SCHÖNE NEUE WELT – ZUKUNFT FINDET STADT
Shanghai, Tokio, Hongkong, Mumbai, Kairo, Bangkok, Dubai, Singapur ... die Megastädte dieser Welt beeindrucken durch kaum fassbare Dimensionen und ihr scheinbar ungebremstes Wachstum. Sie sind verdichtete, dynamische Bewegungsräume, die Bewohnern und Besuchern immer neue Formen der Wahrnehmung, Orientierung und Anpassung abverlangen. Der Fotograf Jürgen Strasser spürt dieser »Schönen neuen Welt« nach. Er richtet seinen Blick auf einen steingewordenen Fortschrittsglauben, auf die scheinbar immer gleichen Hochhausfassaden und Verkehrsnetze und auf die Visionen menschenwürdigen Massenwohnungsbaus. In konzentrierter Form zeugen seine Stadtlandschaften von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen der wachsenden Weltbevölkerung und der stetigen Urbanisierung. Strassers Bilder führen vor, wie austauschbar und wenig ortstypisch Städteplanung in unserer Gegenwart ist und dass der Mensch in seiner Individualität in diesen gigantischen Stadtmaschinen immer weniger eine Rolle zu spielen scheint. Jürgen Strasser lebt als autonomer, visueller Künstler in Wiesbaden und Worpswede. Sein Arbeitsplatz ist die Welt. Mehr Infos zum Bildautor unter www.juergenstrasser.de
Shanghai, Tokio, Hongkong, Mumbai, Kairo, Bangkok, Dubai, Singapur ... die Megastädte dieser Welt beeindrucken durch kaum fassbare Dimensionen und ihr scheinbar ungebremstes Wachstum. Sie sind verdichtete, dynamische Bewegungsräume, die Bewohnern und Besuchern immer neue Formen der Wahrnehmung, Orientierung und Anpassung abverlangen.
Der Fotograf Jürgen Strasser spürt dieser »Schönen neuen Welt« nach. Er richtet seinen Blick auf einen steingewordenen Fortschrittsglauben, auf die scheinbar immer gleichen Hochhausfassaden und Verkehrsnetze und auf die Visionen menschenwürdigen Massenwohnungsbaus. In konzentrierter Form zeugen seine Stadtlandschaften von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen der wachsenden Weltbevölkerung und der stetigen Urbanisierung. Strassers Bilder führen vor, wie austauschbar und wenig ortstypisch Städteplanung in unserer Gegenwart ist und dass der Mensch in seiner Individualität in diesen gigantischen Stadtmaschinen immer weniger eine Rolle zu spielen scheint.
Jürgen Strasser lebt als autonomer, visueller Künstler in Wiesbaden und Worpswede. Sein Arbeitsplatz ist die Welt.
Mehr Infos zum Bildautor unter www.juergenstrasser.de
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Jürgen
Strasser
SCHÖNE
NEUE
WELT
Jürgen
Strasser
SCHÖNE
NEUE
WELT
FÜR CHRISTINE
Einführung
Jürgen Strasser ist ein Suchender.
Mit der Kamera streift er intensiv beobachtend
vor allem durch die Megastädte
Asiens, immer auf der Suche
nach Eindrücken und Bildern über die
Besonderheiten des urbanen Lebens
dort. Besonders interessiert ihn dabei
die Wohnsituation, die so ganz von den
uns geläufigen Strukturen im ländlichen
Raum, aber auch im städtischen
Umfeld abweicht. Sein Blick geht dabei
häufig nach oben. Dadurch entdeckt er
z.B. Zugänge zu Nachbargebäuden, die
ihm eine Übersicht und freies Blickfeld
erlauben. Es entstehen einzigartige Perspektiven
auf eine Architektur, die einerseits
eindrücklich für die wirtschaftliche
Entwicklung dieser Megastädte, andererseits
für die beklemmende Wohnsituation
einer breiten Bevölkerungsschicht
steht.
