Karl Heinz Bohrer: Die Zeitlichkeit der modernen Literatur
aus Marbacher Katalog 68: "Die Seele. Die Dauerausstellung im Literaturmuseum der Moderne", hrsg. von Heike Gfrereis und Ulrich Raulff. Mehr: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products[backPID]=151&tt_products[product]=708&cHash=48922096829b9f1b00aec9eb71598f60
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Zeitlichkeit
Karl Heinz Bohrer
Die Zeitlichkeit
der modernen Literatur
15
Wenn man fragte, wann hat die Literatur der Moderne oder
die moderne Literatur begonnen, dann geben nicht jeweilige
exzentrische Gehalte, auch nicht innovatorische Ideen die
Antwort. Die Antwort gibt das Argument der Zeit selbst, nämlich
ihre Verzeitlichung: Die Vertreibung von Langzeitperspektiven
durch den Moment ist, in einem Satz gesagt, der Beginn
der modernen Literatur. In diesem Sinne waren Montaignes
Essays der erste moderne Text, denn er erklärte den Moment
als die eigentliche Grundlage der Existenz, nicht die normative
Idee. Wenn Descartes die Identität des Ichs im normativen
Begriff des Denkens begründete oder Friedrich Schiller den
momentanen Menschen mit Blick auf die Unendlichkeit der
Zeit des ganzen Menschen verwarf, dann verharrten beide,
trotz ihrer modernen Subjekterfahrung und Ästhetik auf einem
noch vormodernen Grund. Von daher stammt bis heute eine
Divergenz zwischen Philosophie und ihren normativen Kriterien
einerseits und der Literatur und ihren Gegenwartskriterien
andererseits.
Das Zeitlichkeitsbewusstsein, der Zeitlichkeitsmoment der
modernen Literatur, ist unter zwei Kategorien von Zeitlichkeit
fassbar: erstens der Kategorie der Plötzlichkeit und zweitens
der Kategorie einer radikalen Gegenwart. Man kann aus diesen
beiden Zeitlichkeiten den Charakter der modernen Literatur
zwischen Romantik und Nouveau Roman und danach verstehen.
Nicht nur ihr spezifisches Zeitbewusstsein, sondern
vor allem den daraus hervorgehenden Stil des Imaginären.
Beide Kategorien seien zunächst im Kontext der Literatur des
19. und 20. Jahrhunderts erläutert, worauf erklärt werden
kann, warum sich denn der Stil des Imaginären in namhaften
Werken der Moderne entwickelt hat.
1
PLÖTZLICHKEIT UND EWIGKEIT
Vereinfacht gesagt sind Plötzlichkeitssituationen der
Literatur solche, in denen das Wort selbst auftaucht, um die
besondere Zeitlichkeit eines geschilderten Ereignisses zu
betonen. Das Wort ›plötzlich‹ wird vor der romantischen Periode
– selbst anlässlich Schilderungen dramatischer Ereignisse
im Roman des 18. Jahrhunderts – nicht benutzt. Es hat
seine spezifische Wertigkeit bei eben jenen romantischen
Dichtern bekommen, die in der Avantgarde-Epoche des 20.
Jahrhunderts wiederentdeckt worden sind: Heinrich von
Kleist und Friedrich Hölderlin. Ebenso wichtig für den signifikativen
Gebrauch des Wortes ›plötzlich‹ war Friedrich Schlegels
Begründung der romantischen Ästhetik, die – das belegt
allein schon Hegels Polemik gegen sie – an die Stelle der
16
traditionell teleologischen Bestimmungen einen unmittelbar
ästhetischen Ausdruck rückte. In Kleists und Hölderlins unterschiedlichem
Gebrauch des Wortes ›plötzlich‹ kündigt sich
indes eine bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts
und darüber hinaus wirkende Ambivalenz dieses Wortes an.
Wenn es in Hölderlins Hymnik Wie wenn am Feiertage, Brot
und Wein oder Patmos direkt oder indirekt auftaucht, ist damit
der emphatische Eintritt nicht nur der thematisch vorgegebenen
göttlichen Sphäre – vornehmlich die des Dionysos –
genannt, sondern in poetologischer Selbstreferentialität der
Eintritt des Gedichts selbst in seine poetische Form. Hierin
äußert sich bei Hölderlin ein Pathos des Erhabenen, das unter
modernen Bedingungen noch einmal auf der hymnischen
Höhe Pindars sprechen will, eines Versuchs, der sich in der
Lyrik der klassischen Moderne wiederholt und noch zu Ausgang
des 20. Jahrhunderts von Jean-François Lyotard theoretisch
aktualisiert worden ist.
Kleists Plötzlichkeit dagegen entbehrt gerade die
emphatische Repräsentanz, bleibt bezogen auf die jeweilige
Situation bzw. den in ihr agierenden Menschen. Ohne auf die
zahlreichen Plötzlichkeitssituationen von Kleists Prosa einzugehen
– charakteristisch für sie Michael Kohlhaas und Die
Marquise von O.... –, sei beispielhaft die Plötzlichkeitsstruktur
von Kleists berühmter okkasionalistischer Deutung der Französischen
Revolution zitiert: »Vielleicht, daß es auf diese Art
zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges
Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz
der Ordnung der Dinge bewirkte.« 1 Die Französische Revolution
wird also aus dem Bewegungsmoment eines Augenblicks,
nicht aus einer ihrer Ideen abgeleitet. Diese frivol wirkende
Reduktion einer Idee auf ein Minenspiel, auf die
Zufälligkeit einer Geste – und das auch noch angesichts des
elementaren Zeitereignisses der Epoche – bildet einen vielsprechenden
Gegensatz zu Hölderlins Plötzlichkeitszeichen,
die ebenfalls die Französische Revolution als Inspirationsgrund
hatten, aber auch deren Idee! Allerdings zeigt sich in
Hölderlins ›Plötzlichkeits‹- und ›Jetzt‹-Semantik ein eigentümliches
Hervorheben der Zeitlichkeit selbst, ein Bewusstsein
davon, dass etwas sich ereignet, nicht nur davon, was sich
ereignet. Gerade der Ereignis-Charakter ist es, der in Hölderlins
Hymne besungen wird.
