an Ausländer war 1937 durch ein von<br />

der Regierung erlassenes Decret verboten worden. Deshalb<br />

entschied er sich, die Halbinsel mit der riesigen Landfläche von<br />

18 000 Hektar zunächst nur zu pachten. Am 19.7.1937 unterschrieb<br />

Winter mit den Eigentümern von Jandia, dem Erben<br />

des Conde de Santa Coloma von Lanzarote, Marqués de Portago,<br />

in der in Nordspanien gelegenen Stadt Burgos einen entsprechenden<br />

Pachtvertrag. Das Grafengeschlecht gehört<br />

übrigens heute noch zu den größten spanischen Landbesitzern.<br />

Das Gebiet, das Gustav Winter von dem Marqués pachtete,<br />

war zwar riesig, dennoch dürfte die Pacht relativ gering gewesen<br />

sein, weil es sich zum damaligen Zeitpunkt um völlig<br />

wertloses Land handelte. Erloschene Vulkane, Wüste, absolut<br />

keine Infrastruktur: kein Trinkwasser, keine Elektrizität, keine<br />

Straßen, kein Hafen.<br />

Zunächst erwog Winter, eine Zementfabrik, später eine Fischfabrik,<br />

auf Jandia errichten zu lassen. Beide Projekte wurden<br />

247


jedoch vermutlich wegen des Spanischen Bürgerkriegs (1936–<br />

1939) nie realisiert. In diesem Jahr reiste Winter nach Berlin,<br />

um für ein nicht näher beschriebenes Vorhaben den nötigen<br />

finanziellen Zuschuss zu erhalten.<br />

Bald darauf, zwischen dem 14. Juli und 14. August 1938,<br />

entsendete aber Hermann Göring eine kleinere Gruppe von<br />

sogenannten Fischfangexperten (getarnte Militärexperten?), an<br />

Bord der „Richard Ohlrogge“, ein für den Fischfang <strong>aus</strong>gerüstetes<br />

Schiff, wahrscheinlich um auf <strong>Fuerteventura</strong> die Möglichkeit<br />

zur Errichtung einer militärischen Basis <strong>aus</strong>zuloten.<br />

Mit von der Partie war Gustav Winter, der sicher auch der<br />

Initiator dieses Unternehmens war. Fotos sollen von den besichtigten<br />

Gebieten gemacht und geografische Landkarten erstellt<br />

worden sein (Quelle: Hitler and Spain, by Robert H. Whealey,<br />

1989, The University Press of Kentucky).<br />

1938 soll es ein Treffen zwischen Winter und dem Abwehrchef<br />

Canaris, der als enger Freund Francos galt, gegeben haben,<br />

in dem vereinbart wurde, dass Winter auf Jandia für das<br />

Dritte Reich wirtschaftlich wichtige „Vorhaben“ durchführen<br />

sollte. Winter soll in dieser Zeit bereits als Agent der deutschen<br />

Abwehr in Spanien tätig gewesen sein.<br />

Im Juli 1938 wurde auf Vorschlag von Canaris ein Vorsorgefonds<br />

von 11,5 Millionen Reichsmark vom „Oberkommando<br />

der Marine“ für Treibstoffeinkäufe bereitgestellt. Das Geld<br />

wurde auf verschiedene Städte verteilt, wie Amsterdam, London<br />

und Zürich. Von der Summe wurden 1,5 Millionen Reichsmark<br />

für Spanien und eine Million für die Kanarischen Inseln<br />

abgezweigt.<br />

Am 30. März 1997 veröffentlichte die führende spanische<br />

Tageszeitung „El País“ eine sogenannte „schwarze Liste“. Sie<br />

wurde von den Alliierten bereits 1945 erstellt und enthält 104<br />

Personen, denen die Alliierten Kriegsverbrechen vorwarfen<br />

248


und die einen Wohnort in Spanien gehabt haben sollen. Diese<br />

Liste wurde seinerzeit dem spanischen Außenministerium<br />

übergeben, wo sie aber erst 1997 von der genannten Zeitung<br />

wiederentdeckt wurde und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht<br />

werden konnte.<br />

Das Dokument beweist die Zugehörigkeit von Gustav Winter<br />

zu einem dicht gespannten Netz von deutschen Agenten<br />

in Spanien vor und während des Zweiten Weltkrieges. Gustav<br />

Winter wird darin als „Deutscher Agent auf den Kanaren zuständig<br />

für die Beobachtungspositionen, <strong>aus</strong>gerüstet mit drahtloser<br />

