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Leseprobe: Hansjörg Betschart: Fake You

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Die Websites zum Buch und zum Autor:<br />

www.fakeyou.ch<br />

www.artbetsch.ch<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind<br />

im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

Das Werk einschliesslich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt<br />

insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />

und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

© 2021 allerArt im Versus Verlag AG, Zürich<br />

Informationen zu Büchern aus dem Versus Verlag unter<br />

www.versus.ch<br />

Umschlagbild: Thomas Woodtli · Witterswil<br />

Bildnachweis siehe Seite 213<br />

Satz und Herstellung: Versus Verlag · Zürich<br />

Druck: Comunecazione · Bra<br />

Printed in Italy<br />

ISBN 978-3-909066-23-0


Vorwort<br />

Schauspielerinnen müssen auf der Bühne – wie wir im Alltag – lieben,<br />

kämpfen, schwitzen, heucheln, ausflippen, lügen, sich betrügen<br />

lassen und müssen dabei wissen, was sie darstellen. Sie haben Techniken<br />

gelernt, die uns im Alltag auch helfen könnten. Schliesslich<br />

bewältigen Schauspielerinnen eine ähnlich schwierige Aufgabe wie<br />

wir im Büro. Wenn sie nach einem Abend voller Kampf, Heuchelei,<br />

Leidenschaft, Verstellung, Liebe und Betrug das Theater wieder verlassen,<br />

müssen sie wieder ganz sie selbst sein. Wie schaffen sie das?<br />

Wie betreten wir die Bühne des Alltags? Wissen wir überhaupt<br />

mit wem, wenn wir sagen: mit unserem Selbst? Viele von uns brauchen<br />

eine ganze Schulzeit, andere ein halbes Leben, einen guten Tag<br />

und einen besonderen Augenblick, um ganz sie selbst zu werden.<br />

Können wir von Schauspielern lernen, was Friedrich Schiller vermutet?<br />

«Erst im Spiel ist der Mensch ganz Mensch.»<br />

Als Leser begegnen wir unserem Selbst in der Regel passiv. Aber<br />

dieses Handbuch werden Sie nicht nur lesen. Sie werden es kitzeln,<br />

kratzen und befummeln. Sie werden vor allem eines mit ihm tun: Ihr<br />

Selbst im Sitzen, im Lachen, im Gehen aktiv kennen lernen. Nicht<br />

Sie müssen dabei Ihr Selbst darstellen. Es stellt sich Ihnen selbst dar.<br />

Entscheiden Sie, wann seine Performance beginnt.<br />

Hierfür dient Ihnen eine Reihe praktischer Rezepte. Sie begleiten<br />

Sie auf die Bühne des Selbst. Mit zahlreichen professionellen Apps<br />

werden Sie lesend zur Darstellerin. Aber keine Sorge. Sie erhalten<br />

durchaus auch Hinweise, wie es Ihnen gelingen kann, nach der Vorstellung<br />

wieder zurück in jene Rolle zu schlüpfen, die Sie beim Betreten<br />

der Bühne verliessen: «Sie selbst».<br />

Vorwort 5


Inhaltsverzeichnis<br />

Teil 1<br />

Sie wollen mich spielen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

App 1: Selfie … 13<br />

Das Selbstbild der Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

App 2: Liebe dein nächstes Selfie wie dich selbst … 17<br />

Wie beobachten wir uns beim Beobachten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />

App 3: Das bewegte Selfie … 21<br />

Der Lauf der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />

App 4: Das Selfie zur Erinnerung … 27<br />

Warum wir uns nicht selbst kitzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />

App 5: Das taumelnde Selfie … 33<br />

App 6: Der Kitzel des Selbstbewusstseins … 36<br />

Selfie auf den ersten Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />

App 7: In deinen Augen … 41<br />

Teil 2<br />

Unser Bild des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />

Unser biologisches Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />

Unser historisches Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />

Unser kulturelles Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />

Unser kognitives Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />

Unser sprachliches Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />

Unser soziales Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60<br />

App 8: Rolle … 61<br />

App 9: Die Rolle der entzückten Leserin … 62<br />

Unser spirituelles Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64<br />

App 10: Horoskop … 65<br />

Unser psychologisches Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68<br />

… im Wesen der Philosophen … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />

Inhaltsverzeichnis 7


Teil 3<br />

Das Wesen der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />

Darstellungsschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />

François Delsarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />

App 11: Eine Lektion Delsarte … 81<br />

Commedia dell’Arte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81<br />

App 12: Einer der vielen Lazzi der Commedia … 82<br />

Meininger Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82<br />

Stanislavskijs Künstler-Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />

App 13: Eine Lektion Stanislavskij … 85<br />

Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />

App 14: Eine Lektion Biomechanik … 87<br />

Michael Tschechow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />

App 15: Eine Lektion Tschechow … 89<br />

Sanford Meisner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89<br />

App 16: Eine Lektion Meisner … 91<br />

Jacques Lecoq . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />

App 17: Eine Lektion Lecoq … 92<br />

Susan Batson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92<br />

App 18: Eine Lektion Batson … 93<br />

Lee Strasberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

App 19: It’s just a cup of coffee … 94<br />

App 20: Duschen … 96<br />

Teil 4<br />

Das darstellende Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />

Gefühlsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101<br />

Vom Sinn in den Sinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104<br />

