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Mensch
und
Tier
Von
Hari Patz
SIEBZEHN ILLUSTRIERTE
KURZGESCHICHTEN
1
Impressum
Texte:
© Copyright by Hari Patz
Bilder + Fotos:
© Copyright by Hari Patz & Public Domain
Umschlag:
© Copyright by Hari Patz
Verlag:
Hans-Jürgen „Hari“ Patz
Landsberger Allee 210
10367 Berlin
haripatz@yahoo.de
haris-insel.de
2
Vorwort
Ich hatte schon früh ein besonderes Verhältnis zu
Tieren. Im Grunde fiel es mir immer leichter, Kontakt
zu ihnen zu bekommen als zu Menschen. Bei denen
war ich schüchtern und unsicher. Es war für mich
schwierig, die Erwachsenen zu verstehen, ich konnte
Ihre Motive und Gefühle nicht einschätzen, nicht
erfassen. Ganz anders bei Tieren, speziell bei
Hunden. Zwar hatte ich auch sehr schöne Kontakte
zu anderen Tieren, doch Hunde sind mir besonders
nah. Schon als Kind waren sie für mich ein Quell der
Freude und des Trostes. Nur ganz am Anfang hatte
ich ein unangenehmes Erlebnis mit einer Fellnase,
alle späteren Kontakte verliefen ausnahmslos positiv.
Ihnen konnte ich mich öffnen, ihrer Zuneigung war
ich mir sicher, da gab es keine Zweifel. Wenn ein
Hund dich liebt, dann weißt du das.
Diese Geschichten sind eine Huldigung an all die
Tiere, die mich ein Stück weit begleitet und
bereichert haben. In lockerer zeitlicher Reihenfolge,
erzähle ich von Abschnitten meines Lebens, in denen
die unterschiedlichsten Geschöpfe meinen Weg
teilten. So verschieden wie die Tiere, waren die Orte,
an denen wir uns trafen. Ob in Deutschland,
Südafrika, Indien oder Brasilien, überall gab es
Begegnungen, die auf ihre Weise einzigartig waren.
3
DANKSAGUNG
Ich möchte allen Menschen danken, die sich für das
Wohl von Tieren einsetzen! Leider musste ich in
vielen Ländern miterleben, dass nicht immer und
überall, Tiere mit Respekt und Zuneigung behandelt
werden. Umso mehr freut es mich, wenn ich von
Menschen höre, die Zeit und Geld opfern, um
hilflosen und leidenden Tieren zu helfen. Auch das
geschieht fast überall, meist im Verborgenen, sodass
die Öffentlichkeit nur selten davon erfährt. Deshalb
möchte ich gerade diesen Menschen meinen
besonderen Dank aussprechen.
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort 3
Rex 7
Herkules 13
Charly 19
Landferien 25
Ajax und Timmy 35
Lothar 47
Krueger Park 63
Delfine 79
Das Rauschen 87
Soraya 93
Diego 109
Menagerie 117
Garfield 125
Shiva 133
Smyllah 145
Susi 157
Garry 167
Ende 175
5
6
Rex
7
REX
Ich erinnere mich noch deutlich an den ersten Hund
in meinem Leben. Es war 1958, mein fünfter
Geburtstag war gerade vorbei, als mein Vater eines
Tages mit ihm ankam. Er hieß Rex und war ein schon
recht alter Schäferhund-Rüde mit grauer Schnauze.
Er war ein Polizeihund in Pension, den mein Vater
von der Polizei gegen eine Apanage bekommen hatte.
Entweder hatte man versäumt, ihm zu sagen, dass
der Hund nicht besonders gut auf Kinder reagierte,
oder er hat es einfach ignoriert. Mein Vater lebte
schon immer in der festen Überzeugung, dass ihm
jeder Mensch und jedes Tier zu Willen war, wenn er
nur oft und fest genug draufhaute. Von alledem
wusste ich damals nichts, ich war einfach nur
begeistert von diesem riesengroßen Hund mit dem
kuscheligen Fell. Nur allzu gerne wollte ich mit ihm
spielen, ihn streicheln und lieb haben. Es war
natürlich nur eine Frage der Zeit, bis das schief ging -
das tat es dann auch, sogar dreimal.
Es waren meine ersten, frühkindlichen Begegnungen
mit Blut und Schmerzen, aber auch mit Verzeihen
und Verstehen. Beim ersten Mal kam ich zusammen
mit meiner Mutter vom Einkaufen zu unserer
Wohnung zurück. Sie schloss die Wohnungstür auf
und öffnete sie. Rex stand gleich dahinter, ich fiel
ihm überschwänglich um den Hals und herzte ihn
mit den Worten: „Hallo mein Lieber, da sind wir
wieder!“
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Er konnte mit dieser Sympathiebekundung wohl
nichts anfangen, fühlte sich wohl eher bedrängt und
bedroht und schnappte nach mir. Da unsere Köpfe
fast auf gleicher Höhe waren, erwischte er mich voll
am rechten Auge und an der Augenbraue. Ich schrie,
Blut spritzte, meine Mutter schrie und der Hund
verschwand schnell in der Wohnung. Meine Mutter
warf daraufhin alle Einkaufstaschen in den Flur. Sie
schlug die Tür zu, schnappte sich meine kleine
jammernde Gestalt und rannte die Treppen hinunter,
zu einem Arzt in der Nähe. Er gab mir eine Spritze
und nähte meine Wunde. Was danach von den
Erwachsenen gesprochen wurde, weiß ich nicht. Es
gab sicher einige Aufregung, aber es änderte sich
zunächst nichts in unserem Zusammenleben.
An vieles aus dieser Zeit kann ich mich eher
emotional als faktisch erinnern. So erinnere ich mich,
dass ich dem Hund weder böse war, noch
übermäßige Angst vor ihm hatte. Ich machte ihm
auch keine Vorwürfe. Ich hatte verstanden, dass
meine heftige Begrüßung zu viel für ihn war. Die
erlittenen Schmerzen konnte ich ihm recht leicht
verzeihen. In der Zeit danach war ich anfangs etwas
vorsichtiger im Umgang mit ihm. Doch schon bald
war der Vorfall für mich vergessen. Deshalb dauerte
es auch nicht allzu lange, bis es den nächsten
schmerzhaften Zusammenstoß gab. Diesmal, versuchte
ich, ihn mit Hundekeksen zu füttern, die er
eigentlich ganz gerne mochte. Ich saß bei ihm auf
seiner Decke bei uns im Flur und wollte ihn
unbedingt damit verwöhnen. Er wollte aber nicht,
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hatte grade keine Lust darauf, drehte immer wieder
den Kopf weg. Was mich aber nicht davon abhielt,
ihm immer wieder einen Keks vor seine Schnauze zu
halten und ihm gut zuzureden, wie lecker die doch
seien. An irgendeinem Punkt wurde es ihm dann zu
viel und er schnappte nach mir. Diesmal erwischte er
mich an Hals und Kinn, erneut gab es Blut und
Tränen. Aber auch diesmal wusste ich, dass es
letztlich meine Schuld war, dass es soweit kommen
konnte.
Das dritte Mal hatte ich nicht selbst zu verantworten.
Das ging auf das Konto meines Vaters. An einem
Sonntag saß mein Vater, zusammen mit meinem
Onkel, bei uns an der Ecke in seiner Stammkneipe
beim Frühschoppen. Die beiden saßen an einem
Tisch und Rex lag darunter. Meine Mutter hatte mich
geschickt, um sie zum Mittagessen zu holen. Beide
Männer waren schon recht feuchtfröhlich und
alberten herum. Mein Vater kam auf die für ihn
komische Idee, die Hundeleine zu nehmen und den
Karabinerhaken an meinem Hemdkragen zu
befestigen. Dann sollte ich Hündchen spielen.
Schließlich krabbelte ich auf allen vieren um den
Tisch herum und machte „wuff-wuff“. Das hat den
Rex dann so provoziert, dass er unter dem Tisch
hervorschoss und mir direkt in den Oberschenkel
biss. Das gab dann den letzten Ausschlag, dass sich
mein Vater von Rex trennte und ihn zu meinen
Großeltern in Ost-Berlin gab.
Sie hatten eine Laube, da konnte er gut bleiben.
Wenn ich mich recht erinnere, wurde er dann krank
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und starb auch recht bald danach. Vielleicht wurde es
ihm aber auch zum Verhängnis, dass er das
Meerschweinchen meiner Oma totgebissen hatte.
Alle diese Erfahrungen, haben nicht bewirken
können, dass ich nun Angst oder Scheu vor Hunden
hatte. Wir sollten später noch einige Hunde haben,
und ich habe sie alle geliebt. Der Nächste sollte gar
nicht allzu lange auf sich warten lassen.
***
11
12
Herkules
13
HERKULES
Das Frühjahr 1959 war herangerückt und wir waren
umgezogen. Nun stand ein neues Thema im Vordergrund:
die Schule. Ich wurde eingeschult, das schien
eine große Sache zu sein, interessierte mich aber nur
sehr mäßig. Das einzig Interessante daran war die
große Schultüte, auf deren Inhalt war ich schon sehr
gespannt. Es gibt ein Foto von diesem großen Tag:
ich mit grüner Lodenjacke, geölten, in alle Richtungen
stehenden Haaren, einer großen schwarzen
Brille und einer prächtigen Zahnlücke. Wirklich
glücklich sehe ich da nicht aus. Der Unterricht fing
schnell an, mich zu langweilen. Ich vermochte einfach
nicht einzusehen, warum ich jeden Tag Schleifen
und Krückstöcke über drei Linien malen sollte. Nach
ungefähr einer Woche beschloss ich, meinen Schulweg
umzuleiten. Die Schule war nur eine Straßenkreuzung
entfernt, vielleicht zweihundert Meter von
unserem Haus. Aber anstatt rechts abzubiegen, ging
ich einfach geradeaus weiter die Großbeerenstraße
entlang, direkt zum Kreuzberg mit seinem Victoria-
Park. Der sprudelnde Wasserfall lockte mich schon
von Weitem. Da gab es so viel zu entdecken! Als
Erstes suchte ich mir einen Platz, an dem ich meine
Schulmappe ablegen konnte, die störte ja nur. Das
war einfach, es gab sehr viele große Büsche, in die ich
hineinkriechen konnte. Dort fand ich dann eine
Laubhöhle, die wie für mich geschaffen war.
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Mit nackten Füßen und hochgekrempelten Hosenbeinen
den Wasserfall entlang über die großen Felsen
klettern, das machte Spaß. Oder in den Tiergehegen
und Volieren die vielen unterschiedlichen Tiere
bestaunen. Das war viel interessanter als die Schule.
Am Fuß des Wasserfalls stand eine große Uhr, die
konnte ich schon lesen. Pünktlich als die Schule
vorbei sein sollte, ging ich wieder nach Hause. Wenn
es Fragen zur Schule gab, erfand ich irgendetwas
langweilig Belangloses, das hingenommen wurde.
Das habe ich die nächsten zwei Wochen weiter so
getrieben und dabei den Kreuzberg gründlich
erforscht. Bis ich eines Tages auf die Uhr sah und
erschrocken feststellte, dass ich schon eine Stunde
über der Zeit war. Meine Mutter hatte meinen Stundenplan
an den Kühlschrank geklebt, sie wusste, wie
lange ich Unterricht hatte. Da bin ich ganz schnell
losgelaufen. Nur - ich hatte meine Schulmappe vergessen.
Meine Mutter fragte natürlich gleich, wo die
denn geblieben sei. Da kam ich in Erklärungsnot. Sie
hat dann letztlich die ganze Wahrheit herausgefunden.
Die Folge davon war ein Gespräch mit meiner
Lehrerin, das dann dazu führte, dass man mich vom
Unterricht zurückstellte. Im nächsten Frühjahr
könne ich es noch einmal versuchen. Schließlich war
ich noch keine sechs Jahre alt. Damit konnte ich sehr
gut leben.
In der Zwischenzeit hatte etwas viel Wichtigeres
meine Aufmerksamkeit für sich gewonnen. Wir
hatten einen neuen Hund bekommen, einen pechschwarzen
Neufundländer. Herkules hieß er und war
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mein Ein und Alles. Diesen Hund liebte ich, wollte
jede freie Minute bei ihm sein. Wenn wir im Hofgarten
Gassi gingen, ließ mich der gutmütige Kerl
sogar auf seinem Rücken reiten. Wir teilten uns auch
sein Lager. Eines Tages war meine Mutter auf
verzweifelter Suche nach mir. Da ich schon früher
mal ausgebüchst war, gingen ihre Gedanken
natürlich in diese Richtung. Panisch rannte sie durch
das ganze Haus, in den Hof, auf die Straße, doch ihr
Söhnchen blieb verschwunden. Sie war völlig
aufgelöst, wusste sich keinen Rat mehr. Erst ungefähr
eine Stunde später erhob sich Herkules von seinem
Lager, und ihr kleiner Junge kam wieder zum
Vorschein - selig schlummernd im Hundebett. Das
große Tier hatte mich komplett verdeckt.
Er mochte mich auch, das merkte ich schnell. Stets
kam er jeden Morgen als Erstes zu mir und rieb
seinen Kopf an meinem. Wo ich auch hinging, folgte
er mir. Nachts schlief er vor meinem Bett. Er
bewachte mich eifersüchtig, wenn jemand grob mit
mir sprach, knurrte er laut und beeindruckend. Sogar
meinen Vater hat er angeknurrt, als der mit mir
schimpfte. Das brachte ihm allerdings Prügel ein, was
mir sehr leidtat. Ich wollte nicht, dass ihm jemand
wehtat, schubste meinen Vater beiseite und warf
mich über ihn, da bekam ich die Prügel. Doch das
war mir ganz egal, wenn ich nur mit meinem flauschigen
Liebling zusammen sein konnte. Am liebsten
lagen wir beide ganz still, versteckt und unbemerkt,
in einer Ecke beieinander. Herkules liebte es, erst
ausgiebig meine Füße zu beschnuppern, und dann
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seine Schnauze in meine Achselhöhle zu wühlen. Ich
liebte es, mich in seinen weichen Pelz zu kuscheln,
ihn zu umarmen und seine Wärme und Zuneigung zu
spüren. Wenn wir so engumschlungen beinander
lagen, war ich selig.
Zu meinem allergrößten Leid dauerte unsere gemeinsame
Zeit nicht lange. Dieser wunderbare, sanftmütige
Hund hatte ein Problem, er interessierte sich
überhaupt nicht für andere Hunde, ignorierte sie einfach.
Aber bei Deutschen Schäferhunden sah das
ganz anders aus, da wurde er wild. Sowie er einen
sah, wollte er auf ihn losgehen, hörte er auf niemand
mehr. Dieses große Tier hatte eine unbändige Kraft,
meine Mutter war eine schlanke Frau, sie konnte ihn
nur bändigen, indem sie schnell die Leine um eine
Laterne oder einen Baum wickelte und festhielt.
Eines Tages stand sie mit ihm an einer Kreuzung, als
auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Deutscher
Schäferhund erschien. Es war nichts in Reichweite,
worum sie die Leine wickeln konnte. Und
Herkules rannte unaufhaltsam los, dabei missachtend,
dass auf dem Mittelstreifen eine Straßenbahn
herankam. Meine Mutter sah es und ließ die Leine
los, damit er sie nicht unter die Bahn zog.
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Herkules schaffte es auf die andere Seite und zerfleischte
den Schäferhund. Das war für meinen Vater
inakzeptabel und er brachte meinen geliebten Hund
fort in ein Tierheim. Es gab keinen Abschied, ich
habe ihn einfach nie mehr wiedergesehen, ich war
wieder allein. Ich habe lange um ihn getrauert.
***
18
Charly
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CHARLY
Ein halbes Jahr später zogen wir um. Wir wohnten
nun in der Oppelner Straße, zwischen Schlesischem
Tor und Görlitzer Bahnhof in Berlin SO 36. Mein
Vater hatte dort eine Freibank eröffnet. Dort wurde
abgepacktes Fleisch in Konservendosen aus der
Senatsreserve verkauft. Auch Aufschnitt und heiße
Würstchen konnte man bei uns haben. Krakauer,
Breslauer, Wiener oder Knacker standen zur Auswahl.
Die Temperatur ließ sich bei unserem Wurstkessel
nur unzuverlässig einstellen, was zur Folge
hatte, dass immer wieder welche platzten. Ich bin mir
nicht ganz sicher, aber es kann gut sein, dass wir uns
in dieser Zeit zu einem großen Teil von geplatzten
Würsten ernährt haben. Doch schon bald sollten wir
dabei Unterstützung bekommen - Charly kam zu uns!
Eines Tages brachte ihn mein Vater mit. Charly war
ein schwarzweißer Spitz-Mischling mit kurzem,
struppigem Fell. Er hatte einen lustigen Gesichtsausdruck
und wache Augen. Ich mochte ihn sofort.
Es waren gerade große Ferien, die erneute Einschulung
hatte ich verpasst, weil wir uns noch vor Kurzem
als DDR-Flüchtlinge im Flüchtlingsheim Marienfelde
befanden. Auf diese scheinbar geniale Idee kam mein
Vater eines Tages. Wir räumten unsere schöne Wohnung
am Kreuzberg und zogen nur mit Koffern ins
Flüchtlingsheim. Ich habe nie erfahren, wie genau er
das gedreht hat und wie er damit durchgekommen
ist. Als anerkannter Flüchtling konnte er einen zins-
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losen Kredit und Förderung bekommen. So kamen
wir zu einer Freibank und einer neuen Wohnung.
Schule war dadurch noch immer kein Thema für
mich, obwohl ich schon in wenigen Tagen sieben
Jahre alt wurde. Ich hatte also genug Zeit, zusammen
mit Charly meine neue Umgebung zu erkunden. Da
gab es zunächst einmal den alten Görlitzer Bahnhof,
von dem fast nur noch die von Unkraut überwucherten
Grundmauern vorhanden waren. An einem Ende
hatte sich ein Autofriedhof und Schrottplatz angesiedelt.
Ausgesprochen interessantes Gelände! Dann
gab es noch die „Harnröhre“, das war ein langer
grüngefliester Tunnel, der das Bahnhofsgelände von
West nach Ost unterquerte. Dieser Tunnel wurde oft
dazu benutzt um sich darin zu erleichtern, so das es
darin wie in einem Pissoir stank. Wenn man diesen
Geruch ignorierte, blieb der Tunnel durch seine
Klangqualitäten interessant. Der Schall wurde darin
vielfach verstärkt und mit Hall und Echo versehen,
das machte Spaß. Danach runter zum Spreekanal. Es
war schön, unter den Weiden im Gras zu liegen.
Charly war immer an meiner Seite, wir unternahmen
alles zusammen und teilten uns alles. Er liebte es,
Stöckchen zu holen. Er war ein rechter Sprinter und
konnte nicht genug davon bekommen; dieser Hund
war ein unerschöpfliches Energiebündel. Leider ging
auch diese schöne Zeit viel zu schnell vorbei.
Ich wurde in die Schule gebracht, diesmal ohne
Feiertagsanzug und Schultüte. Der Klassenlehrer war
ein freundlicher Mann, der Unterricht vermochte
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mich aber noch immer nicht zu interessieren. Ich soll
die ganze Zeit vor mich hingeträumt haben. In den
nächsten Jahren war ich noch auf vielen Schulen, ich
kann mich an jede genau erinnern, nur nicht an
diese. Ich muss zu dieser Zeit geistig völlig abgeblendet
haben. Aber gut erinnere ich mich an meine erste
große Liebe.
Angelika, ein fünfjähriges Mädchen aus dem Nachbarhaus.
Lange schwarze Locken, ein süßes, pausbäckiges
Gesicht mit Grübchen darin, aus dem zwei
riesengroße, blaue Augen leuchteten. Ich war total
fasziniert von ihr und tat alles, um in ihrer Nähe zu
sein. Sie brachte mir „Himmel und Hölle“ bei; ein
Hopse-Spiel. So hüpfte ich dürres Kerlchen auf einem
Bein durch die mit Kreide aufgemalten Rechtecke.
Was nicht dadurch einfacher wurde, dass Charly die
ganze Zeit kläffend um mich herumsprang und mitspielen
wollte. Am schönsten fand ich es, wenn wir zu
dritt im Hinterhof auf einer Decke im Sonnenschein
saßen. Charly lag meist auf dem Rücken und ließ sich
abwechselnd von uns den Bauch kraulen. Da waren
noch andere Kinder und wir waren oft als Gruppe
unterwegs. Das sollte jedoch nicht lange andauern.
Der Sommer war vorbei und meine Tage wurden
dunkler. Eines Abends war ich mit Charly und einigen
Jungs unterwegs und hatte völlig die Zeit vergessen.
Ich hatte die strikte Anweisung, um sieben
Uhr zuhause zu sein. Es war aber schon fast neun, als
mich mein Vater wutentbrannt fand und am Hemdärmel
nach Hause schleifte. Als er mir dann dort den
Hintern versohlte, ging auf einmal Charly auf ihn los.
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Er bellte ihn wie wild an und zerrte an seinem Hosenbein.
Da bekam er auch Prügel. Heulend rannte ich
davon, Charly immer dicht hinter mir. Wir versteckten
uns in einer stillen Ecke auf einem der Dachböden.
Kauerten uns in einem alten Sessel zwischen
abgestellten Möbeln und Kisten zusammen und trösteten
uns gegenseitig. Mein Vater hatte aber mitbekommen,
dass wir die Treppe hoch sind und fand
uns ungefähr eine Stunde später. Nach einer
erneuten Tracht Prügel wurde ich ins Bett geworfen,
bekam eine Woche Stubenarrest. Mir wurde verboten,
weiterhin mit den anderen Kindern zu spielen.
So konnte ich Angelika kaum noch sehen und blieb
für mich allein. Charly war mein einziger Spielkamerad.
Nicht lange danach verscherzte er es sich völlig
mit meinem Vater. Er war eigentlich ein lieber und
folgsamer Kerl, zumindest bei mir. Aber er mochte es
überhaupt nicht allein gelassen zu werden. Wir
kamen eines Abends von Großmutters Geburtstag
zurück, wohin wir ihn nicht mitnehmen konnten, da
erlebten wir eine Überraschung: Im Wohnzimmer
sah es aus, als hätte ein Schneesturm darin getobt.
Zunächst konnten wir gar nicht feststellen, wodurch
das entstanden sein konnte. Charly lag auf dem Sofa,
flach ausgestreckt, Kopf zwischen den Pfoten und
wedelte heftig mit dem Schwanz; damit noch mehr
Flocken aufwirbelnd. Erst als meine Mutter eines der
Sofakissen fortnahm, konnten wir sehen, dass er dort
ein großes Loch ins Polster gebissen und die Füllung
im Zimmer verteilt hatte. Das war zu viel für meinen
Vater, er verprügelte Charly heftig und sperrte ihn
über Nacht im Klo ein. Am nächsten Tag brachte er
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ihn fort in ein Tierheim. Wieder einmal wurde mir
ein Freund weggenommen, wieder zog ich mich ein
Stück weiter in meinen Panzer zurück. Es wurde
immer schwieriger mit mir, ich tat nicht, was ich
sollte. Machte ständig irgendwelchen Blödsinn. Ich
wurde stur und bockig, konnte einfach nicht verstehen,
warum die Erwachsenen mich so drangsalierten.
Warum musste ich ständig Sachen machen,
die keinen Spaß machten? Alles woran ich Freude
hatte, wurde mir verboten oder weggenommen.
Erwachsene waren einfach nur doof, allen voran
mein Vater. In meinen Träumen lebte ich ganz für
mich allein. Irgendwo in einer geheimen Höhle, die
nie jemand finden würde, und ein großer starker
Hund würde mich beschützen. Doch schon bald
musste ich mich in der realen Welt in einer neuen
Umgebung zurechtfinden.
***
Schlesisches Tor 1960
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Landferien
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LANDFERIEN
Die großen Ferien haben angefangen.
Das ist gut oder eben auch nicht. Denn dieses Jahr
soll ich zu Tante Waltraud und Onkel Walter auf den
Bauernhof in der Ostzone. Dazu habe ich zwar überhaupt
keine Lust, aber danach hat auch niemand
gefragt. Ich wollte ja lieber in ein Zeltlager, aber mein
Vater hat es versäumt, mich rechtzeitig anzumelden,
so waren alle Plätze schon vergeben. Außerdem war
mein Zeugnis so schlecht, dass Vater meinte, ich
dürfe nicht auch noch belohnt werden. Ich bin sieben
Jahre alt und gehe in die 1. Klasse, das zweite Mal.
Irgendwie bin ich immer spät dran.
Dieses Jahr soll ich also Ferien auf dem Land
machen. Der Onkel ist ganz in Ordnung, er sagt nur
selten was, er löst lieber Kreuzworträtsel. Die Tante
kann ich nicht leiden, ich glaube, sie mag mich auch
nicht. Sie ist ein Riesenweib mit einer dröhnenden
Stimme. Wenn sie lacht wackeln die Wände, da fallen
die Gläser aus dem Schrank und unser Meerschweinchen
pfeift und piepst ganz erschrocken. Vor einer
Weile, als sie bei uns zu Besuch war, sagte sie zu mir:
„Hans, komm du mal für eine Weile zu uns auf den
Hof, da machen wir einen richtigen Mann aus dir.“
Tante Waltraud macht mir Angst, ich glaube, ich will
kein richtiger Mann sein. So ein stinkender Bauernhof
interessiert mich nicht. Viel lieber würde ich
durch die Kreuzberger Hinterhöfe und Ruinen stromern,
die finde ich viel interessanter. Jetzt soll ich
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auch noch die ganzen sechs Wochen bei ihnen bleiben,
das finde ich gar nicht lustig. Dagegen muss sich
doch etwas tun lassen. Irgendwie muss ich es schaffen,
dass sie mich schon früher wieder nach Hause
schicken. Das kann doch nicht so schwer sein.
Der Zug fährt gerade in Klein-Machnow ein. Ich öffne
die Tür, noch bevor er gänzlich zu einem Halt
kommt, das kenne ich aus der U-Bahn in Berlin. Ich
springe aus dem ausrollenden Zug und will schneidig
die Bewegung auslaufen, da fällt mir das Stullenpaket
aus der Tasche und sein Inhalt verteilt sich auf dem
Bahnsteig. Ich trete darauf, und das mütterlich
geschmierte Butterbrot gibt mir Schwung, bis vor
Tante Waltrauds massive Schienbeine. Auf dem
Rücken liegend, schaue ich sie von unten an und
sage: „Hallo Tante Waltraud, schön dich zu sehen.“
Sie ragt wie ein massiver Turm über mir auf. Der
Anblick meiner Tante ist von hier unten besonders
beeindruckend. Meine Position hat den großen Vorteil,
dass ich nur die obere Hälfte ihres nun geröteten
Gesichtes sehen muss. Die untere Hälfte wird von
ihrem gewaltigen Busen wie von einem Gebirge verdeckt.
Mit einem Knurren, das einer Bulldogge Angst
machen würde, stellt sie mich mit einer Hand auf die
Füße. „Heb das auf und dann komm mit“, knurrt sie.
Missmutig zottel ich hinter ihr her. Na das fängt ja
schon mal gut an. Mein Vater sagte noch: „Arbeete da
mal n´bisschen mit und futter ordentlich, dann
kommt ooch wat dran an dir.“
Den Hintern der Tante vor meinen Augen, hoffe ich,
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dass nicht ganz so viel an mich drankommt.
Nach einer holperigen Fahrt mit einem Trabbi
kommen wir schließlich auf dem Hof an. Onkel
Walter sitzt auf der Küchenbank mit einer Zeitung in
den Händen, schaut mich über den Rand seiner Brille
an und murmelt eine halblaute Begrüßung. Tantchen
macht sich gleich daran das Mittagessen zu kochen.
Es soll Spaghetti Bolognese geben, die mag ich sogar.
Weil es warm ist, wollen wir auf der Veranda essen.
Eine Schüssel mit Spaghetti und eine mit Soße sowie
die Teller stehen in der Küche auf dem Tisch. Ich
greife mir die Schüsseln und trage sie eifrig nach
draußen. Zumindest ist das der Plan ...
„Sag mal, du bist ja wohl zu blöd einen Eimer Wasser
auszukippen!“, schallt es mir von der Tür entgegen.
Bedeppert schaue ich Tante Waltraud erneut vom
Boden aus an. In ihren eigentlich blauen Augen
ziehen nun Sturmwolken auf und schleudern felszertrümmernde
Blitze auf mich. Unangenehm heiß
brennt die Soße in meinem Schoß. Die Spaghetti, die
an mir wie Lametta an einem Weihnachtsbaum
hängen, sind schon etwas abgekühlt.
