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AUGENBLICK, BITTE!

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Plötzlich blind<br />

Ob Tina mit Vorurteilen<br />

zu kämpfen hat<br />

und wie sie Make-up-<br />

Artist wurde, lesen<br />

Sie unter: gesunderkoerper.info<br />

Tina (28) verlor über Nacht ihr Augenlicht, heute ist<br />

sie Mutter, Make-up-Artist und Ehefrau. Wie sie ihren<br />

Alltag meistert und was sie sich für alle Menschen mit<br />

Handicap wünscht, erzählt sie im Interview.<br />

Text Franziska Manske<br />

Du bist mit der Netzhauterkrankung Retinitis pigmentosa<br />

geboren, konntest aber als Kind noch sehen.<br />

Woran kannst du dich erinnern?<br />

Ich kann mich noch an wahnsinnig viel erinnern. Ich bin<br />

ein totaler Familienmensch und meine visuellen Erinnerungen<br />

drehen sich alle um meine große Familie. Es sind<br />

nicht die materiellen Dinge, eher gemeinsame Momente<br />

und Situationen, die wir zusammen verbracht haben.<br />

Wie hat sich die Krankheit zu Beginn bemerkbar<br />

gemacht?<br />

Ich habe das von Geburt an. Die Krankheit hat sich schleichend<br />

entwickelt. Ich war immer sehr lichtempfindlich,<br />

doch das konnte ich immer gut ausgleichen. An sehr sonnigen<br />

Tagen beispielsweise mit speziellen Sonnenbrillen,<br />

die auch an der Seite geschlossen sind. Richtig schlimm<br />

wurde es, als ich 15 wurde.<br />

Wusstest du, dass du eines Tages erblinden würdest?<br />

Warst du darauf vorbereitet?<br />

Tatsächlich überhaupt nicht. Ich war zwar immer in<br />

ärztlicher Betreuung und bin regelmäßig zu Kontrollen<br />

gegangen, doch da war immer alles auf dem gleichen<br />

Stand. Die Ärzte haben uns immer versichert, dass die<br />

Erblindung nicht eintreten wird. Und selbst wenn, dann<br />

erst in sehr hohem Alter.<br />

Leider haben sich die Ärzte geirrt.<br />

Ja, leider. Von heute auf morgen war ich blind. Ich bin<br />

am 3. Januar 2008 abends ins Bett gegangen und nachts<br />

aufgewacht. Ich wollte mir ein Wasser holen und habe das<br />

Licht angemacht. Es wurde nicht hell. Ich bin dann zu meiner<br />

Schwester, habe sie geweckt und ihr gesagt, dass das<br />

Licht nicht angeht. Sie hat mich dann angemotzt, dass das<br />

Licht doch an ist. Für mich war es das aber nicht. Alles war<br />

dunkel, und das blieb es auch.<br />

Was hast du in dem Moment gedacht?<br />

Ich habe die Hände vors Gesicht geschlagen und bin in<br />

eine Schockstarre verfallen. Ich habe nichts mehr um mich<br />

herum wahrgenommen und weiß fast nichts mehr von<br />

dieser Nacht.<br />

Wie geht man damit um, wenn man plötzlich blind ist?<br />

Ich habe sehr viel mit mir selber ausgemacht. Ich musste<br />

die Schule wechseln und bin auf eine Blindenschule<br />

gekommen. Dort hat man mir sehr geholfen. Ich musste ja<br />

alles neu lernen. Selbst die kleinsten Kleinigkeiten stellten<br />

für mich auf einmal eine riesengroße Herausforderung<br />

dar. Angefangen beim Schuhezubinden bis hin zum Essen.<br />

Ich habe mich sehr zurückgezogen und meine Familie<br />

hatte es auch nicht leicht mit mir. Die alte Tina war einfach<br />

nicht mehr da.<br />

Ist „die alte Tina“ im Laufe der Jahre zurückgekommen?<br />

In Teilen ja, doch dieser harte Schicksalsschlag hat schon<br />

meine Sicht auf das Leben verändert und mich reifer<br />

werden lassen.<br />

Kannst du beschreiben, was du noch visuell wahrnimmst?<br />

Drei Monate nach der Erblindung fing es an, dass ich Hell<br />

und Dunkel sowie alles in Form von Schatten und Umrissen<br />

wahrnehmen konnte. Die Sinne schärfen sich sehr. Das<br />

Gehör ist meine größte Stütze. Aber auch Gedächtnisarbeit<br />

ist ein großer Punkt. Man merkt sich sehr viele Dinge, weiß<br />

dadurch, wo was zu finden ist.<br />

Gibt es etwas, das dich im Alltag besonders herausfordert?<br />

Es gibt immer wieder Situationen, bei denen man an seine<br />

Grenzen stößt. Meine größte Herausforderung ist mein<br />

fünfjähriger Sohn. Er kann sehen. Ich hatte natürlich schon<br />

in der Schwangerschaft Ängste und auch, als er noch so<br />

klein war. Ich habe mich selbst total unter Druck gesetzt,<br />

muss aber sagen, dass alles immer sehr gut funktioniert hat.<br />

Mein Mann und meine Familie haben mich immer bei all<br />

meinen Träumen und auch deren Umsetzung unterstützt<br />

– dafür bin ich unendlich dankbar.<br />

Zurück ins Leben?<br />

Als Andreas 33 Jahre alt ist, bekommt er Probleme mit den Augen. Er geht zum Augenarzt<br />

und erhält den Verdacht Hirntumor. Dass eine seltene Erkrankung dahintersteckt, ahnte<br />

zu diesem Zeitpunkt niemand. Heute hat der Elektromeister ein Sehvermögen von einem<br />