Eine transzendent aufgeladene Plötzlichkeit kann
nicht der Augenblick der klassischen Moderne hundert Jahre
später sein, denn diese bezieht sich nicht mehr auf Pindars
Götter. Dennoch tritt in der Spannung zwischen Hölderlins
noch transzendenter Plötzlichkeit und Kleists bereits selbstreferenzieller
Plötzlichkeit der Konflikt auf, der die klassische
Moderne, vor allem André Bretons erstes surrealistisches
Manifest, wie den gordischen Knoten durchschlägt: Es heißt
dann nachdrücklich, »daß diese Idee oder jene Frau auf ihn
einen Eindruck gemacht habe, er aber noch nicht zu sagen
wisse, was für ein Eindruck dies gewesen war«. 2 Dem entspricht
Bretons Vorstellung vom nichtsignifikativen Zeichen:
Es handele sich um »Ereignisse, die, auch wenn sie dem rein
17
Feststellbaren zugehörten, jedesmal wie ein Signal anmuten,
ohne daß man genau angeben könnte, was für ein Signal es
ist.« 3 Lyotard wird 1984 auf eben diese merkwürdige Abarbeitung
des von der Romantik erfundenen und nach dem Realismus
des 19. Jahrhunderts erneuerten Augenblickskriteriums
noch radikaler zurückkommen: Im Anschluss an einen
Essay des amerikanischen Künstlers Barnett Newman von
1949 mit dem charakteristischen Titel The Sublime is Now
versucht Lyotard 1984 in diesem »Now« jeden metaphysischen
Gehalt zu entsorgen. Es gibt kein ›was‹ mehr, das
geschieht, sondern nur ein ›dass‹: dass es geschieht. Ohne
auf Lyotards Begründung des Avantgarde-Erhabenen auf dem
reinen Jetzt weiter einzugehen, genügt es zu sehen, wie hier
eine fast zweihundert Jahre währende Faszination durch den
Augenblick fortgeführt wird, nunmehr versuchsweise aller
romantischen, ja surrealistischen Motive entledigt.
Aber ist das wirklich gelungen? War nicht einerseits
schon bei Hölderlins Faszination durch den plötzlichen Strahl
der Götter eine Faszination an der Sprache am Werk, und
konnte das, was wir die Säkularisation des Heiligen nennen,
d.h. die Substitution des Ewigen durch den kurzlebigen
Augenblick, andererseits wirklich ohne die Ewigkeitsidee auskommen?
Diese Doppelheit zeigt sich vor allem auch in der
berühmtgewordenen Definition der modernen Kunst durch
Baudelaire: »Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige,
das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere
Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.« 4 Die konventionelle
akademische Erklärung dieses Satzes tut noch immer so, als
ob es eben und vor allem auf das Flüchtige ankomme. In
Wahrheit wollte Baudelaire das Schöne retten, nachdem dessen
klassizistische Version nicht mehr haltbar war. Ohne das
Vergängliche würde das Ewige zur Leerheit einer Abstraktion.
Aber es geht Baudelaire weiterhin um einen emphatischen
Begriff des Schönen, das sich in einer jeweiligen Gegenwart
darstellt. Deshalb hält er bei seiner Betonung des ›Flüchtigen‹
als Bedingung moderner Kunst gleichzeitig an der Kategorie
des ›Ewigen‹ fest. Dieser Gedanke wird in Baudelaires
berühmtem Gedicht À une passante, das Benjamin so nachdrücklich
erläutert hat, in seiner zentralen Metaphorik konzentriert:
Der Flaneur, der Dichter, sieht sich vom Auge einer
Unbekannten angezogen: Es ist ein Blitz, der ihn plötzlich
überfällt, und ebenso verschwindet. Was aber zurückbleibt,
ist die Gewissheit, dass erst die Ewigkeit ein Wiedersehen
zulässt.