Ohne Eindruck kein Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />

App 21: Echt wahr. … 108<br />

Sinnesschule macht Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />

Bewusst-Sein oder Bewusst-Schein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114<br />

Kopie und Nachahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119<br />

Ohne Eindruck kein Ausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121<br />

Ohne Ausdruck kein Eindruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122<br />

Unser Selbst im spielerischen Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125<br />

Findet Darstellung uns oder wir sie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />

Imitation als Ziel oder Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127<br />

To be or to do? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129<br />

To do or to be? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131<br />

App 22: Das Öffnen und Schliessen des Mundes … 135<br />

8


To do or not to be? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139<br />

App 23: Lachen mit Absicht … 143<br />

App 24: Primzahlen Lachen … 146<br />

App 25: Gefühlsdusche … 147<br />

App 26: Lachdusche … 148<br />

App 27: Lautlos lachen … 149<br />

App 28: Lachliegen … 151<br />

To be is not to be . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155<br />

To do is not to be . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158<br />

App 29: Impuls und Entscheidung (1) … 159<br />

App 30: Impuls und Entscheidung (2) … 160<br />

App 31: Impuls und Entscheidung (3) … 161<br />

App 32: Impuls und Entscheidung (4) … 161<br />

App 33: Impuls und Entscheidung (5) … 163<br />

App 34: Impuls und Entscheidung (6) … 164<br />

App 35: Impuls und Entscheidung (7) … 165<br />

Die Absicht merkt’s und ist verstimmt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167<br />

App 36: Entscheidung zum Impuls … 169<br />

Die 0,2 Sternsekunden der Spontaneität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170<br />

Teil 5<br />

Die Bühne des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173<br />

Das Axiom des Theaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177<br />

«A spielt B und C schaut zu» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178<br />

Die Erbauung von Bauten zur Erbauung<br />

von Theaterzuschauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182<br />

Du kannst nicht Nichtdarstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184<br />

Bentleys Axiom in der Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185<br />

Wir wären gern unsere eigenen Zuschauerinnen . . . . . . . . . . . . . . . 192<br />

Bühne frei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195<br />

App 37: Lassen Sie sich gehen! … 199<br />

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201<br />

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203<br />

Literatur und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207<br />

Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213<br />

Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215<br />

Inhaltsverzeichnis 9


Teil 1<br />

Sie wollen mich spielen?<br />

Was müsste ein Schauspieler von mir wissen,<br />

damit er mich treffend porträtieren könnte?<br />

Mehr, als meine Mutter von mir weiss? Alles, was<br />

meine Feinde über mich sagen? Auch das,<br />

woran ich mich lieber selber nicht mehr erinnern<br />

möchte? Wie würde ich mich lieber dargestellt<br />

sehen? Wie ich mich sehe? Oder wie die anderen<br />

mich sehen? Würde es einer Schauspielerin<br />

helfen, wenn sie wüsste, wie ich mich selbst im<br />

Leben darstelle? Immerhin spiele ich mich auf der<br />

Bühne des Lebens seit meiner Geburt und habe<br />

ein Bild von mir selbst, das sich immer wieder<br />

verändert. Wie könnte jemand anderer dieses Bild<br />

festhalten? Wie würde eine Malerin mich porträtieren,<br />

die ebenso viel (oder wenig?) über mein<br />

Selbst weiss, wie ich? Wie kann ich beurteilen,<br />

ob ihr Bild mich trifft, wenn ich mich selbst nicht<br />

wirklich treffen kann? Wie kommen Selbstbilder<br />

überhaupt zustande?<br />

Teil 1 Sie wollen mich spielen? 11


Seit der Renaissance zeugen Selbstbildnisse von der Inszenierung des Selbst und Versuchen gegen die Vergänglichkeit.<br />