Telefonie, und für die Versorgung der deutschen U-Boote.<br />

Aufenthaltsort: Calle de la Brisa 4, Teneriffa, oder Atlantica<br />

Comercial S. A., Jandia, <strong>Fuerteventura</strong>“ genannt.<br />

Ab 1939 dürften keine Einheimischen mehr die Halbinsel<br />

Jandia bewohnen, das Gebiet wurde komplett abgesperrt. Die<br />

meisten wurden evakuiert. Winter soll eine Flugzeug-Landepiste<br />

an der Südspitze von Jandia angelegt haben, deren Umrisse<br />

heute noch zu sehen sind. Auch den Fischereihafen in<br />

Morro Jable ließ er vergrößern. An der Westküste bei Cofete,<br />

in der Gegend, wo heute die Villa Winter steht, hatte es damals<br />

mehr geregnet als heutzutage, so dass eine bescheidene Landwirtschaft<br />

betrieben werden konnte und auch größere Schafsherden<br />

Futter fanden. Das soll Plünderer angezogen haben. Das<br />

soll auch der Grund für Winter gewesen sein, die Halbinsel an<br />

ihrer engsten Stelle mit einem hohen Zaun absperren zu lassen,<br />

etwas südlicher von dem heutigen „La Pared“ (laut Luis<br />

Fernández Fúster).<br />

Am 23. Oktober 1940 kam es zu einem Treffen zwischen<br />

Hitler und General Franco in Hendaye, dem französischen<br />

Atlantik Seebad unmittelbar hinter der spanischen Grenze.<br />

Unter anderem forderte Hitler einen deutschen Marinestützpunkt<br />

auf einer der Kanarischen Inseln. Franco lehnte aber nach<br />

249


geschickter Hinhaltetaktik zwei Monate später ab, weil er Spaniens<br />

Neutralität nicht aufs Spiel setzen wollte.<br />

Um dem zuvor erwähnten Dekret zu entgehen, gründete<br />

Winter eine Gesellschaft mit spanischen Strohmännern als<br />

Gesellschafter, die „Dehesa de Jandia Company, S.A.“, deren<br />

alleiniger Geschäftsführer jedoch er war. Der Erwerb des Gebiets<br />

durch diese Gesellschaft geschah am 28. April 1941 in<br />

Madrid mit einem notariell beglaubigten Kaufvertrag zwischen<br />

den Parteien. Die Gesellschaft ernannte Gustav Winter<br />

zum alleinigen Verwalter. De facto ist er jetzt der Eigentümer<br />

der Halbinsel.<br />

In der Zeitspanne 1940 bis 1944 soll Winter eine Werft der<br />

Deutschen Kriegsmarine bei Bordeaux, Frankreich nach Angaben<br />

seiner Frau Winter-Alth<strong>aus</strong> geleitet haben.<br />

Anfang 1945 konnte sich Winter von Bordeaux wieder in<br />

das neutrale Spanien absetzen. In Madrid lernte er kurz darauf<br />

seine zukünftige zweite Frau Elisabeth Alth<strong>aus</strong> kennen.<br />

Nach Aussagen der Familie Winter wurde mit dem Bau der<br />

Villa Winter im Jahr 1946 begonnen. In der Zeit war aber Gustav<br />

Winter gar nicht auf der Insel. Anderen, nicht bestätigten<br />

Quellen zufolge, sei mit dem Bau schon während des Kriegs<br />

begonnen worden.<br />

Im Jahr 1947 ließen die Alliierten das Ehepaar Winter wieder<br />

auf die Kanarischen Inseln zurückkehren.<br />

In diesem Jahr legte Gustav Winter die Tomatenplantage<br />

„Casas de Jorós“ an. Viele Brunnen sollen wieder saniert und<br />

einhundertt<strong>aus</strong>end Kiefern sollen an den Hängen des Pico de<br />