„Ich kann doch nichts dafür, mein Hemd hat sich am
Riegel verfangen, da hat´s mich hingelegt.“
„Nee, natürlich kannst du nix dafür. Du kannst ja nie
was dafür. Du bist ja wohl zu allem zu blöd.“
Nachdem ich die Sauerei weggemacht habe, gehe ich
zurück in die Küche. Onkel Walter sitzt immer noch
auf der Bank, er schaut mich kopfschüttelnd an, sagt
aber nichts und liest weiter in seiner Zeitung.
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Tante Waltraud kocht inzwischen ein neues Mittagessen,
sie wirft mir nur einen schnellen, finsteren
Blick zu. Ich habe so das Gefühl, als würde sie es
schon bereuen, mich eingeladen zu haben. Das
scheint ja gut zu laufen, mal sehen, wann sie endgültig
genug von mir hat. Bisher musste ich mich ja
nicht besonders anstrengen. Eine halbe Stunde
später sitzen wir dann zu dritt am Tisch und essen
schweigend.
Nach dem Essen nimmt mich die Tante mit, ich soll
ihr beim Weinabfüllen helfen. Dazu gehen wir in den
Keller, dort stehen fünf große Ballonflaschen aus
grünem Glas. Sie stellt einen Eimer vor einen der Ballons,
holt einen Schlauch und instruiert mich: „Du
musst sachte ansaugen, wenn es ganz oben ist, lässt
du es erst in den Eimer laufen und dann tust du den
Daumen drauf, so ... und dann in die Flasche.“
Sie zeigt mir, was ich tun muss. „Wenn dir was in den
Mund kommt, spucke es aus. Nicht runterschlucken!
Ich würde es ja lieber selbst machen, aber seit ich die
Prothese habe, geht das nicht mehr so gut.“
Ich setze den Schlauch an die Lippen und sauge. Ein
Schwall von süßem Erdbeerwein füllt meinen Mund.
Hm lecker, instinktiv schlucke ich ihn runter.
„Nicht schlucken, habe ich doch gesagt!“, werde ich
sofort ausgeschimpft.
Da ich den Daumen auch nicht draufgetan habe,
muss ich die Prozedur noch einmal wiederholen.
Diesmal sauge ich sachter und es funktioniert. Ein
kleiner Schluck ist aber doch wieder in meinem
Mund gelandet. Ich schlucke erst, als die Tante nicht
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hinsieht. Wir füllen jetzt den Ballon in Flaschen ab.
Mehrmaliges Ansaugen mit immer wieder einem
Extraschluck für mich, zeigt inzwischen seine Wirkung.
Mein Kopf fühlt sich ganz leicht an.
Nach dem Abfüllen gehen wir in den Stall. Tante versorgt
das einzige Zugpferd. Wie ich die beiden Kehrseiten
so von hinten nebeneinander betrachte, denke
ich: Tante Waltraud braucht doch gar kein Pferd,
ich bin mir sicher, sie könnte den Pflug allein ziehen.
Noch immer ziemlich beschwipst, eier ich mit
Rechtsdrall über den Hof. Da sehe ich, wie eine Ente
auf der Veranda ihre Notdurft verrichtet. „So nicht,
meine Liebe“, sage ich zu ihr und schnapp sie vom
Boden weg. „Das machen wir jetzt mal ordentlich!“
Schnurstracks gehe ich mit der zappelnden Ente zum
Toilettenhäuschen.
Das ist ganz aus
Holz, ungefähr hundert
Jahre alt und
riecht auch so. Ich
schiebe den Deckel
beiseite und halte
die Ente über das
Loch. „Hier kannste
das ordentlich
machen, du
dummes Ding“,
rede ich auf das
arme Tier ein. Da
zappelt das Ententier so stark, dass es mir aus den
Fingern gleitet und direkt durch das Loch in die
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Sickergrube fällt. Auf mein Rufen hin, kommt Onkel
Walter mit seinem Angelkescher und holt sie da raus.
Sie wird gleich darauf von ihm gesäubert und notgeschlachtet.
Sie schicken mich ins Bett, damit ich
nicht noch mehr Unfug anrichte.
Am nächsten Morgen, soll ich dann gleich nach dem
Frühstück helfen, das Heu zu wenden. Das kribbelt
ordentlich in der Nase, aber ich habs hinbekommen.
Danach soll ich das Schweinegatter säubern. Oh
Mann, wie das hier stinkt! Mit Harke und Schaufel,
einer Schubkarre, sowie mit viel zu großen Gummistiefeln
bewaffnet soll ich nun in das Gatter hinein.
Da ist aber noch eine recht große Sau drin, die mich
ärgerlich angrunzt, als ich mich ihr nähere. Ich habe
Angst vor diesem Riesenvieh. Die Harke vor mich
haltend versuche ich, die Sau in eine Ecke zu drängen.
Das gefällt der aber gar nicht. Aufgeregt grunzend
weicht sie mir immer wieder aus. Bis sie plötzlich
an mir vorbeistürmt, erst in die Schubkarre und
von da aus über das Gatter springt. Wie der Blitz ist
sie verschwunden. Bei dieser Aktion rempelt sie mich
um, in den viel zu großen Stiefeln habe ich keinen
Halt und setze mich voll in die Jauche.
Das Ganze hat einiges Getöse verursacht, was Tante
Waltraud auf den Plan ruft. Mit umwölkter Stirn
sieht sie wieder einmal auf mich runter.
„Du bist ja wirklich zu nichts zu gebrauchen“, sagt sie
nur und winkt resigniert ab.
Es vergeht einige Zeit, bis wir die Sau wieder zurückgebracht
haben. Jetzt muss ich mich erst mal ordentlich
schrubben, ich stinke bestialisch.
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Es ist Mittag darüber geworden und Essenszeit.
Heute soll es Ente mit Rotkohl und Klößen geben.
Eigentlich ja ein Festtagsessen wie die Tante meint.
Ich muss daran denken, wo die Ente gestern war, und
bekomme ein Würgen im Hals.
„Ich will das nicht essen“, bin ich widerspenstig.
„Du bist Schuld, dass wir sie schlachten mussten, also
iss jetzt auch.“
Doch ich esse nur von den Klößen mit der Soße und
den Rotkohl. Das Fleisch rühre ich nicht an.
„Weißt du, ich glaube, du gehörst hier einfach nicht
her. Du bist halt ein Stadtjunge. Geh und treibe da
deinen Unsinn. Gleich nachher rufe ich deinen Vater
an. Morgen bringe ich dich zur Bahn.“
Ich muss meinen Kopf senken, um mein Grinsen zu
verbergen. Das hat ja besser geklappt, als ich gehofft
habe; ich musste mich nicht mal anstrengen. Tante
und Onkel halten meinen gesenkten Kopf wohl für
Scham. „Mach dir nichts draus, mein Junge“, will
mich Onkel Walter trösten. „Für das Landleben muss
man geboren sein.“
Da kann ich ihm nur zustimmen.
Immer noch schlecht riechend aber fröhlich pfeifend
sitze ich am nächsten Morgen im Zug zurück nach
Berlin. Das waren erfreulich kurze Landferien, doch
ich werde sie sicher in Erinnerung behalten.
***
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34
Ajax und Timmy
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AJAX UND TIMMY
Ich stand in der prallen Sonne inmitten eines
Kamille-Feldes, um mich herum summten Bienen
und es kribbelte in meiner Nase. Ich will hier nicht
sein, ich will nachhause. Ich mag keine blöde
Kamille pflücken, das ist doof. Doch sie sagen, ich
muss das machen, so wie alle anderen auch.
Wir waren eine große Gruppe von Kindern, die im
DDR-Schulgarten verschiedene Arbeiten verrichten
sollten. Wir wohnten erst seit ein paar Tagen in
Prenzlauer Berg, der Schulwechsel erfolgte während
der großen Ferien. Im Osten herrschte ein strenger
Kommandoton, wir mussten uns in Reih und Glied
aufstellen und wurden dann gruppenweise für verschiedene
Arbeiten eingeteilt. Ich wäre lieber in
Kreuzberg geblieben, aber mein Vater hatte unsere
Freibank in die Pleite getrieben und musste den
Laden mit der Wohnung aufgeben. Jetzt wohnen wir
in einer riesengroßen, dunklen Wohnung, die mir
unheimlich ist. Warum er ausgerechnet nach Ost-
Berlin gezogen ist, habe ich nie herausgefunden.
Er hatte noch in Kreuzberg eine Ferienfahrt beim
Rathaus für mich beantragt. In ein paar Tagen sollte
ich nach Westfalen in ein Zeltlager fahren. Das war
mir sehr willkommen, wegfahren war eine tolle
Sache, dafür war ich immer zu haben.
Nachdem ich bereits zwei Wochen in diesem Ferienlager
war, kam auf einmal sehr viel Post aus Berlin.
Nicht für mich, aber für fast alle anderen.
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Es war Krieg in Berlin! Panzer waren aufgefahren,
Soldaten standen sich an der Grenze gegenüber ...
Wie sich dann nach und nach herausstellte, war es
nicht ganz so schlimm, aber schlimm genug. Ich und
einige der anderen Kinder wohnten in Ost-Berlin und
wir wussten nun nicht, ob wir zu unseren Familien
zurückkonnten. Ich hatte überhaupt keine Informationen,
niemand hatte mich benachrichtigt. Meine
Mutter hatte wahrscheinlich Schwierigkeiten, Post
aus Ost-Berlin zu schicken. Briefe dauerten oft ewig
von Ost nach West. Mein Vater war irgendwo mit
dem LKW in West-Deutschland unterwegs, ich
wusste nichts Genaues. Es beunruhigte mich nicht
besonders, ich hatte kein Heimweh, so wie viele der
anderen Kinder. Irgendwo würde ich schon unterkommen,
darüber machte ich mir keine Sorgen. Drei
Tage später war mein 8. Geburtstag im Jahr 1961,
eine Woche nach dem Mauerbau.
Eine Woche später, als uns der Reisebus auf dem Hof
vom Rathaus Kreuzberg absetzte, erwartete mich
mein Vater dort. Wir fuhren zu „Oma Wagner“, das
war nicht wirklich meine Oma, sondern die Mutter
seiner „heimlichen“ Geliebten. Jedenfalls wurde ich
vergattert, auf keinen Fall jemand zu erzählen, wo wir
wohnten. Es sollte auch nicht für lange sein, Vater
hatte neue Pläne: Er wollte eine Kneipe eröffnen.
Meine Mutter und meine Schwester waren noch
immer in Ost-Berlin, sie konnten nicht in den Westen
kommen. Ich hatte sie nur einmal kurz gesehen, von
einer erhöhten, hölzernen Plattform aus, die im
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Westen an verschiedenen Stellen errichtet wurden.
Dort konnten die Leute von der Ost-Seite noch dicht
an die Grenze heran. Wenn man laut sprach, konnte
man sich unterhalten. Meine Mutter warf mir einen
Teddy über die Mauer mit dem Stacheldraht zu, das
war mein Geburtstagsgeschenk. Sie hatte extra einen
grün-weiß gemusterten Anzug für ihn gehäkelt. Ich
drückte den Bären eng an mich. Dieser Teddy war
noch einige Jahre mein tröstender Begleiter.
Wir fuhren in den Wedding und schauten uns den
Laden an, der eine Kneipe werden sollte. Es musste
noch viel gebaut und renoviert werden. Nach drei
Wochen war es dann soweit, mein Vater war stolzer
Inhaber vom „Storchennest“. Diese Kneipe hatte
einen kleinen Nachteil: Es war keine Wohnung daran
angeschlossen, wir hatten keine. Im hinteren Teil des
Schankraums gab es eine Nische, die mit einer Falttür
abgetrennt wurde. Dort hatte mein Vater ein Bett
aufgestellt. Ich selbst schlief auf Matratzen in der
Zwischendecke über der Küche. Die war über eine
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Luke zu erreichen, dazu wurde ein Stuhl auf den
Küchentisch gestellt und ich kletterte daran hoch. Es
gab keine Lampe und kein Fenster dort oben, wenn
die Luke zu war, war es stockfinster und muffig. Mein
phantasieloser Vater meinte, da oben könnte ich
wenigstens keinen Unsinn treiben. Mit stibitzten
Kerzen und einer Taschenlampe konnte ich doch
etwas sehen und war zumindest unbeobachtet.
Ende November kam eines Abends mein Vater zur
Tür herein und hatte völlig unerwartet meine
Schwester dabei. Das war eine Riesenüberraschung.
Unsere Mutter sollte auch bis Weihnachten bei uns
sein, versicherte uns Vater. Meine vier Jahre ältere
Schwester bekam ihr Lager auch oben in der Zwischendecke,
es gab keinen anderen Platz. Insgesamt
verstanden wir uns ganz gut, auf Grund des Altersunterschiedes
gingen wir aber unsere eigenen Wege.
Dort oben hatten wir bis spät in der Nacht ununterbrochen
Beschallung durch die Musicbox aus der
Kneipe. Die Holzplatten, auf denen wir lagen, boten
einen guten Resonanzboden. Ich kenne noch heute
alle Schlager, die Anfang der Sechziger populär
waren auswendig. Das ist eine Hypothek, die ich nie
loswerden konnte. Wir wuschen uns an der Küchenspüle,
aßen im Schankraum und machten auch
unsere Schularbeiten dort.
Inzwischen war es ganz normal geworden, dass
Renate, seine Geliebte, bei uns war. Sie schlief auch
immer wieder bei ihm in der Nische. Renate hatte
einen kleinen, schwarzen Zwergpudel mit ebenso
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schwarzen Knopfaugen, er hieß Timmy. Gemäß ihrer
Aussage war er ein außergewöhnlich intelligenter
Hund. Jedenfalls gehorchte er ihr aufs Wort. Ich
mochte Renate nicht, ich fand sie zu schrill und arrogant.
Sie war stets stark geschminkt, hatte blondierte,
hochtoupierte Haare, ein schrilles, affektiertes
Lachen und war gerade neunzehn Jahre alt. Mit uns
Kindern gab sie sich nicht mehr als nötig ab, daran
hatte sie kein Interesse. Ich versuchte, immer wieder
mit Timmy zu spielen, aber der hatte nur Augen für
sein Frauchen. Ich durfte ihn auf keinen Fall am
Kopf anfassen, das hätte seine sorgfältig frisierte
Krone zerdrückt. Recht bald gab ich es auf mit ihm
spielen zu wollen. Das war nicht mein Hund.
Mitte Dezember war es dann soweit: Eines Abends
war meine Mutter da! Ich rannte sofort zu ihr und
umarmte sie, ich freute mich wie verrückt, sie hatte
mir doch sehr gefehlt. Weinend vor Freude lagen wir
uns in den Armen. Dann musste sie sich erstmal
rasch ausziehen. Sie hatte sich mehrere Kleidungsstücke
übereinandergezogen, da sie kein Gepäck dabei
haben durfte. In den ersten Monaten nach dem
Mauerbau war noch vieles provisorisch. Als West-
Berliner durfte man die Grenze mit einem Passierschein
überqueren. Diese Scheine waren einfache
Zettel und wurden von Hand ausgefüllt unter Vorlage
des Personalausweises. Mein Vater hatte eine Kopie
dieses Passierscheines angefertigt und sich den Ausweis
von Tante Martha ausgeliehen. Die beiden
hatten eine gewisse Ähnlichkeit. Mutter frisierte sich
die Haare wie sie und schminkte sich. So ausgerüstet
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fuhren sie über die Grenze und hatten Erfolg damit.
Da war ich sehr froh drüber.
Unser Alltag normalisierte sich ein wenig durch die
Anwesenheit meiner Mutter. Mein Vater trank nicht
mehr ganz so hemmungslos wie zuvor, ich hatte ihn
in den letzten Monaten fast nur noch betrunken
erlebt. Er war meist noch besoffen, wenn er morgens
aufstand. Renate ließ sich zunächst auch nicht mehr
sehen. Das Frühjahr kam, und ich in eine neue
Schule. Da ich die Klasse in Kreuzberg zu wenig
besucht hatte, kam ich erneut in die erste Klasse, zum
dritten Mal. Unser Klassenlehrer war der Herr Heinrich,
ein großer dürrer Mann, der gerne brüllte und
mit der Hand auf den Tisch schlug. Gelegentlich
bekam auch mal jemand eine Kopfnuss von ihm verpasst.
Noch ein anderes Problem wartete auf mich:
Alle Schulbücher waren in Druckschrift. Bisher
waren aber alle meine Lesefibeln in Schreibschrift
gewesen. Ich hatte Schwierigkeiten, die Texte flüssig
zu lesen, das warf mich wieder zurück. Auch mit dem
Schreiben hatte ich erhebliche Schwierigkeiten, ich
hatte eine fürchterliche Handschrift, groß, breit,
jeder Buchstabe in eine andere Richtung geneigt und
mehr als drei Wörter passten nicht auf eine Zeile.
Wenn wir ein Diktat schrieben, war ich schon nach
dem dritten Satz verloren, weil ich noch nicht mal
den ersten fertig hatte. Natürlich war ich auch hier
wieder „der Neue“ und alle waren mir fremd. Da ich
ein sehr verschlossener Junge war, bekam ich auch
keinen Anschluss. So war die Schule wenig erbaulich
für mich und bedeutete nur Mühsal und Drangsal.
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Ganz schlimm wurde es beim Sportunterricht, den
hasste ich aus vollem Herzen. Ich war zu der Zeit ein
spindeldürres Bürschlein, bestand nur aus Haut und
Knochen. Mit der Muskelmasse einer Maus hing ich
sowohl am Seil als auch an der Stange wie ein
Schluck Wasser und schaffte es keinen Meter hoch.
Unser Sportlehrer gab dazu seine lästernden
Kommentare ab. Das war demütigend und mir ausgesprochen
peinlich. So sehr, dass ich es immer
wieder schaffte mich vor dem Unterricht zu drücken.
In meinem Herbstzeugnis stand dann auch vermerkt:
„... nimmt nicht am Unterricht teil.“
Selbst wenn ich da war, war ich abwesend.
Ohne Freunde, ganz für mich allein, begann ich
meine neue Umgebung zu erkunden. Der Wedding
war ja absolutes Neuland für mich. Der Nordkanal
hatte es mir angetan. Dort gab es immer etwas zu
sehen oder zu entdecken. Manchmal stand ich einfach
nur bei den Anglern und schaute ihnen zu.
Schon kurz darauf kam neues Leben in unseren
Haushalt - Ajax kam zu uns. Ajax war ein verspielter
Deutscher Schäferhund, knapp ein Jahr alt. Den
schloss ich sofort in mein Herz, das war ein Hund
nach meinem Geschmack. Auf der gegenüberliegenden
Straßenseite gab es ein Brachgelände, dort
konnte ich mit ihm hin und einen Ball werfen oder
einfach mit ihm rumtoben. Doch auch diese Idylle
sollte nicht lange dauern. Zunächst tauchte Renate
immer öfter bei uns auf, sie wurde wohl von der
heimlichen zur offiziellen Geliebten meines Vaters.
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Eines Tages gingen wir zu dritt mit den beiden
Hunden in einen Park. Ajax trug sein Stöckchen im
Maul herum, einen armdicken Birkenzweig von etwa
einem Meter Länge. Den sollte ich weit fortwerfen
und er holte ihn voller Begeisterung zurück. Dieses
Spiel hatten wir schon so oft gespielt, doch innerhalb
eines Augenblicks wurde alles anders ...
Mein Vater stand mit Renate seitlich von mir und sie
schauten unserem Treiben zu. Renate hatte Timmy
auf dem Arm. Gerade schleuderte ich den Birkenstamm
wieder weit von mir, da sah ich aus dem
Augenwinkel, wie Timmy von Renates Arm sprang
und wie vom Katapult geschossen über den leicht
abschüssigen Rasen flitzte. Er war dabei so schnell,
dass er den Ast fast überholte - fast ...
Gerade am Ende der Flugkurve angekommen, traf
ihn der Stamm voll im Genick und er blieb ausgestreckt
liegen! Ich hörte Renate aufschreien und wir
liefen alle sofort zu Timmy. Der rührte sich nicht, gab
kein Lebenszeichen von sich. Mein Vater meinte, er
würde noch leben, vorsichtig hob Renate ihn auf und
wir rannten zum Auto. Mein Vater fuhr, so schnell er
konnte zu einem Tierarzt. Renate verfluchte mich
unterwegs unaufhörlich. Ich fühlte mich auch ohne
dem ziemlich mies. Aber ihr Geschimpfe weckte auch
einen Trotz in mir. Ich konnte nichts dafür! Sie hatte
ihn doch auf dem Arm. Sie hätte auf ihn aufpassen
müssen. Ich wartete mit Ajax im Auto, während sie
beim Arzt waren. Eine halbe Stunde später kamen sie
zurück - ohne Timmy. Er war tot! Renate war total
verheult und aufgelöst, die verlaufene Schminke zog
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schwarze Bahnen durch ihr Gesicht. Sie würdigte
mich keines Blickes mehr. Wir fuhren nach Hause
und mein Vater meinte, ich solle besser aus der Sicht
bleiben, das machte ich dann auch.
Meine Zeit, in der ich mit Ajax spielen durfte, war
dann auch bald vorbei. Vater sagte, er wäre jetzt in
dem richtigen Alter, er wollte ihn in eine Hundeschule
geben und dort scharf machen lassen. Zu
dieser Zeit bedeutete das nichts anderes, als den
Hund so lange zu prügeln, bis er so böse war, dass er
bereitwillig auf jeden losging. Ich hatte einmal
Gelegenheit, dabei zuzusehen. Mir tat der arme Ajax
einfach nur leid.
Doch schon bald wurde das alles bedeutungslos. Zwei
Tage, nachdem meine Mutter einen heftigen Streit
mit Renate hatte, riefen uns die Eltern zu sich und
eröffneten uns, dass sie sich trennen würden und bei
wem wir anschließend bleiben wollten. Das kam zwar
sehr überraschend für mich, dennoch habe ich keine
Sekunde gezögert, mich für meine Mutter zu entscheiden.
Nie werde ich den hasserfüllten Blick
meines Vaters vergessen, den er mir darauf zuwarf.
Meine Schwester blieb bei ihm. Nur wenige Tage
später lud er meine Mutter und mich in einer notdürftig
eingerichteten Einzimmer-Wohnung in
Kreuzberg ab. Ich war wieder in meinem alten Kiez,
jetzt mit meiner Mutter allein. Ein anderes Leben
begann ...
***
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Lothar
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LOTHAR
Es ist das Jahr 1964 und ich bin elf Jahre alt. Dieses
Jahr fährt die ganze Familie in den großen Ferien für
drei Wochen nach Dänemark. Es ist August und es ist
ein schöner Sommer. Wir haben ein Zelt auf einem
Campingplatz aufgebaut und Luftmatratzen aufgeblasen.
Das Wasser der Ostsee ist total klar, man kann
noch in einiger Entfernung vom Strand bis auf den
Grund sehen. Das macht das Angeln nach Flundern
besonders einfach. Papa hat ein Ruderboot ausgeliehen,
mit dem rudern wir nur ein kleines Stück
hinaus. Ein Stein, der an einem Seil befestigt ist, wird
ins Wasser geworfen, sodass wir nicht abtreiben. In
einem kleinen Laden gab es Angelsehne und Haken
zu kaufen. Wir versuchen es gleich mal mit einem
Dreierhaken. Nachdem ein Bleigewicht angeknüpft
ist, werden kleine Kugeln aus Brötchenteig auf die
Haken gesteckt und ins Wasser hinabgelassen. Wir
benutzen keine Angelruten, nur mit der Sehne in der
Hand, wird langsam der Haken dicht über dem
Grund hin und her bewegt. Schon kurz darauf tauchen
die ersten Flundern wie Schatten auf. Sie
umkreisen die Köder, bis schließlich eine versucht,
ihn zu fressen. Ein kurzer Ruck an der Sehne - und
die Flunder hängt am Haken. So geht das eine halbe
Stunde, teilweise können wir zwei Flundern auf einmal
herausholen. Dann sind zwölf Fische im Eimer
und das soll uns reichen. Papa zündet den Grill an
und wir machen uns daran die Flundern zu putzen.
Meine Schwester und Renate, meine Stiefmutter
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finden das erst total ekelig, aber später schmeckt es
ihnen dann doch.
Am nächsten Tag erkunde ich die Umgebung allein.
Hinter einem Hügel entdecke ich eine große Wiese,
auf der steht eine Koppel und darin ein kleines
schwarzes Pony. Das interessiert mich, das will ich
näher untersuchen. Als ich mich der Koppel nähere,
geht das Pony auf die gegenüberliegende Seite, weg
von mir. Ich versuche, es anzulocken. „Hallo mein
Kleiner, du musst doch keine Angst vor mir haben,
ich tu dir doch nichts.“ So rede ich noch eine Weile
auf das Pferdchen ein, aber es kommt nicht zu mir.
Als ich um die Koppel herumgehe, läuft es wieder auf
die andere Seite. Warum hat es nur so viel Angst? Ich
gebe es erst mal auf, beschließe aber, morgen mit
irgendeiner Leckerei wiederzukommen.
Das mache ich dann auch. Ich habe heimlich einen
Apfel stibitzt, den ich in vier Teile schneide. Wieder
entfernt sich das Pony von mir. Ich rede ihm gut zu
und werfe ein Stück vom Apfel zu ihm hinüber. Erst
weicht es davor zurück, dann schnuppert es aber
doch daran und frisst es schließlich. Das sehe ich
schon mal als Erfolg. Das nächste Stück werfe ich
nicht ganz so weit, mehr in die Mitte der Koppel. Das
holt es sich dann auch, sich langsam und vorsichtig
nähernd. Die ganze Zeit rede ich ihm dabei gut zu.
„Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten, ich will
nichts Böses. Ich bin auch ganz lieb.“ Das letzte Stück
liegt dann nur ungefähr zwei Meter von mir entfernt
und es nähert sich ihm erst nach langem Zögern. Es
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scheint ihm aber zu schmecken. Ich frage mich,
warum das arme Tier hier so ganz allein ist, eingesperrt
und einsam. Das tut mir leid. Es sieht auch
ziemlich mager aus, bekommt wohl nicht viel zu fressen.
Am Nachmittag gehe ich in den Ort, dort gibt es
einen kleinen Lebensmittelladen, in dem waren wir
schon mal. Der Besitzer, der Herr Wilmer, spricht
auch deutsch. Ich frage ihn, ob er etwas altes Brot
oder schrumpeliges Gemüse für ein Pferd hat. Er ist
ein freundlicher alter Mann und packt mir einiges in
eine Tüte. Stolz und froh dem Pferdchen etwas bringen
zu können, laufe ich schnell zu ihm. Zu meiner
Freude läuft es heute nicht ganz so weit von mir weg.
In einiger Entfernung bleibt es stehen und hebt
schnüffelnd den Kopf. „Ja schau mal, was ich dir
Schönes mitgebracht habe“, locke ich es an.
Als Erstes werfe ich ihm etwas Brot hin, das wird
geprüft und angenommen. Da sehe ich in einer Ecke
der Koppel einen Eimer stehen, er ist leer. Mit dem
Eimer laufe ich zu den Duschräumen auf dem Campingplatz
und fülle ihn mit Wasser. Den stelle ich in
die Koppel hinein und entferne mich etwas davon.
Das Pony hebt witternd die Nase und kommt näher.
„Na du Armer, hast du Durst?“ Es steckt den Kopf in
den Eimer und schlabbert das Wasser. Danach macht
es einen kleinen Hüpfer und läuft einmal in der
Koppel herum. Ich krame in der Tüte und schaue,
was ich ihm anbieten kann. Ob es wohl Bananen
mag? Zwei Stück sind in der Tüte, schon etwas
schwarz aber noch fest. Damit versuche ich nun, ihn
zu locken. Und das ist ein Volltreffer! Als er die
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Banane sieht, kommt er sofort näher. Er ist ein
Junge, darauf habe ich vorhin mal geachtet. Nur
knapp außer Reichweite bleibt er stehen und rollt mit
den Augen. Das sieht putzig aus. Ich werfe ihm eine
der Bananen zu. Er verschlingt sie gleich gierig. Oha,
die scheint er aber sehr zu mögen. Die andere Banane
behalte ich in der Hand, ich möchte so gern, dass er
sie sich von mir holt. Aber er bleibt immer noch auf
Abstand. Ich rede ihm weiter gut zu und endlich
nähert er sich ganz vorsichtig. Als ich ihm die Banane
entgegenhalte, macht er einen langen Hals und
nimmt sie aus meiner Hand. Ja genau, das ist toll, ich
freue mich total. „Na siehste, war doch gar nicht so
schlimm. Ich will doch dein Freund sein.“
„Wo treibste dir denn die janze Zeit rum?“, will Papa
wissen, als ich zum Campingplatz zurückkomme.