Mit seinen Fotografien erlaubt er dem
Betrachter, sich als Gegenüber zu den
monumentalen Gebäuden zu fühlen Der
Bildausschnitt ist häufig so gewählt,
dass das Ende des Gebäudes nicht
sichtbar oder die Einbettung der Architektur
in das Stadtumfeld nicht möglich
ist. Dadurch erscheinen die Fassaden
grenzenlos und entwickeln sich außerhalb
des Sichtbaren weiter. Durch
präzise Schärfe, den passenden Einsatz
des vorhandenen Lichts sowie eine
klare Winkelung werden die Fensterfronten
oder architektonischen Elemente
zu Strukturen verdichtet. Sie geben
dadurch Auskunft über die Haltung
des Fotografen, der Titel »Schöne neue
Welt« ist dabei natürlich ironisch zu lesen.
Übergroße Formate wechseln mit
kleinen Bildmaßen, sodass immer wieder
ein Blick auf das Ganze, dann wieder
auf Details evoziert wird.
Wir sehen riesige Bauten mit Hunderten
Wohnungen, jede nur wenige Quadratmeter
groß. Strasser findet ausdrucksvolle
Bilder für diese Wohnmaschinen,
die immer wiederkehrenden Strukturen
und die Anonymität des Wohnens, die
mit diesen Komplexen einhergeht. Auch
dass die Zeitlichkeit eine ganz andere
ist, werden doch viele Bauten schon
nach gut zwanzig Jahren abgebrochen
und durch neue und ähnliche Architektur
ersetzt, findet eine Entsprechung
in seinen Bildern. Nichts scheint auf
Dauer. Wohnen zielt hier nicht auf einen
individuellen Lebensausdruck sondern
ist nüchterne Notwendigkeit, niemand
scheint hier gesteigerten Wert
auf Individualität oder Besonderheit zu
legen. Mit einem durch lange Erfahrung
geschärften analytischen Blick nimmt
der studierte Politologe und Soziologe
Strasser die architektonische Struktur
dieser Metropolen auf und kontrastiert
sie mit Bildern von Menschenmassen
innerhalb dieser Welten.
Jürgen Strasser findet
ausdrucksvolle Bilder
für diese Wohnmaschinen,
die immer wiederkehrenden
Strukturen und die
Anonymität des Wohnens,
die mit diesen Komplexen
einhergeht.
Auch die kühnen Bauten in Dubai, die
metallenen und gläsernen Moloche
und die Lebensadern der Straßen und
Bahnverbindungen erkundet er. Dabei
tauchen Menschen nur vereinzelt oder
als Beiwerk auf. Strasser interessiert
sich auch hier für die neu geplanten
Systeme im Ganzen wie im Detail. Glas
und Metall als vorherrschendes Material,
eine Anpassung an zeitgenössische und
globale Entwürfe, die Ausstrahlung der
Macht dieser expandierenden Städte ist
weltweit feststellbar. Der Wandel in dieser
bis vor Kurzem eher noch traditionell
geprägten Umgebung ist im Kontrast
noch einmal gesteigerter wahrnehmbar.
Die Fotografie Jürgen Strassers ist
besonders geeignet, diese Entwicklung
zu dokumentieren und zur Diskussion
zu stellen. Dabei bezieht er nicht direkt
Position, sondern bietet dem Betrachter
an, seinen Weg zwischen Ästhetik und
Faszination der Größe einerseits sowie
Enge und Lebensfeindlichkeit andererseits
selbst zu finden. Hier tut sich eine
noch fremde Welt auf, deren Zukunft
aber auch uns eventuell droht. Schöne
neue Welt eben.
> Ditmar Schädel
Dozent für Kunst und Gestaltung an
der Universität Duisburg-Essen und
Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft
für Photographie (DGPh)
Schöner x Wohnen
für Alle
xxxxxxxxxx
Wir x geben
Ihrer x Zukunft
ein x Zuhause
xxxxx
Wünsche x werden
Wirklichkeit
xxxx
Auf x diese
Steine x können
Sie x bauen
xxxxxxxxxxxxxxxx
> Werbeslogans deutscher Bausparkassen
Wer x auch
immer x glaubt,
dass x Gewinnen
nicht x alles x ist,
der x kennt
Dubai x nicht.
x
x
x
xx
xxx
xxxxx
xxxxxxxxxx
xxxxxxxxxxxxxxxxxx
> Muhammad bin Raschid Al Maktum
Herrscher des Emirats Dubai
Der Mensch zwischen
Modul und Masse
Bilder von der Konstruktion
des Urbanen
Formatfüllend setzt Jürgen Strasser
die Fassaden von Wohntürmen ins Bild.