Hätte Lyotard bzw. Newman diese Paradoxie zwischen
zwei widersprüchlichen Zeitvorstellungen genauer
durchdacht, hätten sie den gordischen Knoten nicht noch einmal
durchschlagen wollen, wie sie es getan haben. Sie hätten
gemerkt, dass die ›Dass-es-geschieht‹-Idee die ›Wasgeschieht-Frage‹
nicht zum Verschwinden bringt. Diese Polarität
von Kurzzeit und Langzeit ist vom Erfinder wenn nicht der
modernen Ästhetik, so doch einiger ihrer zentralen Begriffe,
Friedrich Nietzsche, weiter durchdacht worden. Bei der Fortführung
seines Verständnisses des Dionysischen, zehn Jahre
18
nach Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
von 1872/73, kommt er von deren ›plötzlicher‹ Fassung des
Dionysischen auf deren ›ewige‹ Fassung zu sprechen. Diese
Verschiebung ist vorbereitet in der Tragödien-Schrift selbst,
wenn der tragische Held als die ewige Maske des Dionysos
gedeutet wird, wenn durch seinen individual-psychologischen
Ausdruck die transsubjektive Stimme des tragischen Mythos
spricht. Dieses Merkmal der tragischen Maske wird im für die
spätere Ästhetik Nietzsches entscheidenden Begriff des
›Scheins‹ und der ›Oberfläche‹ als Merkmal eines ›Großen
Stils‹ wiederholt. In dem Aphorismus Die Revolution in der
Poesie (Menschliches, Allzumenschliches I) spricht sich
Nietzsche gegen expressionistische Unmittelbarkeit der
Kunst zugunsten einer idealischen Maske aus: »Wirklichkeit«
müsse durch »allegorische Allgemeinheit« und »Zeitcharakter«
durch ein »mythisch Machen« ersetzt werden. 5
Mit den Begriffen ›Maske‹, ›Allegorie‹ und ›mythisch
machen‹ hat Nietzsche am Ende des Zeitalters des realistischen
Romans den ursprünglichen Grundgedanken seiner
Tragödien-Schrift aktualisiert. Die Analogie zu Baudelaires
Definition der Moderne zwischen Flüchtigkeit und Ewigkeit
wird deutlich. Sie zeigt sich auch in einigen zentralen Metaphern
der Ewigkeit, die im Werk beider Dichter-Denker auftauchen,
nicht zuletzt im Bild eines schweigsamen unendlichen
›Meeres‹, von dem dennoch ein plötzlicher Schrecken
ausgeht. Wenn im Kunstdenken der beginnenden Moderne
die Zeitlichkeit des Plötzlichen die Zeitlichkeit der Dauer
immer schon enthält, dann hat es etwas von Notwendigkeit an
sich, wenn Prousts mémoire involontaire, die signifikanteste
Darstellung eines Zeitmoments in der modernen Literatur,
die Plötzlichkeit des Erinnerungs- bzw. Erlebnismoments mit
der Ewigkeit des Glücksgefühls verbindet. Gilles Deleuze
spricht von einem »Glanz« der »Wahrheit«. 6 Man könnte von
dieser Verbindung des gegensätzlichen Zeitgehalts darauf
schließen, dass je stärker die Plötzlichkeit der modernen Literatur
die Perspektive auf eine Hegel’sche Gewissheit von
teleologischem Verlauf verliert, umso stärker das Ewigkeitsmoment
in die Plötzlichkeit selbst verlegt ist.
Es ist für die Verbindung von Kurz- und Langzeitausdruck
für das Plötzlichkeits- und Ewigkeitszeichen der Kunst
aufschlussreich, dass in der kunsttheoretischen Programmatik
von vier für die klassische Moderne repräsentativen
Autoren eben diese Widersprüchlichkeit geradezu zur Formel
geworden ist. Walter Benjamins Rede von der »profanen
Erleuchtung«, Robert Musils Wort von »tagheller Mystik«,
James Joyce’ Metapher der »epiphany« und Virginia Woolfs
Motiv der »ecstasy« haben gemeinsam, dass sie sich von
einem metaphysischen Verständnis dieser Intensitätszeichen
nachdrücklich abgrenzen, andererseits aber von einem Ausdruck
des extrem Besonderen nicht absehen wollen. Was
besagt das? Offenbar kommt der Surrealismus Benjamins
ohne plötzliche Erleuchtung nicht aus. Aber er will sie profan:
»Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am
Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen,
19
vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade,
als wir uns im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen
Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das
Undurchdringliche als alltäglich erkennt.« 7 Man wird den
Eindruck einer tautologischen Auskunft nicht los im Sinne des
englischen Sprichworts »to have the cake and to eat it«.
Das gilt auch für Virginia Woolfs Darstellung der »ecstasy« in
ihrer Beschreibung der Moments of Being, nämlich mit der
Betonung eines philosophiefernen Statements. Oder James
Joyce’ Beschreibung einer Epiphanie in einem trivialen Kontext.
Die Distanzierung transzendenter Bezüge ändert nichts
an der Faszination durch die Intensität eines Augenblicks,
durch das Rätsel von etwas Rätselhaftem. Vielmehr müsste
man gerade hervorheben, dass diese Sprecher der Modernität,
also ihrer Zeitlichkeit, nicht auskommen ohne etwas, das
deren Bedeutung ins Geheimnisvolle und Bedeutsame
schiebt. Zugespitzt gesagt: Eigentlich variiert Benjamins
Bekenntnis zum Profanen im Rätselhaften Novalis’ berühmte
Definition des Romantischen, nämlich dem Bekannten »die
Würde des Unbekannten« zu geben oder »dem Gewöhnlichen
ein geheimnisvolles Aussehen« zu verleihen. 8 Oder: Man
dreht sich seitdem im Kreise.
In der surrealistischen Prosa, beispielhaft in André
Bretons Roman Nadja (1928) und in Louis Aragons Roman Le
paysan de Paris (1926), zeigen sich methodisch konstruierte
Bilder plötzlicher Erscheinungen: Sei es die plötzliche
Erscheinung der Farbe Rot im Fenster eines Hauses an der
Place Dauphine oder die plötzliche Erscheinung eines Kopfes,
der vom Dach eines Eisenbahnwagens in das Fenster des
Abteils schaut. Es sind Wahrnehmungs-Ereignisse mit aufgeschobener
Bedeutungserklärung, denn dass sie eine Erklärung
haben sollten, steht außer Frage. Im Falle von Aragons
Le paysan de Paris ist das wahrgenommene seltsame Ereignis
direkt unter dem Namen des »täglich Wunderbaren« (»le
merveilleux quotidien«) anzusprechen. Es ist das Element der
Konzeption einer »mythologie moderne«. Auch hier ist es die
Folge intensiver Wahrnehmungsereignisse, deren Exotik nicht
weiter erklärt wird. Für die Entwicklung der Literatur im
20. Jahrhundert ist ein besonderer Modus dieser Wahrnehmungen
aufschlussreich: Sie entsprechen einer spezifischen
Theorie des surrealistischen Bildes. Der Umstand, dass
die moderne Literatur sich nicht auf Ideen, sondern auf Wörter
von überraschender Ausdruckskraft – Aragon spricht
vom »Bildergift« des Surrealismus – verlässt, ist zu verallgemeinern.