„Ich habe ein kleines Pony entdeckt, ich versuche,
mich mit ihm anzufreunden, aber es ist sehr ängstlich.“
„Mach bloß keen Unsinn, dat Pferd jehört ja irjendwem.
Ick will keen Ärjer ham.“
„Nee nee, ich hab ihm nur Wasser gegeben und altes
Brot. Ich mach schon keinen Ärger.“
Die Erwachsenen verstehen manchmal gar nichts.
Was soll denn daran falsch sein? Am nächsten
Morgen will ich gleich nach dem Frühstück zu ihm.
Ich habe mir heimlich zwei Bananen eingesteckt,
muss ja keiner wissen. Ein paar Stücke Zucker nehme
ich auch mit, das mögen Pferde wohl, das habe ich
mal in einem Film gesehen. Die Erwachsenen liegen
in ihren Liegestühlen und schmoren in der Sonne.
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Das ist nichts für mich, das macht mich nur müde.
Ich mache mich auf den Weg zu meinem Pferdchen.
Vielleicht sollte ich ihm einen Namen geben, dann
kann ich ihn rufen. Wie nennt man ein Pferd? „Fury“
fällt mir gleich ein, aber das finde ich blöd. Ich will
ihn „Lothar“ nennen, so hieß ein Freund, den ich mal
für eine kurze Zeit kannte. Der hatte auch so schwarzes
Haar. Den mochte ich gut leiden, aber wir sind
dann mal wieder weggezogen.
Als ich diesmal zur Koppel komme, läuft er nicht
mehr weg, er bleibt stehen und schaut mich an. Als
Erstes schaue ich in den Eimer, der ist natürlich leer.
Schnell laufe ich los und fülle ihn mit Wasser. Das
wird auch sofort angenommen. Es ist ja auch sehr
heiß und es gibt hier keinen Schatten. Dann rufe ich
ihn: „Lothar! Ab heute nenne ich dich Lothar, ok?“
Er schaut mich nur an, aber reagiert nicht auf meine
Worte. Als ich dann eine Banane hervorhole, reagiert
er sofort. Er bläht seine Nüstern auf, so heißt die
Nase beim Pferd, habe ich im Fernsehen gelernt. Er
kommt ein paar Schritte auf mich zu, bleibt dann
aber stehen. „Na komm her zu mir, Lothar. Ich habe
hier was Leckeres für dich.“ Er streckt den Kopf in
meine Richtung und schnüffelt, er scheint sehr
interessiert zu sein. Zögerlich kommt er Schritt um
Schritt näher. Ich winke mit der Banane, halte sie
diesmal aber nicht ganz so weit von mir weg. Es wäre
schön, wenn er sich näher trauen würde. Seine Liebe
zu Bananen scheint dann auch größer zu sein, als
seine Scheu vor mir. Vorsichtig nähert er sich und
nimmt mir dann ganz sachte die Banane ab. Langsam
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hebe ich meine Hand zu seinem Kopf. Er zuckt nicht
zurück, er lässt es sogar geschehen, dass ich sanft
über seine Mähne streiche. Toll! Ich könnte vor
Freude jauchzen, lasse es aber, das würde ihn
bestimmt erschrecken. Rasch gebe ich ihm noch die
zweite Banane. Er nimmt sie, dreht dann ab, macht
einen kleinen Hüpfer und gibt ein leises Wiehern von
sich. Das höre ich zum ersten Mal. „Ach Lothar, du
bist so ein feines Pferdchen, warum lassen sie dich
hier nur so allein?“ Ich rede alles Mögliche mit ihm
und nenne ihn möglichst oft beim Namen. Dann gehe
ich zum Laden und frage noch einmal nach Futter für
meinen Freund. „Für welches Pferd soll das denn
sein?“, fragt mich Herr Wilmer.
„Da ist ein kleines, schwarzes Pony, da hinten in
einer Koppel.“
„Ach das, ja das gehört dem Bauer Olson. Der sagte
mir mal, dass es sich nicht mit anderen Pferden verträgt.
Die haben es wohl weggebissen.“
„Ja, das hatte erst ganz viel Angst, aber jetzt ist es
besser. Heute durfte ich ihn das erste Mal streicheln.
Das war toll!“
Der Herr Wilmer schmunzelt und packt mir erneut
einige Sachen in eine Tüte. „Hier hast du was für
deinen Freund, aber gib ihm nicht alles auf einmal,
hörst du? Immer nur ein wenig pro Tag, sonst wird er
krank.“
„Ja gut. Vielen Dank Herr Wilmer, Sie sind ein netter
Mann.“
Wieder schmunzelt er. „Ist schon gut, mach ich
gerne. Sag mal, du kennst doch sicher diese kleinen
gelben Blumen, Löwenmaul heißen die wohl bei
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euch. Die findest du überall auf den Wiesen. Davon
kannst du ihm auch welche geben, die mögen sie und
sie sind gesund.“
„Ah, Sie meinen sicher die Butterblumen? Davon
gibts hier genug, das mache ich dann gleich.“
Freudig laufe ich zurück, es gibt auch bald Mittag, da
sollte ich mich sehen lassen. Nach dem Essen legen
sich die Eltern ins Zelt und wollen schlafen, und auf
keinen Fall gestört werden! Von mir ganz bestimmt
nicht, ich nehme meine Tüte und mache mich auf
den Weg zu Lothar. Unterwegs sammel ich noch eine
Handvoll Butterblumen für ihn. Diesmal kommt er
von sich aus an das Gatter, er läuft nicht mehr vor
mir weg. Das finde ich einfach großartig. Ich halte
ihm ein paar Butterblumen auf der flachen Hand hin
und er nimmt sie sanft mit seinen Lippen. Das fühlt
sich komisch an, aber gut. Sanft streichle ich ihn über
den Kopf und zause seine Mähne. Er lässt es geschehen,
streckt seinen Kopf zu meiner anderen Hand, zu
den restlichen Butterblumen. Der Tipp von Herrn
Wilmer war goldrichtig, die mag er wirklich gerne.
Ich gebe sie ihm dann auch noch. Der Eimer ist schon
wieder leer und ich hole schnell neues Wasser für
ihn. Während ich ihm beim Trinken zuschaue, rede
ich mit ihm. „Ach Lothar, du bist auch so ein Armer,
die ganze Zeit alleine, nichts zum Spielen, keine
Freunde. Weißt du was, ich kenne das. Ich bin auch
viel alleine und habe keine Freunde. Aber wenigstens
bin ich nicht eingesperrt. Na ja, zumindest nicht
immer.“ Lothar schaut mich mit seinen großen, braunen
Augen aufmerksam an. Da fallen mir die Zuckerstücke
ein. Ich lege zwei auf meine Hand und halte
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sie ihm hin. Er nimmt sie sacht mit seinen weichen
Lippen. Gleich danach gibt er erneut dieses leise Wiehern
von sich. Ich streichle gerade seinen Kopf, da
kommt er auf einmal näher heran und stupst mich
mit seiner Nase an der Schulter. Dann legt er seinen
Kopf darauf und dreht ihn ein wenig hin und her,
reibt ihn daran. Ich bin wie erstarrt, damit habe ich
nun gar nicht gerechnet. Mir schießen die Tränen in
die Augen - ich bin so glücklich. Langsam und
bedächtig streichle ich seinen Kopf, es ist ein wunderbarer
Augenblick. Dann nimmt er seinen Kopf
zurück, wiehert leise und trabt in der Koppel herum.
Ich glaube, wir sind gerade richtige Freunde
geworden. Das macht mich so froh, ich könnte platzen
vor Freude. Am liebsten würde ich es der ganzen
Welt erzählen. Aber ich weiß schon, dass es die
Erwachsenen nicht interessieren wird. Meine
Schwester ist auch schon zu erwachsen mit ihren
fünfzehn Jahren. Sie will immer sein wie die Großen.
Es soll eine Sache zwischen Lothar und mir sein. Was
gehts die Anderen an. Ich besuche und versorge
Lothar jetzt jeden Tag und er hat nun gar keine Scheu
mehr vor mir. Ich darf ihn streicheln und kosen und
rede immer ganz zärtlich mit ihm. Er ist mir total ans
Herz gewachsen, ich liebe ihn.
Als ich ihn am nächsten Tag besuchen will, sehe
ich schon von Weitem, dass die Koppel leer ist. Ich
bin verzweifelt, wo mag mein Lothar nur hin sein?
Noch nie habe ich gesehen, dass sich irgendjemand
um ihn gekümmert hätte, aber nun ist er fort. Todtraurig
kehre ich zum Campingplatz zurück. Mir ist
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der ganze Tag verdorben, ich könnte heulen. Mein
lieber Freund ist fort und ich konnte mich nicht einmal
von ihm verabschieden. Was ist das nur für ein
Scheißleben? Von den Erwachsenen fällt niemand
auf, dass ich den ganzen Tag nur still in einer Ecke
sitze. Ach, die können mich alle mal. Denen ist doch
sowieso alles egal, was mir wichtig ist. Meine Trauer
wird langsam zu Wut, ich möchte irgendwas kaputt
machen. Will mir irgendwie Luft verschaffen. Warum
werden mir immer meine Freunde weggenommen?
Das ist so ungerecht, das ist so gemein. Aber wen
interessiert das schon? Niemand! Dieser Tag geht
sehr unglücklich zu Ende.
Am Tag darauf will ich einfach nur schauen, ob sich
vielleicht etwas geändert hat - und wirklich - mein
Lothar ist wieder da! Sofort renne ich zu ihm, er
begrüßt mich mit einem freudigen Wiehern. Er
kommt gleich ans Gatter und erwartet mich. „Mensch
Lothar, wo warst du denn bloß? Ich dachte schon, ich
sehe dich nie mehr. Ich bin ja so froh, dass du da
bist.“ Er reibt seinen Kopf an meiner Schulter und
wiehert leise. Ich glaube, er ist auch froh, mich
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wiederzusehen. Heute ist sogar Wasser in seinem
Eimer und Heu liegt in einer Ecke und irgendeine
Streu. Sein Fell ist gebürstet worden, es glänzt jetzt
mehr. „Haben sie dich doch nicht ganz vergessen,
was mein Freund? Das ist schön, das freut mich.“
Lothar ist heute übermütig, er trabt in der Koppel
herum, kommt zu mir, stupst mich an und trabt
weiter. Ich verstehe das als Aufforderung, mit ihm zu
spielen. Entschlossen mache ich etwas, das ich bisher
noch nicht getan habe: Ich bücke mich unter dem
Gatter hindurch und stehe bei ihm in der Koppel. Er
wiehert und trabt an mir vorbei. Als er das nächste
Mal bei mir vorbeikommt, laufe ich neben ihm her,
mit ihm zusammen im Kreis durch die Koppel. Das
macht einen Heidenspaß, aber ich komme recht bald
außer Puste, ich kann nicht mehr. „Ja, schau nur ...
du hast es leichter ... mit deinen vier Beinen“, sage
ich japsend und lachend zu ihm. Dann gebe ich ihm
die letzten zwei Zuckerstücke die ich noch in der
Hosentasche habe. Ich muss gehen, die Eltern wollen
irgendwo hinfahren, ich sollte schon längst bei ihnen
sein. Das gibt bestimmt wieder mal Ärger, aber das
ist mir völlig egal. Heute scheint die Sonne wieder
heller, zumindest für mich.
Es sind ein paar Tage vergangen, jeden Tag war ich
bei Lothar und habe mit ihm gespielt und ihn liebgehabt.
In zwei Tagen fahren wir zurück nach Berlin.
Die Schule fängt nächste Woche an. Ich bin jetzt
schon traurig, dass ich Lothar dann nicht mehr
besuchen kann, nicht mehr mit ihm spielen kann.
Ihm konnte ich von all meinen Sorgen erzählen, er
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hat immer geduldig zugehört. Als ich am Nachmittag
zu ihm will, meint mein Vater: „Mach uns doch mal
mit dein neuen Kumpel bekannt. Muss ja nen dollet
Pferd sein, wenn de ständich zu ihm hinrennst.“
Schließlich tauchen wir dann zu viert an der Koppel
auf. Lothar wittert und zieht sich schon etwas zurück.
Beruhigend rede ich ihm zu und er kommt schließlich
zu mir. Papa sagt nur abfällig: „Dat is ja man nen
mickriger Gaul. Wejen dem machste so´n Jewese?
Ick dachte, dit wär nen richtjet Reitpferd.“
Ich denke bei mir: „Oh Mann, hätte ich ihm nur nie
was von Lothar erzählt.“
Dann meint er auch noch: „Biste denn schon mal uff
ihm jeritten?“
Nein, bin ich nicht. Ich hatte nur ganz kurz mal daran
gedacht, es dann aber sein lassen. Es schien mir nicht
richtig zu sein. Ich wollte ihm nicht meinen Willen
aufzwingen, wollte meinen Freund nicht benutzen. Es
reicht mir, mit ihm zu spielen, neben ihm herlaufen
zu können. Seine liebevolle Zuwendung ist alles, was
ich will. Aber das reicht meinem Vater nicht. Er greift
mich unter den Achseln und mit den Worten: „Ick
zeich dir mal, wie man dit macht“, hebt er mich über
das Gatter und setzt mich auf Lothars Rücken. Ich
bin nur ein kleiner schmaler Kerl und wiege nicht
viel. Aber Lothar ist doch erschrocken, das merke ich.
Ich beuge mich über seinen Hals und streichle ihn,
will ihn beruhigen. Ich kann spüren, wie er zittert,
und will sofort wieder von ihm runter. In dem Augenblick
haut ihm mein Vater mit voller Wucht auf den
Hintern, will ihn wohl antreiben. Lothar macht einen
erschrockenen Satz nach vorn und ich falle von
58
seinem Rücken auf den Boden. Das ist nicht so
schlimm, ich tu mir nicht doll weh dabei. Aber ich bin
entsetzt, mit welcher Brutalität mein Vater gegen
meinen Freund vorgeht. Laut kreische ich auf: „Was
machst du denn! Der arme Lothar, warum schlägst
du ihn?“
Mir schießen die Tränen in die Augen, ich fange laut
an zu heulen. „Du bist so ein fieser, gemeiner Kerl,
ich hasse dich!“
„Nu mach ma langsam Bursche, stell dir nich so an
wejen dem blöden Gaul.“
„Das ist kein blöder Gaul, das ist mein Freund. Du
bist blöd.“
Gebe ich ihm trotzig und unter Schluchzen zurück.
„Wat sachste? Na warte man Bürschchen, komm du
mir mal nach Hause, dann zeich ick dir jenau wie
blöd ick bin.“
Ich will zu Lothar und ihn trösten, doch er weicht vor
mir zurück. Das ist zu viel für mich.
Laut heulend laufe ich in die Dünenlandschaft
hinein, will nur weg von diesem schrecklichen Kerl.
Will ihn nie mehr sehen müssen. Es gab vorher schon
viele Sachen, für die ich ihn gehasst habe, aber das
heute, ich weiß nicht wie ich das ertragen soll. Immer
tiefer laufe ich in die Dünen hinein, mich ständig
umsehend, ob mich dieser Unhold verfolgt. Aber das
ist es ihm wohl nicht wert. Es ist niemand zu sehen.
Ich finde einen alten Strandkorb, der schon an ein
paar Stellen beschädigt ist und schief in der Landschaft
steht. Dort kletter ich hinein und kann ihn fast
zuziehen, so bin ich nicht zu sehen.
59
Vom vielen Heulen tut mir jetzt der Hals weh. Ich
hätte gerne was zu trinken. Aber hier gibt es weit und
breit nichts außer Sand und hartem Gras. Ich
beschließe abzuhauen, ich will auf keinen Fall zu
diesem fürchterlichen Menschen zurück. Es ist mir
egal, was aus mir wird. Hauptsache ich muss diesen
Grobian nie mehr sehen.
Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Als ich
wach werde, friere ich und es ist dunkel. Mein Magen
knurrt, wie spät mag es wohl sein? Ist mir jetzt aber
auch egal, ich will jedenfalls nicht zurück, ich bleibe
lieber hier. Nach einiger Zeit höre ich Rufe: „Hansi!“
„Haaansi!!“
Das ist die Stimme von meiner Schwester. Ich verkrieche
mich tiefer, bleibe ganz still. Ich will nicht,
dass sie mich finden. Tun sie aber. Als ich durch eine
Lücke nach draußen spähe, kann ich die schwankenden
Lichter von mehreren Taschenlampen sehen.
Scheiße, den weißen Strandkorb kann man auch im
Dunkeln kaum übersehen. Es dauert dann auch gar
nicht lange, bis jemand den Strandkorb öffnet,
hineinleuchtet, mich packt und nach draußen zerrt.
Natürlich ist es mein Vater. Ich fange mir gleich erst
mal eine rechts und links. Dann packt er mich am
Arm und zerrt mich hinter sich her. „Dir werd ick zeijen,
einfach wegrennen und wir die halbe Nacht
hinterher. So nich, Freundchen.“
Als wir am Campingplatz ankommen, bekomme ich
meine versprochene Tracht Prügel. Danach schmeißt
er mich im Zelt in eine Ecke und sagt: „Da bleibste
bis wir abfahrn, ick will dir draußen nich mehr sehn.“
60
Ich warte eine Weile, bis ich sicher sein kann, das alle
fest schlafen. Dann krieche ich ganz vorsichtig unter
der Zeltwand hindurch und bin draußen. Schnell
laufe ich zu Lothar, ich will mich unbedingt von ihm
verabschieden und sehen, ob es ihm gut geht. Eine
Wasserflasche und ein paar Bananen habe ich mitgenommen.
Mein Magen knurrt immer noch, seit
dem Mittagessen habe ich nichts mehr gegessen. Als
ich bei der Koppel ankomme, weicht Lothar zurück.
Ich rufe ihn und er nähert sich mir vorsichtig.
„Mensch Lothar, sei doch bitte nicht böse mit mir.
Ich kann doch auch nichts dafür. Ich wollte das doch
alles nicht. Bitte sei wieder lieb zu mir, ich bin doch
dein Freund.“
Das alles sage ich unter Tränen, meinen geliebten
Freund zu verlieren, tut mir mehr weh, als die Prügel
vorhin. Nach einer Weile kommt er näher. Ich setze
mich an das Gatter und lehne mich dagegen. „Weißt
du, mein Vater ist ein blöder Idiot und ein Grobian.
Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich will ja schon
lange weg von ihm, aber er lässt mich nicht. Was soll
ich nur machen? Ich bin so verzweifelt. Wenn du jetzt
auch nicht mehr mein Freund sein willst, habe ich
niemand mehr, dann bin ich wieder ganz allein.“
Das alles erzähle ich ihm, bis ich auf einmal sein weiches
Maul an meiner Schulter fühle. Er stupst mich
an und wuselt in meinen Haaren herum. Ich möchte
ihm um den Hals fallen, aber davor weicht er zurück.
„Ist schon ok, ich bleibe hier sitzen, brauchst keine
Angst haben.“
Langsam nähert er sich wieder. „Ich habe hier drei
Bananen, wollen wir uns die teilen? Ich habe einen
61
Bärenhunger, ich kann sie dir nicht alle geben.“
Ich reiche ihm eine, er nimmt sie sachte an. Dann
esse ich selbst eine, das tut gut. Die Letzte teile ich
brüderlich und gebe ihm die Hälfte. Ich erzähle ihm
von meinem tristen Leben in Berlin und wie viel
lieber ich bei ihm leben würde. Da wird es auch schon
hell und ich muss zurück, bevor die Alten aufwachen.
Ein letztes Mal streichle ich Lothars Kopf, dann laufe
ich blind von Tränen zum Zelt zurück. Mein Vater ist
natürlich schon wach. Ohne ein weiteres Wort verpasst
er mir ein paar saftige Ohrfeigen und schmeißt
mich dann auf den Rücksitz vom Auto. Er verriegelt
die Türen und ich kann nicht mehr weg. Unser Auto
ist ein Taxi, da ist alles gesichert, auch die Scheiben
gehen nicht runter.
Von diesem Tag an habe ich mich geweigert, „Papa“
zu ihm zu sagen, es gab nur noch „Vater“. Auch dafür
habe ich mehrmals Prügel bezogen, aber ich blieb
stur. Ich hatte keinen Papa mehr.
***
62
Krueger Park
63
KRÜGER PARK
Punkt sechs Uhr früh stehe ich an der Gangway. Ole
erscheint zünftig in Khaki gekleidet, eine eindrucksvolle
Gestalt. Wir müssen noch ein Stück weit bis zu
einer Autovermietung laufen. Dort steht ein
Landrover für uns bereit. Lourenço Marques ist nicht
weit von der südafrikanischen Grenze entfernt. Bis
zur Station im Krüger-Park sind es knapp
sechshundert Kilometer. Ole rechnet mit rund acht
Stunden Fahrt.
Nachdem wir die Grenze von Moçambique hinter uns
gelassen haben, verändert sich die Umgebung
schnell, es wird trockener, staubiger. Die Vegetation
ist spärlicher. Dafür wird es immer heißer. Die
Landschaft wird steiniger und es geht bergan. Der
Zustand der Straßen lässt zu wünschen übrig, es gibt
viele Schlaglöcher und versandete Stellen. Es ist
herrlich, so über die Piste zu jagen. Der Verkehr ist
nur spärlich und wir kommen gut voran. Da Ole nur
selten die Geschwindigkeit spürbar verringert, wirft
es uns im Auto hin und her. Wer braucht da noch
eine Achterbahn? Ich bin entzückt, mir macht das
einen Heidenspaß. Den größten Teil der Fahrt
verbringen wir in entspanntem Schweigen, nur
gelegentlich von kurzen Wortwechseln unterbrochen.
Mir ist das recht, so kann ich die Landschaft und die
Atmosphäre des Landes in mich aufsaugen. Alles,
was ich sehe, gefällt mir ausnehmend gut. Ein
unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmt mich.
64
Davon habe ich immer geträumt: Frei wie ein Vogel
im Sonnenschein durch eine tropische Landschaft
fahren, an der Seite eines patenten und verlässlichen
Kameraden. Was kann es Schöneres geben?
Nach gut sieben Stunden kommen wir schließlich an.
Die Station besteht aus ein paar hufeisenförmig
angeordneten Hütten. An der offenen Seite befinden
sich verschiedene Tiergatter. Es ist nur eine kleine
Außenstation. Ein älterer Mann begrüßt uns herzlich.
Er heißt Albert und ist ein Freund von Ole. Und dann
geht mir das Herz auf. Aus einer der Hütten kommt
ein großes, schwarzes Tier - ein Neufundländer!
Der Lieblingshund meiner Kindertage. Nie habe ich
ein Tier mehr geliebt als unseren Herkules.
Er kommt gemächlich auf uns zu getrottet.
„Das ist der Rover“, wird er vorgestellt.
Ich geh auf die Knie und nehme Kontakt zu ihm auf,
er reagiert sofort. Er beschnüffelt mich von allen
Seiten, was ich still geschehen lasse. Zum Schluss
schleckt er mir das Ohr aus und macht leise und
verhalten „wuff“. Jetzt bin ich dran, mit tiefer
Stimme brummelnd zause ich ihn im Genick und
kraule ihm Brust und Bauch, dann den dicken
Schädel, er lässt es willig geschehen, drückt mit
seinem Kopf gegen meine Hand. Jetzt sind wir
Freunde.
Albert hat uns die ganze Zeit beobachtet und nickt
beifällig. „Du bist in Ordnung.“
„Ach ja? Warum glaubst du das?“
„Ich muss nichts glauben. Wenn der Rover dich mag,
65
ist das so.“
„Ich hab ihn schon ins Herz geschlossen.“
Das Mittagessen ist gerade vorbei, doch für uns gibt
es noch etwas. Eine dampfende Schüssel mit
verschiedenem Gemüse und Fleischstücken darin,
sieht gut aus. Gleich der erste Bissen treibt mir den
Schweiß auf die Stirn und die Tränen in die Augen.
„Scheiße ist das scharf!“, kann ich mir nicht
verkneifen. Albert liegt fast unter dem Tisch vor
Lachen. Hastig stopfe ich mir von dem Fladenbrot in
den Mund. Der brennt wie die Hölle. Von dem Zeug
will ich nicht noch mal probieren und beschränke
mich auf Brot und Bananen, was mich auch satt
macht.
Albert ist ein Mann in den Fünfzigern mit grau
meliertem Haar und vielen Runzeln im wettergegerbten
Gesicht. Ich war überrascht, dass er
Deutscher ist. Ole hatte mir nur gesagt, dass er hier
einen Bekannten hätte, mir aber nichts weiter über
ihn erzählt. Das macht er am Abend selbst.
„Wie ich hierher gekommen bin? Ich geb dir mal die
Kurzfassung. Ich stamme aus Rostock, aus der DDR.
Damals bin ich ein paar Jahre Seemann gewesen.
Später bin ich dann nach Nigeria gekommen und
wurde da als Aufseher auf einer Plantage eingesetzt.
Als es hieß, ich solle wieder zurück, hab ich mich
nach Südafrika abgesetzt und dort Asyl beantragt.
Das habe ich auch bekommen. Später habe ich dann
geheiratet und die südafrikanische Staatsbürgerschaft
angenommen. Kurz danach die Scheidung und
66
jetzt bin ich hier und sehr zufrieden damit.“
Ich bin beeindruckt von diesem Lebenslauf.
„Wolltest du nie zurück?“
„Nee, nie! Ich hab hier alles, was ich brauche. Hier
bin ich zuhause.“
Zuhause, das ist für mich nur ein Begriff. Der Ort, an
dem ich abends schlafen gehe, nicht mehr. Vielleicht
bekommt er hier eine andere Bedeutung für mich.
Während Albert sich seine Pfeife stopft, fragt er mich:
„Und du? Wie kommt es, dass du dich so gut auf
Hunde verstehst? So zutraulich habe ich den Rover
noch nie erlebt, sonst lässt er niemand an sich heran,
abgesehen von mir.“
„Ich spreche seine Sprache, das hat er gemerkt.“
„Ach nee, wie denn das?“
Er schaut mich zweifelnd an, sodass ich lachen muss.
„Nee, das ist Quatsch, oder doch nicht, ich weiß es
nicht. Wir hatten einen Neufundländer, als ich noch
ein kleiner Junge war, mit dem war ich zusammen, so
oft es nur ging. Ich habe ihn sehr geliebt. Keinem
anderen Hund war ich so eng verbunden wie
unserem Herkules. Wir waren ein Herz und eine
Seele.“
Dann erzählt er uns, dass sie übermorgen einen
Tiertransport nach Rhodesien haben. Zu einem
Tierpark, der sich dicht bei den Victoriafällen
befindet. „Ihr könnt gerne mitkommen, wenn ihr
wollt. Ich deklariere euch als Tierpfleger.“
Das wollen wir uns natürlich nicht entgehen lassen.
Die Victoriafälle sollen ja überaus beeindruckend
67
sein. Aber erst mal gehen Ole und ich schlafen, es war
ein langer, anstrengender Tag und wir sind beide
müde.
Um acht Uhr gibt es hier Frühstück, das ist schon mal
eine angenehmere Zeit als an Bord. Ich schlafe doch
so furchtbar gerne. Eine Stunde mehr ist eine feine
Sache. Als wir alle an dem großen Tisch vor der
Küchenhütte sitzen, kommt Rover getrottet und legt
sich unter dem Tisch direkt auf meine Füße. „Das
macht er sonst nur bei mir“, kommentiert das Albert.
Ist er etwa eifersüchtig? Die gesamte Mannschaft der
Station sitzt am Tisch, insgesamt sind es fünf Männer
und die Köchin. Alle Mitarbeiter sind Schwarze. Hier
wird offensichtlich anders mit der Rassentrennung
verfahren. Das gefällt mir. Ich spreche Albert darauf
an. „Ah, weißt du, wir haben hier draußen unsere
eigenen Wege. Wir müssen hier einer für den
anderen einstehen, uns aufeinander verlassen
können. Daraus entsteht zwangsläufig Kameradschaft
und Respekt. Offiziell leben wir sauber
getrennt. Falls mal eine Inspektion kommt, sehen die
auch nichts anderes. Aber die sind weit weg und
lassen sich hier nicht oft blicken. Ist fast wie damals
in der DDR: Zeig den Bonzen was sie sehen wollen,
dann können sie zufrieden wieder abziehen.“
In der Dämmerung soll es eine Jagd auf Wildhunde
geben. Sie haben sich zu stark vermehrt und
gefährden die Antilopenbestände, erklärt mir Albert.
„Hast du schon mal geschossen?“, fragt er mich.