Seit der Renaissance zeugen Selbstbildnisse vom Selbstbewusstsein<br />

des Menschen, teils als Inszenierung, teils als Selbstbefragung, teils<br />

als Versuch gegen die Vergänglichkeit. Je reissender der Fluss der<br />

Zeit, desto bestimmter halten Menschen sich fest. 93 Millionen Selfies<br />

werden heute weltweit täglich gemacht. Circa 30 000 Selfies<br />

haben Menschen im Alter von fünfunddreissig 2020 im Durchschnitt<br />

von sich geschossen. Jugendliche verbreiten durchschnittlich<br />

neun Selfies pro Woche und verwenden darauf wöchentlich eine<br />

Stunde Zeit.<br />

Die alten Ägypter kannten bereits geschliffene Spiegel aus Bronze,<br />

in denen sie ihr Selfie zumindest live betrachten konnten. Die frühesten<br />

uns bekannten Selfies stammten von Steinmetzen, die eigentlich<br />

im Auftrag von Tempelherren Porträtreliefs der Götter in Stein<br />

meisselten und gerne in den Gruppenporträts auch ihr eigenes<br />

Selbstporträt versteckten. So hinterliess der Grieche Phidias auf dem<br />

Schild der von ihm aus Stein gehauenen Athene Parthenos sein<br />

Selbstbildnis – das wahrscheinlich erste erhaltene Selfie.<br />

Wie reagiert unser Gehirn auf ein stark vom eigenen Ego beherrschtes<br />

Bild? Die Frage stellten sich Forscher an der Universität<br />

Graz um den Psychologen Emanuel Jauk. Das Team untersuchte<br />

Probanden, die gemäss Narcissistic Personality (NPI)-Vortest besonders<br />

hohe beziehungsweise geringe Grade an Narzissmus aufwiesen.<br />

1 Die Psychologinnen beobachteten mittels fMRt-Scans die<br />

Live-Gehirnaktivität von Probandinnen, die Bilder von Freunden,<br />

Fremden und sich selbst anschauten. Tatsächlich waren bei den Probanden<br />

mit überhöht positivem Selbstbild jene Hirnregionen, die<br />

für starkes Verlangen oder Genussreaktionen verantwortlich sind,<br />

signifikant aktiver, wenn sie Fotos von sich selbst betrachteten, als<br />

dies bei den nicht-narzisstischen Teilnehmern der Fall war. Erklärt<br />

das die Faszination der Selfies? Was treibt den Menschen an, sich<br />

selber abbilden zu wollen? Erfahren wir im Selfie vielleicht, wie wir<br />

uns darstellen, wie andere uns dargestellt sehen oder gar, wie andere<br />

uns darstellen könnten? Wir kommen zu unserer ersten App.<br />

12


Sie finden nun hier eine erste App. Die Nutzung der Applikationen dieses Buches ist fakultativ.<br />

Alle Apps sind Zusatzwerkzeuge, die Ihnen die Anwendung der Leseoberfläche erleichtern. Sie<br />

erlauben Ihnen, mit praktischen Spielformen den Lesestoff aktiv zu gestalten. Sobald die Apps<br />

– in erkennbar verändertem Schriftbild – aufpoppen, entscheiden Sie selbst: Entweder Sie<br />

machen die App oder Sie verzichten und stellen sich nur vor, wie andere sich mit der App abmühen,<br />

während Sie weiterlesen. Geniessen Sie die Übungen einfach als willkommene Applenkung.<br />

Bleiben Sie lesend der althergebrachten literarischen Tradition verpflichtet: Lesen ist<br />

Träumen mit offenen Augen. Kaum eine Leserin der «Effi Briest» wird je – das Buch in der Hand<br />

– im wirklichen Leben tatsächlich ihren langweiligen Gatten betrügen, sich von ihm aus dem<br />

Haus ekeln lassen und als einsame Verstossene wieder zu ihren Eltern ziehen, dort Tränen vergiessen<br />

und einsam in den Tod gehen, nur weil das literarische Vorbild es tut. Überspringen Sie<br />

ruhig einzelne Apps, wenn sie Ihnen zu zeitraubend, kalorienintensiv, intellektuell riskant oder<br />

emotional exzentrisch erscheinen. Wenn Sie aber mehr über sich in diesem Buch erfahren wollen,<br />

stellen Sie sich nicht nur vor. Stellen Sie sich dar. Bleiben Sie die Leserin Ihrer selbst.<br />

Hier geht’s zum Download der ersten App. Vergessen Sie nicht, die AGB anzuerkennen.<br />

App 1: Selfie<br />

Machen Sie ein Selfie. Halten Sie Ihr Handy in einer Distanz von etwa<br />

47 Zentimetern mit gestrecktem Arm auf Augenhöhe, sodass Ihr Gesicht<br />

weder in Aufsicht noch in Untersicht, sondern mittig gut ersichtlich symmetrisch<br />