Prägnant schärft er deren grafische
Strukturen, arbeitet im malerisch überbordenden
All-over die farbliche Staffelung
heraus und nimmt die leichten
Vibrationen der Außenflächen durch die
Versetzung der Linienführung auf. Die
sachliche bildliche Inszenierung hält die
Wirkung der wabenartigen Wohnformationen
offen. Die Muster der Architektur
markiert eine Monotonie, die auf die
Vermassung der Behausung verweist,
in der eine anonymisierende Vervielfältigung
das einzelne Element und damit
Individualität überlagert. Zugleich
kündet die klare Gliederung der fotografischen
Komposition aber auch von
Klarheit, konstruktiver Stringenz und
futuristischem Ehrgeiz des modernistischen
Städtebaus: Modulartige Wohnraumbeschaffung
gibt sich als bauliche
Antwort auf die temporeichen Zentralisierungsbewegungen
der modernen Gesellschaft
zu erkennen. Strasser pendelt
den Ausdruck des Bildes zwischen Konfektionierung
des Wohnens und ästhetischer
Ordnung aus. Mit einem pinkfarbenen
Tuch vor einer Fensterreihe fängt
er in einem Bild eine markante Pointe als
geradezu narrativen Kontrapunkt ein:
Kann sich in dieser bildsprengenden
Uniformität doch noch die einzelne personale
Identität wenigstens punktuell
durchsetzen?
Strasser verstärkt in der seriellen Anordnung
seiner Fassadenfotografien die
sachlich nüchterne Wiedergabe und
arbeitet zugleich die ornamentalen
Bänderformationen heraus. Aus dem
Rapport entwickelt er in seinen Fotoarbeiten
einen hohen formalen Reiz, der
den Betrachter bindet. In die geometrische
Grundordnung lässt er in einigen
der Fassadenfotografien als erzählerischen
Subtext und wuchernde Binnenformulierung
die spezifischen Ausstattungen
der Wohneinheiten zur Sprache
kommen: Attribute eines Lebensalltags
in und hinter dem steinernen Gerüst.
Uniforme und individuelle Wohnwelt
geraten so in eine spannungsvolle Korrespondenz
zueinander. Der subjektive
Faktor meldet sich zu Wort, partisanengleich
scheint er die architektonische
Vereinheitlichung durchkreuzen
zu wollen.
In der geometrischen
Grundordnung lässt er in einigen
der Fassadenfotografien als
erzählerischen Subtext und
wuchernde Binnenformulierung
die spezifischen Ausstattungen
der Wohneinheiten zur Sprache
kommen – uniforme und
individuelle Wohnwelt geraten
so in eine spannungsvolle
Korrespondenz zueinander.
Jürgen Strasser rückt in seiner Städtefotografie
vorzugsweise die in rasantem
Tempo angewachsenen Metropolen des
asiatischen Raums in den Fokus. Dort
scheinen am augenfälligsten die kühnsten
Entwürfe architektonischer Utopien
Wirklichkeit zu werden, dort scheint sich
am deutlichsten die globale Wachstumsdynamik
von Wirtschaft und Bevölkerung
niederzuschlagen. Dort scheint
auch am stärksten die Tendenz einer global
vereinheitlichten Architektur ablesbar
zu werden, die vergangene allmählich
gewachsene Siedlungsformen und Kulturen
ablöst und überblendet. Der Fotograf
lenkt unseren Blick durch klaffende
Häuserschluchten und auf türmereiche
Skylines. Wir heften unsere Augen auf
die Fluchten von Fahrbahntrassen oder
auf freie Plätze gigantischen Ausmaßes,
in denen einzelne Menschen wie verlorene
Kulissenphänomene auftreten. In vielen
Aufnahmen wirken die Straßen wie
ausgestorben, dem Flaneur geben die
Megacities als Spiegelbild höchster Effizienz
und Funktionalität keinen Raum.
Dafür sind die U-Bahnen und Vorortzüge
prall gefüllt. Wie glühende, rasant
durchpulste Adern inmitten kalter Wohnund
Geschäftsblocks lässt der Fotograf
in einem Bild die Straßenzüge in einem
Stadtzentrum erscheinen. Tempo und
Statik treten als Pole und Anker des urbanen
Alltags auf.