Nein, habe ich natürlich nicht. Im Berliner
68
Großstadt-Dschungel wird nicht mehr mit dem
Gewehr gejagt. Albert zeigt mir, wie man mit dem
Gewehr schießt. Zum Üben müssen Dosen und
Holzstücke herhalten. Nach vier bis fünf Schüssen
wird meine Trefferquote deutlich besser. Aber meine
Schulter schmerzt von den Rückschlägen.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang beziehen wir
unsere Posten. Wildhunde jagen am liebsten in der
Dämmerung. Wir liegen auf einem kleinen Hügel,
gedeckt von hohem Gras. Mit der untergehenden
Sonne fängt eine schlimme Plage an: Moskitos! Ich
hasse Moskitos! Sie sind einer der Gründe, warum
ich an keinen Gott glauben kann. Schon gar nicht an
einen Barmherzigen. Kein barmherziges Wesen
könnte sich so eine Gemeinheit ausdenken. Ich
bedecke mich, so gut es geht, und ertrage mein
Schicksal. Selbst Rover, der die ganze Zeit still neben
mir gelegen hat, schüttelt unruhig den Kopf und
schnappt immer wieder in die Luft.
Dann taucht tatsächlich ein Rudel Wildhunde auf,
gut zu erkennen an ihrem braun-weiß gescheckten
Fell und den weißen Spitzen ihrer Ruten. Es ist ein
ohrenbetäubender Lärm, wenn acht Gewehre
gleichzeitig feuern. Der Pulverdampf brennt in Augen
und Nase. Der Spuk dauert nur wenige Minuten.
Dann ist völlige Stille. Von dem Rudel ist nichts mehr
zu sehen. Vereinzelt sehe ich dunkle Umrisse am
Boden liegen. Im letzten Tageslicht gehen wir nach
unten. Das Gezirpe der Zikaden und das Vogelgezwitscher
haben wieder eingesetzt. Acht
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Wildhunde sind uns zum Opfer gefallen. Ich weiß,
das ist unwaidmännisch, aber ich empfinde es so. Die
Kadaver stinken erbärmlich. Es ist ein rauer
archaischer Geruch, von Blut und Wildheit. Rover
beschnüffelt sie, rührt sie aber nicht an. Guter Hund!
Schnell ist es dunkel geworden. Nur mit
Scheinwerferlicht suchen wir den Weg zurück zur
Station. Beim Abendessen sprechen alle über die
Jagd. Albert spricht mit seinen Männern auf Suaheli,
einer seltsamen Sprache, voller Kehl- und Klicklaute.
Er hat meine bedrückte Stimmung bemerkt. „Na
Junge, hat´s dir nicht gefallen?“
„Von gefallen kann ich da wirklich nicht sprechen. Es
war interessant und lehrreich.“
„So? Was hast du denn gelernt heute?“
„Hm, in erster Linie, dass ich nicht noch mal an so
einer Jagd teilhaben möchte. Als ich diese toten Tiere
sah, haben sie mir einfach nur leidgetan. Es waren
doch auch nur Wesen, die gemäß ihrer Art leben
wollten.“
„Das ehrt dich, aber schau mal, wir müssen ihre
Anzahl kontrollieren, sonst werden sie zu einer
Gefahr für unsere Antilopen. Diese Wildhunde sind
clevere, kleine Mistkerle. Sie jagen immer im Rudel -
sehr effektiv. Wir haben heute gerade mal acht von
ihnen erwischt. Eine Hündin wirft in einem Wurf das
Doppelte. Bei nur siebzig Tagen Tragzeit. Die
vermehren sich wie die Karnickel.“
„Das mag schon alles sein. Nur, wer entscheidet
welches Leben wert und welches unwert ist? Spielen
wir nicht Gott? Ja, das tun wir, und warum? Ich weiß,
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weil wir es können. Aus keinem anderen Grund, nur
weil wir es können, die Macht dazu haben. Ich kann
mich damit einfach nicht anfreunden.“
Lange sieht mich Albert an.
„Du bist ein bemerkenswerter junger Mann.“
„Hab ich dir doch gesagt“, stimmt ihm Ole auch noch
zu. Mir ist das peinlich. Ich spüre, wie meine Wangen
heiß werden, und bin froh, dass ein Feuer die einzige
Lichtquelle in der Nähe ist.
Etwas Nasses fährt durch mein Gesicht. Ich öffne
meine Augen und schaue in die treuen braunen von
Rover. Er legt den Kopf schief und hechelt mich an.
Wer wollte da nicht aufstehen? Ich kraule ihn hinter
dem Ohr, das mag er besonders gerne. Heute ist der
Tiertransport, das wird sicher spannend. Gleich nach
dem Frühstück fahren wir ab. Die anderen
Tierpfleger sind schon früher los, sie verladen die
Tiere. Nach einer halben Stunde Fahrt kommen wir
auf einem kleinen Flughafen an. Erkennbar nur
71
durch die Miniausgabe eines Towers. Aus irgendeinem
Grund habe ich angenommen, dass wir die
Tiere mit LKWs transportieren.
Aber nein, wir werden fliegen! Ich bin noch nie
geflogen. Als ich die Maschine sehe, mit der wir
abheben sollen, rutscht mir doch das Herz ein wenig
tiefer. Sie sieht aus wie eine Wellblechhütte, an die
rechts und links Tragflächen geschraubt wurden und
vorne zwei Propeller. Es fällt mir schwer, zu glauben,
dass dieses Ding in die Luft kommt und dann auch
lange genug dortbleibt! Eine Landung damit - meine
Fantasie sträubt sich gegen diese Vorstellung. Zu
fünft werden wir verschiedene Antilopen, zwei Zebras
und einen noch recht kleinen Elefanten begleiten. Sie
stehen bereits an Bord in ihren jeweiligen Boxen.
Dann geht es los. Das Flugzeug rumpelt mit laut
dröhnenden Motoren über die Piste, die man hier als
Startbahn bezeichnet. Als ich schon befürchte, dass
wir es nicht schaffen, hebt die Maschine kurz vor dem
Ende der Bahn ganz gemächlich ab. Langsam
gewinnen wir an Höhe. Gut tausend Kilometer Flug
liegen vor uns, etwa vier Stunden soll er dauern.
Ole und ich gehen nach hinten und helfen den beiden
Tierpflegern dabei, die Tiere zu beruhigen. Wir
streuen ihnen Heu und anderes Grünzeug hin und
reden beruhigend auf sie ein. Der kleine süße Elefant
hat es mir angetan. Ich streichle ihn und mit tiefer
Stimme brummend, gelingt es mir, ihn zu
entspannen. Er legt mir seinen Rüssel über die
Schulter und gibt glucksende Geräusche von sich.
Einer der Tierpfleger nickt mir anerkennend zu. Ich
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scheine es instinktiv richtig zu machen. Durch eine
der Sichtluken kann ich Afrika von oben sehen. Eine
Herde Gnus zieht unter uns vorbei, auch eine Gruppe
Elefanten kann ich erkennen. Ich weiß gar nicht, wo
ich bei all dem zuerst hinschauen soll.
Die Zeit geht schnell vorbei. Schon höre ich den
Piloten mit dem Tower reden und wir machen uns für
die Landung bereit. Dieser Flughafen verfügt sogar
über asphaltierte Landebahnen, so setzen wir überraschend
sanft auf. Nachdem Albert den umfangreichen
Papierkram abgewickelt hat, ziehen wir
weiter. Die Tiere sind in der Zwischenzeit auf
bereitstehende LKWs verladen worden. Es ist nur ein
recht kurzer Weg zum Tierpark. Nachdem die Tiere
übergeben sind, gehen wir Mittagessen. Als Nächstes
stehen die Victoriafälle auf dem Programm. Ein
wenig konnte ich davon schon aus der Luft sehen,
aber eigentlich war nur eine große Wolke inmitten
von Grün zu sehen. Albert sagt, er kennt eine
geeignete Stelle.
Von dort haben wir einen guten Ausblick in eine
große Schlucht hinein oder in eine Reihe von
Schluchten. Soweit man sehen kann, stürzt überall
Wasser von der Kante, wobei die eigentliche Höhe
kaum zu erkennen ist, da die Gischtwolken das
Meiste verdecken. „Der Sambesi führt um diese Zeit
sehr viel Wasser, da kann man nicht viel sehen“,
erklärt uns Albert. Es ist dennoch ein majestätischer
Anblick, die schiere Größe ist schon beeindruckend.
Bald machen wir uns wieder auf den Weg zum
Flughafen. Es liegen weitere vier Stunden Flug vor
73
uns und wir wollen auf jeden Fall noch vor Einbruch
der Dunkelheit landen. Dafür bin ich auch sehr! Auf
dem Weg dorthin, entdecke ich einen Souvenir-Shop,
da muss ich gleich mal rein. Es gibt den üblichen
Tand, Postkarten, Kalender, afrikanische Handarbeiten
und Keramiken. Ein paar Ledergürtel
erregen meine Aufmerksamkeit. Als ich einen mit
einer kunstvoll gearbeiteten Schnalle mit einem
stilisierten J sehe, ist alles klar. Den nehme ich für
Jürgen mit, meinem Messejungenkollegen,
schließlich habe ich es auch ihm zu verdanken, dass
ich das alles hier erleben kann.
Der Rückflug ist ruhig. Da wir uns nicht um Tiere
kümmern müssen, können wir die Landschaft besser
betrachten. Es gibt nicht viele Städte in dieser
Gegend und die meiste Zeit ist nur wildes,
unbewohntes Land zu sehen. Das mag aber auch an
der gewählten Flugroute liegen. Pünktlich mit dem
Einsetzen der Dämmerung landen wir.
Rover freut sich wie verrückt, als wir wieder in der
Station sind. Aufgeregt läuft er von einem zum
anderen und stupst jeden mit seiner feuchten Nase
an.
Nach dem Frühstück, frage ich Albert, ob es weit zum
Strand ist. Ich hätte Lust, ein wenig am Meer herumzulaufen.
Er und Ole wollen gemeinsame Bekannte
besuchen. Da muss ich nicht dabei sein. „Du, das sind
so knapp zehn Kilometer. Das ist ein strammer
Fußmarsch quer durch die Wildnis. Aber sag mal,
kannst du eigentlich ein Auto fahren?“
74
„Kupplung treten, Gang einlegen und Gas geben,
meinst du das?“, frage ich ihn, mich ganz
selbstbewusst gebend. Ich habe nicht vor, ihm zu
erzählen, dass ich noch nie ein Auto gefahren habe.
Auch wenn ich quasi in einem Auto groß geworden
bin. Mein Vater ist ein absoluter Auto-Narr, er hat
immer eins gehabt, war auch immer wieder Taxi- und
LKW-Fahrer. Leider hat er mich nie einen seiner
Wagen fahren lassen.
Albert geht mit mir hinter eine der Hütten und zeigt
mir einen verbeulten Kübelwagen, ein uraltes
Gefährt, ein Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg.
„Den kannst du nehmen, wenn du magst. Aber wenn
du allein fährst, nimm den Rover mit, das ist
sicherer. Wenn du bis zum Mittag nicht zurück bist,
kommen wir dich holen. Alles klar?“ Ich bin
begeistert! Mit einem Auto durch Afrika fahren und
dann auch noch in so feiner Begleitung. Was für ein
Tag, was für ein Leben! Der Motor startet beim
dritten Versuch. Rover springt sofort zu mir hinein
und schaut mich erwartungsvoll an. Ich gebe
vorsichtig Gas und wir rumpeln los. Hinaus in eine
neue Welt.
75
Albert hat mir einen alten Hut auf den Kopf und eine
Feldflasche in die Hand gedrückt. Ich fühle mich
schon fast wie ein Abenteurer. Ich und mein Hund,
zusammen bereisen wir die Welt. Das Fahren stellt
überhaupt kein Problem dar, es geht ja auch fast nur
geradeaus. Die Instrumente bei diesem Anachronismus
sind recht übersichtlich, es gibt nur eins, einen
Tacho. Ein Verdeck gibt es nicht, dafür ist der Hut.
Auf Blinker wurde verzichtet und auch sonst auf
jedes modische Beiwerk, wie zum Beispiel
Scheinwerfer. Der erste und zweite Gang, gehen nur
unter Getöse rein, aber ich muss nicht oft schalten.
Mit fünfzig Sachen holper ich über die sandige Piste
und ziehe eine gewaltige Staubfahne hinter mir her.
Es ist ein herrliches Gefühl, so ganz allein durch die
sonnige Landschaft zu fahren. Eine regelrechte
Euphorie hat mich erfasst. Das ist das höchste Maß
an Freiheit, dass ich je erlebt habe. Das ist mein
Leben, so kann es immer weiter gehen. Die Fahrt
dauert nicht lange und schon kann ich das Meer erst
riechen und dann sehen. Bei einer kleinen Gruppe
Palmen halte ich an und wir laufen die letzten paar
Meter zum menschenleeren Strand. Rover hat
offensichtlich einen starken Drang zum Meer, kaum
sind wir dort, stürzt er sich in die Fluten. Das macht
ihm großen Spaß, wie man deutlich sehen kann. Er
kommt wieder raus und schüttelt sich erst mal
ausgiebig, dass das Wasser nur so spritzt. So
bekomme ich auch meine Erfrischung ab.
Die Palmen bieten prima Schatten, es wird mir zu
heiß in der prallen Sonne. An einen Stamm gelehnt
76
öffne ich das Päckchen, das mir Isabel vor der
Abfahrt auf den Rücksitz gelegt hat. Rover hat sich
dicht neben mich gesetzt und schaut sehr
interessiert. Ein wenig Brot, Käse und Trockenfleisch
kommen zum Vorschein. Das Fleisch verfüttere ich
an meinen pelzigen Kameraden, das Brot und den
Käse esse ich selbst. Zufrieden bettet Rover seinen
mächtigen Schädel auf meinem Oberschenkel, ich
kraule ihm die Ohren und den Nacken. Wir sind zwei
glückliche Wesen in einer paradiesischen Umgebung.
Ach, kann das Leben schön sein. Mit Wehmut muss
ich daran denken, dass wir schon übermorgen wieder
auf das Schiff zurückmüssen. Was würde ich darum
geben, hier auf diese Weise mein Leben verbringen
zu dürfen. Die Dreigroschenoper kommt mir in den
Sinn: „... doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“
Nein, leider sind sie das nicht.
Pünktlich zum Mittagessen bin ich wieder zurück.
Alle sind schon um den großen Tisch versammelt.
Die Ranger der Station, wie sie sich nennen, sind
allesamt nette Kerle. Sie sind freundlich zu mir und
immer bereit, Fragen zu beantworten. Isabell, die
Köchin, hat mich gleich in ihr großes Herz
geschlossen. Von ihr bekomme ich immer mein
Essen ohne Chili, oder was sie hier benutzen. Das ist
eine große Erleichterung.
Doch die Tage vergehen und wir müssen uns auf den
Weg zum Schiff machen. Das Treffen soll in Durban
stattfinden, dort gehen wir wieder an Bord. Schweren
Herzens verabschieden wir uns beim Abendessen von
77
allen. Am schwersten fällt mir der Abschied von
Rover. Wenn ich in seine seelenvollen, braunen
Augen schaue, könnte ich heulen. Es ist eher
unwahrscheinlich, dass wir uns jemals wiedersehen,
es bricht mir fast das Herz. Ole zaubert noch eine
Flasche Whisky hervor. Wir hatten ja jeder schon
eine als Gastgeschenk für Albert mitgebracht. Diese
wird mit großem Hallo begrüßt und muss natürlich
geleert werden. Müde und erschöpft falle ich auf
mein Feldbett. Morgen früh gleich nach dem Frühstück
wollen wir los. Acht Stunden Autofahrt über
staubige Pisten, dann hat uns der Alltag zurück und
die Ferien sind vorbei. Ole wird wieder Ingenieur
sein und ich werde Geschirr abwaschen und hungrige
Mäuler stopfen.
***
78
Delfine
in West-Afrika
79
DELFINE IN WEST-AFRIKA
Es ist heiß! Sehr heiß ... 48° C im Schatten, wenn es
denn welchen gibt. Die „Woermann Ubangi“ schaukelt
träge in der Dünung. Wir liegen vor der Küste
von Gabun vor Anker und die Mannschaft ist damit
beschäftigt, die großen Baumstämme, die im Wasser
treiben, mit Ladebäumen an Bord zu hieven und in
den großen Luken zu verstauen. Dicht an dicht liegen
hunderte von Stämmen wie ein Teppich zwischen
unserem Schiff und dem Strand im Wasser. Ungefähr
ein Dutzend Männer laufen mit langen Stangen
bewaffnet darüber hinweg und bugsieren sie in die
richtige Position, so dass sie verladen werden
können. An der Reling lehnend, beobachte ich die
braunen Gestalten, wie sie über die Stämme tänzeln,
immer darauf bedacht, dass sich die Stämme nicht
unter ihnen drehen. Ihr einziges Hilfsmittel, sind die
langen Stangen, die ihnen ein Minimum an Halt verschaffen.
Stundenlang unter der sengenden Sonne zu
arbeiten, ohne einmal ins Wasser zu können, stelle
ich mir hart vor.
Da ist meine Arbeit als Messejunge um einiges leichter,
auch wenn in der Messe die Luft wie in einem
Backofen steht, obwohl ich alle Bullaugen geöffnet
habe. Wie gerne würde ich selbst ins Wasser springen,
mir rinnt der Schweiß den Rücken runter und
das Hemd klebt mir am Körper. So schnell, wie es die
Hitze zulässt, decke ich die Tische fürs Mittagessen
ein. Von draußen höre ich das Kreischen der Win-
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schen und das Rumpeln der Stämme in den Laderäumen,
immer wieder untermalt von Rufen und
Kommandos.
Ein hoher, lauter Schrei, voller Panik und Entsetzen
durchbricht die gewohnte Geräuschkulisse – für
einen kurzen Augenblick herrscht absolute Stille.
Dann ertönen Rufe und aufgeregtes Geplapper ist zu
hören. Schnell laufe ich nach draußen, es muss etwas
Schreckliches passiert sein. Mehrere Männer versuchen,
an einer Stelle die Stämme auseinanderzuschieben,
was erst nach einer ganzen Weile mit
geballter Anstrengung gelingen will. Einer der
Männer springt ins Wasser und taucht ab. Zwei der
Matrosen werfen Fender hinunter, die werden zwischen
die Stämme geklemmt, so dass eine Lücke
offenbleibt. Kurz danach taucht ein Kopf dazwischen
auf, zwei Männer beugen sich hinunter und ziehen
einen leblosen Körper nach oben. Der Mann wird an
Land gebracht, mehrere Männer stehen um ihn
herum, dann wird er mit einer Plane zugedeckt. Der
arme Kerl hatte keine Überlebenschance, es ist eine
unerbittliche und tödliche Umgebung in der die
Männer ihr Brot verdienen müssen.
Jeder Stamm aus Edelholz wiegt Tonnen und durch
die stete Brandung sind sie ständig in Bewegung. Ein
einziger Fehltritt, kann einen Mann wie durch eine
Mangel drehen. Wenn er das überleben sollte, was
wenig wahrscheinlich ist, wird er hinterher jämmerlich
ersaufen, weil sich die Stämme über ihm wieder
schließen und er keine Chance hat, wieder an die
81
Oberfläche zu kommen. Ein Schicksal, das schon
einige der Arbeiter ereilt hat, wie man mir erzählte.
Mir wird der Mund trocken und der Hals eng. Ich
habe nicht erwartet, einen solchen Unglücksfall
selbst miterleben zu müssen. Ich fahre erst seit gut
einem halben Jahr zur See, dies ist meine dritte Reise
und bereits der dritte Todesfall, den ich miterlebt
habe. Nach der Mittagspause geht die Arbeit dann
wie gewohnt weiter. Eine Seefahrt die ist lustig?
Nein, sie ist knochenhart, brutal und verzeiht keine
Fehler. Und die Menschen lernen, damit zu leben.
Heute ist Sonntag und die Arbeit ruht. Die Mannschaft
faulenzt auf dem Achterdeck unter einer aufgespannten
Persenning und bemüht sich eifrig den
Körper von innen mit Bier zu kühlen. Ab und zu
springt einer von der Reling aus ins Meer und kommt
dann über eine Jakobsleiter wieder an Bord. Das will
ich natürlich auch probieren, es sind etwa fünf bis
sechs Meter bis zur Wasseroberfläche, das erscheint
nicht sehr viel. In Berlin, in unserem Freibad, bin ich
als Zwölfjähriger abends, als nur noch wenig Leute da
waren, auf den Zehnmeter-Turm gestiegen. Ich
wollte rausfinden, ob es so eine große Sache war, dort
runter zu springen. Als ich dann oben stand, erschien
mir das Ganze dann doch etwas haarig. War das
Wasser wirklich tief genug? Man kann ja bis auf den
Grund sehen, aber die Oberfläche nicht. Das Becken
wirkt so schmal wie ein Handtuch, was wenn ich
daneben springe? Ich bin nicht gesprungen, peinlich
berührt bin ich wieder die Treppe runter, froh dass es
nur wenige Zuschauer gab.
82
Doch hier und mit Siebzehn ist das ganz anders, ich
schaue auf die Weite des Meeres, hier ist daneben
springen unmöglich. Die Oberfläche ist gut sichtbar,
dunkel und bewegt, über die Tiefe kann es keine
Zweifel geben. Also los! Mit einem kräftigen Sprung,
die Arme weit ausgebreitet, fliege ich auf den Horizont
zu. Dann hat mich die Schwerkraft unerbittlich
in ihrem Griff, ich bekomme grade noch die Arme
nach vorn, dann tauche ich in die kühlen Fluten ein.
Um mich herum sprudelt das Wasser, bis es mich
wieder nach oben treibt. Das macht einen Heidenspaß!
Das will ich gleich nochmal machen. In einiger
Entfernung vom Schiff wurde eine Boje verankert,
nach einigen Sprüngen schwimme ich zu ihr hin.
Schon seit einiger Zeit, habe ich eine Schule Delfine
gesehen, sie springen nicht weit von uns entfernt
durch die Wellen. Als Kind habe ich immer mal
wieder die Fernsehserie „Flipper“ gesehen, schon
damals konnten mich diese immer fröhlich grinsenden
Gesellen faszinieren. Für mich sind sie wie
Hunde im Meer. Jetzt will ich versuchen, ob ich mit
ihnen Kontakt aufnehmen kann. Das geht schneller,
als ich erwartet habe. Wahrscheinlich haben sie
meine Anwesenheit schon lange wahrgenommen.
Neugierig umschwimmen sie mich von allen Seiten.
Es sind etwa acht Tiere, da sie keinen Augenblick
innehalten, sind sie schwer zu erfassen. Einer von
ihnen schwimmt langsam längs zu mir und stupst
mich mit seiner Nase an der Hüfte an, entfernt sich
wieder, kommt mit hoher Geschwindigkeit auf mich
zu und springt dann elegant über meinen Kopf
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hinweg. Ein Schwall Wasser klatscht mir ins Gesicht.
Ich muss lachen und schlucke dabei eine ordentliche
Portion Seewasser. Hustend und lachend versuche
ich, nach ihm zu greifen, aber er entwischt mir. Plötzlich
taucht sein grinsendes Gesicht direkt vor
meinem auf. Mit einer Hand reiche ich zu ihm hinüber
und streichle seinen Kopf und Hals. Ich bin überrascht,
seine Haut ist glatter und wärmer als ich es
erwartet habe, sie fühlt sich fast ein wenig ölig an,
insgesamt sehr angenehm. Ein Glücksgefühl durchströmt
mich, diesen wunderbaren Tieren so nah zu
sein, ist einfach nur toll. Er taucht unter mir weg und
einige Meter entfernt wieder auf, er winkt mir mit
dem Kopf zu, auf mich wirkt es wie eine Einladung
zum Spielen. Doch ich muss wieder zurück, mir geht
allmählich die Puste aus, ich glaube, ich bin noch nie
so lange geschwommen. Als ersten Halt schwimme
ich zur Boje zurück, die hat einen breiten umlaufenden
Rand, darauf kann ich mich ausruhen. Die
Delfine umkreisen mich, es sind große Tümmler, wie
mir einer der Matrosen erklärt hat. Der Delfin, den
ich streicheln durfte, kommt wieder zu mir, ich
erkenne ihn an einer Zeichnung wie ein großes W auf
der Stirn, das haben die anderen nicht; ich nenne ihn
Wally. Überhaupt kann ich jetzt individuelle Unterschiede
zwischen ihnen ausmachen, sie sehen keineswegs
alle gleich aus. Nach einem Augenblick Pause
mache ich mich auf den Rückweg zum Schiff. Wally
schwimmt erst neben mir her und dann unter mich,
er reibt sich an meinem Körper. Das nutze ich, um
mich an seiner Rückenflosse festzuhalten. Es scheint
ihm nichts auszumachen, mit hoher Geschwindigkeit
84
zieht er mich durch das Meer, sodass ich freudvoll
jauchze. Doch leider in die falsche Richtung. Da ich
nicht weiß, wie weit meine Kraft zum Schwimmen
noch reicht, lasse ich lieber los. Wieder mache ich
mich auf den Weg zum Schiff zurück. Die Jakobsleiter
im Blick schwimme ich los. Ungefähr fünfzig
Meter davor, tauchen auf einmal die anderen Delfine
vor mir auf und drängen mich ab. Das finde ich grad
nicht so lustig, denn ich bin inzwischen erschöpft.
Meine Versuche, an den Delfinen vorbei zu kommen,
werden immer wieder vereitelt, sie wollen mich einfach
nicht ans Heck des Schiffes schwimmen lassen.
Auf einmal höre ich von oben aufgeregte Rufe, ich
schaue hoch und sehe wie die Männer mir Zeichen
geben zum Bug zu schwimmen. Schnell schaue ich
mich um, ob ich irgendeine Gefahr entdecken kann,
doch da ist nichts zu sehen. Die Aufregung muss ja
einen Grund haben, also schwimme ich mit meiner
letzten Kraft zum Bug. Dort haben inzwischen zwei
Matrosen eine weitere Leiter herabgelassen. Völlig
entkräftet erreiche ich sie. Mit großer Mühe, kletter
ich die Leiter hoch, die dreht sich ständig seitlich
weg, sodass auch das sehr anstrengend ist. Oben
angekommen helfen mir die Matrosen über die
Reling und ich plumpse völlig ausgepumpt auf das
Deck. Es braucht einen Moment, bis ich wieder
laufen und sprechen kann. Wir gehen zum Heck, wo
die anderen an der Reling stehen.
„Was ist denn eigentlich los? Ich habe nichts
gesehen“, ist meine erste Frage.
Kai, einer der Matrosen, wendet sich zu mir und zeigt
nach unten: „Komm mal her, ich zeigs dir.“
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Als ich nach unten schaue, sehe ich erst noch immer
nichts, bis er mit dem Finger auf einen bestimmten
Punkt zeigt. Dann kann ich eine bläulich-violette,
durchscheinende Blase erkennen, ungefähr von der
Größe einer großen Männerfaust. Eigentlich sieht sie
ganz hübsch aus, wenig bedrohlich. Kai zeigt mir
noch zwei weitere dieser Blasen in einiger Entfernung.
„Das sind portugiesische Galeeren, die sind
hochgiftig und haben bis zu fünfzig Meter lange
Tentakel. Wenn dich von denen eine erwischt hätte,
würdest du jetzt nicht hier stehen.“
Ein anderer Matrose ergänzt: „Ich kannte mal einen,
der von so einem Ding erwischt wurde. Mann, der hat
geschrien vor Schmerzen und war mehrere Tage im
Krankenhaus. Der wollte danach nie wieder ins
Wasser.“ Das lässt die hübschen Blasen gleich weniger
hübsch erscheinen. Im Nachhinein wird mir jetzt
bewusst, dass die Delfine die Gefahr auch erkannt
haben müssen und mich deshalb aus deren Nähe
fernhalten wollten. Danke dafür meine Freunde!
***
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Das Rauschen
im Walde
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DAS RAUSCHEN IM WALDE
Das Mondlicht und die Sterne strahlen hell durch die
Blätter und Äste um mich herum. Es hat etwas
Gespenstisches, Unwirkliches, eine Atmosphäre wie
in einer Märchenwelt. Die Hängematte, die auf
halber Höhe in einer Baumkrone hängt, pendelt nur
ganz gemächlich hin und her; ein sanftes Schaukeln.
Es ist wunderbar entspannend. Tief atme ich die
nächtliche Waldluft ein, versuche, feinen Gerüchen
nachzuspüren, mich von der Seele des Waldes
durchdringen zu lassen. Es ist ein stiller, friedlicher
Ort. Das leise Rauschen des Windes, das Wispern der
Blätter und nur hin und wieder der Ruf eines Vogels.
Gelegentliches Knacken und Rascheln ist vom Boden
zu vernehmen, der Atem und der Puls des Waldes.