la Zarza, des höchsten Bergs <strong>Fuerteventura</strong>s, gepflanzt worden<br />

sein. Politische Häftlinge, in dem Städtchen Tefía auf <strong>Fuerteventura</strong><br />

interniert, sollen die Schotterpiste von Morro Jable<br />

nach Cofete gebaut haben.<br />

250


Im Jahr 1950 sollen nach Aussagen von Einheimischen<br />

tagelang Sprengungen auf der Halbinsel Jandia stattgefunden<br />

haben. Sie sollen mit dem Bau der Villa in Zusammenhang<br />

gestanden haben. Die Villa Winter entstand in ihrer heutigen<br />

Form, nachdem die Genehmigung für eine Erweiterung erteilt<br />

worden war (Quelle: Dumont Reiseführer <strong>Fuerteventura</strong>).<br />

Aber Gustav Winter erklärte in seinem denkwürdigen Interview<br />

1971 mit dem Reporter des „Sternmagazins“, er habe<br />

die Villa erst Ende 1958 erbaut.<br />

1962 übertrug die Firma „Dehesa de Jandia S. A.“ ca. 2 00 ha<br />

Land zwischen Morro Jable und Cofete an Gustav Winter<br />

sozusagen „als Entschädigung für die Erschließung der Halbinsel<br />

Jandia“ (Quelle: Dumont Reiseführer <strong>Fuerteventura</strong> bzw.<br />

Stern), was natürlich Augenwischerei war, weil ihm die Firma<br />

mehr oder weniger von Anfang an gehörte.<br />

1971 starb Gustav Winter im Alter von 78 Jahren in Las Palmas,<br />

Gran Canaria. Kurz darauf erschien der Artikel im<br />

„Stern“.<br />

1985 fanden Renovierungsarbeiten an der Villa durch seine<br />

Erben statt. Die Kellerzugänge wurden zugemauert (Quelle:<br />

Dumont Reiseführer <strong>Fuerteventura</strong>).<br />

Die Villa wurde in den 1990er Jahren von einer privaten<br />

Überwachungsfirma vor allzu neugierigen Besuchern geschützt.<br />

Die Villa mit dem ganzen Areal ringsum wurde etwa 1998<br />

von dem kanarischen Bau- und Hotelkonzern Lopesan S.A.,<br />

Las Palmas, aufgekauft. Hauptanteilseigner der Firma soll Don<br />

Felipe Marqués de Portago sein – der Sohn des Mannes, von<br />

dem Gustav Winter seinerzeit die Halbinsel gepachtet hatte.<br />

Hier scheint sich der Kreis zu schließen. Wird jemals ein Hotel<br />

an dieser Stelle entstehen?<br />

251


Nach wie vor zieht die Villa Winter den Besucher in ihren<br />

Bann. Die Familie Winter hat nie darin gelebt oder gewohnt<br />

und offensichtlich auch nie die Absicht gehabt, sich dort niederzulassen.<br />

Welchen Ideen ist Gustav Winter gefolgt? Welchen<br />

Zweck hat dieses schlossartige, im spanischen Stil gebaute<br />

Herrenh<strong>aus</strong> mit seinen dicken Mauern und großen Kellern erfüllen<br />

sollen? Elektrische Anlagen mit dicken Kupferdrähten<br />

und überdimensionierten Schaltgeräten sind installiert, die<br />

sicherlich nicht für ein reines Wohngebäude gebraucht worden<br />

wären. Viele Fragen sind noch offen und geben Raum für<br />

eigene Interpretationen. Eines ist aber sicher: Gustav Winter<br />

war ein außergewöhnlicher Mann, mit Abenteuerlust, Tatkraft,<br />

hoher Intelligenz und Fantasie! „Don Gustavo!“ von <strong>Fuerteventura</strong>.<br />