Wenn Menschen im Straßenbild auftreten,
tun sie es Schwärmen und Trauben
gleich: eine bewegt im Gleichmaß eilende
Masse, die von parallelen Zwecken
und Zielen zusammengehalten wird,
nicht von lebendiger Kommunikation.
Freiflächen neben den futuristischen
Architekturen vermitteln den Eindruck
einer synthetischen Genese der Gebäude
inmitten einer gesichts- und charakterlosen
Landschaft. Hier ist nichts orga-
Diese Städteaufnahmen
sind nicht vordergründige
Zivilsationskritik oder
Forschrittsanklage.
> Dr. Rainer Beßling
Kunstkritiker und Kulturjournalist.
Mitarbeiter der Zeitschriften
artist und artline nord.
nisch gewachsen, sondern konstruktiv
gesetzt. Eine Aufnahme von Dubai
zeigt die Türmestadt inmitten der Wüste,
eine der Unwirtlichkeit der Natur abgerungene
Ansiedlung von hoher Künstlichkeit,
eine imperiale Geste der Wirtschaftskraft,
des Überflusses und der
extensiven Ausbeutung nicht nachwachsender
Ressourcen.
Die Aufnahmen zeigen die Metropolen
aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Mal
schaut der Betrachter frontal auf die
Bauwerke, die weniger harmonieren als
vielmehr vereinzelt ein Zeichen setzen,
die einen Pflock einschlagen, ein Terrain
markieren und eine himmelsstürmende
Dynamik ausflaggen. Mal sind es Luftaufnahmen,
in denen die Ansiedlungen
in der Gesamtsicht umso eindrücklicher
den Charakter fiktionaler Exotik einnehmen.
Hier findet eine post-industrielle
Gesellschaft ihren Ausdruck, in der alle
Lebensvollzüge auf digitaler Basis und
in effizientester Struktur rationalisiert
sind. Strasser überhöht diese Anmutung
mit surreal wirkender Farbigkeit
oder einem kalten metallischen Licht,
das dem Ganzen ebenso wertigen Glanz
wie auch spiegelnden Scheincharakter
verleiht. Wenn inmitten der Welten aus
Glas und Stein Naturelemente auftreten,
dann als bloßes Dekor wie in einem
Gehege oder Freiluftmuseum, Bäume
wirken wie Artefakte aus einer historisch
gewordenen Epoche.
Auch wenn die jüngsten Riesenstädte
global uniforme Konturen zeigen, gelingt
es Strasser sie porträthaft ins
Bild zu setzen. Mit Zuspitzung der graffischen
metropolen Eigenarten schafft
er städtebauliche Bildnisse, die Entwicklungsdynamik
dokumentieren, die
aber zugleich in einem hohen Maß an
strukturell gebändigter Überwältigung
die Faszination des Fotografen selbst
ins Spiel bringen. Das lässt sie weit entfernt
von einem bloßen Menetekel wirken.
Diese Städteaufnahmen sind nicht
vordergründige Zivilisationskritik oder
Fortschrittsanklage. Der Betrachter darf
sich von der Wucht der abgebildeten
städteplanerischen und architektonischen
Statements mitgenommen fühlen
und aus seiner Wahrnehmung heraus
eine Haltung entwickeln. Symbolische
Bildanlagerungen, die lediglich eine gesellschaftskritische
Position illustrieren,
liegen Strasser fern. Zentrale Fragen
aber, die sich aus seinen Arbeiten ableiten
lassen, sind die nach der Reichweite
der Planung städtischer Öffentlichkeit
und nach dem Einfluss wachsenden
privaten Vermögens in den Händen immer
weniger. Strassers eindrucksvolle
Fotografien fangen die markantesten
Zeichen der Wachstumsrationalität ein,
welche die globalisierte Gesellschaft
den künftigen Generationen vererbt.
Sie lassen uns nicht zuletzt darüber
nachdenken, welches Schicksal die
künstlerische Sprache der Architektur-
Moderne in den neuen Ballungsgebieten
der Welt erlitten hat.
Wer x eine x kennt,
kennt x die
anderen x alle,
so x ähnlich
sind x sie
untereinander,
sofern x nicht
der x Charakter
der x Örtlichkeit
eine x Änderung
bedingt.
xxxxxx
xxxx
xxxxxxxxxxxxxxxxxx
> Thomas Morus
Utopia, 1516
Neue Moderne der Stadt?