Immer tiefer sinke ich hinein in diese grünschwarze
Welt, die gleich einer Theaterkulisse von einem
himmlischen Scheinwerfer beleuchtet wird. Zwei
Bäume weiter sehe ich, wie zwei kleine Vögel auf dem
Rand ihres Nestes herumhüpfen. Leise kann ich ihr
Gezwitscher hören. Ich weiß nicht, was das für Vögel
sind, weiß nicht wie sie heißen. Auch was für eine Art
Baum das ist, der mich hier für die Nacht aufgenommen
hat, weiß ich nicht. Das muss ich auch nicht
wissen. Ich habe ihn Abraham getauft, weil er mir
Sicherheit mit seinen starken Ästen versprach. Und
ich habe ihm versprochen, ihm nicht wehzutun. Mein
geringes Gewicht belastet ihn kaum.
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„Ich habe dir doch gesagt, du sollst immer bei ihm
bleiben!“
Vernehme ich auf einmal eine leise irgendwie klimpernde
Stimme. „Aber was sollte ich denn machen, es
war doch das Wiesel.“
Antwortet darauf eine ebenso klimpernde wie jammernde
Stimme.
„Das Wiesel, das Wiesel! Wahrscheinlich hast du
wieder mit deinen Cousinen geschwätzt, statt auf
Junior zu achten. Da konnte ja alles passieren“,
erklingt es erbost.
Wer ist denn da bloß mitten im Wald und streitet
sich? Vom Boden ist keinerlei weiteres Geräusch zu
hören, Bewegung ist auch keine zu erkennen. Die
Stimmen klingen zwar leise, aber doch nah. Die einzigen
Lebewesen, die ich zu erkennen vermag, sind
die beiden Vögel, die noch immer aufgeregt herumhüpfen.
Zu einem flatternden Rauschen höre ich
noch: „Ich suche mal den Boden ab, vielleicht ist
Junior aus dem Nest gefallen.“
Gleichzeitig sehe ich, wie einer der Vögel vom Nest
nach unten fliegt. Mir kommt die Geschichte vom Dr.
Doolittle in den Sinn. Das kann ja wohl nicht möglich
sein. Gespannt warte ich ab, ob ich noch mehr höre.
Schon kurz darauf höre ich wieder eine Stimme, jetzt
leicht japsend:
„Da unten ... da ist ... er nicht. Nichts ... zu sehen.“
„Oh je, oh je“, wieder das jammernde Stimmchen.
Auf einmal höre ich eine etwas lautere, keckernde
Stimme über mir. Dort kann ich ein Waldhörnchen
auf einem Ast sitzen sehen. „Die Eule war`s, die Eule!
Natürlich hat die dumme Nuss mit ihren Cousinen
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getratscht, kek, kek.“
„Och, halt die Klappe Tapsi!“
Höre ich die beleidigte weibliche Stimme vom anderen
Baum. Mir fällt auf, dass
ich die Stimmen nicht außerhalb
wahrnehme, da ist noch
immer nur das Rauschen des
Windes und der Blätter. Ich
höre die Stimmen in meinem
Kopf, nicht mit meinen Ohren.
Ein Kindheitstraum geht in
Erfüllung, davon habe ich als
kleiner Junge geträumt. Die Tiere verstehen zu
können, womöglich mit ihnen sprechen können.
Wenn auch nur in den Gedanken. Wie gerne hätte ich
mich mit unserem Herkules unterhalten, meinem
Lieblingshund.
Jetzt höre ich noch eine weitere tief brummelnde
Stimme vom Boden unter mir: „Mist, hier waren
doch gestern noch diese leckeren Pilze.“ Vorsichtig
luge ich über den Rand meiner Hängematte nach
unten. Dort sehe ich einen Dachs mit seinem typischen
weißen Streifen am Fuße des Baumes im
Boden scharren. „Waren bestimmt wieder diese verfressenen
Schweine da“, grummelt es weiter.
„Wer weiß, ob du bald wieder so ein schönes Ei legen
kannst“, zetert es von drüben.
„Such dir lieber ´ne andere Henne, eine mit Köpfchen,
kek, kek“, keckert es von oben.
„Ich schau´ mal bei der Eiche ...“, brabbelt der Dachs
und trottet davon.
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Irgendwann bin ich über das Geplapper eingeschlafen.
Als ich am Morgen aufwache, kommt mir sofort
die Erinnerung an die Ereignisse der letzten Nacht.
Angespannt lausche ich, ob ich Stimmen hören kann.
Doch nur das Geschnatter meiner eigenen Gedanken
kann ich wahrnehmen. Gegenüber sitzen noch immer
die beiden Vögel in ihrem Nest, doch ich höre nur
zwitschern. Verstehen kann ich nichts. War es doch
nur ein Traum? Es fühlte sich so echt und wahrhaftig
an. Aber Gedankenübertragung mit Tieren, kann es
so etwas geben? Vielleicht ja doch, wer weiß?
* * *
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Soraya
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SORAYA UND POLLOCK
Frank und ich sind mit dem Bus von Kabul aus nach
Chaharbagh unterwegs. Auf der Straße sind viele der
typischen, bunten LKWs, alle hochbeladen. Kurz
darauf fahren wir in die Stadt ein. Es ist ein bunter,
quirliger Ort. Viele Menschen laufen durch die Straßen.
Eine festliche Stimmung wird durch viele bunte
Fahnen, Tücher und auch mit Blumenschmuck
erzeugt. Hier sehe ich auch das erste Mal unverschleierte
Frauen in der Öffentlichkeit. „Der Geburtstag
vom Propheten Mohamed wird gefeiert, sie
nennen es Mawlid an-Nabi. Es ist ein großes Fest und
dauert eine Woche. Komm, lass uns weiter, wir
müssen uns eine Unterkunft besorgen.“ Ich folge
Frank zu unserem Ziel, das liegt am Rande der Stadt.
Dort angekommen, kann ich in einiger Entfernung
ein großes Zeltlager sehen. In unmittelbarer Nähe
davon entdecke ich verschiedene Tiere, Kamele und
Schafe, ein paar Esel. Viele schwarze Zelte drängen
sich aneinander. Es ist ein Lager von Kuchi Nomaden.
Von denen ist mir schon einiges erzählt worden,
ich freue mich auf eine Begegnung mit ihnen. Wir
haben Glück und bekommen noch ein Doppelzimmer
in einem kleinen Guesthouse am Stadtrand. Die
meisten Hotels in der Stadt sind inzwischen belegt, es
herrscht ein großer Andrang.
Nachdem wir sehr gut gegessen haben, schlendern
wir hinüber zum Zeltlager. Dort brennen inzwischen
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die ersten Lagerfeuer. Frauen in ihren landestypischen,
bunt gestreiften Kleidern hängen Töpfe an ein
Gestell über dem offenen Feuer. Verschiedentlich
entdecke ich Hunde zwischen den Zelten. Es sind
große, muskulöse Tiere mit einem kurzen, kräftigen
Hals, einem gedrungenen Kopf und kleinen, eng
anliegenden Ohren. Sie wirken sehr wehrhaft und
wachsam. Dann kommen wir zu einer Gruppe
Kamele. Das sind ganz andere Vertreter ihrer Art, als
ich sie aus unserem Zoo kenne. Sie wirken wild und
struppig, mit großen, hässlichen Zähnen. Ein Mann
mit schwarzem Turban und dichtem, schwarzen Bart
füttert die Tiere. Als ich einem von ihnen zu nahe
komme, ruft er mir zu: „Vorsicht, nicht von links an
Pollock herankommen.“
Sofort gehe ich einen Schritt zurück, gerade noch
rechtzeitig um einem Biss in die Schulter zu entgehen.
Ein besonders hässliches Exemplar hat nach
mir geschnappt. Mit bösem Blick starrt es mich an.
Wobei - nicht wirklich, seine beiden Augen schauen
exakt in die jeweils andere Richtung. Auch sonst ist
es ein echtes Musterexemplar an Hässlichkeit. Graubraunes,
räudig wirkendes Fell, das sich an verschiedenen
Stellen ablöst, schiefstehende Riesenzähne, die
wie abgebrochene Zweige aus seinem Maul ragen.
Dazu diese Augen, und das Bild einer erbarmungswürdigen,
aber auch boshaften Kreatur ist perfekt.
„Das ist ein Teufel, man darf sich ihm nur von rechts
nähern. Ich glaube, er ist auf dem linken Auge blind“,
erklärt uns der Mann.
„Das ist ja eine richtig wilde Bestie“, antworte ich
lachend. Dabei bleibe ich sorgfältig auf Distanz zu
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dem bissigen Vieh.
„Ich habe ihm schon öfter angedroht, dass er im Topf
landet. Wahrscheinlich ist sein Fleisch aber zäh,
bitter und ungenießbar. Das weiß das Mistvieh ganz
genau.“
Wir machen uns miteinander bekannt.
„Mein Name ist Kemal, seid ihr wegen des Buzkashi,
den Reiterspielen gekommen? Das ist erst übermorgen.“
„Ja, das wollen wir uns auf jeden Fall ansehen. Die
Kuchis interessieren mich jedoch auch sehr, ich habe
schon einiges von ihnen gehört. Sie sollen ein wildes
und freiheitsliebendes Volk sein, denen nationale
Grenzen nichts bedeuten. Sie kommen und gehen in
dieser Region, wie es ihnen beliebt.“
„Das hast du richtig gehört“, sagt er in stolzem Tonfall
und mit hochgerecktem Kopf.
Er lädt uns ein, an seinem Feuer Platz zu nehmen.
Dem kommen wir natürlich gerne nach. Jeder
bekommt einen Tee serviert. Ein etwa sechzehnjähriges
Mädchen blitzt mich dabei mit ihren dunklen
Augen an. Kichert aber gleich darauf, zieht sich ein
Tuch vor das Gesicht und verschwindet eilig im Zelt.
Kemal möchte jetzt wissen, woher wir kommen.
Australien sagt ihm nicht viel, aber die Deutschen,
die sind hier beliebt. „Ah ja, Deutschland! Die Deutschen
sind gute Leute, das war schon früher so.“
Dieses Thema möchte ich nicht vertiefen, ich bin
nicht ganz so stolz auf die deutsche Geschichte wie er.
Deshalb wechsle ich lieber den Gegenstand unserer
Unterhaltung. „Wieso nennst du dein Kamel Pollock,
das ist ein merkwürdiger Name.“
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Er lacht und schlägt sich dabei auf den Schenkel.
„Dieses Kamel ist genauso gemein, hinterhältig und
blutdürstig wie dieser Teufel von einem englischen
General einst war, er hatte viele unserer Leute auf
dem Gewissen. Falls Engländer so etwas haben.“
„Das ist doch aber schon sehr lange her, oder?“
„Egal wie lange es her ist, die Kuchis vergessen
nichts. Die Taten der Engländer sollen nicht vergessen
werden. In unseren Liedern und Geschichten
werden sie von einer Generation zur nächsten weitergegeben.“
Heute ist der Tag des Buzkashi. Die ganze Stadt und
das Umland drumherum scheinen überzuquellen. Es
sind noch mehr Menschen da als in den letzten
Tagen. Das Fest nähert sich offenbar seinem Höhepunkt.
Überall sieht man jetzt Garküchen auf den
Straßen. Der Geruch von gebratenem Fleisch zieht
durch alle Straßen. Wilde Gestalten, von denen einige
einen Karabiner über der Schulter tragen, hocken in
allen Ecken und palavern. Es ist ein malerisches Bild.
Außerhalb der Stadt auf einer großen, freien Fläche
haben sich schon etliche Reiter versammelt. An
einem Ende wurde ein großer Kreis markiert, in
seiner Mitte liegt ein Traktor-Reifen, das ist das
Abwurfziel für den „Spielball“. Der besteht aus einer
toten Ziege, der man den Kopf abgeschnitten hat, sie
liegt jetzt in der Mitte vom Platz auf dem Boden. An
einem Ende scharen sich jetzt immer mehr Reiter
zusammen. Es ist ein chaotisch bunter Haufen, der
sich da versammelt hat. Es sind alle Arten von All-
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tagskleidung zu sehen. Manche der Männer tragen
Turbane, manche eine Art gepolsterte Haube. Das ist
das einzig sichtbare Zugeständnis an eine Schutzausrüstung.
Wahrscheinlich wird das bei den ganz
harten Kerlen verpönt sein, ich sehe nur wenige
dieser Hauben.
Von einem Moment zum anderen kehrt Ruhe in die
Reihen ein. Ein großgewachsener Mann in einer
langen, grün gestreiften Robe betritt den Platz. Er
trägt einen ebenfalls grünen Turban und besitzt einen
langen, sorgfältig gekämmten Bart in leuchtend roter
Farbe. Eine äußerst eindrucksvolle Erscheinung
dieser Mann. Wenn für einen Moslem der Bart die
Zierde des Mannes und ein Zeichen seiner Männlichkeit
ist, nun – dann hat dieser Mann hier eindeutig
den Längsten. Sehr wahrscheinlich handelt es sich
um den Imam des Ortes. Er hebt seine Hände und
proklamiert etwas in einer Singsang-Stimme. Ich vermute
mal, dass er das Buzkashi segnet. Die Reiter
heben ihre Hände vor das Gesicht und antworten
etwas. Dann schreitet der grüne Riese würdevoll vom
Platz und die Reiter machen sich fertig.
Da werden Sattelgurte nachgespannt und mehrere
Männer setzen sich jetzt ebenfalls Schutzkappen auf.
Manche nehmen nur ihren Turban ab und bleiben
barhäuptig. Alle Reiter haben kurze Reitgerten entweder
in den Händen oder zwischen den Zähnen. Als
alle in Position stehen, ertönt auf einmal ein Schuss
und die wilde Jagd tobt los. Ungefähr dreißig bis vierzig
Reiter geben ihren Pferden die Hacken zu spüren.
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Manche schlagen wild rechts und links auf ihre
Pferde ein. Schnell bildet sich ein Pulk, der auf die
tote Ziege zudonnert. Zwei Konkurrenten die dicht
beieinander vorne reiten, beugen sich weit aus dem
Sattel herunter, um die Ziege zu packen. Dabei versucht
der Eine den Anderen abzudrängen. Sogar das
Pferd ist aktiv dabei und beißt nach dem anderen.
Schließlich gelingt es einem der Männer, aus vollem
Galopp heraus das tote Tier zu greifen. Er zieht es an
sich und versucht, in Richtung des Kreises zu
gelangen. Doch inzwischen sind die anderen Reiter
aufgeschlossen und bedrängen ihn von allen Seiten.
Ich kann sehen, wie andere Reiter versuchen, näher
an ihn heranzukommen. Sie werden aber von anderen
mit der Reitgerte geschlagen.
Diese Pferde sind ganz schön aggressiv, sie rempeln
sich gegenseitig, beißen nach allem, scheinen aber
auch gut geschult zu sein. Ich beobachte, wie ein
Reiter aus dem Sattel stürzt. Sein Pferd bleibt sofort
bei ihm stehen und ist offensichtlich bereit, ihn zu
verteidigen. Es schirmt ihn mit seinem Körper ab, bis
er wieder im Sattel sitzt und stürmt, ohne dass es
angetrieben wird, sofort wieder los. Das scheint mir
eine recht tiefe Bindung zwischen Pferd und Reiter zu
sein, das ist bewundernswert. Inzwischen haut jeder
auf jeden ein und es ist ein einziges Chaos auf dem
Feld. Der Ziegenkadaver hat zum wiederholten Male
den Besitzer gewechselt, aber dem Kreis ist der
Haufen noch nicht viel näher gekommen. Man hat
mir erklärt, dass beim Buzkashi verschiedene Parteien
gegeneinander antreten. Ich merke davon
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nichts, für mich sieht es so aus, als würde jeder auf
jeden eindreschen. Eine gewaltige Prügelei zu Pferde.
Das wogt so eine ganze Weile hin und her, als auf einmal
ein einzelner Reiter aus dem Pulk ausbricht und
auf den Kreis zuprescht. Sofort wird er von anderen
Reitern verfolgt. Er schafft es trotzdem, die Ziege in
den Reifen zu schleudern. Die umstehenden
Zuschauer honorieren das mit Beifall und vielen
Rufen. Vereinzelt hört man Schüsse, die in die Luft
abgegeben werden. Die Ziege wird wieder, inzwischen
schon deutlich ramponiert, in die Mitte gelegt
und das ganze Spiel geht wieder von vorne los. Das
soll so lange gehen, bis von dem Kadaver nicht mehr
genug übrig ist, dass man ihn greifen kann.
100
Wenn vierzig Pferde über ein trockenes Feld toben,
erzeugt das eine Menge Staub. Wie ich mich so
umschaue, fällt mir auf, dass alle Zuschauer grau
gepudert wurden. Als ich mich abklopfe, staubt es
hoch. Diese Rauferei soll mehrere Stunden dauern,
so lange bleibe ich nicht. Nach ungefähr einer Stunde
habe ich genug gesehen. Frank habe ich verloren, er
ist irgendwo unter den Zuschauern.
Zum Buzkashi sind alle Straßen festlich geschmückt,
Fahnen, Wimpel und bunte Girlanden schmücken die
Häuser. Auch viele Blumen gibt es überall. Der
Geruch nach gebratenem Fleisch ist überwältigend
und ich bekomme Hunger. Gerade will ich mir an
einer Garküche etwas bestellen, da begegnet mir
Kemal. „Hallo mein Freund, bist du nicht beim Buzkashi?“
„Nicht mehr, ich war da. Es war schon interessant zu
beobachten. Aber ich habe genug gesehen. Jetzt ist es
nur noch eine Prügelei.“
„Ja, Männer brauchen das ab und zu, das kühlt das
Blut.“
„Mich wundert, dass es dabei keine Verletzten gibt.“
„Oh, die gibt es! Jede Menge sogar. Knochenbrüche
und ausgerenkte Gelenke, das gibt es alles. Das
gehört dazu. Manche reiten noch mit gebrochenem
Bein oder Arm, das macht nichts, das heilt wieder.“
„Ihr seid harte Jungs!“
Kemal lacht nur und klopft mir dabei freundschaftlich
auf die Schulter. „Wolltest du hier essen? Mach
das nicht, komm zu meinem Zelt, bei uns gibt es viel
zu essen.“
101
Diese Einladung nehme ich natürlich gerne an.
Im Lager sind etliche Kuchis um ein großes Feuer
versammelt. Etwas abseits, sehe ich ein weiteres kleineres
Feuer, über dem steckt ein Hammel auf einem
Spieß und wird von einer Frau immer wieder
gewendet. Wir setzen uns vor das Zelt meines Gastgebers
auf Polster, die dort bereitliegen. Alle Kuchis
sind festlich gekleidet, die Frauen in ihren vielfarbigen
gestreiften Kleidern, alles sehr fein bestickt und
mit kleinen Spiegeln und Pailletten besetzt. Auch die
Männer haben das eine oder andere festliche Kleidungsstück
herausgesucht.
Kemal trägt heute Abend einen weißen Turban, den
eine silberne Spange mit einem Lapislazuli ziert. Das
Mädchen, das neulich Abend mein Haar berühren
wollte, läuft vorbei. Auch sie in prächtiger Festtagsrobe
mit einem schönen smaragdgrünen Tuch über
dem Haar. Als sie vorbeiläuft, bemerke ich, dass das
Weiße in ihrem Augenwinkel nicht zu sehen ist, also
schielt sie zu mir herüber. Ich lache in ihre Richtung,
da dreht sie demonstrativ den Kopf weg und schreitet
mit der Haltung einer Königin von dannen, ich muss
grinsen. Kemal bietet mir eine Haschischpfeife an,
die ich ablehnen muss. Er zieht erstaunt die Brauen
hoch. Schnell erkläre ich ihm meine Unverträglichkeit.
Er schüttelt nur bedauernd den Kopf, sagt aber
nichts dazu. Dann greift er hinter sich und reicht mir
einen Trinkschlauch. „Dann hoffe ich doch, dass du
damit nicht auch ein Problem hast.“
Ich setze den Schlauch an die Lippen und nehme
einen Schluck. Überrascht schaue ich Kemal an, es ist
Wein. Er ist etwas herb, erdig, trocken, durchaus
102
trinkbar. Ich nehme noch einen Schluck.
„Ist der von hier?“
„Ja, etwas weiter westlich wird viel Wein angebaut.“
„Ich dachte, der wäre euch verboten?“
„Ach ja, so heißt es wohl. Der Imam spricht immer
wieder davon. Aber dann, wir sind die Lieferanten.
Was glaubst du wohl, wer am meisten davon kauft?
Es sind die feinen Herren und die Geistlichen. Ich
sage mir, warum sollte Allah in seiner Weisheit etwas
so Wunderbares wie Wein wachsen lassen, wenn wir
ihn nicht genießen dürfen?“
Damit hebt er den Schlauch und genießt Allahs Gabe
ausgiebig.
Als es dunkelt, ist auch der Hammel fertig. Alle
setzen sich im Kreis um das Feuer und bekommen
eine Portion von dem lecker duftenden Braten.
Kemal will mir eine besondere Ehre antun und stellt
eine kleine Schüssel vor mich. „Du bist heute unser
Ehrengast, deshalb bekommst du das Beste.“
Ich schaue in die Schüssel und bekomme ein Problem.
Es sind die Hoden vom Hammel. Ich mag keine
Hoden essen, wirklich nicht. Aber wie kann ich sie
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ablehnen, ohne meinen großzügigen Gönner zu
beleidigen? Hastig überlege ich mir eine Notlüge.
Religion geht ja immer, dagegen kann man schlecht
etwas sagen. „Das ist sehr freundlich und sehr großzügig
von dir, mein Freund. Leider verbietet mir
meine Religion, etwas Derartiges zu essen. Fleisch ja,
aber keine vitalen Organe. Diese Organe waren doch
vital, oder?“
Kemal lacht herzlich. „Oh ja, die waren vital, sehr
vital!“
Ohne weiteres Nachfragen isst er genussvoll seine
Delikatesse selbst. Ich gönne es ihm und bin froh,
dass er keine weitere Erklärung will. Einem Stück
Fleisch bin ich aber durchaus nicht abgeneigt. Da der
Wein ganz schön kräftig ist und ich ihm mehrmals
zugesprochen habe, merke ich auch seine Wirkung.
Etwas mehr Grundlage im Magen tut mir sicher gut.
Nach dem Essen findet sich eine kleine Gruppe mit
Instrumenten zusammen, und fängt an zu musizieren.
Erst noch verhalten, dann wird es immer
lebendiger. Einige Frauen drehen sich etwas abseits
im Kreis zu der Musik. Die ganze Szene wird nur vom
Feuer beleuchtet. Es ist eine wunderbare Atmosphäre,
ich bin begeistert davon. Erst spät am Abend
kehre ich in das Guesthouse zurück. Frank ist bereits
im Bett und schläft.
Wir sitzen beim Frühstück und ich erzähle Frank
vom gestrigen Abend. Ich habe mit Kemal ausgemacht,
dass ich heute eins seiner Kamele reiten darf.
„Das will ich unbedingt machen. Willst du mitkommen?
Du darfst sicher auch mal reiten.“
104
„Nein, geh mir weg mit Kamelen! Mich hat mal so ein
Biest in die Schulter gebissen. Ich kann dir die Narbe
zeigen, musste genäht werden. Ich geh nicht in die
Nähe von diesen Mistviechern.“
Von solchen Ängsten unbelastet gehe ich hinüber zu
Kemals Zelt. Er versorgt gerade seine Tiere und ich
gehe ihm ein wenig zur Hand dabei. Nachdem wir
damit fertig sind, geht er mit mir zu einem Kamel,
das bereits gesattelt wurde und kauend auf dem
Boden liegt. „Hallo Soraya, meine Schöne“, begrüßt
sie Kemal. Es handelt sich also um eine Kameldame.
Also schön ist nicht das Wort, das mir bei ihrem
Anblick als Erstes einfällt. Da habe ich schon eindrucksvollere
Exemplare ihrer Art gesehen. Aber sie
hat große, sanfte Augen mit langen Wimpern, die
geduldig schauen. Sie scheint mir nicht darauf aus zu
sein, mich zu beißen. Sachte nähere ich mich ihr von
der Seite und stelle mich ihr vor: „Hallo Soraya,
schön dich kennenzulernen. Magst du mich ein wenig
herumtragen?“ Dabei streichel ich ihr den langen
Hals und kraule sie hinter den Ohren. Das haben
noch alle Tiere gemocht, mit denen ich bisher zu tun
hatte. Auch diese Kameldame mag es, sie dreht mir
sofort den Kopf entgegen und zeigt mir die Stelle, wo
sie es am liebsten hat. Genüsslich schließt sie die
Augen. Da habe ich wohl ins Schwarze getroffen.
Kemal sieht mich verwundert an, sagt aber nichts.
Nach einigem Kraulen setze ich mich in den Sattel.
Mein geringes Gewicht belastet sie kaum. Auf ein
Kommando von Kemal hin erhebt sich Soraya. Erst
werde ich nach vorn geworfen, kann mich aber am
Sattelgurt festhalten, dann nach hinten und schon
105
setzt sie sich in Gang. Jetzt verstehe ich, warum man
Kamele auch Wüstenschiffe nennt. Sie bewegen
immer beide Beine einer Seite gleichzeitig, nicht wie
ein Pferd diagonal, dadurch gibt es eine Seitwärtsbewegung,
ähnlich einem Schiff. Einmal um das gestrige
Spielfeld geht es, das soll reichen. Als wir uns
wieder den Zelten nähern, stürmt auf einmal Pollock
auf uns zu. Es sieht so aus, als würde eines seiner
Augen mein Bein fixieren. Doch da geht Kemal mit
einem Knüppel dazwischen und zieht ihm fürchterlich
eine über die Hinterhand, sodass er abdreht und
davongaloppiert. „Dieses eifersüchtige Mistvieh!“,
schimpft er ihm hinterher. „Er ist in der Brunft,
obwohl er kastriert ist. Das wurde bei ihm zu spät
gemacht, deshalb denkt er, er könnte noch. Sheytan!“,
brüllt er ihm zu. Doch der Teufel Geschimpfte
knabbert nur angelegentlich an einem Ast herum, als
wäre nichts gewesen. „Er hat mal wieder den Zügel
abgerissen, den kann ich jetzt erneut flicken. Ich
sollte ihn den Hunden zum Fraß vorwerfen.“
Wir versorgen Soraya und ich darf ihr ein paar
Möhren geben. Die nimmt sie vorsichtig. „Die mag
sie gerne, aber sie soll nicht zu viel davon fressen.“
Anschließend setzen wir uns vor das Zelt und trinken
Tee. Es ist deutlich ruhiger im Ort geworden, die
meisten Besucher sind nach dem Buzkashi wieder
abgereist. Auch ich werde mich bald wieder auf den
Weg machen. Inzwischen ist es unangenehm kalt
geworden und ich will mir nicht noch warme Kleidung
kaufen müssen, die ich dann in Indien nur
herumschleppe. Ich verabschiede mich von meinem
106
freundlichen Gastgeber: „Kemal, ich danke dir für
deine Gastfreundschaft und das ich dein Kamel reiten
durfte. Das war eine feine Sache, das hat mir viel
Spaß gemacht. Es war sehr schön und eine Ehre, dich
kennenzulernen. Ich danke dir für alles. Morgen
ziehe ich weiter Richtung Indien, ich habe noch ein
gutes Stück Weg vor mir.“
„Auch für mich war es eine Ehre, dich zu kennen. Du
bist stets willkommen in meinem Zelt. Ich wünsche
dir viel Glück auf deinem Weg. Möge Allah dich
beschützen.“
Diese Bekanntschaft wird bestimmt in meiner
Erinnerung bleiben. Es war sehr schön hier.
***
107
108
Diego
109
DIEGO
Ich klappe die Palmblattmatte beiseite und begrüße
den neuen Morgen. Die Sonne scheint, das Meer
rauscht leise, die Luft riecht würzig. Es verspricht
wieder ein guter Tag zu werden. Auf einmal sehe ich
nur etwa zehn Meter entfernt eine schwache
Bewegung. Ein Hund liegt dort und schaut mich an.
Sein Fell hat fast die gleiche Farbe wie der Sand, so
ist er kaum von seiner Umgebung zu unterscheiden.
Etwas scheint mit ihm nicht zu stimmen, er wirkt
krank und hilflos, wie er da liegt. Vorsichtig nähere
ich mich seiner ausgestreckten Gestalt. Er hebt den
Kopf, zeigt seine Zähne und knurrt verhalten. Seine
Rute zuckt unruhig. „Ho, mein Guter, sachte. Ich will
dir doch nichts Böses“, rede ich beruhigend auf ihn
ein. Wie ich näherkomme, kann ich sehen, dass sein
rechter Vorderlauf blutig und offenbar verletzt ist. Da
braucht wohl jemand meine Hilfe. Ich setze mich zu
ihm. Wieder hebt er den Kopf und knurrt, doch ich
streiche ihm nur sacht über die Flanke und entspanne
seinen Kopf. Er lässt es geschehen und entspannt
sich. Ständig mit tiefer Stimme auf ihn einmurmelnd,
kann ich mir sein Bein genauer ansehen.