20
2
GEGENWÄRTIGKEIT UND DAS IMAGINÄRE
Dabei zeigt sich nun, wie sich das dem Plötzlichkeitsausdruck
immanente Moment der Ewigkeit auswirkt auf die
Zeitlichkeit der modernen Literatur. Auch wo sich nicht ausdrücklich
die Plötzlichkeit von Etwas darstellt: die Konzentration
der Literatur auf die reine Gegenwart. Das ist zunächst
die Konsequenz, die dem festgestellten Zeitgesetz folgt, dass
mit der Moderne die Zukunftsperspektive verschwindet. Im
zugespitzten Sinne hat Georges Bataille die Asozialität, das
Phantasma des Bösen, das in seiner Vorstellung dem literarischen
Diskurs seit der griechischen Tragödie eigen ist, in der
Ausschließlichkeit der Gegenwartsperspektive gefasst. 9 Da
es hier ausschließlich um den Aspekt der Zeit geht, ist die
Kategorie des Bösen nicht zu diskutieren. 10 Es ist vielmehr die
Perspektive auf das Imaginäre zu öffnen. 11 Das Imaginäre ist
nicht nur als das von der Subjektivität des Dichters Imaginierte
zu identifizieren, sondern als Ausdruck dieser Imagination,
nämlich die spezifische transreale Bildlichkeit dessen, was als
Gegenwärtigkeit imaginiert wird. Der Modus von Gegenwärtigkeit
konzentriert solch eine Bildlichkeit zu einem intensiven
Ausdruck, ohne – und das verschärft die Intensität – dass
seine Bedeutung sofort erkennbar würde.
Man hat angesichts der geläufigen Vorstellung von
Literatur als ein Denken in der Zeitgeschichte, in der also
Zukunfts- und Vergangenheitsdarstellungen eine wichtige
Rolle spielen, das Gegenwartskriterium sogar radikal zu setzen:
Unter Gegenwart ist dann nicht eine politisch-soziale
Darstellung der Gegenwart zu verstehen, wie sie für berühmtgewordene
Romane wie Heinrich Manns Henri Quatre, Lion
Feuchtwangers Jud Süß, Erich Maria Remarques Im Westen
nichts Neues oder Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit
charakterisiert ist. Sie sind das Gegenstück zur modernen
Literatur im Gegenwartszeichen. Literatur, die geschichtliche
Zeiten als geschichtliche behandelt, ist letztlich noch
immer von einem geschichtsphilosophischen Denken
geprägt. Ob es potenziell noch die Möglichkeit einer teleologischen
Perspektive gibt oder ob wir seit dem Ende des 20.
Jahrhunderts in einer fortgeschrittenen Gegenwart leben, 12
hat mit der ästhetiktheoretischen Frage nach der intensiven
Gegenwartsdarstellung moderner Literatur nur indirekt etwas
zu tun. Nennen wir Gegenwart die radikalisierte Gegenwart
der Wahrnehmung oder das absolute Präsens des imaginativen
Dichters, 13 dann verstehen wir unter Gegenwart im
modernen Roman die Priorität eines Stils, der auf dem Darstellungseffekt
der Intensität besteht, mit der das einzelne
Wahrgenommene in den Blick des Lesers kommt. Dazu ist es
notwendig, sich von traditioneller Metaphorik zu trennen.
Diese vom Dichter dargestellte Gegenwart ist aus dem Zeitrahmen
einer angenommenen bewussten Vergangenheit und
Zukunft herausgefallen. Man kann sich reine Gegenwärtigkeit
jenseits konventioneller Zeitlichkeit an einer der signifikantesten
Plötzlichkeitsszenen der klassischen Moderne verdeutlichen:
an Prousts Darstellung der »mémoire involontaire«: Die
Erinnerung, die nicht bewusst herbeigeführt ist, lässt die Ver-
21
gangenheit nicht als historisch begriffene Vergangenheit, sondern
als imaginäre Gegenwart erscheinen.
Es gibt für diese imaginäre Zeitlichkeit eine Vorläuferschaft,
wiederum in der Romantik. Am interessantesten für
die imaginäre Gegenwart ist Ludwig Tiecks nicht von ungefähr
erst Ende des 20. Jahrhunderts wirklich wiedergelesene,
ja berühmtgewordene Erzählung Der blonde Eckbert (1797).
Abgesehen davon, dass darin das romantische Programm
des ›Wunderbaren‹, des ›Rätsels‹ und des ›Schrecklichen‹
erstmalig ausgeführt worden war, ist es die spezifische Zeitlichkeit
der Zeitlosigkeit, woher die spezifische Atmosphäre
kommt: die Versetzung realer Geschehnisabläufe in das fortwährende
Präsens einer imaginären Stimmung, die in diesem
Falle etwas Angsteinflößendes hat. Es ist ein ästhetischer
Modus, den Kierkegaard in der somnambulen Manier von Bildern
in der von Arnim und Brentano herausgegebenen Liedersammlung
Des Knaben Wunderhorn (1808) entdeckte und
sozusagen existenziell aktualisiert hat.
Zeigt sich hier abermals die Bedeutung der romantischen
Tradition für die Literatur, so ist die radikale Gegenwartsdarstellung
jedoch schon in einer jenseits der Romantik
stattgehabten Wahrnehmungsreflexion begründet worden:
vorromantisch von Rousseau und nachromantisch von Schopenhauer.
Rousseau hat in den Träumereien eines einsamen
Spaziergängers das Glück reiner kontemplativer Zuständlichkeit
am Beispiel eines langen, aber nicht zeitlich messbaren
Augenblicks in der Natur beschrieben: als absolut präsenti-
sche Dauer, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft (im fünften
Spaziergang). Schopenhauer, der für literarische Phänomene
wohl begabteste Philosoph, hat die Gegenwärtigkeit sinnlichästhetischer
Wahrnehmung noch radikalisiert, indem er sogar
die Subjektivität des Wahrnehmenden von der reinen objektiven
Gegenständlichkeit des Wahrgenommenen aufgesogen
sah (Die Welt als Wille und Vorstellung, 3. Buch, § 34). Insofern
praktiziert die Literatur der reinen Gegenwart, von der zu
reden ist, eine gedankliche Einsicht in die Wahrnehmungsintensität
der Dinge.