Vom kühlen Konzept zum smarten,
lebenden Systen
Die Stadt, zumal die moderne Metropole, ruft
ein Spektrum von Reaktionen hervor. Künstler
und Intellektuelle haben verschiedenen
Standpunkten Ausdruck verliehen, nicht zuletzt,
weil sie an der Stadt als Lebensform
partizipierten, profitierten, an ihr litten oder
sie verfluchten. Ein Sokrates ist auf das
Stadtleben mit seinen kulturellen Erscheinungen
und dem intellektuellen Austausch
angewiesen. Epikur und Montaigne ziehen
sich nach einer städtischen Inkubationsphase
aufs Ländliche zurück. Künstler und
Schriftsteller der Neuzeit arbeiten sich immer
wieder an der Polarität von Naturhingabe einerseits,
urbaner Weltläufigkeit und Inspiration
andererseits ab – Gegensätze, deren
Bevorzugung vielleicht weniger auf unumstößlichen
Wahrheiten, sondern eher auf zufälligen
Launen beruht, wie der schottische
Aufklärungsphilosoph David Hume anmerkt.
Adorno schließlich kritisiert die Rückständigkeit
der Provinz, die anderen Theoretikern
und Künstlern wiederum als unverfälschtes,
nicht entfremdetes Residuum einer menschlicheren
Lebensweise erscheint.
Nachdem das Ansehen der Stadt im späten
20. Jahrhundert massiv gelitten hat, haben
sich – teilweise vom intellektuellen Diskurs
unbemerkt – urbane Entwicklungen auf globaler
Ebene ergeben, die neue faszinierende
Aspekte zur Geltung bringen, aber auch
manche Befürchtung wiederbeleben. Eines
der markantesten Phänomene ist die Entstehung
neuer Millionenstädte und das Anwachsen
der Megacities. Die vermeintlich
abgemeldete Lebens- und Kulturform Stadt
prosperiert nicht nur, sie erscheint auch immer
mehr in einem Licht, das dem düsteren
Bild des lebensfeindlichen Molochs vergangener
Jahrzehnte nicht mehr entspricht.
Was freilich nicht bedeutet, dass alte Sorgen
nicht wiederkehren könnten.
Es scheint viel für die neue, die erneuerte
Stadt zu sprechen, neben den in der Vergangenheit
schon zelebrierten Vorzügen
des urbanen Lebens. Schon die bloßen Daten
rücken alte Perspektiven zurecht. Seit
den 1990er Jahren überwiegt die urbane
Bevölkerung die ländliche – mittlerweile
sogar ganz beträchtlich. Ökologisch, energiepolitisch,
infrastrukturell scheint dies
vorteilhafter, nachhaltiger, zu sein, als wenn
die wachsende Weltbevölkerung in ländlichen
Regionen siedeln würde: Die Stadt als
Lösung zahlreicher drängender Probleme.
Vorausgesetzt, die komplizierte Infrastruktur
wird tatsächlich zuverlässig bereitgehalten,
und Wohnraum für die vielen Millionen
wird geschaffen. Doch die Herausforderungen
gehen über diese grundlegenden Funktionen
hinaus. Das ist die Lehre der Moderne
des 20. Jahrhunderts, in der – nicht nur,
aber auch – trostlose funktionale Quartiere
entstanden, in denen sich kein Gemeinsinn,
keine gelebte Kultur entwickeln kann. Und
selbst Vorzeigeprojekte und Landmark-
Buildings sind häufig nach wenigen Jahrzehnten
dysfunktional und ein Klotz am Bein.
Die Postmoderne, angetreten um der starren
Ordnung Leben einzuhauchen, hat auch keine
Lösungen geliefert, sondern allzu oft – wie
Noam Chomsky konstatiert – sinnlose Diskurse
in obskure Details übersetzt, mit denen
die Menschen sich nicht anfreunden können.
Architekten und Stadtplaner stehen vor der
Aufgabe, aus diesen Fehlern zu lernen. Die
Diskussion von Konzepten und Entwürfen,
die architektonische, technische und soziokulturelle
Aspekte in Einklang bringen, findet
ihren Weg hinaus über das Feuilleton bis in
die interessierte Öffentlichkeit.