Seine Söhne sollen in Las Palmas leben (2010):<br />

Juan Miguel Winter Alth<strong>aus</strong> und<br />

Gustavo Winter Alth<strong>aus</strong>.<br />

252


Wissenswertes über die Insel <strong>Fuerteventura</strong><br />

Es war, glaube ich, mein erster Urlaub, den ich im Frühjahr<br />

1984 im Jahr zuvor eröffneten Club Aldiana zubrachte. Auf<br />

<strong>Fuerteventura</strong>, der zweitgrößten und ältesten Insel der Kanaren<br />

und der Nächstgelegenen zu Afrika, der Marokko-Sahara,<br />

nur 120 km nach Westen entfernt. Die Insel ist vulkanischen<br />

Ursprungs. Die vulkanische Aktivität erlosch jedoch schon vor<br />

4000 bis 5000 Jahren im Gegensatz zu der nördlichen Nachbarinsel<br />

Lanzarote.<br />

<strong>Fuerteventura</strong>, übersetzt Insel der starken Winde oder manche<br />

meinen auch Insel des Glücks (spanisch: es islas afortunadas).<br />

Was kann man auf dieser Insel schon erleben, was kann<br />

man über sie berichten? Das waren damals meine Gedanken.<br />

Vor nicht einmal hundert Jahren eine der verlassensten Regionen,<br />

in diesem Fall eine Insel, im spanischen Reich, Ein idealer<br />

Verbannungsort.<br />

Obwohl <strong>Fuerteventura</strong> die zweitgrößte Insel der Kanaren ist,<br />

fast 100 km lang und 30 km breit, ist sie für den Tourismus viel<br />

später als Teneriffa und Gran Canaria erschlossen worden, die<br />

durch ihre stark frequentierten Häfen, Puerto de la Cruz und<br />

Las Palmas, schon Anschluss an den internationalen Verkehr<br />

gefunden hatten. Auch die schon <strong>aus</strong>gebauten Flughäfen spielten<br />