Diese Literatur ist dazu befähigt, weil sie, wie gesagt,
von keiner teleologischen oder historischen Perspektive mehr
abgelenkt wird. Ohne hier ein literarhistorisches Datum zu
setzen, kann man Virginia Woolfs letztes Prosastück, den
postum erschienenen Text Moments of Being (1940) als Beispiel
der klassischen Moderne für die Evokation reiner
Gegenwart nennen, in der auch das konventionelle Ich-
Bewusstsein (Selbstgefühl) ausgeschaltet ist: »Mich selbst
empfinde ich kaum, sondern einzig die Sinneswahrnehmung.
Ich bin nur ein Gefäß eines ekstatischen Gefühls der Verzükkung.«
14 Hier ist Gegenwärtigkeit begründet, im ›Schock‹ der
plötzlichen Erscheinungsform der »moments of being«, die
sie, wie oben angedeutet, von einer platonisch-metaphysisch
inspirierten Vorstellung strikt trennt. Auch Virginia Woolfs
Erzählung Mrs. Dalloway (1925) wird am zeitlichen Fortschreiten
gehindert, weil, wie Paul Ricœur gezeigt hat, die
Handlungsschübe durch lange Abfolgen aus Erinnerungen
22
und Reflexionen der Heldin stillgestellt werden: Die innere
Zeit der Heldin verschlingt die chronologische äußere Zeit.
Solche Gegenwartsobsession ist nicht abhängig von
emphatischer Augenblicksdarstellung, die in der Nachfolge
der Romantik mit dem schon erläuterten Plötzlichkeitsdiskurs
im frühen 20. Jahrhundert begann. Vielmehr zeigen Kafkas
und Becketts Prosastücke, wie Zeitlosigkeit durch die Referenz
an die schiere Gegenwart sowohl mit als auch ohne
Momentanismusreferenz aufleuchtet. In der Beobachtung so
genannter ›Zustände‹ in den Tagebüchern Kafkas zeigt sich
ein präsentisches Gefühl ohne Zukunftsperspektive, weil solche
Begriffe, die der Realität Zukunftsvisionen geben würden,
aufgehoben sind. Das Einswerden mit reiner Gegenwärtigkeit
im Raum, in der Situation ist die Folge. Kafka besteht auf einer
puritanischen Wahrnehmung des Jetzt und verwehrt dem
Temperament der Sprache, seiner eingeborenen Tendenz entsprechend,
Hoffnungsperspektiven für morgen zu entwerfen.
So werden die Kategorien des ›Fortschritts‹, der ›Entwicklung‹
auch in den Romanen und Erzählungen depotenziert:
Die Reduktion auf das Präsentische hat Kafka in der Tagebuchnotiz
vom 20. November 1911 in der Metapher vom »stehenden
Sturmlauf« charakterisiert. Kafkas Resistenz, den Eintritt
von etwas Neuem anzunehmen, sondern das Neue als das
immer schon Anwesende zu behaupten, schlägt sich in seiner
parabolischen Prosa überall nieder. Sentenzen wie »der fliegende
Pfeil ruht« sagen, dass es eigentlich keine Bewegung
gibt. In Kafkas negativer Gegenwartsdarstellung lässt sich
der Ausdruck von nichtstattfindender Plötzlichkeit erkennen:
»Die scheinbare Stille, mit welcher die Tage, die Jahreszeiten,
die Generationen, die Jahrhunderte aufeinanderfolgen,
bedeutet Aufhorchen: so traben Pferde vor dem Wagen.« 15
Insofern ließe sich Kafkas Beschränkung auf Gegenwartsdiagnose
sogar als Konsequenz einer gebrochenen eschatologischen
Erwartung relativieren, die die Plötzlichkeit als metaphysisches
Zeichen versteht: »Der Messias wird erst
kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst nach
seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen,
sondern am allerletzten.« 16
Kafkas Hinweise auf eine nie vollendete Erfüllung der
Zeit lassen sich nicht, wie es häufig geschieht, auf eine philosophisch-analoge
Systematik beziehen, sondern auf eine
interne Erklärung: Kafkas Bild von der ›Wunde«, die geschlagen
wurde und zwar »durch einen Blitz, der noch andauert«. 17
Die Reduktion der langzeitlichen Erwartung auf die ausschließliche
Gegenwart zeigt sich in den Romanen als wiederholte
Emphatisierung des Raumes: Das Präsens wird zur
restriktiven, eingeschränkten Raumerfahrung. Die Einschränkung
auf engste Räume, auf Zellen und Käfige, ist unübersehbar
in der Prosa von In der Strafkolonie, in den Romanen Der
Prozeß und Das Schloß sowie in den Erzählungen Ein Bericht
für eine Akademie oder Ein Hungerkünstler. Aber gerade
daran zeigt sich nicht bloß ein negatives Symbol, sondern die
Sinnlichkeit, die für Kafkas Prosa charakteristisch ist. Trotz
des im Raum aufgehobenen Präsens ist die kontinuierliche
23
Referenz an Plötzlichkeitswahrnehmungen zu betonen. Eine
Emphatisierung von Plötzlichkeit im surrealen Sinne ist beispielsweise
ein Satz wie: »Die Zuschauer erstarren, wenn der
Zug vorbeifährt.« 18 Man hat in dieser Plötzlichkeit ein Erschrekken
vor dem Gesicht der Medusa gesehen. 19
Becketts Darstellung einer absoluten Gegenwart (in
Differenz zu Kafka) impliziert a priori ein ewiges Präsens ohne
Zukunft. Das ist ein Gemeinplatz der Beckett-Lektüre. Die Helden
in Endspiel und Warten auf Godot sind sprichwörtlich integriert
in die Groteske eines Immergleichen, das unserer auf
stets erneuerbare Finalität und Erwartung des Neuen angelegten
Zivilisation spottet. Adornos Versuch, das ›Endspiel‹ zu
verstehen, ist an dieser negativen Metaphysik gescheitert, weil
er die Abwesenheit einer Sinnerfüllung nicht in der Form suchte,
sondern in einem inhaltlichen Argument. Dabei geht es aber
darum, die Imagination der schieren Gegenwärtigkeit als Bekketts
imaginativ-ästhetische Performance zu erkennen. Nicht
indem wir Becketts Szene als Topos für Zukunftslosigkeit, im
Sinne einer kulturkritischen Formel lesen, sondern indem wir
ihre Inkommensurabilität in der Darstellung möglicherweise
sogar genießen, reagieren wir angemessen auf den vor allem
intensiven Ausdruck. Be cketts Präsens von Zuständen ist nämlich,
durchaus ähnlich wie bei Kafka, zunächst als Epiphanie
konstruiert. Bei Beckett haben sie aber einen komischen
Effekt: Sie sind nicht die metaphorische Verhüllung einer Idee.
