Karl Heinz Bohrer: Die Zeitlichkeit der modernen Literatur
aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60
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<strong>Zeitlichkeit</strong>
<strong>Karl</strong> <strong>Heinz</strong> <strong>Bohrer</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Zeitlichkeit</strong><br />
<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Literatur</strong><br />
15<br />
Wenn man fragte, wann hat die <strong>Literatur</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong><br />
die mo<strong>der</strong>ne <strong>Literatur</strong> begonnen, dann geben nicht jeweilige<br />
exzentrische Gehalte, auch nicht innovatorische Ideen die<br />
Antwort. <strong>Die</strong> Antwort gibt das Argument <strong>der</strong> Zeit selbst, nämlich<br />
ihre Verzeitlichung: <strong>Die</strong> Vertreibung von Langzeitperspektiven<br />
durch den Moment ist, in einem Satz gesagt, <strong>der</strong> Beginn<br />
<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Literatur</strong>. In diesem Sinne waren Montaignes<br />
Essays <strong>der</strong> erste mo<strong>der</strong>ne Text, denn er erklärte den Moment<br />
als die eigentliche Grundlage <strong>der</strong> Existenz, nicht die normative<br />
Idee. Wenn Descartes die Identität des Ichs im normativen<br />
Begriff des Denkens begründete o<strong>der</strong> Friedrich Schiller den<br />
momentanen Menschen mit Blick auf die Unendlichkeit <strong>der</strong><br />
Zeit des ganzen Menschen verwarf, dann verharrten beide,<br />
trotz ihrer mo<strong>der</strong>nen Subjekterfahrung und Ästhetik auf einem<br />
noch vormo<strong>der</strong>nen Grund. Von daher stammt bis heute eine<br />
Divergenz zwischen Philosophie und ihren normativen Kriterien<br />
einerseits und <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> und ihren Gegenwartskriterien<br />
an<strong>der</strong>erseits.<br />
Das <strong>Zeitlichkeit</strong>sbewusstsein, <strong>der</strong> <strong>Zeitlichkeit</strong>smoment <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>nen <strong>Literatur</strong>, ist unter zwei Kategorien von <strong>Zeitlichkeit</strong><br />
fassbar: erstens <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Plötzlichkeit und zweitens<br />
<strong>der</strong> Kategorie einer radikalen Gegenwart. Man kann aus diesen<br />
beiden <strong>Zeitlichkeit</strong>en den Charakter <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Literatur</strong><br />
zwischen Romantik und Nouveau Roman und danach verstehen.<br />
Nicht nur ihr spezifisches Zeitbewusstsein, son<strong>der</strong>n<br />
vor allem den daraus hervorgehenden Stil des Imaginären.<br />
Beide Kategorien seien zunächst im Kontext <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> des<br />
19. und 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts erläutert, worauf erklärt werden<br />
kann, warum sich denn <strong>der</strong> Stil des Imaginären in namhaften<br />
Werken <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne entwickelt hat.<br />
1<br />
PLÖTZLICHKEIT UND EWIGKEIT<br />
Vereinfacht gesagt sind Plötzlichkeitssituationen <strong>der</strong><br />
<strong>Literatur</strong> solche, in denen das Wort selbst auftaucht, um die<br />
beson<strong>der</strong>e <strong>Zeitlichkeit</strong> eines geschil<strong>der</strong>ten Ereignisses zu<br />
betonen. Das Wort ›plötzlich‹ wird vor <strong>der</strong> romantischen Periode<br />
– selbst anlässlich Schil<strong>der</strong>ungen dramatischer Ereignisse<br />
im Roman des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts – nicht benutzt. Es hat<br />
seine spezifische Wertigkeit bei eben jenen romantischen<br />
Dichtern bekommen, die in <strong>der</strong> Avantgarde-Epoche des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts wie<strong>der</strong>entdeckt worden sind: Heinrich von<br />
Kleist und Friedrich Höl<strong>der</strong>lin. Ebenso wichtig für den signifikativen<br />
Gebrauch des Wortes ›plötzlich‹ war Friedrich Schlegels<br />
Begründung <strong>der</strong> romantischen Ästhetik, die – das belegt<br />
allein schon Hegels Polemik gegen sie – an die Stelle <strong>der</strong>
16<br />
traditionell teleologischen Bestimmungen einen unmittelbar<br />
ästhetischen Ausdruck rückte. In Kleists und Höl<strong>der</strong>lins unterschiedlichem<br />
Gebrauch des Wortes ›plötzlich‹ kündigt sich<br />
indes eine bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
und darüber hinaus wirkende Ambivalenz dieses Wortes an.<br />
Wenn es in Höl<strong>der</strong>lins Hymnik Wie wenn am Feiertage, Brot<br />
und Wein o<strong>der</strong> Patmos direkt o<strong>der</strong> indirekt auftaucht, ist damit<br />
<strong>der</strong> emphatische Eintritt nicht nur <strong>der</strong> thematisch vorgegebenen<br />
göttlichen Sphäre – vornehmlich die des Dionysos –<br />
genannt, son<strong>der</strong>n in poetologischer Selbstreferentialität <strong>der</strong><br />
Eintritt des Gedichts selbst in seine poetische Form. Hierin<br />
äußert sich bei Höl<strong>der</strong>lin ein Pathos des Erhabenen, das unter<br />
mo<strong>der</strong>nen Bedingungen noch einmal auf <strong>der</strong> hymnischen<br />
Höhe Pindars sprechen will, eines Versuchs, <strong>der</strong> sich in <strong>der</strong><br />
Lyrik <strong>der</strong> klassischen Mo<strong>der</strong>ne wie<strong>der</strong>holt und noch zu Ausgang<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts von Jean-François Lyotard theoretisch<br />
aktualisiert worden ist.<br />
Kleists Plötzlichkeit dagegen entbehrt gerade die<br />
emphatische Repräsentanz, bleibt bezogen auf die jeweilige<br />
Situation bzw. den in ihr agierenden Menschen. Ohne auf die<br />
zahlreichen Plötzlichkeitssituationen von Kleists Prosa einzugehen<br />
– charakteristisch für sie Michael Kohlhaas und <strong>Die</strong><br />
Marquise von O.... –, sei beispielhaft die Plötzlichkeitsstruktur<br />
von Kleists berühmter okkasionalistischer Deutung <strong>der</strong> Französischen<br />
Revolution zitiert: »Vielleicht, daß es auf diese Art<br />
zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, o<strong>der</strong> ein zweideutiges<br />
Spiel an <strong>der</strong> Manschette, was in Frankreich den Umsturz<br />
<strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Dinge bewirkte.« 1 <strong>Die</strong> Französische Revolution<br />
wird also aus dem Bewegungsmoment eines Augenblicks,<br />
nicht aus einer ihrer Ideen abgeleitet. <strong>Die</strong>se frivol wirkende<br />