Die Architektur des Modernismus war von
den Umbrüchen in den Künsten und Wissenschaften
inspiriert – neuartige, mitunter elitäre
Auffassungen schufen neue Freiräume
für Ausdrucksmöglichkeiten. Wie sich gezeigt
hat, ist die Stadt als Quasi-Organismus jedoch
verschärften, zumindest anderen Bedingungen
als die Kunst unterworfen. Kühnheit von
Ideen ist kein hinreichendes Kriterium für ein
komplexes System, in dem Menschen leben
müssen. Wie die neuen Antworten aussehen,
kann man in neuen Städten und Stadtprojekten
besichtigen. Darunter sind auch Beispiele
für die immer wiederkehrenden Fehler,
wenn Planung abstrakten Konzepten folgt.
Gesucht sind die Lösungen, die sich unter der
Anforderung, den verschiedenen Lebensbereichen
in der irdischen Realität der Stadt gerecht
zu werden, bewähren.
Die Digitalisierung verheißt dabei ganz neue
Möglichkeiten. Im Internet der Dinge liefern
Gegenstände und Personen fortwährend Daten
über ihre Zustände und Aktivitäten, durch
die – so der Anspruch – viel optimaler auf die
Bedürfnisse und die verfügbaren Ressourcen
reagiert werden kann. Das Optimierungspotenzial
ist beträchtlich. Die unterschiedlichsten
Gesellschaftssysteme weltweit wollen
diesen Zug nicht verpassen. Das macht
die Fehlerquelle, die schon die Probleme der
Vergangenheit verursacht hat, noch kritischer:
Abstrakte Planung und unrealistische
Konzeption können sich verhängnisvoll auswirken.
Die Algorithmen und die dahinterstehenden
Datenkonzepte sollten besser der
Realität von Menschen in sozialer Interaktion
entsprechen als unrealistische Visionen oder
naive, eindimensionale Mechanismen zu implementieren.
Das Szenario einer IT-Diktatur
scheint darüber hinaus ebenfalls in greifbare
Nähe zu rücken, dem nur durch eine Wertediskussion
und zuverlässigen Rechtssystemen
begegnet werden kann.
Die »Philosophie der Stadt« fordert heute
smarte, nachhaltige und resilienzfördernde
Konzepte – Schlagworte, die auf alte Fehler
und neue Entwicklungen mit einer Werthaltung
reagieren. Ob sie sich bewähren, wird der
Diskurs in ein, zwei Jahrzehnten zeigen. Das
so oft kritisierte technokratische Denken ist
jedenfalls einer umsichtigeren Perspektive
gewichen, die aus der sträflichen Vernachlässigung
der »sanften«, im weitesten Sinne
»ethischen« Aspekte gelernt hat, denn diese
tragen ganz erheblich zum Funktionieren
einer Stadt bei. Die Stadtentwickler müssen
den schmalen Pfad zwischen Technokratie
und einengender ethischer Bevormundung
finden, und zwar an einem lebenden, wachsenden
System wie es die Stadt nun einmal
ist – on the fly also, oder, mit einem treffenden
Bild von Otto Neurath für Fehlerkorrekturen
in Echtzeit: wie auf hoher See ohne die
Sicherheit des Trockendocks.
Björn Haferkamp
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
für Philosophie der Universität Bremen
Wir x müssen x die
futuristische
Stadt x erfinden
und x erbauen x –
sie x muss
einer x großen,
lärmenden x Werft
gleichen x und
in x allen x ihren
Teilen x flink,
beweglich,
dynamisch x sein.
xxx
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xxxxxxxxxxxx
> Antonio Sant‘Elia
Manifest der futuristischen Architektur, 1914
Wir x bauen
die Ruinen
der x Zukunft.
x
x
x
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xxxx
xxxxxxxx
xxxxxxxxxxxx
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xxxxxxxxxxxxxxxxx
> Walter Ludin
Wo sind die Freundbilder? 1994
AN
HAN
G
IMPRESSUM
HERAUSGEBER
JÜRGEN STRASSER
Niederwaldstraße 18
D-65187 Wiesbaden
+49 (0) 177 - 5 61 33 65
mail@juergenstrasser.de
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© 2021 Jürgen Strasser und VG Bild-Kunst, Bonn
Limitierte Auflage.
Hergestellt in Deutschland.