eine Rolle.<br />

Erst in den 1970er Jahren sollte sich das für „die Insel des<br />

Lichts“ ändern. Zwei Faktoren kamen da zur Geltung, waren<br />

die „Initialzündung“ für die rasante Entwicklung des Tourismus,<br />

die folgen sollte. Heute sind es etwa 1,5 Millionen Urlauber<br />

pro Jahr.<br />

253


Das Rui Palace Tres Islas Hotel im Norden<br />

Im Norden der Insel unweit dem Städtchen Corralejo mitten<br />

in einer einmaligen Dünenlandschaft mit weißgoldenem<br />

Muschel- und Quarzsand wurde eine riesige Fünfstern Hotelanlage<br />

geplant und schließlich auch gebaut. Das Tres Islas Hotel.<br />

Eine Baugenehmigung wäre heute in diesem Gebiet undenkbar,<br />

das jetzt als Naturreservat geschützt ist. Es waren schon<br />

Überlegungen im Gange, die jetzt noch bestehende Hotelanlage<br />

abzureißen, um die Dünenlandschaft wieder in ihren jungfräulichen<br />

Zustand zurückzuführen. Doch es scheiterte an dem<br />

Widerstand der dort Beschäftigten, die gewerkschaftlich organisiert<br />

sind.<br />

Die 1970er Jahre waren die Jahre der Bauherrenmodelle, die<br />

der deutsche Staat steuerlich förderte. Für viele Gutverdienende<br />

eine Möglichkeit, der hohen Steuerlast zu entkommen. Der<br />

Höchststeuersatz war nämlich 56 %, davon zuzüglich 8 % für<br />

die Kirchensteuer (falls zutreffend) und dann noch obendrauf<br />

die von der SPD beschlossene 10 % Ergänzungsabgabe.<br />

Wie sollte ein solch ‚gigantisches‘ Projekt finanziert werden?<br />

Wie sollte es sich letztlich rechnen? Da bot sich doch ein Bauherrenmodell<br />

an. Selbstständige und andere mit hohen Einkommen<br />

in Deutschland wurden für solche Projekte mit hohen<br />

Verlustzuweisungen geködert.<br />

Überhöhte Bau-, Vertriebs-, Finanzierungs-, Agio- und Werbungskosten,<br />

erlaubten den Initiatoren (oftmals steckten Banken<br />

dahinter) hohe Verlustzuweisungen <strong>aus</strong>zustellen, die oft<br />

die schon hoch kalkulierten Baukosten überschritten z. B. 120<br />

bis 150 %. Manchmal wurde sogar die angefallene Mehrwertsteuer<br />

zurückerstattet.<br />

Mit solchen überhöhten Kosten ist ein rentabler Betrieb, in<br />

254


Das Riu Palace Tres Islas<br />

diesem Fall eines Hotels, nicht möglich. Letztlich war ein solches<br />

Projekt darauf <strong>aus</strong>gelegt, dass es in Konkurs ging und der<br />

Anleger sein Geld verlor. Danach, wurde der Bau billig an eine<br />

Bank verkauft, die schon den Konkurs erwartet hatte und in<br />

den Startlöchern bereitstand. Jetzt konnte der neue Besitzer<br />

das Hotel rentabel betreiben, weil die Zinsbelastung sich entsprechend<br />

verringerte.<br />

So gesehen also ein wohl kalkuliertes Betrugsmodell. Ich kenne<br />

keines von den damaligen Bauherrenmodellen, das ordentlich<br />

abgewickelt worden ist und schließlich für den ursprünglichen<br />

Investor (Steuervorteile mit eingerechnet) gewinnbringend<br />

aufgegangen war.<br />

Ich kann mich noch erinnern. Das Tres Islas Bauherrenmodell<br />

wurde auch mir angeboten. Hochglanzprospekte mit Plänen<br />

255


und Fotografien eines zweiflügligen, im Winkel zueinander<br />

angeordnet, sieben Stock hohen Hotelb<strong>aus</strong>, mit einer Swimmingpool<br />

Landschaft mittendrin, alles eingebettet in einer weiß<br />

gelblichen Dünenlandschaft. Im Parque Natural de las Dunas<br />

de Corralejo, einem Nationalpark, der sich über 11 km entlang<br />

des Meers erstreckt. – Hier ist der Kelch noch einmal an mir<br />

vorbeigegangen.<br />

Aber ich wurde doch in den Sumpf der Bauherrenmodelle<br />

hineingezogen. Ich beteiligte mich an Appartements auf Ibiza,<br />

an einem Hotel auf Gran Canaria namens El Rondo (es<br />

wurde nach dem Konkurs zu einem Spottpreis von einer anderen<br />

Hotelgruppe aufgekauft und existiert heute noch) und<br />

an einem Klinikum bei Hannover, woran sogar das Land Niedersachsen<br />

mit im Boot war. Alle sind sie in Konkurs gegangen.<br />

Und die Gefahr lauerte, dass das Finanzamt zum Schluss<br />

noch die zunächst gewährten Verlustzuweisungen in Frage<br />

stellte.<br />

Doch das so sanierte Tres Islas, damals ein Fünfsterne Hotel,<br />

heute (2021) immer noch vier Sterne, wurde nach der Eröffnung<br />

mit Begeisterung angenommen.<br />

Der Robinson Club Jandia Playa im Süden<br />

Im Süden aber, etwa 90 km entfernt, als Kontrapunkt zum<br />

Norden von <strong>Fuerteventura</strong>, gibt es auch wunderschöne lange,<br />