abgebildet wird. Blicken Sie nicht direkt in die Kameralinse,<br />

sondern leicht seitlich auf Linsenhöhe neben der Kamera vorbei. Drücken<br />

Sie ab, sobald Augenhöhe, Gesichtsmitte und Distanz stimmen.<br />

Machen Sie nur einen Versuch.<br />

Das war’s. Ihr Selbstporträt kann nun einem geschulten Schauspieler<br />

helfen, Sie darzustellen. Zumindest wird Ihr Schnappschuss ihm<br />

über Ihr Selbst so viel verraten, dass er ihn als Ausgangslage nutzen<br />

könnte, um daraus eine Charakterstudie zu entwickeln. Bewahren<br />

Sie das Bild also gut auf.<br />

(Falls Sie die App 1 hier nicht genutzt und weitergelesen haben,<br />

finden Sie weiter unten eine Reihe von Selfies, die Sie für die folgende<br />

Übung verwenden können.)<br />

Das Selbstbild der Künstler<br />

Das Selfie hat eine lange Tradition. Bis zur Renaissance porträtierten<br />

Künstler hauptsächlich ihre Herren, für kirchliche Auftraggeber<br />

auch den Herrn. Die Malerei diente auch Wissenschaftlern als Mittel,<br />

der Natur auf die Spur zu kommen, bis in der ersten wissenschaftlichen<br />

Revolution die Künstler begannen, sich für ihre eigene<br />

Natur zu interessieren. Ihre Selbstporträts zeugen von wachsendem<br />

Teil 1 Sie wollen mich spielen? 13<br />

Das Selbstporträt wurde rasch zum Experimentierfeld des Selbst.


Selbstbewusstsein. Universalgelehrte wie da Vinci fanden ihre Modelle<br />

in der Natur wie bei sich selbst. Die Beschäftigung mit dem<br />

Selbstporträt wurde rasch zum Experimentierfeld der Kunst.<br />

Abbildung 1:<br />

Albrecht Dürer,<br />

Skizze zu einem<br />

Selbstporträt, 1492<br />

Der junge Dürer zeichnete sich bereits als Dreizehnjähriger. Nach<br />

seiner ersten Reise als Zwanzigjähriger offenbarte er seinem Vater,<br />

einem Goldschmied, seine Berufsentscheidung – per Selfie. Albrecht<br />

stellte sich seinem Vater in einem Selbstbildnis dar – mit<br />

rötlich gelocktem Haar und einem Distelzweig in der Hand.<br />

Dürer offenbarte seinem Vater seine Berufsentscheidung per Selfie.<br />

Die zerarbeiteten Handwerkerhände halten in akribischer Bewegung<br />

das Aphrodisiakum und Symbol der Dornenkrone bereit. Sie<br />

wirken im umgebenden Dunkel wie die Hände eines alten Mannes<br />

und scheinen die Distel als geheimen Wunsch darzubieten. Während<br />

aus dem Gesichtsausdruck des Jünglings eine jungfräuliche<br />

Unberührbarkeit spricht, sticht uns der Seitenblick direkt in die<br />

14<br />

Abbildung 2:<br />

Albrecht Dürer,<br />

Selbstbildnis mit Eryngium,<br />

1493


Dank<br />

An dieser Stelle möchte ich allen danken, die an dieser Arbeit teilhaben,<br />

indem sie mich kritisch begleitet oder einfach bei Laune gehalten<br />

haben. Mein Dank gilt vor allem Darsteller*innen, die mit<br />

ihrer Kunst auf Bühnen und vor Kameras unserem Leben täglich<br />

neue Sehweisen hinzufügen und dieses Buch überhaupt erst möglich<br />

gemacht haben. Mein spezieller Dank gilt Ihnen, liebe Leser*innen,<br />

die mit Ihrer Neugier diesen Buchstaben in Ihrem Hirn, Körper und<br />

Wesen ein Leben in Freiheit schenken. Ohne Sie blieben sie, was sie<br />

sind: Gefangene zwischen Buchseiten.<br />

Dank 201


Der Autor<br />

<strong>Hansjörg</strong> <strong>Betschart</strong> studierte an der Schauspielakademie Zürich<br />

(heute Zürcher Hochschule der Künste ZHdK) Schauspiel und<br />

Theaterpädagogik. Er gründete das Junge Theater Basel und inszenierte<br />

in München (Schauburg der Kammerspiele), Zürich<br />

(Schauspielhaus), Göteborg (Folkteatern), Mexico City (Teatro de la<br />

Ciudad), Wien (Burgtheater), Basel (Theater Basel) und in Kirgisien<br />

(Krupskaja-Teatr, Bischkek). Als Dozent für Schauspiel und Regie<br />

arbeitete er an der Kunstuniversität Graz, der Zürcher Hochschule<br />

der Künste und weiteren Schauspielschulen. Als Autor und Übersetzer<br />

hat er drei Romane veröffentlicht («Soheila», «X=Liebe» und<br />

«Unruh») und zahlreiche Theaterstücke von Henning Mankell, Lars<br />

Norén, Kristina Lugn, Eva Bergman, Lisa Langseth u.a. übersetzt.<br />

Unter www.fakeyou.ch und www.artbetsch.ch finden Sie weitere Informationen.<br />

Der Autor 215

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