Reduktion einer Idee auf ein Minenspiel, auf die<br />
Zufälligkeit einer Geste – und das auch noch angesichts des<br />
elementaren Zeitereignisses <strong>der</strong> Epoche – bildet einen vielsprechenden<br />
Gegensatz zu Höl<strong>der</strong>lins Plötzlichkeitszeichen,<br />
die ebenfalls die Französische Revolution als Inspirationsgrund<br />
hatten, aber auch <strong>der</strong>en Idee! Allerdings zeigt sich in<br />
Höl<strong>der</strong>lins ›Plötzlichkeits‹- und ›Jetzt‹-Semantik ein eigentümliches<br />
Hervorheben <strong>der</strong> <strong>Zeitlichkeit</strong> selbst, ein Bewusstsein<br />
davon, dass etwas sich ereignet, nicht nur davon, was sich<br />
ereignet. Gerade <strong>der</strong> Ereignis-Charakter ist es, <strong>der</strong> in Höl<strong>der</strong>lins<br />
Hymne besungen wird.<br />
Eine transzendent aufgeladene Plötzlichkeit kann<br />
nicht <strong>der</strong> Augenblick <strong>der</strong> klassischen Mo<strong>der</strong>ne hun<strong>der</strong>t Jahre<br />
später sein, denn diese bezieht sich nicht mehr auf Pindars<br />
Götter. Dennoch tritt in <strong>der</strong> Spannung zwischen Höl<strong>der</strong>lins<br />
noch transzendenter Plötzlichkeit und Kleists bereits selbstreferenzieller<br />
Plötzlichkeit <strong>der</strong> Konflikt auf, <strong>der</strong> die klassische<br />
Mo<strong>der</strong>ne, vor allem André Bretons erstes surrealistisches<br />
Manifest, wie den gordischen Knoten durchschlägt: Es heißt<br />
dann nachdrücklich, »daß diese Idee o<strong>der</strong> jene Frau auf ihn<br />
einen Eindruck gemacht habe, er aber noch nicht zu sagen<br />
wisse, was für ein Eindruck dies gewesen war«. 2 Dem entspricht<br />
Bretons Vorstellung vom nichtsignifikativen Zeichen:<br />
Es handele sich um »Ereignisse, die, auch wenn sie dem rein
17<br />
Feststellbaren zugehörten, jedesmal wie ein Signal anmuten,<br />
ohne daß man genau angeben könnte, was für ein Signal es<br />
ist.« 3 Lyotard wird 1984 auf eben diese merkwürdige Abarbeitung<br />
des von <strong>der</strong> Romantik erfundenen und nach dem Realismus<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts erneuerten Augenblickskriteriums<br />
noch radikaler zurückkommen: Im Anschluss an einen<br />
Essay des amerikanischen Künstlers Barnett Newman von<br />
1949 mit dem charakteristischen Titel The Sublime is Now<br />
versucht Lyotard 1984 in diesem »Now« jeden metaphysischen<br />
Gehalt zu entsorgen. Es gibt kein ›was‹ mehr, das<br />
geschieht, son<strong>der</strong>n nur ein ›dass‹: dass es geschieht. Ohne<br />
auf Lyotards Begründung des Avantgarde-Erhabenen auf dem<br />
reinen Jetzt weiter einzugehen, genügt es zu sehen, wie hier<br />
eine fast zweihun<strong>der</strong>t Jahre währende Faszination durch den<br />
Augenblick fortgeführt wird, nunmehr versuchsweise aller<br />
romantischen, ja surrealistischen Motive entledigt.<br />
Aber ist das wirklich gelungen? War nicht einerseits<br />
schon bei Höl<strong>der</strong>lins Faszination durch den plötzlichen Strahl<br />
<strong>der</strong> Götter eine Faszination an <strong>der</strong> Sprache am Werk, und<br />
konnte das, was wir die Säkularisation des Heiligen nennen,<br />
d.h. die Substitution des Ewigen durch den kurzlebigen<br />
Augenblick, an<strong>der</strong>erseits wirklich ohne die Ewigkeitsidee auskommen?<br />
<strong>Die</strong>se Doppelheit zeigt sich vor allem auch in <strong>der</strong><br />
berühmtgewordenen Definition <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Kunst durch<br />
Baudelaire: »<strong>Die</strong> Mo<strong>der</strong>nität ist das Vergängliche, das Flüchtige,<br />
das Zufällige, die eine Hälfte <strong>der</strong> Kunst, <strong>der</strong>en an<strong>der</strong>e<br />
Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.« 4 <strong>Die</strong> konventionelle<br />
akademische Erklärung dieses Satzes tut noch immer so, als<br />
ob es eben und vor allem auf das Flüchtige ankomme. In<br />
Wahrheit wollte Baudelaire das Schöne retten, nachdem dessen<br />
klassizistische Version nicht mehr haltbar war. Ohne das<br />
Vergängliche würde das Ewige zur Leerheit einer Abstraktion.<br />
Aber es geht Baudelaire weiterhin um einen emphatischen<br />
Begriff des Schönen, das sich in einer jeweiligen Gegenwart<br />
darstellt. Deshalb hält er bei seiner Betonung des ›Flüchtigen‹<br />
als Bedingung mo<strong>der</strong>ner Kunst gleichzeitig an <strong>der</strong> Kategorie<br />
des ›Ewigen‹ fest. <strong>Die</strong>ser Gedanke wird in Baudelaires<br />
berühmtem Gedicht À une passante, das Benjamin so nachdrücklich<br />
erläutert hat, in seiner zentralen Metaphorik konzentriert:<br />
Der Flaneur, <strong>der</strong> Dichter, sieht sich vom Auge einer<br />
Unbekannten angezogen: Es ist ein Blitz, <strong>der</strong> ihn plötzlich<br />
überfällt, und ebenso verschwindet. Was aber zurückbleibt,<br />
ist die Gewissheit, dass erst die Ewigkeit ein Wie<strong>der</strong>sehen<br />
zulässt.<br />
Hätte Lyotard bzw. Newman diese Paradoxie zwischen<br />
zwei wi<strong>der</strong>sprüchlichen Zeitvorstellungen genauer<br />
durchdacht, hätten sie den gordischen Knoten nicht noch einmal<br />
durchschlagen wollen, wie sie es getan haben. Sie hätten<br />
gemerkt, dass die ›Dass-es-geschieht‹-Idee die ›Wasgeschieht-Frage‹<br />
nicht zum Verschwinden bringt. <strong>Die</strong>se Polarität<br />
von Kurzzeit und Langzeit ist vom Erfin<strong>der</strong> wenn nicht <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>nen Ästhetik, so doch einiger ihrer zentralen Begriffe,<br />
Friedrich Nietzsche, weiter durchdacht worden. Bei <strong>der</strong> Fortführung<br />
seines Verständnisses des Dionysischen, zehn Jahre
18<br />
nach <strong>Die</strong> Geburt <strong>der</strong> Tragödie aus dem Geiste <strong>der</strong> Musik<br />
von 1872/73, kommt er von <strong>der</strong>en ›plötzlicher‹ Fassung des<br />
Dionysischen auf <strong>der</strong>en ›ewige‹ Fassung zu sprechen. <strong>Die</strong>se<br />
Verschiebung ist vorbereitet in <strong>der</strong> Tragödien-Schrift selbst,<br />
wenn <strong>der</strong> tragische Held als die ewige Maske des Dionysos<br />
gedeutet wird, wenn durch seinen individual-psychologischen<br />
Ausdruck die transsubjektive Stimme des tragischen Mythos<br />
spricht. <strong>Die</strong>ses Merkmal <strong>der</strong> tragischen Maske wird im für die<br />
spätere Ästhetik Nietzsches entscheidenden Begriff des<br />
›Scheins‹ und <strong>der</strong> ›Oberfläche‹ als Merkmal eines ›Großen<br />