breite Sandstände. Beim Städtchen Morro Jable z. B. der Jandia<br />

Playa Strand. Der Süden wird durch die Halbinsel Jandia<br />

bestimmt, die bei der engsten Stelle der Insel beginnt und sich<br />

bis zur Südspitze erstreckt.<br />

Anfang der 70er Jahre war Morro vom Flughafen Puerto del<br />

Rosario erst nach Stunden über schlecht befahrbare Schotterpisten<br />

zu erreichen. Erst 1983 wurde die erste asphaltierte Stra-<br />

256


Alte Hotelanlage, vor 1970<br />

Blick vom Turm (span. La Torre) nach Morro Jable<br />

257


Neue Hotelanlage, Foto von 2021<br />

Mit der berühmten Kaktushecke entlang der Promenade<br />

Wer mehr über die Entstehung und die Geschichte des „Turms“<br />

wissen möchte, sei das Buch La Torre/50 Jahre des Insiders Monti<br />

Galmés wärmstens empfohlen, das zum Neubau des „La Torre“<br />

im Jahr 2018 veröffentlicht worden ist.<br />

258


ße gebaut. Auch hier entstand ein Kristallisationspunkt für den<br />

Tourismus durch die Initiative eines Deutschen Namens Rolf<br />

Bruns, der seinen Beruf als Schlosser in Deutschland aufgegeben<br />

hatte und auf die Kanarischen Inseln zog. Er lernte den<br />

Bauunternehmer Andrés Martin kennen.<br />

Zusammen standen sie am Strand von Jandia Playa. Vor ihnen<br />

endloser weißer<br />

Sandstrand. Fasziniert<br />

von dem Standort hatten<br />

sie die Vision, hier ein<br />

Hotel zu bauen. Der Bau<br />

des Hotels begann 1967.<br />

Nicht gerade klein geplant.<br />

Acht Stockwerke<br />

hoch. Bei den Einheimischen<br />

prägte sich bald<br />

der Name „La Torre“<br />

dafür, das spanische<br />

Wort für Turm. Das Hotel<br />

bekam jedoch den Namen<br />

„Jandia Playa“. Die<br />

dahinterstehende Gesellschaft<br />

Jandia Playa S.A.<br />

Die Quelle von Robinson<br />

Auf einer aufgestellten Bronzetafel<br />

lesen wir:<br />

Wasser ist Leben. Das Wasser dieser<br />

Quelle ermöglichte teilweise bereits<br />

1968 den Bau des Jandia Playas und<br />

somit die Geburt von Robinson.<br />

259<br />

Das Hotel hatte anfangs<br />

wenige Gäste, war nur zu<br />

20% <strong>aus</strong>gelastet. Der Konkurs<br />

hing wie ein Damoklesschwert<br />

über der Anlage<br />

mit ihren 200 Betten.<br />

Trotzdem es wurde Tourismusgeschichte<br />

geschrieben,<br />

obwohl es


damals direkt an der Küste von Morro Jable weder eine geregelte<br />

Strom- noch Wasserversorgung gab. Und keine Straßenanbindung.<br />

Die TUI AG, das schon damals führende Touristikunternehmen<br />

in Deutschland, witterte eine Chance, weil unerwartete<br />

Hilfe kam.<br />

Willy Brandt auf der Insel<br />

Der damalige deutsche Bundeskanzel buchte einen Erholungsurlaub<br />

und wählte dazu das Jandia Playa Hotel. Willy<br />

Brandt, nach dem gewonnenen Wahlkampf als Sieger hervorgegangen,<br />

jedoch gesundheitlich mit seinen Stimmbändern<br />

angeschlagen, suchte an einem ruhigen, warmen Ort am Meer<br />

Willy Brandt mit seiner Frau Rut beim Esel Ausritt 1973<br />

260


Willy Brandt mit Sonnenbrille 1973<br />

Skulptur von<br />

Willy Brandt mit<br />

seinem Hund an<br />

der Promenade<br />

vor dem jetztigen<br />

Robinson Club<br />

(2021)<br />

261


Brandt mit seinem Hund<br />

Erholung und nahm seine Familie mit. Aber auch seinen geliebten<br />

Hund Bastian, sein treuer Begleiter.<br />

Das war zu Weihnachten 1972 und der folgenden Jahreswende.<br />

Ein Glückstreffer für Brandt, denn er erholte sich prächtig,<br />