Das ironische Endstück von Happy Days ist demnach als reine
Poesie, als eine andere Wahrnehmung emphatischer Zeit, also
nicht kulturkritisch vermittelbar, zu empfinden. Winnies
Schlusssatz »Oh, dies ist ein glücklicher Tag, dies wird wieder
ein glücklicher Tag gewesen sein!« ist zunächst einmal ein
ungeheuerlicher Satz: nämlich Becketts Parodie, in der zeitlichen
Reduktion auf eine nie endende Gegenwärtigkeit ein
intensives Ereignis entdecken zu wollen. Beckett hat in seinem
Essay über Proust die realistische und naturalistische
Literatur verabschiedet. Also auch jene Form von psychologischer
Erfahrung, die Happy Days als Kritik einer banal gewordenen
Ehe versteht, hinter der eine andere Utopie von Wirklichkeit
zu konstruieren wäre.
Nun lauert ein Einwand gegen diese Art von Zeitlichkeit
als Indiz der literarischen Moderne: Sie erscheine in einer
avantgardistischen Literatur, die ihre Epoche hinter sich habe,
sie sei, besonders im Falle von Kafka und Beckett, zudem
theorielastig, eher der Ausdruck eines Krisenbewusstseins
denn ein praktikables Stilmodell. Hinter solch einem auf den
ersten Blick wenn nicht einleuchtenden, so doch verständlichen
Einwand wird indes das seit den 70er-Jahren aufkommende
Motto ›Man erzählt wieder‹ sichtbar und mit ihm eine
sich seitdem ausbreitende ebenso realistische wie auch banale
Wiedergabe zeithistorischer Erfahrungen zwischen perspektivierter
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Inwiefern
das Gegenwartskriterium als ein imaginatives Verfahren
nach wie vor relevant ist, ist daher abschließend an zwei für
das 20. Jahrhundert repräsentativen, durchaus erzählenden
Romanen zu verdeutlichen: an William Faulkners Bürger-
24
kriegsroman The Unvanquished (›Die Unbesiegten‹) von 1939
und an Claude Simons ebenfalls den Krieg behandelnden
Romanen La route des Flandres (›Die Straßen in Flandern‹,
1960) und L’acacia (›Die Akazie‹, 1989). Auch andere herausragende
Autoren des späten 20. Jahrhunderts – wie Thomas
Pynchon – stehen für die Entfaltung des imaginären Gegenwärtigen.
Faulkners und Simons Romane sind aber zur Erklärung
des Problems besonders geeignet, weil sich gerade an
der ihnen gemeinsamen Kriegsthematik zeigt, warum man
zwischen dem historischen Gedächtnis, das die Vergangenheit
als Vergangenheit benennt, und der poetischen Erinnerung,
die Gegenwärtigkeit aufruft, zu unterscheiden hat.
Diese Unterscheidung lässt sich selbst für das im naturalistischen
Stil geschriebene große Paradigma des historischen
Romans, für Tolstois Krieg und Frieden (1864/69), geltend
machen.
Faulkners Roman Die Unbesiegten schildert die tragische
Geschichte einer alteingesessenen Familie aus Mississippi,
der Heimat des Autors. Sie schildert – aus der Perspektive
des Ich-Erzählers auf dessen Jugend – die letzte Phase
des Bürgerkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit des
militärisch geschlagenen, sich aber nicht geschlagen gebenden
Südens. Die dramatischen Ereignisse, die geschildert
sind, bilden eine Kette von Vorfällen, die eine Katastrophe
aktualisieren: die Niederbrennung des väterlichen Hauses
durch Truppen der Nordstaaten, den Zusammenbruch einer
Brücke mitsamt der sie überschreitenwollenden Garde, die
Affäre des jungen Erzählers mit der neuen jungen Frau des
Vaters, die Erschießung des Vaters während eines Pistolenduells
durch seinen politischen Gegner, die nicht vollzogene,
aber symbolische Rächung des Vaters durch den Sohn. Alle
diese Ingredienzen des Stoffes und des Themas böten sich
für einen zeithistorisch elaborierten, die einzelnen Figuren
dramaturgisch inszenierenden Roman an. An der kulturellpolitisch
engagierten Haltung des Erzählers besteht auch kein
Zweifel: Die Nordstaatentruppen, immer Yankees genannt,
kommen sehr schlecht weg. Die Schwarzen, durchweg als
»negros« bezeichnet, erscheinen, abgesehen vom Jugendgefährten
Ringo, passiv, zu eigenen Entschlüssen unfähig. Der
Vater, John Sartorius, ist durch Tötungsakte nicht gebrandmarkt,
aber wohl mythologisiert.