Stils‹ wie<strong>der</strong>holt. In dem Aphorismus <strong>Die</strong> Revolution in <strong>der</strong><br />
Poesie (Menschliches, Allzumenschliches I) spricht sich<br />
Nietzsche gegen expressionistische Unmittelbarkeit <strong>der</strong><br />
Kunst zugunsten einer idealischen Maske aus: »Wirklichkeit«<br />
müsse durch »allegorische Allgemeinheit« und »Zeitcharakter«<br />
durch ein »mythisch Machen« ersetzt werden. 5<br />
Mit den Begriffen ›Maske‹, ›Allegorie‹ und ›mythisch<br />
machen‹ hat Nietzsche am Ende des Zeitalters des realistischen<br />
Romans den ursprünglichen Grundgedanken seiner<br />
Tragödien-Schrift aktualisiert. <strong>Die</strong> Analogie zu Baudelaires<br />
Definition <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zwischen Flüchtigkeit und Ewigkeit<br />
wird deutlich. Sie zeigt sich auch in einigen zentralen Metaphern<br />
<strong>der</strong> Ewigkeit, die im Werk bei<strong>der</strong> Dichter-Denker auftauchen,<br />
nicht zuletzt im Bild eines schweigsamen unendlichen<br />
›Meeres‹, von dem dennoch ein plötzlicher Schrecken<br />
ausgeht. Wenn im Kunstdenken <strong>der</strong> beginnenden Mo<strong>der</strong>ne<br />
die <strong>Zeitlichkeit</strong> des Plötzlichen die <strong>Zeitlichkeit</strong> <strong>der</strong> Dauer<br />
immer schon enthält, dann hat es etwas von Notwendigkeit an<br />
sich, wenn Prousts mémoire involontaire, die signifikanteste<br />
Darstellung eines Zeitmoments in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Literatur</strong>,<br />
die Plötzlichkeit des Erinnerungs- bzw. Erlebnismoments mit<br />
<strong>der</strong> Ewigkeit des Glücksgefühls verbindet. Gilles Deleuze<br />
spricht von einem »Glanz« <strong>der</strong> »Wahrheit«. 6 Man könnte von<br />
dieser Verbindung des gegensätzlichen Zeitgehalts darauf<br />
schließen, dass je stärker die Plötzlichkeit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Literatur</strong><br />
die Perspektive auf eine Hegel’sche Gewissheit von<br />
teleologischem Verlauf verliert, umso stärker das Ewigkeitsmoment<br />
in die Plötzlichkeit selbst verlegt ist.<br />
Es ist für die Verbindung von Kurz- und Langzeitausdruck<br />
für das Plötzlichkeits- und Ewigkeitszeichen <strong>der</strong> Kunst<br />
aufschlussreich, dass in <strong>der</strong> kunsttheoretischen Programmatik<br />
von vier für die klassische Mo<strong>der</strong>ne repräsentativen<br />
Autoren eben diese Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit geradezu zur Formel<br />
geworden ist. Walter Benjamins Rede von <strong>der</strong> »profanen<br />
Erleuchtung«, Robert Musils Wort von »tagheller Mystik«,<br />
James Joyce’ Metapher <strong>der</strong> »epiphany« und Virginia Woolfs<br />
Motiv <strong>der</strong> »ecstasy« haben gemeinsam, dass sie sich von<br />
einem metaphysischen Verständnis dieser Intensitätszeichen<br />
nachdrücklich abgrenzen, an<strong>der</strong>erseits aber von einem Ausdruck<br />
des extrem Beson<strong>der</strong>en nicht absehen wollen. Was<br />
besagt das? Offenbar kommt <strong>der</strong> Surrealismus Benjamins<br />
ohne plötzliche Erleuchtung nicht aus. Aber er will sie profan:<br />
»Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am<br />
Rätselhaften pathetisch o<strong>der</strong> fanatisch zu unterstreichen,
19<br />
vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade,<br />
als wir uns im Alltäglichen wie<strong>der</strong>finden, kraft einer dialektischen<br />
Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das<br />
Undurchdringliche als alltäglich erkennt.« 7 Man wird den<br />
Eindruck einer tautologischen Auskunft nicht los im Sinne des<br />
englischen Sprichworts »to have the cake and to eat it«.<br />
Das gilt auch für Virginia Woolfs Darstellung <strong>der</strong> »ecstasy« in<br />
ihrer Beschreibung <strong>der</strong> Moments of Being, nämlich mit <strong>der</strong><br />
Betonung eines philosophiefernen Statements. O<strong>der</strong> James<br />
Joyce’ Beschreibung einer Epiphanie in einem trivialen Kontext.<br />
<strong>Die</strong> Distanzierung transzendenter Bezüge än<strong>der</strong>t nichts<br />
an <strong>der</strong> Faszination durch die Intensität eines Augenblicks,<br />
durch das Rätsel von etwas Rätselhaftem. Vielmehr müsste<br />
man gerade hervorheben, dass diese Sprecher <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität,<br />
also ihrer <strong>Zeitlichkeit</strong>, nicht auskommen ohne etwas, das<br />
<strong>der</strong>en Bedeutung ins Geheimnisvolle und Bedeutsame<br />
schiebt. Zugespitzt gesagt: Eigentlich variiert Benjamins<br />
Bekenntnis zum Profanen im Rätselhaften Novalis’ berühmte<br />
Definition des Romantischen, nämlich dem Bekannten »die<br />
Würde des Unbekannten« zu geben o<strong>der</strong> »dem Gewöhnlichen<br />
ein geheimnisvolles Aussehen« zu verleihen. 8 O<strong>der</strong>: Man<br />
dreht sich seitdem im Kreise.<br />
In <strong>der</strong> surrealistischen Prosa, beispielhaft in André<br />
Bretons Roman Nadja (1928) und in Louis Aragons Roman Le<br />
paysan de Paris (1926), zeigen sich methodisch konstruierte<br />
Bil<strong>der</strong> plötzlicher Erscheinungen: Sei es die plötzliche<br />
Erscheinung <strong>der</strong> Farbe Rot im Fenster eines Hauses an <strong>der</strong><br />
Place Dauphine o<strong>der</strong> die plötzliche Erscheinung eines Kopfes,<br />
<strong>der</strong> vom Dach eines Eisenbahnwagens in das Fenster des<br />
Abteils schaut. Es sind Wahrnehmungs-Ereignisse mit aufgeschobener<br />
Bedeutungserklärung, denn dass sie eine Erklärung<br />
haben sollten, steht außer Frage. Im Falle von Aragons<br />
Le paysan de Paris ist das wahrgenommene seltsame Ereignis<br />
direkt unter dem Namen des »täglich Wun<strong>der</strong>baren« (»le<br />
merveilleux quotidien«) anzusprechen. Es ist das Element <strong>der</strong><br />
Konzeption einer »mythologie mo<strong>der</strong>ne«. Auch hier ist es die<br />
Folge intensiver Wahrnehmungsereignisse, <strong>der</strong>en Exotik nicht<br />
weiter erklärt wird. Für die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> im<br />
20. Jahrhun<strong>der</strong>t ist ein beson<strong>der</strong>er Modus dieser Wahrnehmungen<br />
aufschlussreich: Sie entsprechen einer spezifischen<br />
Theorie des surrealistischen Bildes. Der Umstand, dass<br />
die mo<strong>der</strong>ne <strong>Literatur</strong> sich nicht auf Ideen, son<strong>der</strong>n auf Wörter<br />
von überraschen<strong>der</strong> Ausdruckskraft – Aragon spricht<br />
vom »Bil<strong>der</strong>gift« des Surrealismus – verlässt, ist zu verallgemeinern.