aber auch für den Süden der Insel, denn durch die Aufmerksamkeit<br />

in der Presse war sein Aufenthalt wie eine Initialzündung<br />

für den Tourismus im Süden der Insel.<br />

Die Bunte und der Stern berichteten über seinen Urlaub, ein<br />

Sternreporter, Robert Lebeck, war ihm unentwegt auf der Spur.<br />

Das vorstehende Bild zeigt Willy Brandt auf einem Esel, gefolgt<br />

von seiner Frau Rut, bei einem Ausritt nach Cofete, eine<br />

kleine Siedlung, eigentlich nur eine Kaffeebar, an der wilden<br />

Westküste.<br />

Ziemlich weit, auch mit einem trittfesten und schwindelfreien<br />

Esel einem schlechten nicht <strong>aus</strong>gebauten Pfad an Abhängen<br />

entlang, dürfte man hierzu wahrscheinlich fünf Stunden<br />

brauchen. Deswegen ist diese Aussage zweifelhaft.<br />

Von hier musste er die Regierungsgeschäfte erledigen. Nicht<br />

262


so einfach, denn die Funkverbindung nach Deutschland musste<br />

vom Militär erst aufgebaut werden. Wer einmal auf der Insel<br />

mit dem traumhaften Wetter und dem klaren sauberen<br />

Meerwasser Urlaub gemacht hat, wird höchstwahrscheinlich<br />

wiederkommen. So soll es auch Brandt ergangen sein.<br />

Die Insel soll eine Heilwirkung haben. Auf einem meiner<br />

Rückflüge saß ein Arzt neben mir. Er berichtete mir, dass er<br />

zusammen mit Kollegen ein Sanatorium für Krebskranke an<br />

der Westküste eröffnet hätten. Die Heilungschancen seinen<br />

hier nachweislich erheblich höher als in einem vergleichbaren<br />

Sanatorium in Deutschland. Keine Sekunde lang bezweifelte<br />

ich seine Aussage.<br />

Die Einwohner von Fuerte haben den damaligen Bundeskanzler<br />

nicht vergessen. An der Promenade vor dem Robinson<br />

Club ließen sie als Dankeschön eine Skulptur von ihm mit<br />

seinem Hund, geschaffen von dem kubanischen Künstlers<br />

Rafael Gómez, aufstellen.<br />

Doch zurück zu TUI. Zunächst vergab sie ein Darlehen, das<br />

in Aktien umgewandelt werden konnte. Schließlich besaß TUI<br />

die Mehrheit. Sie nahm weitere Investoren mit ins Boot, so z.B.<br />

auch die Steigenberger Hotel Gruppe. Im Jahre 2006 wurde<br />

die TUI AG zur alleinigen Eigentümerin des Robinson Jandia<br />

Clubs, in dessen Mittelpunkt „la Torre“ immer noch steht (2018<br />

abgerissen und in ähnlichem Aussehen neu errichtet, nachdem<br />

die B<strong>aus</strong>ubstanz des alten Turms zu wünschen übrigließ. Der<br />

damals verwendete Zement war mit salzhaltigem Wasser <strong>aus</strong><br />

einer Quelle in Ermangelung einer anderen Möglichkeit angerührt<br />

worden, mit der Folge von brüchigem Beton. Die Quelle<br />

sprudelt heute immer noch und ist auf dem Clubgelände als<br />

Blickfang zu besichtigen. Quellen sind außergewöhnlich auf<br />

der Insel, auf der es selten regnet, was man an der kargen Vegetation<br />

leicht erkennen kann.<br />

263


Die TUI nahm den französischen Club Méditerranée zum<br />

Vorbild. Achtertische beim Essen. Bezahlen mit Perlen.<br />

Vielleicht erinnert sich noch jemand meiner Leser an diese erste<br />

Zeit. Auf Sport und Unterhaltung wird Wert gelegt. Abendliche<br />

Shows im Clubtheater. Der Name „Robinson“ basiert natürlich<br />

auf Robinson Crusoe, Abenteuer suggerierend. So entstand<br />

der erste Robinson Club 1971. Im Laufe der kommenden<br />

Jahre sollten viele weitere folgen, in vielen Ländern der Welt.<br />

Manche davon waren unrentabel und verschwanden wieder<br />

<strong>aus</strong> dem Angebot der TUI. Ich erinnre mich z. B. an den Baobab<br />