Diese Fakten, nicht zuletzt der dramatische Ausgang
des Romans, werden aber nicht als ein historischer Prozess
erkennbar, sondern in eine Kette von Phantasiebildern transformiert.
Einerseits ist der historische Zusammenhang aufgelöst
in kontingente Erscheinungen sinnlicher Details, wo
der Pluralismus sinnlicher Wahrnehmungen einzelner Dinge
eine Zentralperspektive überdeckt: das Sonnenlicht, der
Körper der Schwarzen, der Geruch der Pferde, die ewige
Gestalt der Großmutter, die Permanenz von physisch ausgebreiteten
Fluchtbewegungen. Andererseits bleiben signifikative
Ereignisse, vor allem die schließliche Tötung des Vaters
und der Umstand der nicht buchstäblich vollzogenen Rache,
nur angedeutet. Je mehr die Ausführung dessen, was genau
25
Claude Simons Romane artikulieren das Gegenwärtige dagegen
in einer ikonografischen Manier, wodurch das kriegerische
Detail eine symbolische Signifikanz bekommt. Hierin
unterscheidet sich Simons Detail nachdrücklich von Faulkners
kontingenzverbürgender Gegenständlichkeit. Auch in La
route des Flandres und L’acacia wird nicht die Geschichte
eines Krieges und des ihn erfahrenden Helden erzählt. Vielmehr
ist die Consecutio der Handlung durch einen Stil
ersetzt, den Claude Simon »composition par tableaux« nennt.
Die Kette von Wörtern stellt Bilder, keine begriffenen und
gedeuteten Realitätsausschnitte dar. Der ekphrastische Charakter
dieser Bilder kommt dem Gewaltmotiv des Kriegssujets
besonders entgegen. Die dabei entstehende, aus dem
Deskriptionsprinzip sich ergebende schiere Phänomenalität
der Dinge entzieht sich aber auch, wie bei Faulkner, jedem
Deutungsversuch. Und diese Distanz wird durch ausgedehnte
Gegenwärtigkeit des Gesagten erhalten. Die Akkumulation
sinnlicher Eindrücke lässt historische Vergangenheit hinter
kurzer Gegenwärtigkeit verschwinden. Die Figuren des Reiters
und des Pferds sind permanent anwesend, unabhängig
davon, ob der geschilderte Krieg die napoleonische Epoche
oder die Niederlage des Frühsommers von 1940 betrifft.
Die ikonische Figur des militärischen Reiters
bekommt einen symbolischen Ausdruck. Während in Faulkners
Bürgerkriegsroman Pferd und Reiter auch thematisch
häufig genannt werden, aber ohne jede Nachdrücklichkeit
auftreten, und ihre Beiläufigkeit gerade ihre Bedeutung belegeschieht,
ausgespart ist, umso intensiver die Lektüre des im
Understatement Angedeuteten. Es gibt keine Handlung, keinen
Gedanken, der nicht als so komplex geschildert wäre,
dass seine Komplexität nicht zu einer Verschiebung des Einzelnen
in vage Bilder erschiene. Die den Roman durchlaufenden
Versicherungen »ich weiß nicht«, »ich sah nicht«, »ich
hatte vergessen« markieren die vom Autor hergestellte Unterbrechung
von Kontinuität in Gegenwart. Es ist immer nur eine
jeweilige Gegenwart, die sichtbar wird, oft in einen traumhaft
wirkenden, unbewussten Zustand transponiert. So wird die
Vergangenheit vergegenständlicht, vergangene Zeit verräumlicht,
in der Gegenwärtigkeit des Vergangenen. Die dabei
erkennbare Wirklichkeit erscheint als schillerndes Detail, das
gegen ein verborgen bleibendes Universum gesetzt ist. Charakteristisch
hierfür ist Faulkners Romananfang, wo – ähnlich
wie in Faulkners Light in August – die Gegenwärtigkeit der
Dinge nicht ahnen lässt, worauf die Entwicklung letztlich hinausläuft:
Der Duft des »Eisenkrauts« der kurz geliebten Frau
des Vaters, das zum Leitmotiv des nicht wirklich besiegten
Südens wird, ist das Einzige, was am Ende über diesen Bürgerkrieg
gesagt bleibt: Kein diskursives Urteil gibt dem Eisenkraut
Bedeutung, sondern ein letzter Satz, der dessen fortwährende
Gegenwart anzeigt: »Und der kleine einzelne Zweig
(…) füllte das Zimmer, die Dämmerung, den Abend, mit seinem
Duft, dem einzigen, wie sie sagte, der kräftiger war als
der Geruch von Pferden.« 20
26
gen, bekommt der Reiter bei Simon den Charakter einer
Signatur: des Zeichens von der unveränderten Dauer der
Kriegserfahrung, fatalistisch, aber nicht geschichtsphilosophisch
verstanden. Der Effekt der Intensität kann als
›mythisch‹ bezeichnet werden – ähnlich wie Claude Simons
Naturzeichen der Akazie, des Baums des französischen
Südens. Reiter und Pferd werden immer wieder zur spektakulären
Erscheinung der sich wiederholenden Hauptfigur stilisiert.
Nichts anderes ist ausgedrückt als das Phantasma des
Kriegers, gesteigert zu einer Epiphanie. Aber nicht zu einer
heroischen. Vielmehr zum Ausdruck des martialischen
Effekts, der sich aus schwerem Waffenrock, schwerer
Bewaffnung, schwerer Bewegung des Pferdes und der Resonanz
des Bodens unter dem Gewicht des Ritts ergibt. Und
auch aus dem düsteren Gesicht des Reiters. Die soldatischfatalistische
Virilität ist eine Variation des nackten archaischen
Kriegers aus dem Roman Bataille des Pharsale (1969).