20<br />
2<br />
GEGENWÄRTIGKEIT UND DAS IMAGINÄRE<br />
Dabei zeigt sich nun, wie sich das dem Plötzlichkeitsausdruck<br />
immanente Moment <strong>der</strong> Ewigkeit auswirkt auf die<br />
<strong>Zeitlichkeit</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Literatur</strong>. Auch wo sich nicht ausdrücklich<br />
die Plötzlichkeit von Etwas darstellt: die Konzentration<br />
<strong>der</strong> <strong>Literatur</strong> auf die reine Gegenwart. Das ist zunächst<br />
die Konsequenz, die dem festgestellten Zeitgesetz folgt, dass<br />
mit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne die Zukunftsperspektive verschwindet. Im<br />
zugespitzten Sinne hat Georges Bataille die Asozialität, das<br />
Phantasma des Bösen, das in seiner Vorstellung dem literarischen<br />
Diskurs seit <strong>der</strong> griechischen Tragödie eigen ist, in <strong>der</strong><br />
Ausschließlichkeit <strong>der</strong> Gegenwartsperspektive gefasst. 9 Da<br />
es hier ausschließlich um den Aspekt <strong>der</strong> Zeit geht, ist die<br />
Kategorie des Bösen nicht zu diskutieren. 10 Es ist vielmehr die<br />
Perspektive auf das Imaginäre zu öffnen. 11 Das Imaginäre ist<br />
nicht nur als das von <strong>der</strong> Subjektivität des Dichters Imaginierte<br />
zu identifizieren, son<strong>der</strong>n als Ausdruck dieser Imagination,<br />
nämlich die spezifische transreale Bildlichkeit dessen, was als<br />
Gegenwärtigkeit imaginiert wird. Der Modus von Gegenwärtigkeit<br />
konzentriert solch eine Bildlichkeit zu einem intensiven<br />
Ausdruck, ohne – und das verschärft die Intensität – dass<br />
seine Bedeutung sofort erkennbar würde.<br />
Man hat angesichts <strong>der</strong> geläufigen Vorstellung von<br />
<strong>Literatur</strong> als ein Denken in <strong>der</strong> Zeitgeschichte, in <strong>der</strong> also<br />
Zukunfts- und Vergangenheitsdarstellungen eine wichtige<br />
Rolle spielen, das Gegenwartskriterium sogar radikal zu setzen:<br />
Unter Gegenwart ist dann nicht eine politisch-soziale<br />
Darstellung <strong>der</strong> Gegenwart zu verstehen, wie sie für berühmtgewordene<br />
Romane wie Heinrich Manns Henri Quatre, Lion<br />
Feuchtwangers Jud Süß, Erich Maria Remarques Im Westen<br />
nichts Neues o<strong>der</strong> Stefan Zweigs Sternstunden <strong>der</strong> Menschheit<br />
charakterisiert ist. Sie sind das Gegenstück zur mo<strong>der</strong>nen<br />
<strong>Literatur</strong> im Gegenwartszeichen. <strong>Literatur</strong>, die geschichtliche<br />
Zeiten als geschichtliche behandelt, ist letztlich noch<br />
immer von einem geschichtsphilosophischen Denken<br />
geprägt. Ob es potenziell noch die Möglichkeit einer teleologischen<br />
Perspektive gibt o<strong>der</strong> ob wir seit dem Ende des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts in einer fortgeschrittenen Gegenwart leben, 12<br />
hat mit <strong>der</strong> ästhetiktheoretischen Frage nach <strong>der</strong> intensiven<br />
Gegenwartsdarstellung mo<strong>der</strong>ner <strong>Literatur</strong> nur indirekt etwas<br />
zu tun. Nennen wir Gegenwart die radikalisierte Gegenwart<br />
<strong>der</strong> Wahrnehmung o<strong>der</strong> das absolute Präsens des imaginativen<br />
Dichters, 13 dann verstehen wir unter Gegenwart im<br />
mo<strong>der</strong>nen Roman die Priorität eines Stils, <strong>der</strong> auf dem Darstellungseffekt<br />
<strong>der</strong> Intensität besteht, mit <strong>der</strong> das einzelne<br />
Wahrgenommene in den Blick des Lesers kommt. Dazu ist es<br />
notwendig, sich von traditioneller Metaphorik zu trennen.<br />
<strong>Die</strong>se vom Dichter dargestellte Gegenwart ist aus dem Zeitrahmen<br />
einer angenommenen bewussten Vergangenheit und<br />
Zukunft herausgefallen. Man kann sich reine Gegenwärtigkeit<br />
jenseits konventioneller <strong>Zeitlichkeit</strong> an einer <strong>der</strong> signifikantesten<br />
Plötzlichkeitsszenen <strong>der</strong> klassischen Mo<strong>der</strong>ne verdeutlichen:<br />
an Prousts Darstellung <strong>der</strong> »mémoire involontaire«: <strong>Die</strong><br />
Erinnerung, die nicht bewusst herbeigeführt ist, lässt die Ver-
21<br />
gangenheit nicht als historisch begriffene Vergangenheit, son<strong>der</strong>n<br />
als imaginäre Gegenwart erscheinen.<br />
Es gibt für diese imaginäre <strong>Zeitlichkeit</strong> eine Vorläuferschaft,<br />
wie<strong>der</strong>um in <strong>der</strong> Romantik. Am interessantesten für<br />
die imaginäre Gegenwart ist Ludwig Tiecks nicht von ungefähr<br />
erst Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts wirklich wie<strong>der</strong>gelesene,<br />
ja berühmtgewordene Erzählung Der blonde Eckbert (1797).<br />
Abgesehen davon, dass darin das romantische Programm<br />
des ›Wun<strong>der</strong>baren‹, des ›Rätsels‹ und des ›Schrecklichen‹<br />
erstmalig ausgeführt worden war, ist es die spezifische <strong>Zeitlichkeit</strong><br />
<strong>der</strong> Zeitlosigkeit, woher die spezifische Atmosphäre<br />
kommt: die Versetzung realer Geschehnisabläufe in das fortwährende<br />
Präsens einer imaginären Stimmung, die in diesem<br />
Falle etwas Angsteinflößendes hat. Es ist ein ästhetischer<br />
Modus, den Kierkegaard in <strong>der</strong> somnambulen Manier von Bil<strong>der</strong>n<br />
in <strong>der</strong> von Arnim und Brentano herausgegebenen Lie<strong>der</strong>sammlung<br />
Des Knaben Wun<strong>der</strong>horn (1808) entdeckte und<br />
sozusagen existenziell aktualisiert hat.<br />
Zeigt sich hier abermals die Bedeutung <strong>der</strong> romantischen<br />
Tradition für die <strong>Literatur</strong>, so ist die radikale Gegenwartsdarstellung<br />
jedoch schon in einer jenseits <strong>der</strong> Romantik<br />
stattgehabten Wahrnehmungsreflexion begründet worden:<br />
vorromantisch von Rousseau und nachromantisch von Schopenhauer.<br />
Rousseau hat in den Träumereien eines einsamen<br />
Spaziergängers das Glück reiner kontemplativer Zuständlichkeit<br />
am Beispiel eines langen, aber nicht zeitlich messbaren<br />
Augenblicks in <strong>der</strong> Natur beschrieben: als absolut präsenti-<br />
sche Dauer, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft (im fünften<br />