Es gibt einen kurzen blutigen Riss und als ich es
behutsam abtaste, kann ich den Bruch fühlen. Der
Knochen ist leicht verschoben. Dagegen sollte ich
etwas tun können.
Schnell hole ich aus meiner Behausung meine kleine
Tasche. Darin habe ich Verbandszeug. Von einem
110
herumliegenden Palmblatt schneide ich den Stiel ab.
Der Hund beobachtet mich die ganze Zeit, lässt mich
nicht aus den Augen. So ausgerüstet setze ich mich
wieder zu ihm.
„Du musst jetzt tapfer sein, mein Lieber. Bitte beiße
mich nicht, ok?“
Nur ein dumpfes Knurren ist zu vernehmen, ich
nehme es als Zustimmung. Um ihn zu beruhigen und
damit er sich an die Berührung gewöhnt, lege ich ihm
eine Hand flach auf die Flanke und eine hinter seinen
Kopf. Ganz behutsam gleiten meine Hände zu seinem
Vorderlauf. Als ich ihn fester packe, gibt der Hund
ein Winseln von sich. Als ich an dem Bein ziehe, kann
ich spüren, wie der Knochen zurückschnappt. Ein
kurzes Aufbäumen, ein Heulen, das in ein leises
Winseln übergeht. Seine Rute schlägt heftig hin und
her, doch er bleibt liegen. Braver Hund!
Das hat ja schon mal gut funktioniert, jetzt noch die
Wundbehandlung und schienen. Kokosöl ist gut dazu
geeignet, es wirkt desinfizierend und ich kann die
Wunde damit reinigen. Ich streue noch etwas Wundpulver
darüber und klebe ein Pflaster über den Riss.
Hoffentlich sind noch keine Keime in die Wunde eingedrungen.
Jetzt noch den halbrunden Stiel
zuschneiden und die zwei Teile um die verletzte Stelle
legen. Sie umschließen das Bein bis auf wenige Millimeter.
Einen festen Verband herum und es sollte gut
sein. Ich hoffe, dass er ihn nicht wieder herunterreißt.
Als ich fertig bin, streichel ich ihn und rede
beruhigend auf ihn ein. Nach einiger Zeit leckt er
über meine Hand und schaut mich mit einem Blick
111
an, den man dankbar nennen könnte. Der arme Kerl
ist bestimmt durstig, wer weiß, wie lange er hier
schon liegt. Jedenfalls macht er sich gierig über das
Wasser her, das ich ihm bringe. Gut, dass ich einige
Flaschen in meine Höhle gelegt habe.
„Ich lass dich jetzt einen Moment allein, du und ich,
wir brauchen was zu essen, nicht wahr?“
Lilly öffnet gerade den Chai-Shop. Ich erzähle ihr von
meinem Patienten und frage sie, ob sie Küchenabfälle
für ihn hat. Inder mögen zwar Hunde nicht besonders,
aber Lilly ist eine gute Frau und erfüllt meinen
Wunsch. Ich frühstücke rasch und gehe mit dem
Futter wieder zurück. Der Hund ist inzwischen dicht
vor meine Höhle gekrochen. Die Fleischreste aus
Carlos Küche werden begeistert von ihm angenommen.
Ich streichel ihn und rede mit sanfter Stimme
zu ihm. Er wirkt jetzt entspannt, bald darauf schläft
er ein.
Zwei Tage liegt er bei mir und ich versorge ihn mehrmals
mit Futter, Wasser und Streicheleinheiten. Als
ich am dritten Morgen aufwache, ist er fort. Ob ich
ihn wohl wiedersehe? Als ich am nächsten Morgen
aus meiner Höhle krieche, sitzt er davor und schaut
mich mit wachem Blick an. Direkt vor mir liegt ein
kleines braunes Felltier. Ich weiß nicht, was das für
ein Tier ist, aber es ist offensichtlich von ihm. Er will
wohl auf seine Art Danke sagen. Ich glaube, das ist
der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
„Danke mein Freund, das ist aber lieb von dir“, sage
ich zu ihm, während ich sein Fell zause.
112
Der Verband hat gut gehalten. Er ist schmutzig, aber
noch an Ort und Stelle. Als ich mich auf den Weg zu
Lilly mache, folgt er mir humpelnd. Er legt sich
außerhalb von Lillys so, dass er mich im Blick hat. Als
sie das sieht, sagt sie zu mir:
„Du hast wohl einen neuen Freund gefunden?“
Ich erzähle ihr, wie wir uns kennengelernt haben.
„Hast du ihm schon einen Namen gegeben?“
„Nein, habe ich noch nicht, wie wäre es mit Diego?“
Ich rufe es ihm zu: „Hey Diego, magst du so heißen?“
Er legt den Kopf schief und gibt ein heiseres „Wow“
von sich. Ok, dann soll das dein Name sein. In den
nächsten fünf Tagen finde ich Diego jeden Morgen
vor meiner Höhle liegend vor. Tagsüber weicht er
keinen Moment von meiner Seite. Da ich ihn versorge,
muss er das auch nicht. Sein Vorderlauf
scheint gut zu heilen, er humpelt deutlich weniger
und ist schon viel flotter unterwegs. Diese Tiere verfügen
über enorme Selbstheilungskräfte. Er will ständig
mit mir spielen, dann lacht er mich regelrecht an
und in seinen Augen blitzt der Schalk auf. Oder
kuscheln, wenn er neben mir liegt und ich ihn hinter
den Ohren kraule, meine ich manchmal, ihn wohlig
seufzen zu hören. Ich liebe diesen Kerl! Seine
unbedingte Treue und Zuneigung berühren mich
immer wieder.
Doch ich muss ihn leider für einige Zeit zurücklassen.
Mein Geld geht zur Neige und ich muss zurück nach
Poona. Sobald das Geld aus Deutschland eingetroffen
ist, komme ich wieder her. Nur weiß ich nicht, wie
lange das sein wird. Und wie erkläre ich das einem
113
Hund? Ich versuche, ihn auf Gesten zu trainieren.
Eine kennt er schon gut und befolgt sie auch: die
Geste für „bleib“. Dazu strecke ich ihm die flache
Hand entgegen und er setzt sich und wartet dort, bis
ich wiederkomme. Ich hoffe, dass er diesmal die
Geste nicht zu wörtlich nimmt. Ich bedeute ihm, bei
Lilly zu bleiben, und laufe schnell vor zur Straße, wo
bereits ein Motorrad-Taxi auf mich wartet.
Es dauert dann doch länger, als ich gedacht habe, erst
gut zwei Wochen später bin ich wieder in Goa. Als ich
nach meiner alten Unterkunft sehe, liegt Diego davor
und bewacht sie. Was für ein treuer Kerl. Als er mich
sieht, gibt er ein Heulen von sich und stürmt auf
mich zu. Als ich auf die Knie gehe, leckt er mir
ungestüm über das Gesicht. Immer wieder springt er
wie ein junger Welpe um mich herum und ist schier
außer sich vor Freude. Ich streichel und zause ihn
und freue mich auch ihn wiederzusehen. Der Verband
und die Schienen sind fort. Der Riss ist verheilt
und kaum noch zu sehen. So wie er rumspringt
scheint alles gut geheilt zu sein, na prima. Die nächsten
Wochen ist er mein ständiger Begleiter. Nachts
schläft er jetzt bei mir in der Höhle. Wir ziehen
gemeinsam durch die Lande und er weicht nicht von
meiner Seite. Als schließlich die Zeit des Abschieds
naht, macht es mir das Herz schwer. Ich kann ihn
nicht mit mir nehmen. Er ist an ein freies Leben
gewöhnt, da wo ich hingehe, kann er nicht gut leben.
Ich muss ihn zurücklassen, wenn es mir auch noch so
schwerfällt. Ich setze mich in den Sand, nehme Diego
in den Arm und kraule ihn hinter den Ohren.
114
„Hey mein Lieber, ich muss dich jetzt leider
verlassen. Diesmal kann ich dir nicht versprechen,
dass ich bald wiederkomme, ich weiß es nicht. Du
bist so ein treuer Kamerad, ich würde dich so gerne
mit mir nehmen, aber es geht nicht. Hier hast du ein
besseres Leben und gute Menschen. Mach´s gut
geliebter Freund.“
Dabei zause ich seine Wangen und reibe meine Stirn
an seiner. Meine Tränen tropfen in sein Gesicht. Als
ich aufstehe, tappst er mit seiner rechten Pfote nach
mir, legt den Kopf schief und macht „Wuff, wuff“.
Mit verschwommenem Blick steige ich auf das
Motorrad und lasse mich nach Mapusa zum Bus-Stop
fahren.
***
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116
Menagerie
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MENAGERIE IN GOA
Nach dem Frühstück laufe ich rüber zu Ramadevs
Haus, er sitzt auf der Veranda und begrüßt mich:
„Hi, ich habe grade Kaffee gekocht, magst du auch
welchen?“
Ich setze mich zu ihm an den Tisch, Diego legt sich
neben mich. „Oh ja, gerne. Ich hab schon lange
keinen mehr getrunken.“
„Der ist noch aus Deutschland“, sagt er.
Er gießt mir eine Tasse ein. „Wie lang willst du heuer
in Goa bleiben?“
„Ungefähr drei Wochen, dann muss ich mich auf den
Weg machen, mein Visum läuft aus.“
Er nickt mit dem Kopf. „Das tät passen, das wär
recht. Sag, hättest du Lust, hier im Haus zu wohnen?
Die Jameera und ich, wir müssen nach Bombay aufs
Amt, wegen meines Visums. Auf dem Rückweg wollten
wir noch in Poona vorbei. Wir haben gedacht, wir
werden so drei Wochen fort sein. Es wäre gut, wenn
ich jemand Zuverlässigen hätte, der in der Zeit aufs
Haus achtet. Wir würden nur die halbe Miete verlangen,
das wären zweihundert Rupien.“
Das hört sich verlockend an, auch mal in einem Bett
zu schlafen oder in der Hängematte. Ich liebe Hängematten,
die sind einfach wunderbar. Das wäre doch
mal eine Abwechslung. Es ist wirklich schön, am
Strand zu leben, doch es hat auch seine Nachteile.
Dieser Sand ist irgendwann überall, er kriecht auch
in die feinsten Ritzen. Ob in der Kleidung oder am
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Körper, ich werde ihn einfach nicht los. Jetzt wasche
ich mich an einem Brunnen, hier hätte ich eine
Dusche. Also gut, nehme ich die Luxusvariante, wenn
sie denn schon so passend und günstig angeboten
wird. „Das hört sich gut an, das mache ich. Wann
wolltet ihr los?“
„Ja wenn du einwilligst, nehmen wir gleich morgen
das Schiff nach Bombay. Wir sind schon spät dran.
Wie ich sehe, hast du jetzt einen Hund?“
„So würde ich es nicht nennen. Wir haben uns
angefreundet und er hat sich dafür entschieden in
meiner Nähe zu bleiben.“
„Das ist gut, das gefällt mir. Wir haben hier auch so
verschiedene Gäste. Unter der Veranda wohnt eine
Schlange, zwei Meter lang und so dick wie mein
Unterarm. Wir nennen sie Kaa, sie ist völlig harmlos.
Wenn sie dir das erste Mal begegnet, wird sie dich
anzüngeln, sie nimmt so deinen Geruch auf. Normal
verzieht sie sich gleich wieder, sie war noch nie im
Haus.“
„Das ist gut zu wissen, ich hätte mich wohl doch
erschrocken. Mit Schlangen hatte ich noch nicht viel
zu tun, die kann ich nicht einschätzen.“
„Kaa ist in Ordnung, sie hält die Ratten weg. Außerdem
kommt bei uns jeden Morgen ein Huhn in die
Küche und legt uns ein Ei, das ist Betty.“
„Ach wie praktisch, gleich in die Küche. Da ist ja das
Frühstück schon mal gesichert.“
Wir müssen beide darüber lachen.
„Ja, und dann ist da noch Kitty. Komm mal mit, am
besten ich zeige dir gleich alles.“
Das flache Haus besteht aus einer Wohndiele und
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vier Zimmern. Dazu kommen die Küche, die Veranda
und ein kleiner Garten, in dem sich auch die Dusche
befindet. In der Küche steht ein festgepolsterter
Diwan. Ich setze mich prüfend darauf. „Das Teil ist
gut, darauf werde ich schlafen, ich mag es, wenn die
Matratze härter ist.“
„Das kannst du gerne machen. Sonst haben wir noch
ein Gästezimmer. Hier das Küchenfenster ist bei uns
eigentlich immer offen, nur wenn wir länger weg
sind, schließen wir die Läden. Kitty kommt meist so
am Vormittag, lässt sich den Kopf kraulen und
bekommt irgendeinen Happen von uns, sie fressen ja
fast alles. Hier steht ein Topf mit Reiskörnern, davon
kannst du Betty ein paar hinstreuen, wenn sie ihr Ei
gelegt hat.“
„Ok, das sollte ich hinkriegen.“
Nachdem er mir alles gezeigt hat, verabreden wir uns
für morgen früh zur Übernahme.
Die erste Nacht im Haus ist vergangen, als ich
erwache. Durch das Fenster kann ich sehen, dass die
Sonne schon aufgegangen ist. Hier im Haus kann ich
morgens etwas länger schlafen als am Strand. Auf
einmal höre ich ein Geräusch: „Gok, gok, gok“, kann
es aber nicht orten, zu sehen ist auch nichts. Am Fußende
vom Diwan steht ein hoher Korb, darin habe ich
etwas Wäsche gesehen. Jetzt schaue ich noch mal
hinein und ein rotbraunes Huhn mit weißen
Schwanzfedern, blinzelt mich mit müdem Blick an.
„Hallo Betty, schön dich kennenzulernen“, spreche
ich sie an. Sie dreht mir den Kopf zu und macht
erneut „Gok gok gook“.
120
Mit dem Zeigefinger kraule ich sie leicht am Hinterkopf.
Das scheint ihr zu gefallen, sie streckt mir den
Kopf weiter entgegen und schließt dabei die Augen.
Ihr „gok“ klingt nur noch ganz leise in ihr drin. Als
ich nach einer Weile aufhöre sie zu kraulen, wird es
gleich wieder lauter. Es dauert nicht mehr lange, da
erklingt noch lauteres, aufgeregtes Gegacker aus dem
Korb. Mit einem Rauschen kommt Betty aus dem
Korb und fliegt auf den Tisch unterm Fenster. Ich
streue ihr einige Reiskörner hin, die pickt sie dann
auch gleich begierig auf. Mit einem abschließenden
„Gok“ fliegt sie zum Fenster hinaus. Ich schaue in
den Korb und sehe ein schönes weißes Hühnerei, perfekt
geformt und ohne Makel. Ein Kunstwerk der
Natur! Das ich mir ohne Gewissensbisse gleich mal in
die Pfanne haue.
Kaum bin ich mit dem Frühstück fertig, erscheint
auch schon der nächste Besuch. Ein falbfarbenes
Kalb streckt seinen Kopf fast zum Fenster hinein.
Was schwierig ist, weil der Fenstersims noch ein
wenig zu hoch für sie ist. „Du bist dann ja wohl die
Kitty“, begrüße ich sie.
Ich beuge mich zum Fenster hinaus und kraule ihr
den Kopf. Erst zuckt sie zurück, aber dann lässt sie es
geschehen. Mein Kraulen, mögen scheinbar alle
Tiere, ich sollte es mal bei einem Skorpion versuchen.
Etwas Chapati und gekochten Reis finde ich in der
Küche. Das gebe ich ihr und sie mampft es auch
gleich zufrieden auf. Dann wendet sie sich ab und
verschwindet zwischen den Bäumen. Ein
harmonischer Kreislauf, der eine bringt was, der
andere holt was. Mir gefällt diese Lebensweise.
121
Am Abend mache ich es mir mit einem Buch in der
Hängematte gemütlich. Zumindest war das mein
Plan. Kaum liege ich drin, springt auch schon Diego
hinterher. Er wühlt und dreht sich an meine Seite,
rammt seine Schnauze in meine Achselhöhle und
grunzt zufrieden. So zu lesen ist nicht ganz so einfach
und es wird schnell sehr warm. Da wird plötzlich
meine Aufmerksamkeit abgelenkt – ich sehe eine
recht große Schlange, die sich die Verandastufen
hochwindet und auf uns zuhält. Das muss dann wohl
Kaa sein. Zumindest hoffe ich das ...
Ramadev hatte sie mir ja als harmlos beschrieben,
aber ich habe sie zuvor noch nicht gesehen. Diego ist
auch aufmerksam geworden, er hebt den Kopf und
knurrt tief in der Brust. Beruhigend raune ich ihm zu
und lege eine Hand auf seinen Rücken. Er entspannt
sich wieder, legt seinen Kopf auf meine Brust, aber
lässt die Schlange nicht aus den Augen. Die hat sich
bis auf knapp zwei Meter angenähert und richtet sich
jetzt auf, dabei unentwegt in unsere Richtung
züngelnd. Sie ist von grün-grauer Färbung mit einem
hübchen Muster auf dem Rücken. Ich kenne mich
nicht besonders gut mit Schlangen aus, es ist
jedenfalls keine Kobra, die kenne ich. Schlangen
können ja wohl nicht hören, aber durchaus feinste
Vibrationen aufnehmen. Mit einem melodischen
Brummen, versuche ich, ihre Aufmerksamkeit zu
erregen, und zu meiner Überraschung klappt das
auch sofort – sie wiegt sich sacht zu der Melodie.
Jetzt will ich noch etwas probieren: Ich hebe meine
abgewinkelte Hand und den Unterarm und wiege ihn
122
wie eine Schlange. Nur einen kurzen Augenblick
später synchronisiert sie sich mit meinen
Bewegungen. Hey, das ist abgefahren! Als ich mit
dem Brummen pausieren muss, sinkt sie herab und
schlängelt in die Dunkelheit davon. Das war mal
wieder eine nette Bekanntschaft. Diego ist auf meiner
Brust eingeschlafen und schnarcht leise. Ein tiefes
Gefühl von Zufriedenheit erfüllt mich inmitten
meiner vielgestaltigen Menagerie.
***
123
124
Garfield
125
GARFIELD
Ein Zischen und Fauchen, als hätten sich mehrere
Schläuche von einem Kompressor gelöst, dann ein
schrilles Kreischen, das den Zahnschmelz splittern
lässt, abgeschlossen von einem dumpfen Poltern. Ich
öffne das Fenster und schaue hinaus. Natürlich,
Garfield thront stolz auf der Mauer, die die
Hinterhöfe trennt, und putzt sich. Dabei immer
wieder triumphierend um sich blickend. Gerade sehe
ich noch, wie sich eine andere Katze zwischen den
Mülltonen verkriecht. Garfield ist der Herrscher über
alle Höfe, daran lässt er keinen Zweifel. Falls es doch
einmal einer wagen sollte, das infrage zu stellen, setzt
es Prügel. Mit seiner Größe und gut acht Kilo
Kampfgewicht, kann ihm kaum einer standhalten,
und das weiß er.
Garfield hat eine Menge mit seinem prominenten
Namensgeber gemeinsam: seine Statur, seine
Fellfarbe und auch seine schlechten Manieren. Er
lebt noch nicht lange bei mir, es kam durch eine
Kette von Umständen dazu. Letztlich hat er das wohl
selbst so entschieden, der Pascha. Kennengelernt
haben wir uns bei einem guten Freund von mir, bei
dem lebte er zusammen mit seinem Bruder. Mein
Freund wohnte in der ersten Etage und ließ in der
Küche immer ein kleines Fenster offen. Von dort
konnten sie auf das Dach einer Remise springen,
sodass sie nach Belieben rein und raus konnten. Da
Garfield aber ein Raufbold war und ist, ging das
126
natürlich nicht geräuschlos ab. Manchmal fanden
regelrechte Schlachten auf dem Hof statt. Mit der
dazugehörigen infernalischen Geräuschentwicklung.
Das nervte die anderen Mieter so sehr, dass mein
Freund irgendwann eine Abmahnung bekam und die
Auflage, die Katzen nur noch in der Wohnung zu
halten. Da er aber den größten Teil des Tages nicht
zuhause war, wollte er die Katzen nicht eingesperrt
sich selbst überlassen und entschloss sich dazu, sie
an jemand anderen weiter zu geben. Zu der Zeit
wohnte ich bei meiner Mutter, ich war erst vor
Kurzem nach Berlin zurückgekehrt. Sie hatte mir
erzählt, dass sie daran dachte sich ein Haustier
zuzulegen, also fragte ich sie. Zwei Katzen waren ihr
zuviel, also blieb Garfield bei ihr und sein Bruder
kam zu meiner Schwester. Problem gelöst – dachte
ich zumindest.
Durch meine Arbeit bedingt, kam ich meist erst spät
am Abend nachhause. Von Anfang an zeichnete sich
ab, dass Garfield den ganzen Tag auf mich wartete.
Wenn ich die Tür öffnete, saß er immer schon
dahinter und begrüßte mich begeistert. Kaum hatte
ich die Jacke ausgezogen, sprang er auch schon auf
meine Schulter. Wenn ich den Augenblick verpasste,
konnte er mich zum Stolpern bringen. Saß ich dann
im Sessel, legte er sich quer über die Rückenlehne
und begann mich zu beschmusen. Dabei rieb er
seinen Kopf an meinem, immer rechts und links,
ohne Unterlass. Dabei so laut schnurrend, dass man
dachte, ein Motor wäre angesprungen.
127
Meine Mutter war davon weniger begeistert.
„Ich darf ihn füttern und gelegentlich auch mal
streicheln, aber ansonsten ignoriert mich dieser
Kater. Er hat die ganze Zeit auf dem Sessel gelegen
und geschlafen, dann ist er auf einmal aufgesprungen
und in den Flur gerannt. Fünf Minuten später
kommst du zur Tür rein. Ich glaube, der hat dir einen
Peilsender untergeschoben.“
So vergingen die nächsten Tage auf diese Weise.
Eines Abends kam ich heim und traf meine Mutter
ratlos an. Garfield war verschwunden. „Ich weiß
nicht, wo er hin ist, ich suche ihn schon den ganzen
Abend. Ich hatte schon Angst, dass er vom Balkon
gesprungen ist“, sagte meine Mutter. Das wäre nicht
so gut, sie wohnte in der dritten Etage. Doch da hörte
ich auf einmal ein leises mauzen, konnte aber nicht
sagen, woher es kam. Dann wieder, diesmal war es
lauter. „Ich kann ihn hören, aber wo hat er sich nur
versteckt?“ Ein heftig kratzendes Geräusch gab mir
dann den Hinweis, er war in der Zwischendecke, die
ich eingezogen hatte. Wie er dort hinein konnte, war
mir ein Rätsel. Allerdings gab es an einem Ende eine
kleine Lücke von zehn Zentimetern, die hatte ich
noch nicht geschlossen. Wie konnte der dicke Kerl da
hindurchpassen? Egal, ich holte eine Leiter, entfernte
ein Profilbrett, und ein komplett eingestaubter Kater
rieb freudig seinen Kopf an meinem. Na Klasse, wie
bekomme ich den wieder sauber? Ich schnappte ihn
mir und ging direkt ins Bad, bevor er den Dreck in
der Wohnung verteilen konnte.
128
Als die Wanne mit lauwarmem Wasser halb gefüllt
war, griff ich ihn und ließ ihn einfach hineinplumpsen.
Zumindest war das der Plan! Garfield
gehört ganz eindeutig zur wasserscheuen Sorte. Mit
allen vier Pfoten gleichzeitig krallte er sich an mir fest
und mauzte ganz erbärmlich. Ich war froh, dass ich
noch meine Arbeitskombi trug. Doch dieser Frohsinn
war gleich darauf wieder vorbei. Nachdem ich es
endlich geschafft hatte, seine Krallen aus meiner
Kombi und aus meinem Fleisch zu ziehen, konnte ich
ihn ins Wasser drücken. Für ungefähr zwei
Sekunden! Dann hockte er vor Nässe triefend auf
meinem Rücken und krallte sich dort schmerzhaft
fest. Also zog ich die Kombi aus und verfrachtete ihn
erneut in die Wanne, ihn diesmal unerbittlich am
Halsband festhaltend, was schnell anstrengend
wurde, er wehrte sich heftig. Kaum hatte ich den
gröbsten Dreck entfernt, da wand er sich wieder aus
meinem Griff und sprang im Bad herum sich dabei
heftig schüttelnd. Ich ließ die Kombi und einige
Handtücher am Boden liegen, sodass er sich darauf
wälzen konnte. Mich schnell zur Tür hinauszwängend
ließ ich ihn im Bad zurück, er sollte erst mal
trocknen.
129
Als ich ihn eine Stunde später herausließ, ging er
hoch erhobenen Hauptes an mir vorbei und
ignorierte mich völlig. Dieser Kater schafft es
tatsächlich, von unten auf dich herabzusehen! Am
nächsten Tag war ich dann eine Stunde damit
beschäftigt, das Bad zu putzen.
Kurz darauf bezog ich eine eigene Wohnung und
meine Mutter meinte: „Dieser Kater will doch
überhaupt nichts von mir wissen, ich darf ihn füttern
und seine Kacke wegräumen, aber vernarrt ist er nur
in dich. Also nimm du ihn mit zu dir.“
Das machte ich dann auch und er kann bei mir
wieder in Freiheit leben. Schnell hat er sich an seine
neue Umgebung angepasst und ist nun wieder der
Herrscher der Kreuzberger Hinterhöfe.
Da ich momentan sehr viele Aufträge habe, bin ich
den ganzen Tag außer Haus. Wenn ich dann spät
abends heimkehre, macht sich Garfield durch lautes
Kratzen an der Tür bemerkbar. Die Fenster sind zu
hoch, als das er dort hinein könnte. Ich lasse ihn rein
und gebe ihm sein Futter. Wenn ich schlafen gehe,
kuschelt er sich meist an mich und schläft bei mir.
Am Morgen will er dann gleich nach dem Frühstück
wieder hinaus. In den letzten Tagen kommt er nicht
mehr jeden Abend zu mir, aber ich höre seine
Stimme, die nachts oft durch den Hof schallt. Bisher
hat sich noch niemand bei mir darüber beschwert.
Der Sommer war sehr aktionsreich, ich habe oft bis
zu sechzehn Stunden am Tag gearbeitet. Selbständig
sein, heißt selbst und ständig arbeiten.
130
Als Ein-Mann-Betrieb muss ich mich um alles selbst
kümmern. In den letzten vier Wochen habe ich
Garfield nur einmal kurz gesehen, er hat nicht mehr
an meiner Tür gekratzt und ich höre ihn auch nur
noch selten auf dem Hof.
Heute ist Sonntag und ich kann endlich ausschlafen.
Dachte ich. Es klingelt, ich schau auf die Uhr: 9:28!
Welcher frevelhafte Mensch wagt es, um diese Zeit an
meiner Tür zu klingeln? Als ich die Tür öffne, steht
eine kleine ältere Frau mit Garfield auf dem Arm vor
mir. Als er mich sieht, springt er runter und flitzt in
die Wohnung.
„Guten Morgen, ich bin Frau Wolansky aus dem
Vorderhaus. Ihr Kater ist ständig bei mir, kümmern
Sie sich denn nicht um das Tier?“
„Hallo Frau Wolansky aus dem Vorderhaus. Garfield
ist es gewohnt in Freiheit zu sein. Er bestimmt, wann
er bei mir sein will. Er braucht nur an meiner Tür zu
kratzen und kann rein. Er hat einen Schlafplatz und
ich füttere ihn. Warum er jetzt lieber bei Ihnen als bei
mir sein will, weiß ich nicht.“
„Er kratzt immer an meiner Tür, er hat ständig
Hunger, ich habe schon zwei Schalen extra für ihn
vor die Tür gestellt. Ich habe ja selbst acht Katzen. Er
will immer zu mir rein. Nur, wenn ich ihn reinlasse,
verhaut er immer die anderen Katzen und frisst
ihnen alles weg. Wenn ich die Tür öffne, ist er sofort
drin. Er ist meist schneller als ich.“
Ich stelle mir das grade illustriert vor und kann mir
nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen. „Dann hören
sie doch einfach auf, ihn zu füttern, dann kommt er
131
auch nicht mehr. Garfield ist total verfressen, dem
können sie zehnmal am Tag was hinstellen, wenn es
lecker genug ist, frisst er es.“
„Ja, aber er bettelt immer so lieb, ich kann doch eine
Katze nicht hungern lassen. Das wird ja auch
langsam teuer, ich kaufe jeden Tag zweihundert
Gramm Schabefleisch, nur für ihn.“
Jetzt kann ich nicht mehr an mich halten: „Sie tun
was? Schabefleisch? Ja sind Sie noch zu retten?