in Kenia, an den Bentota auf Sri Lanka und den Tulum in<br />

Mexico. Aber einer soll doch noch erwähnt werden. Der Erfolg<br />

des Clubs auf Fuerte bewirkte, dass sich TUI dazu entschloss,<br />

einen weiten Club vornehmlich für Familien mit Kindern<br />

zu eröffnen, der etwa 6 km nördlich am gleichen Strand<br />

aber auf einem höher gelegenen Plateau angesiedelt ist. Der<br />

Robinson Esquinzo, gebaut 1989, eröffnete 1990.<br />

Miguel de Unamuno auf der Insel<br />

Noch 1924 wurde der der spanischen Regierung unbequeme<br />

Dichter und Philosoph Miguel de Unamuno (1864–1936),<br />

ein Baske, auf die Insel verbannt, bei Nacht und Nebel war er<br />

abgeholt worden. Er verbrachte einige Monate auf der Insel,<br />

bis ihm die Flucht auf einer Brigantine nach Paris gelang. Auf<br />

der Insel konnte dieser Unruhestifter in den Augen der spanischen<br />

Regierung keine Zeitungsartikel gegen die Regierung<br />

verfassen. Er war sozusagen „stillgelegt“, denn hier gäbe es<br />

nichts, was ihn zum Schreiben drängen könnte, keine Infrastruktur<br />

- Strom hin und wieder vom einem Dieselgenerator,<br />

verseuchtes Trinkwasser, - kein kulturelles Leben, wenn man<br />

einmal von dem Einfluss der katholischen Kirche absieht.<br />

264


Miguel de Unamuno auf <strong>Fuerteventura</strong><br />

Miguel de Unamuno<br />

Ein optimaler Ort, um Jemanden in der Versenkung verschwinden<br />

zu lassen und ihm jeder Kommunikationsmöglichkeit<br />

zu berauben. Er soll geschrieben haben, dass <strong>Fuerteventura</strong><br />

eine Insel sei, die wie Skelett auf dem Meer liege. Man müsse<br />

zu verstehen wissen, wie man in einem Totenschädel einen<br />

schönen Kopf erkennen könne. Später aber sah er es etwas<br />

anders. Von ihm stammt der Ausspruch „<strong>Fuerteventura</strong> ist<br />

eine Oase in der Wüste der Zivilisation. Diese Erde, diese nob-<br />

265


le fleischlose Erde, sagt ihren Söhnen die Wahrheit, sie betrügt<br />

sie nicht. Und deshalb lieben sie sie.“ Über die Nachbarinsel<br />

Gran Canaria solle er <strong>aus</strong>gerufen haben: „Ein Gewitter <strong>aus</strong><br />

Stein!“<br />

Ein <strong>Fuerteventura</strong> Fan schloss sich dem Urteil des Basken<br />

an:<br />

Eine die Seele reinigende Kargheit und Wüste, die die spezielle<br />

Schönheit <strong>aus</strong>strahlt, welche nicht jedem zugänglich ist, sondern<br />

nur demjenigen, der gelernt hat auf der Isla de La Luz (Insel des<br />

Lichts) Besonderes zu sehen und zu erleben.<br />

2015 wurde die Insel zum UNESCO-Lichtschutzgebiet erklärt<br />

Die wenigen Einwohner von <strong>Fuerteventura</strong>, 1970 weniger<br />

als 5000, nennt man auch Guanchen, die als Ureinwohner bezeichnet<br />

werden können, wahrscheinlich von den einst gelandeten<br />

Phönizier (von dem heutigen Libanon/Syrien) abstammend.<br />

Ausgebaute Straßen hat es nicht gegeben, die ersten sollen<br />

erst in den 1970er Jahren angelegt worden sein, dafür Schotterwege,<br />

manchmal mit Steinplatten gepflastert, wie es einst<br />

die Römer taten, die für Esel und Kamele geeignet waren.<br />

Das Klima ist das ganze Jahr über mild, was den Kanarischen<br />

Inseln den Beinamen Inseln des ewigen Frühlings eingebracht<br />

hat. Das Meer gleicht die Temperaturen <strong>aus</strong>, und der<br />

fast ununterbrochen wehende Nordostpassatwind hält die<br />

heißen Luftmassen <strong>aus</strong> der nahen Sahara zumeist fern. Es regnet<br />

selten. Die Insel ist karg. Kaum, dass man in der Landschaft<br />

grüne Stellen entdeckt. Landwirtschaft wird kleingeschrieben,<br />

weil Wasser zur Bewässerung fehlt.<br />

Die überall frei herumstreunenden Ziegen tun das Übrige.<br />

Sie fressen die wenigen Gräser bis auf die Wurzeln ab. Fuerte<br />

266


wird auch als die Insel der Ziegen genannt. Die Vielzahl der<br />

Ziegen hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass die Insel zu<br />

einer Halbwüste geworden ist, vergleichbar mit der Großen<br />

Karoo in Südafrika. Auch der Holzeinschlag in früheren Zeiten,<br />

als die Insel teilweise noch bewaldet war, wie versteinerte<br />