Spaziergang). Schopenhauer, <strong>der</strong> für literarische Phänomene<br />
wohl begabteste Philosoph, hat die Gegenwärtigkeit sinnlichästhetischer<br />
Wahrnehmung noch radikalisiert, indem er sogar<br />
die Subjektivität des Wahrnehmenden von <strong>der</strong> reinen objektiven<br />
Gegenständlichkeit des Wahrgenommenen aufgesogen<br />
sah (<strong>Die</strong> Welt als Wille und Vorstellung, 3. Buch, § 34). Insofern<br />
praktiziert die <strong>Literatur</strong> <strong>der</strong> reinen Gegenwart, von <strong>der</strong> zu<br />
reden ist, eine gedankliche Einsicht in die Wahrnehmungsintensität<br />
<strong>der</strong> Dinge.<br />
<strong>Die</strong>se <strong>Literatur</strong> ist dazu befähigt, weil sie, wie gesagt,<br />
von keiner teleologischen o<strong>der</strong> historischen Perspektive mehr<br />
abgelenkt wird. Ohne hier ein literarhistorisches Datum zu<br />
setzen, kann man Virginia Woolfs letztes Prosastück, den<br />
postum erschienenen Text Moments of Being (1940) als Beispiel<br />
<strong>der</strong> klassischen Mo<strong>der</strong>ne für die Evokation reiner<br />
Gegenwart nennen, in <strong>der</strong> auch das konventionelle Ich-<br />
Bewusstsein (Selbstgefühl) ausgeschaltet ist: »Mich selbst<br />
empfinde ich kaum, son<strong>der</strong>n einzig die Sinneswahrnehmung.<br />
Ich bin nur ein Gefäß eines ekstatischen Gefühls <strong>der</strong> Verzükkung.«<br />
14 Hier ist Gegenwärtigkeit begründet, im ›Schock‹ <strong>der</strong><br />
plötzlichen Erscheinungsform <strong>der</strong> »moments of being«, die<br />
sie, wie oben angedeutet, von einer platonisch-metaphysisch<br />
inspirierten Vorstellung strikt trennt. Auch Virginia Woolfs<br />
Erzählung Mrs. Dalloway (1925) wird am zeitlichen Fortschreiten<br />
gehin<strong>der</strong>t, weil, wie Paul Ricœur gezeigt hat, die<br />
Handlungsschübe durch lange Abfolgen aus Erinnerungen
22<br />
und Reflexionen <strong>der</strong> Heldin stillgestellt werden: <strong>Die</strong> innere<br />
Zeit <strong>der</strong> Heldin verschlingt die chronologische äußere Zeit.<br />
Solche Gegenwartsobsession ist nicht abhängig von<br />
emphatischer Augenblicksdarstellung, die in <strong>der</strong> Nachfolge<br />
<strong>der</strong> Romantik mit dem schon erläuterten Plötzlichkeitsdiskurs<br />
im frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>t begann. Vielmehr zeigen Kafkas<br />
und Becketts Prosastücke, wie Zeitlosigkeit durch die Referenz<br />
an die schiere Gegenwart sowohl mit als auch ohne<br />
Momentanismusreferenz aufleuchtet. In <strong>der</strong> Beobachtung so<br />
genannter ›Zustände‹ in den Tagebüchern Kafkas zeigt sich<br />
ein präsentisches Gefühl ohne Zukunftsperspektive, weil solche<br />
Begriffe, die <strong>der</strong> Realität Zukunftsvisionen geben würden,<br />
aufgehoben sind. Das Einswerden mit reiner Gegenwärtigkeit<br />
im Raum, in <strong>der</strong> Situation ist die Folge. Kafka besteht auf einer<br />
puritanischen Wahrnehmung des Jetzt und verwehrt dem<br />
Temperament <strong>der</strong> Sprache, seiner eingeborenen Tendenz entsprechend,<br />
Hoffnungsperspektiven für morgen zu entwerfen.<br />
So werden die Kategorien des ›Fortschritts‹, <strong>der</strong> ›Entwicklung‹<br />
auch in den Romanen und Erzählungen depotenziert:<br />
<strong>Die</strong> Reduktion auf das Präsentische hat Kafka in <strong>der</strong> Tagebuchnotiz<br />
vom 20. November 1911 in <strong>der</strong> Metapher vom »stehenden<br />
Sturmlauf« charakterisiert. Kafkas Resistenz, den Eintritt<br />
von etwas Neuem anzunehmen, son<strong>der</strong>n das Neue als das<br />
immer schon Anwesende zu behaupten, schlägt sich in seiner<br />
parabolischen Prosa überall nie<strong>der</strong>. Sentenzen wie »<strong>der</strong> fliegende<br />
Pfeil ruht« sagen, dass es eigentlich keine Bewegung<br />
gibt. In Kafkas negativer Gegenwartsdarstellung lässt sich<br />
<strong>der</strong> Ausdruck von nichtstattfinden<strong>der</strong> Plötzlichkeit erkennen:<br />
»<strong>Die</strong> scheinbare Stille, mit welcher die Tage, die Jahreszeiten,<br />
die Generationen, die Jahrhun<strong>der</strong>te aufeinan<strong>der</strong>folgen,<br />
bedeutet Aufhorchen: so traben Pferde vor dem Wagen.« 15<br />
Insofern ließe sich Kafkas Beschränkung auf Gegenwartsdiagnose<br />
sogar als Konsequenz einer gebrochenen eschatologischen<br />
Erwartung relativieren, die die Plötzlichkeit als metaphysisches<br />
Zeichen versteht: »Der Messias wird erst<br />
kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst nach<br />
seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen,<br />
son<strong>der</strong>n am allerletzten.« 16<br />
Kafkas Hinweise auf eine nie vollendete Erfüllung <strong>der</strong><br />
Zeit lassen sich nicht, wie es häufig geschieht, auf eine philosophisch-analoge<br />
Systematik beziehen, son<strong>der</strong>n auf eine<br />
interne Erklärung: Kafkas Bild von <strong>der</strong> ›Wunde«, die geschlagen<br />
wurde und zwar »durch einen Blitz, <strong>der</strong> noch andauert«. 17<br />
<strong>Die</strong> Reduktion <strong>der</strong> langzeitlichen Erwartung auf die ausschließliche<br />
Gegenwart zeigt sich in den Romanen als wie<strong>der</strong>holte<br />
Emphatisierung des Raumes: Das Präsens wird zur<br />
restriktiven, eingeschränkten Raumerfahrung. <strong>Die</strong> Einschränkung<br />
auf engste Räume, auf Zellen und Käfige, ist unübersehbar<br />
in <strong>der</strong> Prosa von In <strong>der</strong> Strafkolonie, in den Romanen Der<br />
Prozeß und Das Schloß sowie in den Erzählungen Ein Bericht<br />
für eine Akademie o<strong>der</strong> Ein Hungerkünstler. Aber gerade<br />
daran zeigt sich nicht bloß ein negatives Symbol, son<strong>der</strong>n die<br />
Sinnlichkeit, die für Kafkas Prosa charakteristisch ist. Trotz<br />
des im Raum aufgehobenen Präsens ist die kontinuierliche
23<br />
Referenz an Plötzlichkeitswahrnehmungen zu betonen. Eine<br />
Emphatisierung von Plötzlichkeit im surrealen Sinne ist beispielsweise<br />
ein Satz wie: »<strong>Die</strong> Zuschauer erstarren, wenn <strong>der</strong><br />
Zug vorbeifährt.« 18 Man hat in dieser Plötzlichkeit ein Erschrekken<br />
vor dem Gesicht <strong>der</strong> Medusa gesehen. 19<br />
