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Aus meiner Heimatstadt bekomme ich fast

täglich Videos zugeschickt. Der Inhalt:

Männer werden ausgepeitscht, weil sie

Namen von fremden Frauen in ihrem Handy

gespeichert haben. Mädchen ab der siebenten

Schulstufe wird der Weg in die Schule

blockiert und es wird ihnen mit Steinigung

gedroht, sollten sie sich widersetzen.

© AAMIR QURESHI / AFP / picturedesk.com

war korrupt“, entgegnet sie nüchtern. Die

Taliban erwähnt sie nicht.

Tatsächlich flossen die meisten Hilfsgelder

aus Amerika direkt in die Taschen

des Ex-Regierungschefs und seiner Gefolgschaft.

In den sozialen Medien, wie TikTok

oder Telegram, ist es ein offenes Geheimnis.

Dort machten Gerüchte die Runde, Ghani

wäre mit einem Hubschrauber voller Geld

außer Landes geflohen. Wahrscheinlich

wollte der „Verräter“, wie Ghani hämisch

von vielen Afghanen genannt wird, dem Schicksal des 1996

von den Taliban geköpften Ex-Präsidenten Nadschibullah

entkommen. Den Leichnam des letzten kommunistischen

Machthabers des Landes hängten die Gotteskrieger an einer

Betonplattform für Verkehrspolizisten vor dem Präsidentenpalast

auf. Zur Abschreckung, wie im Mittelalter.

„IHR HABT KEINE AHNUNG, WELCHE

MONSTER IHR KLEINREDET!“

Das war 1996. „Warum sollten die Taliban 2021 anders

ticken?“, frage ich Narges. Vor allem zu Frauen sei das

Regime streng, sagt sie mir. Aber: „Wenigstens ist die Situation

ruhiger als in den letzten Jahren. Vor zwei Tagen sind

170 Menschen ums Leben gekommen (Anm. d. Red.: Bei

einem IS-Anschlag in der Nähe des Kabuler Flughafens). Zu

Ghanis Zeit starben 170 fast jeden Tag“, so Narges.

Ich bin erstaunt. Und schockiert. Eine in Wien geborene

Frau sieht die Taliban als das geringere Übel für unser

Land. Ich staune, wie schnell sich das Narrativ der Taliban

als abscheuliche Gotteskrieger und Menschenfeinde zu

dem der „Retter Afghanistans“ oder in das „Geringere Übel“

abgeschwächt hat. Tatsächlich verhandelte Deutschland mit

der politischen Führung der Taliban, um ihre Staatsbürger

und AfghanInnen, die im Dienst der Deutschen Bundeswehr

gearbeitet hatte, zu retten. Auch die USA machen nun

gemeinsame Sache mit den Taliban, da sie einen gemeinsamen

Feind haben: den afghanischen IS-Ableger „Khorasan“.

Es kann doch nicht sein, dass diese Barbaren plötzlich

salonfähig werden? In den letzten Jahren habe ich kaum

einen Tag verbracht, ohne mir um

meine Familie in Herat Gedanken

zu machen. Mein Vater war ein

Gefängniswärter, mein großer

Bruder kämpfte bis zuletzt an

der Front. Sie leben seither im

Untergrund in meiner Heimatstadt,

aus der ich fast täglich

Videos zugeschickt bekomme.

Der Inhalt: Männer werden ausgepeitscht,

weil sie Namen von

fremden Frauen in ihrem Handy

gespeichert haben. Mädchen ab

der siebenten Schulstufe wird

Ich bin erstaunt. Und

schockiert. Eine in

Wien geborene Frau

sieht die Taliban als

das geringere Übel für

unser Land.

Sieht so die neue Ordnung in Afghanistan aus? Ein

Taliban-Kämpfer hält Wache an einem Kabuler Bazar.

der Weg in die Schule blockiert

und es wird ihnen mit Steinigung

gedroht, sollten sie sich widersetzen.

Leute, ihr habt keine Ahnung, welches

Monster ihr kleinzureden versucht.

„OHNE AMERIKA WÜRDE ES

DIE TALIBAN NICHT GEBEN“

Hussein * , ein Mittzwanziger mit starker

Leidenschaft für Musik und Filme, ist

hazarischer Herkunft. Wie viele andere

Hazara hat er den Großteil seines Lebens im

Iran verbracht. Dort ging er in die Schule,

bevor er sich 2015 entschied, sein Glück in

Europa zu suchen. Es verschlug ihn nach Wien. Als ich ihn

über Facetime um 9 Uhr früh im Bett antreffe, zieht er sich

noch schnell ein Unterhemd über und setzt sich auf. Hussein

erzählt mir, dass er vorgehabt hatte, die afghanischen Regierungstruppen

im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen.

Das sei vor rund zwei Monaten gewesen. Er hatte schon die

Koffer gepackt, bevor die Mutter aus dem Iran seinen Plänen

den Riegel vorschob.

Auf die Taliban angesprochen weicht Hussein aus. Er

spricht von einer Verschwörung gegen das afghanische Volk,

die dem Land über 40 Jahre Krieg und Terror gebracht habe.

Er sieht vor allem die Amerikaner als die Hauptschuldigen an

der Misere, die Taliban als eine unerfreuliche Begleiterscheinung.

Ohne Amerika würde es die Taliban nicht geben, sagt

er mit lauter Stimme. Ich halte kurz still. Er hat geschichtlich

nicht ganz unrecht, da die Taliban vor allem von den USA

in den 80ern gepusht wurden, um gegen die Russen zu

kämpfen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die

Männer mit Turban, Sandalen und Kalaschnikow eine große

Bedrohung für das freie Afghanistan sind. Ihr Weg an die

Macht ist mit Blut und Terror überzogen.

MÄNNER NEIGEN DAZU, DIE TALIBAN

ZU VERHARMLOSEN

„Viele afghanische Männer in der Diaspora unterschätzen, im

Gegensatz zu Frauen, die Gefahr der Taliban“, erklärt Emran

Feroz, der als freier Journalist u.a. für Die Zeit, taz und Al

Jazeera schreibt. (siehe Interview S. 16) Der in Innsbruck

geborene Feroz sieht eine starke Geschlechterparität in der

Talibanfrage: „Vielleicht spielt das

männliche Ego dabei eine Rolle,

nach dem Motto : „Diese Männer

haben das Land zurückerobert

und die USA rausgekickt.“ Feroz

ortet eine gewisse Kriegsmüdigkeit,

die die Menschen zur

Akzeptanz der Taliban drängt. Sie

sehnen sich nach einer starken

Hand, die Korruption und Krieg

endgültig beendet, so Feroz.

Ich verstehe jetzt etwas

besser, warum selbst Hussein,

der als Hazara zum Todfeind der

Taliban gehört, die Gotteskrieger

und neuen Herrscher Afghanistans

nicht mehr gänzlich ablehnt.

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