Prozent. Um welche Erkrankung es sich handelt und warum Andreas große Hoffnung hat,<br />

bald wieder sehen zu können, erzählt er im Interview.<br />

Andreas, welche Augenerkrankung haben Sie?<br />

Ich habe die seltene Augenerkrankung Lebersche<br />

Hereditäre Optikus-Neuropathie (LHON). Das ist<br />

eine genetische Erkrankung der Nervenzellen des<br />

Auges, die vor allem junge Männer betrifft. Sie tritt in<br />

Deutschland nur circa 80-mal pro Jahr als Neuerkrankung<br />

auf.<br />

Wie haben Sie gemerkt, dass etwas mit Ihren<br />

Augen nicht stimmt, und welche Beschwerden<br />

traten auf?<br />

Im September 2019 traten Sehbeschwerden auf,<br />

ich sah teilweise verschwommen und ging zum<br />

Optiker, weil ich vermutete, dass ich eine neue Brille<br />

benötige. Beim Sehtest konnte ich kaum die Zahlen<br />

erkennen. Der Optiker reinigte extra das Gerät, da<br />

er nicht glauben konnte, dass ich kaum etwas sah.<br />

Doch mit dem Gerät war alles in Ordnung. Er schickte<br />

mich zum Augenarzt, der sämtliche Untersuchungen<br />

machte und mich dann per Notfallüberweisung<br />

ins Krankenhaus schickte wegen des Verdachts auf<br />

Hirntumor. Zum Glück bestätigte sich die Diagnose<br />

nicht. Doch warum ich immer schlechter sehen<br />

konnte, wusste immer noch niemand.<br />

Wie lange hat es gedauert, bis die Diagnose<br />

LHON gestellt wurde, und was hat die Diagnose<br />

für Ihr Leben bedeutet?<br />

Es ging wochenlang hin und her und die ständig<br />

neuen Verdachtsdiagnosen machten mich wahnsinnig.<br />

Die ständige Angst und die immer größer<br />

werdende Unsicherheit haben mich sehr viel Kraft<br />

gekostet. Im Oktober kam dann der erste Hinweis<br />

auf LHON, was dann auch durch einen genetischen<br />

Test bestätigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich<br />

noch eine Sehkraft von vier bis fünf Prozent. Doch<br />

das ging weiter bergab. Heute habe ich eine Sehkraft<br />

von einem Prozent. Mein Leben war quasi von heute<br />

auf morgen nicht mehr das gleiche. Ich brauchte<br />

sehr lange, um mich mit meinem neuen Leben zu<br />

arrangieren. Lange wollte ich es nicht wahrhaben<br />

und habe mich immer gefragt: Warum ich?<br />

Wie sieht Ihr Alltag mit der Erkrankung aus, und<br />

fühlen Sie sich als Patient mit einer seltenen<br />

Augenerkrankung gut versorgt?<br />

Ich lebe in einer Kleinstadt im ländlichen Raum.<br />

Hier ist man auf das Auto angewiesen. Doch natürlich<br />

kann ich mich als fast blinder Mensch nicht<br />

mehr hinters Steuer setzen. Auch der Alltag mit der<br />

Familie hat sich natürlich verändert und auch die<br />

Arbeit. Doch ich habe das große Glück, dass sowohl<br />

meine Frau als auch mein Arbeitgeber, wo ich als<br />

Kalkulator arbeite, immer hinter mir standen und<br />

stehen. Zudem habe ich mich an die PRO RETINA<br />

gewandt, die mir sehr viele Hilfestellungen an die<br />

Hand gegeben hat und nach wie vor gibt. Nicht<br />

allein zu sein, ist ein gutes Gefühl.<br />

Ich muss vierteljährlich zum Arzt, der mir mein<br />

Medikament verschreibt. Zudem stehe ich auf einer<br />

Liste mit sechs weiteren Personen für eine neuartige<br />

Gentherapie. Bei dieser wird LHON-Betroffenen ein<br />

Virus ins Auge gespritzt, was eine Heilung zur Folge<br />

haben soll. Ich hoffe täglich auf den Anruf. Diese<br />

Behandlung würde mir mein Leben zurückgeben.<br />

Andreas<br />

Regnat<br />

LHON-Betroffener<br />

Text<br />

Franziska Manske<br />

5 FAKTEN ZUR<br />

LEBERSCHEN<br />

HEREDITÄREN<br />

OPTIKUS-<br />

NEUROPATHIE<br />

(LHON):<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

Schätzungen zufolge erkranken jährlich<br />

etwa 80 neue Patienten an LHON in<br />

Deutschland (Inzidenz).<br />

Mit einem einfachen Gentest kann bei<br />

Verdacht auf eine LHON die Diagnose<br />

gesichert und festgestellt werden. Dieser<br />

Gentest wird in der Regel extrabudgetär<br />

von den Krankenkassen bezahlt.<br />

Eine frühzeitige Diagnose bietet den<br />

Patienten auf lange Sicht die besten<br />

Chancen bei einer Behandlung.<br />

Durchschnittlich verbleiben den<br />

meisten Betroffenen etwa drei Monate<br />

nach dem Auftreten der ersten Symptome<br />

nicht mehr als zehn Prozent ihrer<br />

Sehkraft.<br />

LHON führt zu einem deutlichen Verlust<br />

an Lebensqualität und betrifft neben<br />

dem Erkrankten auch die Familie und<br />

Pfleger.<br />

Weitere Informationen:<br />

www.pro-retina.de

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