Becketts Darstellung einer absoluten Gegenwart (in<br />
Differenz zu Kafka) impliziert a priori ein ewiges Präsens ohne<br />
Zukunft. Das ist ein Gemeinplatz <strong>der</strong> Beckett-Lektüre. <strong>Die</strong> Helden<br />
in Endspiel und Warten auf Godot sind sprichwörtlich integriert<br />
in die Groteske eines Immergleichen, das unserer auf<br />
stets erneuerbare Finalität und Erwartung des Neuen angelegten<br />
Zivilisation spottet. Adornos Versuch, das ›Endspiel‹ zu<br />
verstehen, ist an dieser negativen Metaphysik gescheitert, weil<br />
er die Abwesenheit einer Sinnerfüllung nicht in <strong>der</strong> Form suchte,<br />
son<strong>der</strong>n in einem inhaltlichen Argument. Dabei geht es aber<br />
darum, die Imagination <strong>der</strong> schieren Gegenwärtigkeit als Bekketts<br />
imaginativ-ästhetische Performance zu erkennen. Nicht<br />
indem wir Becketts Szene als Topos für Zukunftslosigkeit, im<br />
Sinne einer kulturkritischen Formel lesen, son<strong>der</strong>n indem wir<br />
ihre Inkommensurabilität in <strong>der</strong> Darstellung möglicherweise<br />
sogar genießen, reagieren wir angemessen auf den vor allem<br />
intensiven Ausdruck. Be cketts Präsens von Zuständen ist nämlich,<br />
durchaus ähnlich wie bei Kafka, zunächst als Epiphanie<br />
konstruiert. Bei Beckett haben sie aber einen komischen<br />
Effekt: Sie sind nicht die metaphorische Verhüllung einer Idee.<br />
Das ironische Endstück von Happy Days ist demnach als reine<br />
Poesie, als eine an<strong>der</strong>e Wahrnehmung emphatischer Zeit, also<br />
nicht kulturkritisch vermittelbar, zu empfinden. Winnies<br />
Schlusssatz »Oh, dies ist ein glücklicher Tag, dies wird wie<strong>der</strong><br />
ein glücklicher Tag gewesen sein!« ist zunächst einmal ein<br />
ungeheuerlicher Satz: nämlich Becketts Parodie, in <strong>der</strong> zeitlichen<br />
Reduktion auf eine nie endende Gegenwärtigkeit ein<br />
intensives Ereignis entdecken zu wollen. Beckett hat in seinem<br />
Essay über Proust die realistische und naturalistische<br />
<strong>Literatur</strong> verabschiedet. Also auch jene Form von psychologischer<br />
Erfahrung, die Happy Days als Kritik einer banal gewordenen<br />
Ehe versteht, hinter <strong>der</strong> eine an<strong>der</strong>e Utopie von Wirklichkeit<br />
zu konstruieren wäre.<br />
Nun lauert ein Einwand gegen diese Art von <strong>Zeitlichkeit</strong><br />
als Indiz <strong>der</strong> literarischen Mo<strong>der</strong>ne: Sie erscheine in einer<br />
avantgardistischen <strong>Literatur</strong>, die ihre Epoche hinter sich habe,<br />
sie sei, beson<strong>der</strong>s im Falle von Kafka und Beckett, zudem<br />
theorielastig, eher <strong>der</strong> Ausdruck eines Krisenbewusstseins<br />
denn ein praktikables Stilmodell. Hinter solch einem auf den<br />
ersten Blick wenn nicht einleuchtenden, so doch verständlichen<br />
Einwand wird indes das seit den 70er-Jahren aufkommende<br />
Motto ›Man erzählt wie<strong>der</strong>‹ sichtbar und mit ihm eine<br />
sich seitdem ausbreitende ebenso realistische wie auch banale<br />
Wie<strong>der</strong>gabe zeithistorischer Erfahrungen zwischen perspektivierter<br />
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Inwiefern<br />
das Gegenwartskriterium als ein imaginatives Verfahren<br />
nach wie vor relevant ist, ist daher abschließend an zwei für<br />
das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t repräsentativen, durchaus erzählenden<br />
Romanen zu verdeutlichen: an William Faulkners Bürger-
24<br />
kriegsroman The Unvanquished (›<strong>Die</strong> Unbesiegten‹) von 1939<br />
und an Claude Simons ebenfalls den Krieg behandelnden<br />
Romanen La route des Flandres (›<strong>Die</strong> Straßen in Flan<strong>der</strong>n‹,<br />
1960) und L’acacia (›<strong>Die</strong> Akazie‹, 1989). Auch an<strong>der</strong>e herausragende<br />
Autoren des späten 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts – wie Thomas<br />
Pynchon – stehen für die Entfaltung des imaginären Gegenwärtigen.<br />
Faulkners und Simons Romane sind aber zur Erklärung<br />
des Problems beson<strong>der</strong>s geeignet, weil sich gerade an<br />
<strong>der</strong> ihnen gemeinsamen Kriegsthematik zeigt, warum man<br />
zwischen dem historischen Gedächtnis, das die Vergangenheit<br />
als Vergangenheit benennt, und <strong>der</strong> poetischen Erinnerung,<br />
die Gegenwärtigkeit aufruft, zu unterscheiden hat.<br />
<strong>Die</strong>se Unterscheidung lässt sich selbst für das im naturalistischen<br />
Stil geschriebene große Paradigma des historischen<br />
Romans, für Tolstois Krieg und Frieden (1864/69), geltend<br />
machen.<br />
Faulkners Roman <strong>Die</strong> Unbesiegten schil<strong>der</strong>t die tragische<br />
Geschichte einer alteingesessenen Familie aus Mississippi,<br />
<strong>der</strong> Heimat des Autors. Sie schil<strong>der</strong>t – aus <strong>der</strong> Perspektive<br />
des Ich-Erzählers auf dessen Jugend – die letzte Phase<br />
des Bürgerkriegs und <strong>der</strong> unmittelbaren Nachkriegszeit des<br />
militärisch geschlagenen, sich aber nicht geschlagen gebenden<br />
Südens. <strong>Die</strong> dramatischen Ereignisse, die geschil<strong>der</strong>t<br />
sind, bilden eine Kette von Vorfällen, die eine Katastrophe<br />
aktualisieren: die Nie<strong>der</strong>brennung des väterlichen Hauses<br />
durch Truppen <strong>der</strong> Nordstaaten, den Zusammenbruch einer<br />
Brücke mitsamt <strong>der</strong> sie überschreitenwollenden Garde, die<br />
Affäre des jungen Erzählers mit <strong>der</strong> neuen jungen Frau des<br />
Vaters, die Erschießung des Vaters während eines Pistolenduells<br />
durch seinen politischen Gegner, die nicht vollzogene,<br />
aber symbolische Rächung des Vaters durch den Sohn. Alle<br />
diese Ingredienzen des Stoffes und des Themas böten sich<br />
für einen zeithistorisch elaborierten, die einzelnen Figuren<br />
dramaturgisch inszenierenden Roman an. An <strong>der</strong> kulturellpolitisch<br />
engagierten Haltung des Erzählers besteht auch kein<br />
Zweifel: <strong>Die</strong> Nordstaatentruppen, immer Yankees genannt,<br />
kommen sehr schlecht weg. <strong>Die</strong> Schwarzen, durchweg als<br />