Abgesehen davon, dass man Katzen kein rohes
Fleisch füttern sollte, was ihm natürlich völlig egal
ist. Worüber wundern Sie sich? Sie füttern ihn mit
Delikatessen und er darf als Pascha in einem Harem
wohnen. Sie zeigen ihm das Katzenparadies und
erwarten, dass er sich freiwillig davon fernhält? Dass
er lieber bei mir sein Dosenfutter frisst? Gute Frau,
wenn Sie mit Garfield ein Problem haben, dann weiß
ich, wer dafür verantwortlich ist.“
„Ach ja, immer bin ich an allem schuld“, murmelt sie
nur, wendet sich ab und geht die Treppe hinunter.
In den letzten Wochen habe ich Garfield nur noch
selten gesehen. Manchmal begegnet er mir auf dem
Hof oder im Hausflur. Er kommt noch zu mir und ich
darf ihn ein wenig streicheln, aber er zeigt nur noch
geringes Interesse an mir. Mit Frau Wolansky kann
ich einfach nicht konkurrieren. Morgen werde ich
umziehen, nach zwei Wassereinbrüchen und einem
undichten Schornstein ist die Wohnung unbewohnbar
geworden. Garfield lasse ich bei Frau
Wolansky. Warum sollte ich ihn aus seinem Paradies
vertreiben?
***
132
Shiva
133
SHIVA
„Bom Dia!“, begrüße ich die hagere, blondierte Frau,
die uns das Tor öffnet. Mein Freund Jefferson und
ich, sind gekommen, um uns zwei Schäferhund-
Welpen anzusehen. Die Frau bittet uns, einen Augenblick
zu warten, und geht durch ein weiteres Tor
hinter das Haus. Kurz darauf kommt sie mit zwei
Welpen zurück. Dreieinhalb Monate sollen sie alt
sein. Der eine ist deutlich größer als der andere, von
kräftiger Statur und er hat ein dickes, wolliges Fell.
Doch er interessiert sich nur kurz für seine nähere
Umgebung und geht gleich wieder zu der Frau
zurück. Uns hat er nur eines kurzen Blicks gewürdigt.
Auf meine Lockversuche reagiert er nicht. Ganz
anders der Kleinere mit dem glatten Fell, der kommt
sofort mit wachem Blick zu mir. Ich gehe auf die Knie
und halte ihm meine Hand entgegen. Er schnuppert
kurz an ihr, um dann seinen Kopf daran zu reiben. Er
beschnuppert auch kurz Jefferson, kehrt dann aber
gleich wieder zu mir zurück und springt an mir hoch.
Was für ein niedlicher kleiner Fratz, neugierig und
zugewendet. Ich schau ihm in die braunen Augen und
frage ihn: „Willst du mit mir kommen und bei mir
leben?“ Er legt den Kopf auf die Seite und schaut
mich an, dann schleckt er mir einmal quer über das
Gesicht. Für mich ist die Entscheidung längst
gefallen, diesen kleinen Kerl will ich bei mir haben.
Ich bezahle der Frau die hundertachtzig Real, das
sind rund sechzig Euro, nehme meinen neuen Freund
auf den Arm und wir verabschieden uns.
134
Jefferson ist mit meiner Wahl nicht so recht einverstanden,
er hätte den Größeren genommen. Doch
Jeffersons Meinung ignoriere ich in diesem Fall, er
ist Brasilianer, und die verstehen im Allgemeinen
nichts von Hunden. Die meisten Brasilianer haben
fürchterliche Angst selbst vor dem kleinsten Kläffer.
Diejenigen, die sich Hunde halten, behandeln sie oft
miserabel. So ein Hundeleben in Brasilien endet
schnell an einer Kette in irgendeinem Hof. Sie
werden viel geprügelt und bekommen nur das
Nötigste zu fressen. Sie sollen möglichst aggressiv
und bedrohlich wirken, Diebe und Einbrecher fernhalten.
Dass ein so misshandelter Hund irgendwann
böse und gefährlich wird, ist nur natürlich und die
Brasilianer haben allen Grund, vor ihnen Angst zu
haben. Dass ein Hund auch ein Freund und
Familienmitglied sein kann, diese Vorstellung ist den
meisten fremd. Nun, diesem Welpen hier auf meinem
Schoß soll es jedenfalls besser ergehen.
Ich werde ihn Shiva nennen. Shiva ist noch nie im
Auto gefahren, die Strecke ist recht kurvig und das
hat unerwünschte Auswirkungen auf den kleinen
Kerl. Ich merke, wie er anfängt zu würgen und setze
ihn schnell in den Fußraum. Gleich darauf spuckt er
mir die Matte voll. Er wimmert danach ganz erbärmlich.
Als ich ihn wieder auf meinen Schoß hebe,
drückt er sich eng an mich. Ich sage Jefferson, er soll
langsamer und bedächtiger fahren. Er schaut mich
nur mit hochgezogenen Brauen an, macht aber, was
ich sage. Auf ein Tier Rücksicht zu nehmen, gehört
nicht in seine Vorstellungswelt. Er wird sich nicht das
letzte Mal über mich wundern.
135
Als Nächstes fahren wir zu einem Zooladen, dort
kaufe ich ein Halsband, eine Leine, Hundefutter und
was es so alles braucht. Dann geht es weiter nach
Buzius, einem kleinen verschlafenen Ort an der Küste
im Nordosten von Brasilien, nur dreißig Kilometer
von Natal entfernt. Hier haben meine Freundin und
ich uns vor gut zwei Jahren ein wunderschönes Haus
gekauft. Es liegt rund sechshundert Meter vom Meer
entfernt auf einem Hügel, der das ganze Dorf überblickt.
Es war der Ausblick von der Terrasse, der
letztlich den Kauf entschieden hat, obwohl das Haus
selbst ein absolutes Schnäppchen war. Rund zwölftausend
Euro haben wir umgerechnet dafür bezahlt.
Hundertvierzig Quadratmeter Wohnfläche auf zwei
Etagen und ein von Mauern eingegrenztes Grundstück
von vierhundert Quadratmetern waren zu
diesem Preis fast geschenkt.
Bisher war ich immer nur dreimonatsweise hier, jetzt
will ich aber endgültig bleiben. Einer meiner ersten
136
Wünsche für mein Leben in Brasilien, war ein Hund.
Ich liebe Hunde und würde gerne einen bei mir
haben. Hier habe ich günstige Bedingungen, um
einen Hund halten zu können. Das war in den letzten
Jahren meist nicht möglich. Im Haus und im Garten
hat er ausreichend Platz, hier kann er sich austoben.
Nachdem uns Jefferson abgesetzt hat, bin ich mit
Shiva nun allein und er erkundet erst mal das Haus.
Zur Begrüßung wird eine Pfütze ins Wohnzimmer
gemacht. Da alle Böden gefliest sind, ist das kein
Problem. Ich sage nur „Pfui!“, und wische die Pfütze
weg, mit der Erziehung hats noch ein wenig Zeit.
Jetzt sind die Einkäufe dran, ich stelle den Futterund
Wassernapf auf und dann passe ich ihm das
Halsband an, er lässt es willig geschehen. Es macht
mir viel Freude, den kleinen süßen Kerl zu beobachten,
wie er tapsig alle Ecken erkundet. Nachdem wir
beide unser Mittagessen hatten, lege ich mich in die
Hängematte auf der Terrasse, mein absoluter Lieblingsplatz.
Shiva schaut von unten zu mir auf und
jault mitleiderregend, er will auch mit hinein. Ich
hebe ihn zu mir hoch und lege ihn auf meinen Bauch.
Er dreht sich dreimal im Kreis, rollt sich zusammen,
lässt einen wohligen Seufzer hören, schließt die
Augen und schläft ein. Eine tiefe Zuneigung zu
diesem kleinen Hund erfüllt mich, ich bin sicher, es
war die richtige Wahl. Das Panorama, welches sich
vor der Terrasse ausbreitet, zum wiederholten Mal
bewundernd, schlafe ich ebenfalls ein.
Buzius ist ein wunderbarer Ort, unter einem
wolkenlos blauen Himmel kann ich über die Weite
137
des Atlantiks blicken. Ich schaue auf die roten
Ziegeldächer der Häuser die sich unterhalb von
unserem befinden. Sie werden zu einem großen Teil
nur als Ferienhäuser genutzt, sind also den größten
Teil des Jahres unbewohnt. Die Luft ist warm und
sauber, tief atme ich die sauerstoffgesättigte Wohltat
ein. Hier fährt nur selten ein Auto vorbei, ansonsten
ist es hier meist still. Die einzigen Geräusche
kommen von der entfernten Brandung, dem Wind
oder von zwitschernden Vögeln. Gelegentlich höre
ich noch die Palmblätter aneinanderrascheln. Diese
stille, friedliche Atmosphäre ist seelenfüllend, ich bin
glücklich hier. Das ist mein Elysium!
Seit zwei Wochen ist Shiva nun bei mir und hat sich
prima eingelebt. Er ist inzwischen fast stubenrein,
manchmal vergisst er es aber. Es sind jetzt täglich
Bauarbeiter bei uns, ich lasse einen Anbau mauern
und das Dach wird neu gedeckt. Wegen
Termitenbefall muss ich den gesamten Dachstuhl
austauschen. Auf einer Baustelle gibt es viel zu sehen
138
für einen jungen Hund. Dadurch, dass Shiva noch so
klein und harmlos daherkommt, hat auch niemand
Angst vor ihm. Er ist ein vergnügter kleiner Kerl, alle
sind nett zu ihm. Er ist inzwischen geimpft worden
und der Tierarzt war sehr zufrieden mit seinem
allgemeinen Zustand. Zwei Streitpunkte haben Shiva
und ich noch zu klären: Keine Schuhe und andere
Sachen zerkauen und er darf nicht in mein Bett!
Grade lege ich mich hin und will das Licht
ausmachen, da springt er schon wieder an der Seite
hoch. Noch schafft er es nicht bis auf die Matratze,
aber das wird nicht mehr lange dauern. „Nein Shiva,
du darfst nicht ins Bett. Leg dich auf deine Decke.“
Nachdrücklich schiebe ich ihn dorthin. Grummelnd
und sich wie aus Protest immer wieder um sich selbst
drehend, legt er sich endlich nieder. Ich hoffe, es
bleibt dabei, schalte das Licht aus und lege mich hin.
Es kommt mir so vor, als
wäre ich grade erst
eingeschlafen, ich werde
von einem fürchterlichen
Jaulen und Scharren wach.
Was ist denn jetzt los? Das
Jaulen kommt aus der
Küche, ich stehe auf und
gehe rüber. Nachdem ich
das Licht eingeschaltet
habe, sehe ich Shiva. Er
sitzt auf dem Boden und schaut mich aus
verquollenen Augen an, seine Schnauze ist fast
139
doppelt so dick wie normal. Was um alles in der Welt
ist hier nur passiert? Ich gehe auf die Knie und
schaue ihn mir genauer an, da sehe ich etwas
zwischen seinen Pfoten liegen. Ich hole es hervor –
eine tote Maribonda! Eine dieser großen hässlichen
Wespen mit den langen Beinen. Die gibt es hier
überall, im Dachstuhl waren etliche Nester.
Oh jeh, der arme Kerl ist von einem dieser Biester in
die Schnauze gestochen worden. Wahrscheinlich hat
er einen allergischen Schock. Kann ihm das schaden?
Ich bin unsicher, hole die Karte vom Tierarzt und
rufe ihn an. Ein Blick auf die Uhr: Es ist fast halb
Zwölf. Egal, das ist ein Notfall. Nach nur dreimal
klingeln geht der Arzt ran. Ich erkläre ihm in meinem
noch holprigen Portugiesisch, was sich ereignet hat.
Er ist ganz ruhig und sagt mir, welche Pillen ich
kaufen soll und wie ich sie ihm verabreiche. „Prima
danke Doktor und Entschuldigung für den späten
Anruf.“
Ich würde ja sofort losfahren, die Apotheke in
Panamirim hat bis um Mitternacht geöffnet. Doch
Jefferson hat gestern mein Auto in die Werkstatt
gebracht, er will es mir morgen zurückbringen.
Solange will ich aber nicht warten, ich mache mir
Sorgen um den Kleinen. Jefferson klingt total
verschlafen, als er ans Telefon geht. „Jefferson, raus
aus dem Bett! Du musst zur Apotheke, Shiva ist von
einer Maribonda gestochen worden.“
„Was? Jetzt? Hat das nicht bis morgen Zeit?“
„Nein, ich weiß nicht wie sehr das sein Herz belastet,
ich will kein Risiko eingehen. Los mach schnell, die
Apotheke macht gleich zu!“
140
Es dauert dann noch gut eine Stunde, bis ich ihn
vorfahren höre. Er hat einen Schlüssel für das Tor
und lässt sich selbst ein. „Hi Jefferson, danke, dass
du so spät noch gekommen bist!“
Er schaut sich Shiva an und sagt: „Ist schon gut, ich
sehe, dass es nötig ist.“
Er hat den kleinen, knuddeligen Hund inzwischen
auch liebgewonnen. Er gibt mir die Tabletten und ich
mache mich an die Zubereitung. Ich habe schon
Shivas Lieblingsleckerlis mit etwas Wasser
eingeweicht, nun zerbrösel ich zwei Tabletten und
vermische sie mit dem Brei. Den schleckt er dann
auch begierig auf. Prima, jetzt heißt es abwarten, ob
die Tabletten wirken. Ich schicke Jefferson zurück in
sein Bett, nehme Shiva auf den Arm und lege mich
mit ihm in die Hängematte. Das ist inzwischen unser
beider Lieblingsplatz. Wir richten uns gemütlich ein
und es dauert keine halbe Stunde, da ertönen
Schnarchgeräusche von meinem Bauch. Ich denke,
die Krise ist überstanden.
Um sechs Uhr früh geht hier die Sonne über dem
silbrig glitzernden Meer auf. Ab sieben Uhr scheint
sie voll auf die Hängematte. Schweißgebadet wache
ich auf und schaue in die warmen, braunen Augen
von Shiva. Fröhlich hechelt er mich an, seine
Schnauze ist wieder abgeschwollen und die Augen
sind klar. Die Ohren, die heute Nacht wieder
gehangen haben, stehen nun wieder aufrecht. Hat er
also den Angriff gut überstanden. Ich bin mächtig
froh für den kleinen Kerl und muss ihn erst mal
ausgiebig knuddeln. Wenn ich ihn am Bauch kitzle,
141
zucken seine Hinterläufe unkontrolliert und er grinst.
Es ist erstaunlich, wie schnell so ein Hund wächst.
Shiva ist jetzt sechs Monate alt und deutlich
gewachsen. Er tollt viel herum, er liebt es, mit seinem
Ball zu spielen. Er hat einen kleinen, gelben
Gummifootball, dieses eiförmige Gebilde trägt er
ständig mit sich herum und ist glücklich, wenn er
jemand findet, der ihn weit fortwirft. Ich habe eine
für mich unangestrengte Methode gefunden, ihn zu
beschäftigen. Während ich bequem auf der Terrasse
sitze, brauche ich den Ball nur über die Brüstung zu
werfen und er flitzt los um ihn zu holen. Dazu muss
er um das halbe Haus herum und über eine Treppe,
das macht ihn fit. Als ich den Ball das erste Mal über
die Brüstung warf, sprang er an ihr hoch und jaulte
ihm hinterher. Nur zweimal habe ich ihm den Weg
gezeigt, dann hatte er es begriffen. Shiva ist ein sehr
aufmerksamer Hund und lernt schnell.
Leider wird die schöne Zeit in unserem Haus bald
vorbei sein, wir werden es verkaufen. Es gibt
verschiedene Gründe, die dazu geführt haben. Der
bewaffnete Überfall im letzten Jahr, bei dem wir
ausgeraubt wurden, hat uns die Entscheidung sicher
etwas leichter gemacht, war aber nicht ausschlaggebend.
Entscheidend ist, dass wir keine reguläre
Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Jedenfalls
nicht so, wie wir uns das gewünscht haben. Jetzt hat
sich eine neue Möglichkeit aufgetan, dafür fehlt uns
aber das Kapital. Also heißt es, das Haus behalten
und nicht ständig drin leben können oder das Haus
142
zu einem guten Preis verkaufen und uns an einem
anderen Ort eine neue Existenz aufbauen. Zur Zeit
gibt es einen regelrechten Bau-Boom in Natal und
allen Küstenorten in der Umgebung. Auch in Buzius
wurde schon viel neu gebaut. Viele Investoren aus
dem europäischen Ausland investieren große
Summen in Immobilien. Das hat die Preise in kurzer
Zeit rapide steigen lassen. Wir können also mit einem
guten Erlös rechnen.
Manchmal hat man einfach Glück!
Wir haben im Laufe der Zeit sehr viel Geld und noch
mehr Arbeit in das Haus investiert. Durch glückliche
Umstände sind wir an einen norwegischen Investor
geraten, der bereits viele Objekte in der Umgebung
gekauft hat. Nachdem er zehn Minuten auf unserer
Terrasse gesessen hat, wollte er das Haus unbedingt
haben; sowie das gesamte Gelände drumherum.
Nachdem einige Hindernisse überwunden waren,
bekamen wir ungefähr das Doppelte von dem, was
wir in das Haus investiert haben. Das nenne ich einen
guten Deal.
Letzten Endes mussten wir jedoch unseren Plan in
Brasilien zu leben aufgeben. Wir kamen zu der
Feststellung, dass dort Himmel und Hölle ganz dicht
beieinanderliegen. Mit dem Wunsch, dort zu leben,
konnte ich abschließen, die Notwendigkeit Shiva
zurückzulassen schmerzte mich viel mehr. Er war zu
der Zeit erst 15 Monate alt. Die Regeln ein Tier nach
Europa einzuführen sind sehr streng. Er muss
mindestens 18 Monate alt sein, erst dann kann ich
143
eine vom Amtsarzt entnommene Blutprobe nach
Deutschland schicken. Das muss drei Monate vor der
Einreise geschehen. Ich hätte also noch mindestens
ein halbes Jahr dortbleiben müssen, das war nicht zu
machen. Ein älteres Ehepaar hat ihn übernommen,
ich habe ein gutes Gefühl, dass sie sich fürsorglich
um ihn kümmern werden. Ich hoffe, er kann mir
verzeihen, es kommt mir wie Verrat vor. Es hat mir
das Herz schwer gemacht, ihn nicht mit mir nehmen
zu können. Noch heute denke ich mit Traurigkeit
daran. Unsere gemeinsame Zeit war viel zu kurz. So
sind gleich zwei meiner größten Träume geplatzt. In
Brasilien in Frieden mit meiner Frau und einem
Hund gemeinsam zu leben. Es konnte nicht sein.
Wir lieben Seifenblasen, Feuerwerk und Träume, weil
sie vergänglich sind.
***
144
Smyllah
145
SMYLLAH
Große, dunkle Augen schauen mir direkt ins Herz. Sie
sitzt in würdevoller Haltung auf einem kleinen Tisch,
den Schwanz elegant um die Füße gelegt. Immer
wieder kehrt mein Blick zu diesen faszinierenden
Augen auf dem Monitor zurück, während meine
Hand schon nach dem Telefonhörer greift.
„Gutschmidt!“
„Hallo? Einen schönen guten Abend, ich rufe wegen
Ihrer Anzeige auf der Seite Tierfreunde an. Ich würde
gerne diese hübsche Katze nehmen wollen.“
„Ja? Das wäre ja toll! Aber wissen Sie, das müsste
jetzt alles sehr schnell gehen, ich muss morgen ins
Krankenhaus und ich weiß nicht, wohin ich mit der
Smyllah soll. Hätten Sie denn heute Abend Zeit?“
„Zeit hätte ich schon, wo wohnen Sie denn? Mein
Problem ist, ich habe keine Transportbox und auch
kein Auto.“
„Das ist überhaupt kein Problem, das haben wir alles.
Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, bringen wir Ihnen
die Katze vorbei.“
Nur etwa zwei Stunden später, klingelt es an der Tür.
Eine brünette Frau Ende Zwanzig lächelt mich an,
hinter ihr steht ein Mann, beladen mit einer Tiertransportbox
und einer Tasche. „Guten Abend, die
Gutschmidts mit der Smyllah sind da!“
Ich lasse sie ein und Frau Gutschmidt stampft
unbeholfen in meine gute Stube, der Mann hinterher.
Sie schiebt einen enormen Bauch vor sich her,
gespannt wie eine Trommel, sie ist hochschwanger.
146
Ächzend und schwerfällig lässt sie sich in einen
Sessel sinken. „Morgen soll der Bengel raus, hab
lange genug gebrütet, mir reichts!“, stöhnt sie.
Jetzt stellt sich der Ehemann vor: „Guten Abend,
Pascal Gutschmidt, meine Freunde nennen mich
Kalle. Ja, das ist die Smyllah, soll ich sie rauslassen?“
„Ja, bitte.“
Er öffnet die Klappe der Box und sie steckt vorsichtig
das schwarzweiße Köpfchen heraus. Schaut sich erst
im Zimmer um und dann sieht sie mich ganz aufmerksam
an. Da sind sie wieder, diese magischen
Augen. Langsam und bedächtig, einen Fuß nach dem
anderen steigt sie aus der Box und beginnt Schritt für
Schritt das Zimmer zu erkunden.
„Wir sind ja so froh, dass Sie angerufen haben. Ich
war schon ganz verzweifelt. Ich konnte sie doch nicht
eine Woche allein lassen. Wir sind erst vor Kurzem
zusammengezogen, mein Mann hat aber einen Kater
und die beiden verstehen sich überhaupt nicht. Sie
hat sich den ganzen Tag auf dem Balkon meiner alten
Wohnung verkrochen. Das ist doch kein Zustand“,
sprudelt Frau Gutschmidt hervor.
Ich setze mich auf den Boden und halte Smyllah
meine Hand entgegen. Sie riecht kurz daran, dreht
dann wieder ab und beschnuppert weiter das
Zimmer.
„Sie ist eine norwegische Waldkatze“, sagt Kalle.
„Aus Norwegen? Ah, God Dag, frøken“, krame ich
meine spärlichen Sprachüberreste zusammen.
„Nee, die Rasse heißt nur so. Smyllah wurde in Berlin
geboren, vor sieben Jahren“, klärt mich Kalle auf.
Jedenfalls ist sie ein ausgesprochen hübsches Tier.
147
Schwarzer Rumpf, weiße Brust und weiße Strümpfe,
der Kopf schwarzweiß gezeichnet. Ein dicker flauschiger
Pelz mit großen dicht behaarten Pfoten. Sie
hat ein hübsches Gesicht
und dazu diese großen
faszinierenden Augen. Ich
fühle mich immer ganz
direkt von ihr angeblickt.
Es ist anders, als ich es von
anderen Katzen gewöhnt
bin. Mir fällt ein, dass ich
nichts zu fressen für sie
habe. Doch sie haben etwas mitgebracht. Kalle öffnet
gerade die Tasche und sagt: „Wir haben einige Dosen
Futter, ein paar Stangen Leckerli und etwas Streu für
sie mit. Ein Katzenklo müssten Sie kaufen.“
„Das ist kein Problem, ich kann gleich morgen eins
besorgen, einstweilen sollte eine Schüssel reichen.“
Ich bekomme noch einen Impfpass von der Frau und
sie hat mir ihre Telefonnummer aufgeschrieben.
„Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich ruhig an“,
sagt sie zum Abschied. Dann sind wir zwei allein.
Heute muss ich in den Supermarkt, das Katzenfutter
ist alle und ich brauche auch einige Sachen für mich.
Die Auswahl an Dosenfutter ist riesig. Die Sorte, die
Kalle im Großmarkt palettenweise gekauft hat, wie er
mir erzählte, gibt es hier nicht. Muss ich also eine
andere nehmen. Noch ein paar Leckerlis und ich
hoffe, mit meiner Wahl bei meiner Katzenlady auf
Zustimmung zu stoßen. Sie steht wie immer direkt
hinter der Tür und erwartet mich bereits. Während
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ich meine Einkäufe auspacke, streicht sie mir um die
Beine. Das fühlt sich gut an, ich mag das. Ich gebe
eine Portion Futter in ihre Schale, stell sie ihr hin und
gehe ins Zimmer. Auf einmal höre ich lautes, aufgeregtes
Gemauze aus der Küche. Da muss ich doch
mal nachschauen, was da los ist. Smyllah steht vor
ihrem Futternapf und schnurrt laut, sie leckt immer
wieder am Futter und mauzt dabei. Es hört sich an
wie kleine Begeisterungsschreie. Schließlich frisst sie
den ganzen Napf innerhalb kürzester Zeit gierig leer.
„Na, das scheint dir ja gut zu schmecken! Haben sie
dich etwa die ganze Zeit mit immer dem gleichen
öden Zeug gefüttert? Das sieht mir fast so aus. Das
kommt nicht mehr vor, versprochen.“
Sich eifrig das Schnäuzchen leckend begleitet sie
mich zurück ins Zimmer. Sie legt sich neben mich auf
das Sofa und putzt sich erst mal ausgiebig. Als sie
fertig ist, rollt sie sich schnurrend an meiner Seite
zusammen.
Wir haben in den wenigen Tagen bereits ein gutes
Miteinander gefunden, Smyllah zeigt sich mir gegenüber
sehr zutraulich. Eigentlich hatte ich ja daran
gedacht, mir einen Hund zuzulegen. Mir wurde sogar
schon ein Schäferhund angeboten. Doch diesen
Gedanken musste ich leider wieder aufgeben. Seit
etwa einem halben Jahr geht es mir körperlich so
schlecht, dass ich keinen Hund mehr ausführen kann.
Meine Halswirbelsäule ist kaputt und drückt auf dem
Nervenstrang rum, der die Arme und Hände versorgt.
Dadurch habe ich keine zuverlässige Feinmotorik
mehr, dafür Taubheit und keine Kraft mehr in den
149
Händen. Einen Hund an der Leine führen geht nicht.
Umso glücklicher bin ich jetzt, so eine tolle zugewendete
Katze getroffen zu haben. Mit viel streicheln und
kuscheln, kommen wir uns immer näher.
Smyllah sitzt jetzt nur noch auf meinem Schoß.
Sobald ich mich hinsetze, springt sie zu mir hoch und
nachdem ich ausgiebig ihr Köpfchen gekrault habe,
rollt sie sich zusammen und schläft. Wir haben in den
letzten Jahren ein sehr schönes, enges und vertrautes
Verhältnis zueinander bekommen. Sie hat ein paar
lustige Eigenheiten entwickelt. So ist sie zum Beispiel
ganz verrückt nach Rosenkohlblättern. Meine Freundin
hat einmal welchen geschält und die Schalen auf
dem Boden abgestellt. Auf einmal sehen wir, wie sie
erst daran knabbert und sich dann ganz begeistert
darin wälzt. Oder als ich einmal den Beamer an hatte
und das Bild vom Computer an die Wand gestrahlt
wurde. Da höre ich auf einmal ein aufgeregtes Fiepen
und Mauzen. Da ein Tisch dazwischen steht, erhebe
ich mich und sehe gerade noch, wie Smyllah versucht,
den sich bewegenden Mauszeiger an der Wand
zu fangen. Da haben wir ein feines Spielzeug entdeckt.
Überhaupt ist Smyllah eine lustige Katze, bei
ihr gibt es immer wieder was zu lachen. Schmusig ist
sie ohne Ende, kuscheln geht immer, das kann sie
den ganzen Tag haben. Das macht mir auch viel Vergnügen,
ich liebe es, durch ihr dickes Fell zu streichen
und ihre Wärme zu spüren.
Wir müssen heute zum Tierarzt, bei Smyllah ist eine
Kralle so lang und gebogen, dass sie ihr in den Ballen
150
sticht. Nun humpelt das arme Tier und hat sicher
Schmerzen. Der Arzt beschneidet ihre Krallen und
versorgt ihre Wunde. Als er sie untersucht, entdeckt
er, dass vier oder fünf Zähne in schlechtem Zustand
sind. Er empfiehlt mir, das dringend behandeln zu
lassen. Sie müßte auch Schmerzen beim Beißen
haben. Also bringe ich sie eine Woche später wieder
hin. Die Behandlung wird unter Narkose ausgeführt.
Vier Zähne müssen gezogen werden. Nachdem wir
wieder zuhause sind, verkriecht sie sich gleich unter
dem Bett. Erst spät am Abend kommt sie hervor.