Wenn Claude Simon die Kriegserfahrung des 20.
Jahrhunderts auf der Kriegsthematik des 19. Jahrhunderts
und der Antike abbildete, ist das gewiss der herausragenden
aporetischen Bedeutung des Krieges für die Moderne
geschuldet: nämlich seinem Widerspruch zwischen erhöhter
Inhumanität und erhöhtem Zivilisationsanspruch. Aber die
eigentlich literarische Motivation seines zentralen Themas ist
das aus dem Nouveau Roman kommende Kriterium, herkömmliche
Darstellungsformen, und das heißt konventionelle
Zeiterklärung, zu vermeiden. Dies geschieht durch den Stil
des ›Tableau‹ von Gegenwartseffekten. Die Beschreibung
des Ritts, so der Todesritt des Schwadrons in La route des
Flandres, enthält – das ist keine Deutung, sondern Komplexitätserhöhung
– Elemente sexueller Assoziationen, die sich
aus der privaten Geschichte des Offiziers erklären. Wenn die
chronologische Struktur zugunsten von Räumlichkeiten aber
aufgehoben ist, heißt das nicht, dass der Erinnerungsraum
verschwindet. Wie er erscheint, ist ein dem Gegenwärtigkeitsbild
innewohnender Horizont von Vergangenheitsahnung.
Durchaus Faulkners Assoziationstechnik der Geschichte
des Südens vergleichbar, enthalten Simons ›Tableaux‹ eine
Struktur, die die »Diskontinuität, das Fragmentarische der
Gefühle« – so Simon – wiedergibt und »gleichzeitig ihre Kontinuität
im Bewußtsein«. 21
Das in der von Faulkner und Simon entfalteten Gegenwärtigkeit
des Erzählten implizite Imaginäre lässt sich genauer
benennen: Es kommt von daher, dass die Verbindung von
intensivem Ausdruck und verschwiegener Bedeutung ein
Kontemplationspotenzial entlässt: Die Phantasie des Lesers
wird zu einer unendlichen Reflexion angeregt. Die beschriebene
Welt regt zu vielen unterschiedlichen Erklärungen an.
So setzt sich im Imaginären der reinen Gegenwart die Komplexität
von Plötzlichkeit und Ewigkeit fort.
27
1 Heinrich von Kleist, Über die allmähliche
Verfertigung der Gedanken beim Reden.
In: H.v.K., Sämtliche Werke und Briefe, hrsg.
von Helmut Sembdner, Bd. 2, München 1972,
S. 321.
2 André Breton, Erstes Manifest des
Surrealismus (1924), in: A.B., Die Manifeste
des Surrealismus, übers. von Ruth Henry,
Reinbek bei Hamburg 1968, S. 17.
3 André Breton, Nadja, aus dem Frz.
übers. von Bernd Schwibbs, mit einem
Nachw. vom Karl Heinz Bohrer, Frankfurt a.M.
2002, S. 16.
4 Charles Baudelaire, Le peintre de la vie
moderne, in: Ch.B., Œuvres complètes II.
Paris 1976, S. 655 / Der Maler des modernen
Lebens, in: Ch.B., Sämtliche Werke /
Briefe in acht Bänden, hrsg. von Friedhelm
Kemp und Claude Pichois, Bd. 5, München
1989, S. 226.
5 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke.
Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio
Colli und Mazzino Montinari, Bd. 2, München
1980, S. 184.
6 Gilles Deleuze, Proust und die Zeichen,
Berlin/Wien 1978, S. 48.
7 Walter Benjamin, Der Surrealismus,
in: W.B., Angelus Novus. Ausgewählte
Schriften II, Frankfurt a.M. 1966.
8 Vgl. Novalis, Werke, Tagebücher und
Briefe, hrsg. von Hans-Joachim Mähl und
Richard Samuel, Bd. 2, München/Wien 1978,
S. 334.
9 Georges Bataille, La Littérature et le
Mal, in: G.B., Œuvres Complètes, Bd. 9,
Paris 1979, S. 171.
10 Zum Bösen vgl. Karl Heinz Bohrer, Imaginationen
des Bösen, München 2004,
S. 9–33.
11 Zum Begriff des Imaginären vgl. Rainer
Warning, der im Anschluss an Cornelius
Castoriadis’ L‘Institution imaginaire de la
société imaginäre Zeit als »poetische Zeit«
von »identitätslogischer« Zeit unterscheidet
(Die Phantasie der Realisten, München
1999, S. 277f.). Im Folgenden geht es um die
poetische Zeit.
12 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Präsenz,
Berlin 2012; außerdem Karl Heinz Bohrer,
»Ewige Gegenwart«, in: K.H.B., Ekstasen der
Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung,
München/Wien 2003, S. 53ff.
13 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Das absolute Präsens.
Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt
a.M. 1994, S. 153ff.
14 Virginia Woolf, Augenblicke. Skizzierte
Erinnerungen, Frankfurt a.M. 1981, S. 92.
15 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften
und Fragmente II, hrsg. von Jost Schillemeit,
Frankfurt a.M. 1992, S. 80.
16 Ebd., S. 56f.
17 Ebd., S. 347.
18 Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von
Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm
Pasley, Frankfurt a.M. 1990, S. 7.
19 Vgl. Günther Anders, »Kafka pro und
contra«, in: G.A., Mensch ohne Welt. Schriften
zur Kunst und Literatur, München 1993.
20 William Faulkner, Die Unbesiegten,
übers. von Erich Franzen, Zürich 1973,
S. 207.
21 So Claude Simon im Interview mit
Le Monde am 18. Oktober 1960. Vgl. auch
Rainer Warning, »Claude Simons Gedächtnisräume«,
in: Renate Lachmann (Hrsg.),
Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift.
Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt a.M.
1991, S. 363.