»negros« bezeichnet, erscheinen, abgesehen vom Jugendgefährten<br />
Ringo, passiv, zu eigenen Entschlüssen unfähig. Der<br />
Vater, John Sartorius, ist durch Tötungsakte nicht gebrandmarkt,<br />
aber wohl mythologisiert.<br />
<strong>Die</strong>se Fakten, nicht zuletzt <strong>der</strong> dramatische Ausgang<br />
des Romans, werden aber nicht als ein historischer Prozess<br />
erkennbar, son<strong>der</strong>n in eine Kette von Phantasiebil<strong>der</strong>n transformiert.<br />
Einerseits ist <strong>der</strong> historische Zusammenhang aufgelöst<br />
in kontingente Erscheinungen sinnlicher Details, wo<br />
<strong>der</strong> Pluralismus sinnlicher Wahrnehmungen einzelner Dinge<br />
eine Zentralperspektive überdeckt: das Sonnenlicht, <strong>der</strong><br />
Körper <strong>der</strong> Schwarzen, <strong>der</strong> Geruch <strong>der</strong> Pferde, die ewige<br />
Gestalt <strong>der</strong> Großmutter, die Permanenz von physisch ausgebreiteten<br />
Fluchtbewegungen. An<strong>der</strong>erseits bleiben signifikative<br />
Ereignisse, vor allem die schließliche Tötung des Vaters<br />
und <strong>der</strong> Umstand <strong>der</strong> nicht buchstäblich vollzogenen Rache,<br />
nur angedeutet. Je mehr die Ausführung dessen, was genau
25<br />
Claude Simons Romane artikulieren das Gegenwärtige dagegen<br />
in einer ikonografischen Manier, wodurch das kriegerische<br />
Detail eine symbolische Signifikanz bekommt. Hierin<br />
unterscheidet sich Simons Detail nachdrücklich von Faulkners<br />
kontingenzverbürgen<strong>der</strong> Gegenständlichkeit. Auch in La<br />
route des Flandres und L’acacia wird nicht die Geschichte<br />
eines Krieges und des ihn erfahrenden Helden erzählt. Vielmehr<br />
ist die Consecutio <strong>der</strong> Handlung durch einen Stil<br />
ersetzt, den Claude Simon »composition par tableaux« nennt.<br />
<strong>Die</strong> Kette von Wörtern stellt Bil<strong>der</strong>, keine begriffenen und<br />
gedeuteten Realitätsausschnitte dar. Der ekphrastische Charakter<br />
dieser Bil<strong>der</strong> kommt dem Gewaltmotiv des Kriegssujets<br />
beson<strong>der</strong>s entgegen. <strong>Die</strong> dabei entstehende, aus dem<br />
Deskriptionsprinzip sich ergebende schiere Phänomenalität<br />
<strong>der</strong> Dinge entzieht sich aber auch, wie bei Faulkner, jedem<br />
Deutungsversuch. Und diese Distanz wird durch ausgedehnte<br />
Gegenwärtigkeit des Gesagten erhalten. <strong>Die</strong> Akkumulation<br />
sinnlicher Eindrücke lässt historische Vergangenheit hinter<br />
kurzer Gegenwärtigkeit verschwinden. <strong>Die</strong> Figuren des Reiters<br />
und des Pferds sind permanent anwesend, unabhängig<br />
davon, ob <strong>der</strong> geschil<strong>der</strong>te Krieg die napoleonische Epoche<br />
o<strong>der</strong> die Nie<strong>der</strong>lage des Frühsommers von 1940 betrifft.<br />
<strong>Die</strong> ikonische Figur des militärischen Reiters<br />
bekommt einen symbolischen Ausdruck. Während in Faulkners<br />
Bürgerkriegsroman Pferd und Reiter auch thematisch<br />
häufig genannt werden, aber ohne jede Nachdrücklichkeit<br />
auftreten, und ihre Beiläufigkeit gerade ihre Bedeutung belegeschieht,<br />
ausgespart ist, umso intensiver die Lektüre des im<br />
Un<strong>der</strong>statement Angedeuteten. Es gibt keine Handlung, keinen<br />
Gedanken, <strong>der</strong> nicht als so komplex geschil<strong>der</strong>t wäre,<br />
dass seine Komplexität nicht zu einer Verschiebung des Einzelnen<br />
in vage Bil<strong>der</strong> erschiene. <strong>Die</strong> den Roman durchlaufenden<br />
Versicherungen »ich weiß nicht«, »ich sah nicht«, »ich<br />
hatte vergessen« markieren die vom Autor hergestellte Unterbrechung<br />
von Kontinuität in Gegenwart. Es ist immer nur eine<br />
jeweilige Gegenwart, die sichtbar wird, oft in einen traumhaft<br />
wirkenden, unbewussten Zustand transponiert. So wird die<br />
Vergangenheit vergegenständlicht, vergangene Zeit verräumlicht,<br />
in <strong>der</strong> Gegenwärtigkeit des Vergangenen. <strong>Die</strong> dabei<br />
erkennbare Wirklichkeit erscheint als schillerndes Detail, das<br />
gegen ein verborgen bleibendes Universum gesetzt ist. Charakteristisch<br />
hierfür ist Faulkners Romananfang, wo – ähnlich<br />
wie in Faulkners Light in August – die Gegenwärtigkeit <strong>der</strong><br />
Dinge nicht ahnen lässt, worauf die Entwicklung letztlich hinausläuft:<br />
Der Duft des »Eisenkrauts« <strong>der</strong> kurz geliebten Frau<br />
des Vaters, das zum Leitmotiv des nicht wirklich besiegten<br />
Südens wird, ist das Einzige, was am Ende über diesen Bürgerkrieg<br />
gesagt bleibt: Kein diskursives Urteil gibt dem Eisenkraut<br />
Bedeutung, son<strong>der</strong>n ein letzter Satz, <strong>der</strong> dessen fortwährende<br />
Gegenwart anzeigt: »Und <strong>der</strong> kleine einzelne Zweig<br />
(…) füllte das Zimmer, die Dämmerung, den Abend, mit seinem<br />
Duft, dem einzigen, wie sie sagte, <strong>der</strong> kräftiger war als<br />
<strong>der</strong> Geruch von Pferden.« 20
26<br />
gen, bekommt <strong>der</strong> Reiter bei Simon den Charakter einer<br />
Signatur: des Zeichens von <strong>der</strong> unverän<strong>der</strong>ten Dauer <strong>der</strong><br />
Kriegserfahrung, fatalistisch, aber nicht geschichtsphilosophisch<br />
verstanden. Der Effekt <strong>der</strong> Intensität kann als<br />
›mythisch‹ bezeichnet werden – ähnlich wie Claude Simons<br />
Naturzeichen <strong>der</strong> Akazie, des Baums des französischen<br />
Südens. Reiter und Pferd werden immer wie<strong>der</strong> zur spektakulären<br />
Erscheinung <strong>der</strong> sich wie<strong>der</strong>holenden Hauptfigur stilisiert.<br />
Nichts an<strong>der</strong>es ist ausgedrückt als das Phantasma des<br />
Kriegers, gesteigert zu einer Epiphanie. Aber nicht zu einer<br />
heroischen. Vielmehr zum Ausdruck des martialischen<br />
Effekts, <strong>der</strong> sich aus schwerem Waffenrock, schwerer<br />
Bewaffnung, schwerer Bewegung des Pferdes und <strong>der</strong> Resonanz<br />
des Bodens unter dem Gewicht des Ritts ergibt. Und<br />
auch aus dem düsteren Gesicht des Reiters. <strong>Die</strong> soldatischfatalistische<br />
Virilität ist eine Variation des nackten archaischen<br />