Smyllah schläft gern bei mir im Bett, dicht an
meinem Kopf, aber manchmal auch darunter. Spät in
der Nacht werde ich von einem Rumpeln und panischem
Mauzen wach. Ich schalte das Licht an und
schaue nach, was los ist. Smyllah sitzt auf dem Boden
und schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an.
„Was ist denn los, meine Kleine?“, frage ich sie, während
ich mich zu ihr setze und sie auf den Arm
nehme. Da bekommt sie einen Krampf, dreht sich um
ihre eigene Achse und überschlägt sich dabei. Das
Ganze wirkt fast wie ein epileptischer Anfall. Ich versuche,
sie zu beruhigen, aber sie rennt voller Panik
unter das Bett und verkriecht sich in der hintersten
Ecke. Das Beste wird sein, ich lasse sie jetzt in Ruhe
und gehe morgen mit ihr zum Arzt. Es braucht eine
Weile, bis ich wieder einschlafen kann, das gerade
Erlebte hat mich zu sehr aufgewühlt. Mir tut das
arme Tier so entsetzlich leid.
Der Doktor kann nichts weiter feststellen, auffällig ist
nur, dass sich ihr rechtes Auge leicht eingetrübt hat.
151
Er macht einen Bluttest, die Ergebnisse dauern drei
Tage. Ich bringe sie wieder heim und muss warten.
Es sind mehrere Tage vergangen, diese Anfälle haben
sich noch dreimal wiederholt und inzwischen geht es
meiner Katze richtig schlecht. Sie sitzt schon den
ganzen Tag in einer dunklen Ecke im Flur, frisst
nichts und reagiert kaum auf Ansprache. Ich fühle
mich so hilflos und würde ihr doch so gerne helfen.
Sie ist nun schon seit sieben Jahren bei mir und wir
haben eine sehr enge Beziehung zueinander. In den
letzten sieben Jahren war ich fast immer zuhause
und Smyllah war immer an meiner Seite, lag auf
meinem Schoß oder auf meinen Füßen. Viel enger
kann man nicht zusammenleben. Wenn sie mich mit
ihren großen ausdrucksvollen Augen ansieht, erwarte
ich manchmal, dass sie jeden Augenblick zu sprechen
anfängt. Doch nun blicken diese Augen matt und
trübe, sie ist ein Bild des Elends und ich kann ihr
nicht helfen. Ich leide mit ihr.
Gleich am Morgen gehe ich mit ihr erneut zum Arzt.
Heute ist ein anderer Doktor da als letztens. Er untersucht
sie, hört sie ab und hört Geräusche. „Wir sollten
sie röntgen, damit wir genauer wissen, was mit
ihr los ist“, sagt er.
Eine halbe Stunde muss ich warten. Als der Doktor
mich wieder ruft, schaut er sehr ernst. Mich überkommt
ein böses Gefühl. „Das sieht leider gar nicht
gut aus“, bestätigt er das auch gleich.
Er hat das Röntgenbild am Lichtkasten angeklemmt
und zeigt es mir nun: „Sehen Sie das hier, alles, was
152
weiß ist, ist Flüssigkeit. Das arme Tier bekommt
kaum noch Luft, sie hat eine feline infektiöse Pleuritis.
Das bekommen sie manchmal, wir wissen nicht
warum.“
„Kann man etwas dagegen tun?“, frage ich hoffnungsvoll,
obwohl ich die Antwort bereits ahne.
„Leider nein, das Beste für ihre Katze wäre, sie von
ihrer Qual zu erlösen.“
Mir stehen schon längst die Tränen in den Augen, ich
habe einen dicken, trockenen Kloß im Hals.
„Ich soll sie einschläfern lassen? Aber ich kann doch
meinen Liebling nicht einfach so umbringen lassen.“
Ich bin völlig aufgelöst, kann nicht mehr richtig
denken. In mir ist eine grenzenlose Trauer, sie droht
mich in ein schwarzes Loch zu ziehen. Ich möchte
meine geliebte Smyllah im Arm halten, sie trösten.
Doch als ich sie ansehe, sehe ich nur, wie sie kurzatmig
japst, der Glanz in ihren Augen ist erloschen,
sie wirkt einfach nur noch wie ein Häufchen Elend.
Der Arzt schaut mich mitleidig an und ich weiß, dass
er recht hat. Mir die Wörter wie Stacheldraht aus
dem Mund ziehend, sage ich zu ihm: „Sie haben wohl
recht, ich will auch nicht, dass sie leidet.“
Er erklärt mir kurz, dass das Einschläfern durch zwei
aufeinander folgende Injektionen erfolgt, aber ich
höre ihm schon nicht mehr zu. „Möchten Sie dabei
sein und ...“
Da ist der Punkt überschritten und meine Trauer,
Wut und Verzweiflung brechen sich in einem Heulkrampf
Bahn. Ich laufe aus der Praxis raus und
draußen ohne Sinn und Ziel die Straße hoch und
153
runter. Ich kann ihr nicht beim Sterben zusehen, das
ertrage ich nicht.
Etwa eine halbe Stunde später kehre ich zurück. Die
Schwester sagt mir noch, dass sie den Körper entsorgen
werden, und will mir die Transportbox
wiedergeben, doch die will ich nicht mehr haben,
wozu auch? Blind von Tränen komme ich zuhause an.
Als Erstes sammle ich ihr Katzenklo und alles was ich
für sie hatte zusammen und stelle es draußen auf die
Straße. Das wird ganz schnell einen Interessenten
finden. In mir ist nur noch Leere, ich hocke in
meinem Sessel und meine Gedanken drehen sich
sinnlos im Kreis. Das ist das erste Mal, dass ich ein
geliebtes Wesen an den Tod verliere, es zerreißt mir
das Herz. Ich werde mir nie wieder ein Tier anschaffen,
dieses Leid will ich nie wieder ertragen müssen.
Wie soll ich denn damit umgehen? Wie erträgt man
diesen Schmerz und wird er wohl je wieder vergehen?
Meine geliebte Smyllah mit dem magischen Blick ist
nun tot und ich konnte ihr nicht helfen. Sie wird aber
immer weiter in meinem Herzen wohnen, dort kann
sie sich ankuscheln und bei mir sein.
***
154
NACHTRAG
Ich habe fast ein Jahr mit dieser Traurigkeit im
Herzen gelebt, dann bin ich auf ein bemerkenswertes
Gedicht gestoßen. Es heißt:
„Das Testament einer Katze“, von Margaret Trowton. Ich
hätte dieses Gedicht gerne hier wiedergegeben, es ist
mir aber nicht gelungen, die Rechte dafür zu
bekommen. Es gab keinen Ansprechpartner dafür.
Man kann es aber leicht im Internet finden.
Dieses Gedicht, hat es tatsächlich geschafft, mir
meine Trauer zu erleichtern. Ich beschränke mich
hier auf die für mich wesentlichste Zeile:
Die Liebe, die ich zurücklasse, ist alles,
was ich geben kann.
Diese Katze sagt, gib all die Liebe, die du für mich
hattest, einem anderen ungeliebten Tier. Gib ihm
meinen Platz und ihr werdet beide gewinnen.
Nachdem diese Worte ihre Wirkung entfaltet hatten,
war auf einmal ganz schnell und ganz überraschend
eine schon ältere Dackeldame bei mir und ich bin von
Herzen froh über unsere Susi. Nun schenke ich ihr all
die Liebe und Zärtlichkeit, die vorher einer wunderbaren
Katze gehörten.
Ich denke noch sehr oft an Smyllah.
***
155
156
Susi
157
SUSI
Das Klingeln des Telefons holt mich aus dem Schlaf.
Ich schlurfe ins andere Zimmer hinüber. Wo ist nur
meine Brille? Ein Blick auf die Uhr: Sie zeigt 7:58,
das ist verdammt früh am Sonntagmorgen. Das sollte
besser dringend sein, sonst neige ich zu unhöflichen
Kommentaren. „Ja? Hallo?“
„Guten Morgen, Bachmann hier, ich rufe wegen Ihrer
Anzeige an. Wir hätten einen Langhaardackel abzugeben,
eine zehnjährige Hündin, wenn Sie daran
Interesse hätten.“
Das kommt jetzt aber sehr plötzlich, ungläubig starre
ich das Telefon an. Erst heute Nacht habe ich bei
Ebay-Kleinanzeigen eine Anzeige aufgegeben:
Älteres Paar sucht älteren Hund.
Gerade erst habe ich den Verlust meiner geliebten
Katze überwunden und mich spontan dazu entschlossen
mir einen Hund anzuschaffen. Meine Freundin
weiß noch nichts davon. Ich schalte den Lautsprecher
am Telefon an und gehe zu ihr hinüber.
„Sind Sie noch da?“, ertönt es aus dem Telefon.
„Ja ja, ich bin noch da. Es ist noch sehr früh und ich
bin sehr überrascht. Die Anzeige habe ich erst heute
Nacht aufgegeben, so schnell habe ich nicht mit einer
Reaktion gerechnet.“
„Ich habe sie grade eben gelesen und dachte, das
könnte gut klappen. Wissen Sie, der Hund liegt bei
uns den ganzen Tag nur auf der Couch und niemand
kümmert sich um ihn. Wir sind ein landwirtschaftlicher
Betrieb und ich habe noch sechs Huskys, mit
158
denen ich täglich arbeite. Es bleibt einfach keine Zeit
für die Kleine. Sie bräuchte jemand, der für sie da
sein kann, von dem sie Aufmerksamkeit erhält.“
„Einen Augenblick bitte, ich muss das eben mit
meiner Freundin absprechen, das kommt jetzt sehr
überraschend. Kann ich Sie in zehn Minuten zurückrufen?“
Mit überraschtem wie verschlafenem Gesichtsausdruck
blinzelt mich meine Freundin an. „Was meinst
du, wollen wir uns eine Langhaardackelhündin
anschaffen?“, frage ich sie mit breitem Grinsen.
Was Dackel angeht, sind wir beide uns einig, das sind
tolle, lustige Hunde und haben die richtige Größe,
um in einer Wohnung zu leben. Also wenn ich mir
eine Rasse hätte aussuchen können, dann wäre es ein
Dackel gewesen. Umso größer ist meine Freude über
dieses Angebot. Schnell erkläre ich meinem Schatz,
wie es zu dem Anruf kam, wir entscheiden uns dafür,
es mit der Dackeldame zu versuchen.
Einen Anruf später, haben wir mit Frau Bachmann
verabredet, dass ihr Vater uns die Susi am Nachmittag
vorbeibringt. Sie lebt jetzt in Brandenburg auf
dem Land und wir haben kein Auto. Also haben wir
es so geregelt. Pünktlich um drei Uhr klingelt es an
der Tür und ein älterer Mann steht mit einem Dackel
davor. „Hallo und guten Tag, ich bringe die Susi.“
„Hereinspaziert, willkommen!“, lasse ich sie eintreten.
Die Dackeldame von rotbrauner Färbung mit
langem Fell und einem hellen Gesicht schaut sich
interessiert im Zimmer um.
„Sie ist eigentlich ein ganz lieber Hund, Sie sollten
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keine Probleme mit ihr haben“, sagt Herr Bachmann.
„Gibt es etwas Besonderes, auf das wir achten
müssen?“
„Nun, sie hört und sieht wohl nicht mehr sehr gut,
aber sonst gab es nie Probleme mit ihr. Ich muss
dann weiter, ich hab noch was zu erledigen.“
Er beugt sich zu Susi hinunter, streichelt sie kurz und
verabschiedet sich von ihr: „Tschüss meine Kleine,
machs gut.“
Wir geben uns die Hand und weg ist er.
„Na, das war ja mal schnell. Hallo meine Kleine, willkommen
bei uns. Schau dich nur um, das ist dein
neues Zuhause“, sage ich zu unserem neuen Mitbewohner.
Sie hat erstaunlich gleichmütig auf seinen
Abschied reagiert, eine besonders enge Beziehung hat
da offensichtlich nicht bestanden. Wir haben noch
ein Polsterkissen, das kann sie als Lager haben. Eine
Schale mit Wasser und eine mit etwas Trockenfutter,
das Herr Bachmann mitgebracht hat, komplettieren
erst mal ihre Einrichtung. Gleich morgen werde ich
einkaufen gehen, da braucht es ja einige Sachen. Mir
fällt auf, dass sie sich sehr oft und heftig kratzt. Sie
wird doch keine Flöhe mitgebracht haben? Oh doch,
dieser Hund ist eine wandelnde Flohburg.
Im Laufe des Abends wird ihr Kratzen immer heftiger
und sie jault schon dabei. Es wirkt zunehmend
hysterischer, es muss sie sehr quälen. Ich schau mir
ihr Fell genauer an, kann aber nichts entdecken. Was
kann ich nur tun, um ihr zu helfen? Habe ich ein
Hausmittel, das gegen Flöhe hilft? Mir fällt keins ein.
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Halt, doch! Essig könnte vielleicht helfen. Bleibt die
Frage, bekommen wir den Hund in die Dusche? Doch
Susi scheint zu spüren, dass wir ihr helfen wollen, sie
ist ganz brav. Erst sprühe ich sie mit einer Essig-
Wasser Mischung ein, dann ziehe ich mich aus und
gehe mit ihr unter die Dusche. Dort wasche ich sie
gründlich mit Kernseife und spüle sie ordentlich von
allen Seiten ab. Nach einem kurzen Augenblick,
merkt sie wohl auch, dass es ihr guttut, sie hält ganz
still. Wie kriegen wir diesen Hund jetzt wieder trocken?
Am besten mit dem Föhn, wenn sie das erträgt.
Doch auch hier hält sie wunderbar still und zeigt sich
völlig unbeeindruckt von dem Geräusch. Zumindest
für den Augenblick ist Ruhe und sie kann sich entspannen.
Zwar kratzt sie sich bald wieder, aber nicht
mehr so oft und nicht so heftig.
Am nächsten Tag erledige ich schnell die Einkäufe
und gehe dann mit ihr zu einem Tierarzt. Der untersucht
sie gründlich, findet Läusekot aber sonst nichts
Auffälliges an ihr. Ich bekomme ein Flohmittel und
Susi noch eine Tollwutimpfung. Laut Frau Bachmann
ist sie bisher noch nie bei ihr geimpft worden. Es gibt
auch keinerlei Papiere für diesen Hund.
Am nächsten Morgen finden wir einen kleinen See
und einen großen Haufen im Wohnzimmer vor.
Dieser Dackel muss schnell lernen, stubenrein zu
werden. Auf dem Bauernhof war das scheinbar kein
Thema, da konnte sie jederzeit rein und raus.
Das sollten wir aber schnell in den Griff kriegen, das
haben noch alle gelernt. Susi ist ein sehr ruhiger
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Hund, sie schläft sehr viel. Wenn wir Gassi gehen,
bleibt sie immer mal wieder stehen und schaut, als ob
sie jemand erwarten würde. Wahrscheinlich denkt
sie, dass sie bald wieder abgeholt wird.
Schnell ist zu merken, dass sich Susi sehr stark an
mich bindet, sie ist immer bei mir und folgt mir ständig
überall hin. Wenn ich in meinem Sessel am
Computer sitze, liegt sie meist entweder auf meinen
Füßen oder direkt vor mir auf einem Hocker. Sie
sucht ständig meine Nähe. Ich habe das sichere
Gefühl, dass sie sich mit der neuen Situation
abgefunden hat. Wenn ich sie so ansehe, kuschle und
streichle, dann ist sie ganz wohlig entspannt. Ich
glaube, sie ist inzwischen gerne bei uns.
Umgeben von diversen Grünflächen, Parks und
Gewässern, leben wir jetzt seit einem Jahr in einem
recht hundefreundlichen Gebiet innerhalb Berlins.
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Direkt hinter unserem Wohnblock befindet sich eine
artenreiche Parkanlage mit vielen Bäumen und Freiflächen,
ideal um Hunde auszuführen. Außerdem hat
Susi ihre Leidenschaft für mein Elektromobil entdeckt.
Wenn ich auf das Dreirad steige, springt sie
gleich zu mir in den Fußraum und wartet begierig
darauf, dass es losgeht. Wir haben inzwischen einige
Fahrten zusammen absolviert und es hat ihr viel
Freude bereitet. Susi ist ein locker entspannter Hund
dabei sehr zugewandt und verschmust.
Wir fahren an die Ostsee! Durch Zufall bin ich im
Internet auf eine Hundepension in Grömitz gestoßen.
Ein Anruf, eine kurze Absprache und schon sitzen wir
in der Bahn. Vier Stunden hat die Fahrt gedauert,
dann stehen wir auf dem Bahnhof, von dem uns
unsere Wirtsleute abholen. Ein kleiner Bungalow mit
zwei Zimmern in einem Garten, der macht einen
guten Eindruck. Leider ist das Grundstück nicht
komplett eingezäunt, ich hatte gehofft, Susi könnte
hier frei herumlaufen. Da sie aber offenbar keinerlei
Gefahrenbewusstsein hat und nichts und niemandem
aus dem Weg geht, können wir nicht riskieren, dass
sie irgendwo auf den Straßen herum irrlichtert. Doch
hier gibt es eine Couch, hier kann sie direkt neben
mir liegen, das reicht ihr völlig. Wo ich nicht bin, will
sie eh nicht sein und so schön dicht wie hier, kommt
sie zuhause nicht dauerhaft an mich dran.
Dem Ort Grömitz kann ich leider so gar nichts
abgewinnen, er hat keinerlei Charme. Alles ist sehr
touristisch ausgelegt und entsprechend teuer. Der
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Strand ist mit Strandkörben zugepflastert, fein
säuberlich aufgereiht und abgegrenzt. Alles gehört
irgendjemand, selbst das Betreten des Strandes ist
schon gebührenpflichtig. Jetzt ist Anfang September
und die Temperatur nur bei mäßigen 23° C, die
Strandkörbe sind weitgehend verwaist. Doch es gibt
in einem Extra-Abschnitt einen Hundestrand, dort
wollen wir gleich mal hin. Es laufen einige Hunde
herum, hier können wir Susi auch von der Leine
lassen. Sie ist selbst nicht besonders an ihren Artgenossen
interessiert, geht ihnen lieber aus dem Weg.
Da sie nun mal eine fruchtbare Hündin ist, findet sie
natürlich auch das Interesse von vielen Rüden. Auf
einmal stehen erst drei und dann sogar fünf große
Hunde um sie herum, einer ist besonders zudringlich.
Da setzt sich unsere sanfte Susi aufrecht auf die
Hinterläufe, reckt den Kopf kämpferisch in die Höhe,
fletscht die Zähne und lässt ein bedrohliches Knurren
hören. Es ist immerhin so eindrucksvoll, dass die
Rüden, obwohl sehr viel größer, erschrocken von ihr
ablassen. Nur ein großer schwarzer Bernersenn will
sie einfach überrumpeln, doch ich verscheuche ihn.
Das zeigt mal wieder, dass man einen Dackel nicht
unterschätzen sollte. Ein Hund, der dazu gezüchtet
wurde in Dachsbauten einzudringen und einen doppelt
so großen und schweren Gegner daraus zu vertreiben,
ist kein ängstlicher Charakter.
Die fünf Tage Urlaub an der Ostsee haben uns noch
enger zusammengebracht. Seit wir wieder zuhause
sind, hat Susi wohl endgültig für sich angenommen,
dass sie bei uns ihr Heim gefunden hat. Sie ist wirk-
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lich sehr lieb und ausgesprochen pflegeleicht. Im
Moment bin ich in der heißen Phase mit meinem
Roman und schreibe den ganzen Tag. Susi liegt
immer irgendwo bei mir in der Nähe und begleitet
mich mit ihrem Schnarchen. Nur mit einer Sache
macht sie Probleme: wenn ich nicht da bin. Dann
jammert sie die ganze Zeit und treibt meine Freundin
in den Wahnsinn. Ich nehme sie schon fast überall
mit hin, aber manchmal geht es eben nicht. Zum Arzt
oder zur Physiotherapie, da kann sie leider nicht mit.
Jedenfalls bin ich der Meinung, dass wir mit dieser
Dackeldame einen richtigen Glücksgriff getan haben.
Wir können noch viel schöne gemeinsame Zeit miteinander
verbringen.
***
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Garry
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GARRY
Meine gute Freundin Nebelkrähe hat einen Beitrag
im Forum gepostet. Sie adoptiert schon seit vielen
Jahren Hunde aus einem Tierheim in Rumänien. Es
sind immer recht alte Hunde, die, die keiner mehr
will. Ihnen gibt sie mit viel Liebe ihr Gnadenbrot. Ich
finde das bewundernswert. Heute hat sie einen Link
von diesem Heim gepostet, die Seite will ich mir doch
einmal ansehen. Ein deutscher Verein hat ein
Gelände in Rumänien gemietet und dort Zwinger und
Freilaufflächen eingerichtet. Dort warten bis zu einhundertfünfzig
Hunde darauf, von einem liebevollen
Menschen adoptiert zu werden. Sie wurden ausgesetzt,
haben auf der Straße gelebt oder wurden aus
der staatlichen Hundefängerstation befreit. Es gibt
eine große Auswahl der verschiedensten Hunde, alle
haben eine mehr oder weniger schreckliche
Geschichte. Manche sind sogar behindert und haben
ein Gestell, mit dem sie sich fortbewegen können.
Gleich auf der ersten Seite, blickt mich ein kleiner
brauner Rüde mit treuherzigem Blick an und scheint
zu sagen: „Hol mich hier raus, ich will auch ganz lieb
sein.“, Garry heißt er. Seit einem Jahr haben wir jetzt
unsere Susi, unsere elfjährige Dackelhündin. Sie hat
sich so toll bei uns eingelebt, wir sind sehr glücklich
mit ihr, durch sie haben wir immer wieder was zu
lachen, sie ist ein drolliger kleiner Hund. Manchmal
denke ich allerdings, dass es vielleicht etwas langweilig
bei uns für sie ist. Wir sind fast den ganzen Tag
zuhause und arg viel Aktion gibt es bei uns nicht.
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Eine Woche später besuche ich die Seite erneut
gemeinsam mit meiner Freundin. Der kleine Garry
ist noch immer dort. Wir schauen uns zusammen
seine Fotos und seine Geschichte an. Meine Freundin
sagt: „Na, willst du noch einen zweiten Hund? Er
würde gut zur Susi passen. Sie haben fast die gleiche
Größe und auch eine ähnliche Farbe.“
Also konkret hatte ich diesen Gedanken bisher noch
nicht. Dort sind so viele tolle Hunde, ich möchte sie
am liebsten alle knuddeln. Doch das ist eben nicht
möglich. Aber zwei Hunde? Warum eigentlich nicht?
Die Futterkosten sind überschaubar, ob ich mit
einem oder zwei Hunden Gassi gehe, dürfte auch
nicht problematisch sein. Dass ich mit einem fremden
Hund zurechtkomme, bezweifle ich nicht. Bisher
haben noch alle Hunde positiv auf mich reagiert. Wir
schauen uns die Adoptionsbedingungen an und die
damit verbundenen Kosten. Schnell sind wir uns
darin einig, dass wir Garry adoptieren werden.
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Zwei Wochen später, nachdem eine Frau die zukünftigen
Lebensbedingungen überprüft hat und wir alle
Verträge unterschrieben haben, ist es endlich soweit:
Heute soll Garry kommen! Wir sind schon recht aufgeregt
und voller Erwartung. Es gab noch etwas
Umstände, weil wir kein Auto haben und der Tiertransport
hält außerhalb Berlins, wo am Sonntagmorgen
um sechs kein Bus hinfährt. Doch auch das
konnten wir regeln. Es dauert dann bis zum Nachmittag,
als es endlich klingelt und eine Frau uns mit
einem Tiertaxi unseren neuen Mitbewohner bringt.
Garry ist von Anfang an recht zutraulich und reagiert
interessiert und verträglich. Lustig ist die Reaktion
von Susi, sie läuft gleich in das Zimmer und frisst
erstmal alles auf, was rumliegt, selbst die trockenen
seit Tagen verschmähten Leckerlis. Wir haben uns
inzwischen auf unseren Familienzuwachs eingerichtet,
es gibt ein großes Hundebett, mit Platz für zwei.
Doch er legt sich lieber auf eine Decke, die ich für ihn
angeschafft habe. Der arme Kerl muss erschöpft sein,
nachdem er drei Tage auf dem Transporter verbracht
hat, jetzt schläft er.
Schon bald danach, ist er wieder munter und widmet
sich ausführlich diesem verführerisch duftenden
Weibchen. Obwohl er kastriert ist, scheint ihn der
Geruch einer läufigen Hündin noch sehr zu interessieren.
Voller Hingabe leckt er an ihrem Hinterteil
und zeigt auch sonst alle Anzeichen von Erregung.
Gespannt warte ich darauf, ob er auch versucht, sie
zu decken. Doch zu Susis großer Enttäuschung macht
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er keinerlei Anstalten dazu, obwohl sie extra den
Schwanz beiseite hält und sich ausgesprochen auffordernd
positioniert. Nach einiger Zeit gibt sie es auf.
Erfreulicherweise verhalten sie sich ansonsten sehr
verträglich miteinander, das ist beruhigend zu
erleben. Später am Abend, entdecke ich auf einmal
eine blutige Stelle an seinem Hinterteil, gerade leckt
er heftig daran herum und reißt sich büchelweise die
Haare aus. Die Stelle ist schon etwa vier Zentimeter
groß. Was hat er sich da nur getan? Entweder hat er
sich in der Transportbox wundgerieben oder es war
der Stress, sodass er sich selbst blutig biss, das
geschieht manchmal. Ich lenke ihn davon ab, während
ich überlege, was ich für ihn tun kann. Das
beste, was mir im Moment einfällt, ist ein Wundspray.
Ich hoffe, dass es bitter genug schmeckt, dass
er nicht mehr dran geht. Aber wenn ich bedenke,
woran Hunde so alles lecken ...
Gleich am nächsten Tag gehen wir mit ihm zum Tierarzt.
Die Ärztin versorgt seine Wunde, gibt ihm eine
Spritze sowie ein Mittel gegen Flöhe und Würmer. Zu
guter Letzt bekommt er einen Leckschutz verpasst,
der ihn daran hindern soll, an sein Hinterteil zu
gelangen. Mit dem Trichter um den Hals geht ein
unglücklich dreinschauender Garry mit uns nach
Hause. Er ist noch sehr nervös auf der Straße, die
vielen Autos und der Verkehrslärm verunsichern ihn.
Es wird wohl noch eine Zeit brauchen, bis er sich an
seine neue Umgebung gewöhnt hat.
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Drei Wochen hat er nun schon diesen Plastikeimer
um den Kopf, doch er hat gut gelernt, damit umzugehen.
Insgesamt ist er ein recht fideler, springlebendiger
kleiner Kerl. Er ist, ganz anders als Susi, sehr
an seinen Artgenossen interessiert, springt gleich auf
jeden fröhlich schwanzwedelnd zu. Heute will ich ihn
von seiner Behinderung befreien, die Läsion ist gut
verheilt, das Fell nachgewachsen. Es ist nur noch
wenig davon zu sehen, ich hoffe, dass er nicht wieder
daran beißt. Mit Susi versteht er sich soweit gut, sie
sind nicht gerade dicke Kumpel, leben aber in friedlicher
Koexistenz. Wahrscheinlich sind die Charaktere
zu unterschiedlich für mehr. Während er umherspringt
und mit seinem Ball spielt, liegt sie nur träge
auf meinen Füßen rum. Doch sie streiten sich nicht
um das Futter und liegen einträchtig nebeneinander,
nachts schlafen sie zusammen. Alles ist friedlich,
jedoch ist eindeutig mehr Leben in die Bude
gekommen durch diesen kleinen immer zu Spiel und
Streicheleinheiten bereiten Rüden.
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Uns hat es eindeutig mehr Bewegung verschafft,
diese Hunde halten uns den ganzen Tag beschäftigt.
Wir haben viel Freude an unseren beiden Fellnasen,
sie sind beide sehr schmusig und zugewandt und es
gibt oft etwas zu lachen.
Ich will es mal mit Loriot sagen: Ein Leben ohne
Hund ist möglich - aber sinnlos!
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NACHTRAG
Ein Tier zu retten verändert zwar nicht die Welt, aber
die ganze Welt verändert sich für diese Fellnase.
Das ist das Motto des Vereins zur Rettung von
Hunden: http://www.sos-dogsouls.com/
Ich möchte an dieser Stelle eine Lanze für diesen
Verein brechen. Diese Menschen leisten so unglaublich
viel für die Tiere, dass sie nach meiner Meinung
jede nur erdenkliche Unterstützung verdient haben.
Liebe Leser, schaut im Internet oder bei facebook
rein und wenn ihr auch ein Herz für diese unschuldig
leidenden Tiere habt, adoptiert eine solche einsame
Seele, sie wird es euch mit viel Liebe danken!
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Ende
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