Kriegers aus dem Roman Bataille des Pharsale (1969).<br />
Wenn Claude Simon die Kriegserfahrung des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts auf <strong>der</strong> Kriegsthematik des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
und <strong>der</strong> Antike abbildete, ist das gewiss <strong>der</strong> herausragenden<br />
aporetischen Bedeutung des Krieges für die Mo<strong>der</strong>ne<br />
geschuldet: nämlich seinem Wi<strong>der</strong>spruch zwischen erhöhter<br />
Inhumanität und erhöhtem Zivilisationsanspruch. Aber die<br />
eigentlich literarische Motivation seines zentralen Themas ist<br />
das aus dem Nouveau Roman kommende Kriterium, herkömmliche<br />
Darstellungsformen, und das heißt konventionelle<br />
Zeiterklärung, zu vermeiden. <strong>Die</strong>s geschieht durch den Stil<br />
des ›Tableau‹ von Gegenwartseffekten. <strong>Die</strong> Beschreibung<br />
des Ritts, so <strong>der</strong> Todesritt des Schwadrons in La route des<br />
Flandres, enthält – das ist keine Deutung, son<strong>der</strong>n Komplexitätserhöhung<br />
– Elemente sexueller Assoziationen, die sich<br />
aus <strong>der</strong> privaten Geschichte des Offiziers erklären. Wenn die<br />
chronologische Struktur zugunsten von Räumlichkeiten aber<br />
aufgehoben ist, heißt das nicht, dass <strong>der</strong> Erinnerungsraum<br />
verschwindet. Wie er erscheint, ist ein dem Gegenwärtigkeitsbild<br />
innewohnen<strong>der</strong> Horizont von Vergangenheitsahnung.<br />
Durchaus Faulkners Assoziationstechnik <strong>der</strong> Geschichte<br />
des Südens vergleichbar, enthalten Simons ›Tableaux‹ eine<br />
Struktur, die die »Diskontinuität, das Fragmentarische <strong>der</strong><br />
Gefühle« – so Simon – wie<strong>der</strong>gibt und »gleichzeitig ihre Kontinuität<br />
im Bewußtsein«. 21<br />
Das in <strong>der</strong> von Faulkner und Simon entfalteten Gegenwärtigkeit<br />
des Erzählten implizite Imaginäre lässt sich genauer<br />
benennen: Es kommt von daher, dass die Verbindung von<br />
intensivem Ausdruck und verschwiegener Bedeutung ein<br />
Kontemplationspotenzial entlässt: <strong>Die</strong> Phantasie des Lesers<br />
wird zu einer unendlichen Reflexion angeregt. <strong>Die</strong> beschriebene<br />
Welt regt zu vielen unterschiedlichen Erklärungen an.<br />
So setzt sich im Imaginären <strong>der</strong> reinen Gegenwart die Komplexität<br />
von Plötzlichkeit und Ewigkeit fort.
27<br />
1 Heinrich von Kleist, Über die allmähliche<br />
Verfertigung <strong>der</strong> Gedanken beim Reden.<br />
In: H.v.K., Sämtliche Werke und Briefe, hrsg.<br />
von Helmut Sembdner, Bd. 2, München 1972,<br />
S. 321.<br />
2 André Breton, Erstes Manifest des<br />
Surrealismus (1924), in: A.B., <strong>Die</strong> Manifeste<br />
des Surrealismus, übers. von Ruth Henry,<br />
Reinbek bei Hamburg 1968, S. 17.<br />
3 André Breton, Nadja, aus dem Frz.<br />
übers. von Bernd Schwibbs, mit einem<br />
Nachw. vom <strong>Karl</strong> <strong>Heinz</strong> <strong>Bohrer</strong>, Frankfurt a.M.<br />
2002, S. 16.<br />
4 Charles Baudelaire, Le peintre de la vie<br />
mo<strong>der</strong>ne, in: Ch.B., Œuvres complètes II.<br />
Paris 1976, S. 655 / Der Maler des mo<strong>der</strong>nen<br />
Lebens, in: Ch.B., Sämtliche Werke /<br />
Briefe in acht Bänden, hrsg. von Friedhelm<br />
Kemp und Claude Pichois, Bd. 5, München<br />
1989, S. 226.<br />
5 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke.<br />
Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio<br />
Colli und Mazzino Montinari, Bd. 2, München<br />
1980, S. 184.<br />
6 Gilles Deleuze, Proust und die Zeichen,<br />
Berlin/Wien 1978, S. 48.<br />
7 Walter Benjamin, Der Surrealismus,<br />
in: W.B., Angelus Novus. Ausgewählte<br />
Schriften II, Frankfurt a.M. 1966.<br />
8 Vgl. Novalis, Werke, Tagebücher und<br />
Briefe, hrsg. von Hans-Joachim Mähl und<br />
Richard Samuel, Bd. 2, München/Wien 1978,<br />
S. 334.<br />
9 Georges Bataille, La Littérature et le<br />
Mal, in: G.B., Œuvres Complètes, Bd. 9,<br />
Paris 1979, S. 171.<br />
10 Zum Bösen vgl. <strong>Karl</strong> <strong>Heinz</strong> <strong>Bohrer</strong>, Imaginationen<br />
des Bösen, München 2004,<br />
S. 9–33.<br />
11 Zum Begriff des Imaginären vgl. Rainer<br />
Warning, <strong>der</strong> im Anschluss an Cornelius<br />
Castoriadis’ L‘Institution imaginaire de la<br />
société imaginäre Zeit als »poetische Zeit«<br />
von »identitätslogischer« Zeit unterscheidet<br />
(<strong>Die</strong> Phantasie <strong>der</strong> Realisten, München<br />
1999, S. 277f.). Im Folgenden geht es um die<br />
poetische Zeit.<br />
12 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Präsenz,<br />
Berlin 2012; außerdem <strong>Karl</strong> <strong>Heinz</strong> <strong>Bohrer</strong>,<br />
»Ewige Gegenwart«, in: K.H.B., Ekstasen <strong>der</strong><br />
Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung,<br />
München/Wien 2003, S. 53ff.<br />
13 Vgl. <strong>Karl</strong> <strong>Heinz</strong> <strong>Bohrer</strong>, Das absolute Präsens.<br />
<strong>Die</strong> Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt<br />
a.M. 1994, S. 153ff.<br />
14 Virginia Woolf, Augenblicke. Skizzierte<br />
Erinnerungen, Frankfurt a.M. 1981, S. 92.<br />
15 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften<br />
und Fragmente II, hrsg. von Jost Schillemeit,<br />
Frankfurt a.M. 1992, S. 80.<br />
16 Ebd., S. 56f.<br />
17 Ebd., S. 347.<br />
18 Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von<br />
Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm<br />
Pasley, Frankfurt a.M. 1990, S. 7.<br />
19 Vgl. Günther An<strong>der</strong>s, »Kafka pro und<br />
contra«, in: G.A., Mensch ohne Welt. Schriften<br />
zur Kunst und <strong>Literatur</strong>, München 1993.<br />
20 William Faulkner, <strong>Die</strong> Unbesiegten,<br />
übers. von Erich Franzen, Zürich 1973,<br />
S. 207.<br />
21 So Claude Simon im Interview mit<br />
Le Monde am 18. Oktober 1960. Vgl. auch<br />
Rainer Warning, »Claude Simons Gedächtnisräume«,<br />
in: Renate Lachmann (Hrsg.),<br />
Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift.<br />
Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt a.M.<br />
1991, S. 363.