Zum Programm Umstände Geratenen wurde zu einer Schlüsselszene der christlichen Religions- und Musikgeschichte. Als das ungeborene Kind in Elisabeths Leib vor Freude zu hüpfen beginnt, nachdem seine Mutter der schwangeren Maria ansichtig wird, begrüßt sie diese mit den Worten: »Gebenedeit bist du unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes!« Und mit der Antwort Marias hebt einer der bedeutendsten neutestamentlichen Gesänge an: »Meine Seele erhebt den Herrn«. hinsehen unD hutaBtun Das nach seinem lateinischen Beginn meist als »Magnificat« bezeichnete Preislied ist einer der drei Psalmen – oder lateinisch: cantica – des Neuen Testaments. Alle drei haben bis heute ihren festen Platz im Stundengebet: das »Benedictus« des Zacharias im Morgengebet, der Laudes; das »Nunc dimittis« des Simeon im Nachtgebet, der Komplet, und das »Magnificat« der Maria im Abendgebet, der Vesper. Marias Lobgesang zu Beginn des Lukas-Evangeliums kommt nicht nur eine Schlüsselrolle innerhalb der Dramaturgie des Textes zu – er ist auch ein zentrales Gedicht über das Verhältnis von Christen und Juden, von Mensch und Gott. Die Bedeutung, die Martin Luther diesem Text zumaß, macht ihn auch zum einem wichtigen Bindeglied zwischen Katholiken und Protestanten. Schließlich war die volkstümliche Marienverehrung ein Dorn im Auge des Reformators, der in seiner Auslegung des Magnificat, die er 1521 verfasste und Johann Friedrich, Herzog zu Sachsen, widmete, an Seitenhieben gegen Frömmelei und Brauchtum nicht spart: »nicht allein mit Sagen oder Worten […] oder mit Kniebeugen, mit Hauptneigen, mit Hutabtun, mit Bildermachen, mit Kirchenbauen, was auch wohl die Bösen tun, sondern aus allen Kräften und mit gründlicher Wahrheit« soll man Gutes tun und die Gnade Gottes erkennen. »Darum sind alle die, so ihr [Maria] viel Lob und Ehre aufdrängen […] nicht weit davon, dass sie einen Abgott aus ihr machen«. Das ist jedoch nicht der Sinn dieser Erzählung von der Magd, die durch das Ansehen Gottes erhoben wird und zum Dank ihn mit ihrer Seele erhebt: »Sie will nicht, dass du zu ihr kommest, sondern durch sie zu Gott.« singen unD Beten Luther beschreibt Maria als ein Medium, zu Gott zu finden. Vermittelt wurde sie nicht nur von der Kanzel herab, sondern nicht zuletzt in künstlerischen Darstellungen. Musik und geistliche Spiele übernahmen in Zeiten, in denen das sakrale und das profane Leben noch nicht so sehr voneinander getrennt waren wie heute, durchaus glaubenserzieherische Aufgaben: Die Scheidelinie zwischen geistlicher Meditation, geistiger Erbauung und unterhaltsamem Spektakel waren – gerade in der vorreformatorischen Zeit – fließend. »Wie Zum Programm im Mittelalter war im katholischen Europa die Kirche auch im Barockzeitalter die Kulturvermittlerin schlechthin, vor allem für die mittleren und unteren Schichten«, schreibt der Historiker Peter Hersche. »Einmal war praktisch das ganze Bildungswesen von unten bis oben von der Kirche getragen. Die großen künstlerischen und musikalischen Schöpfungen konnten außerhalb der Oberschichten nur durch die Kirche größere Breiten wirkung erlangen.« Als Anreger oder Förderer von neuer, avancierter Kunst treten Kirchen heute kaum mehr in Erscheinung. Aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Der schwedische Komponist Sven- David Sandström legt seit mehr als einem Jahrzehnt in seinem Schaffen den Schwerpunkt auf Sakralmusik. Begonnen hatte er als junger Wilder mit einer komplexen Tonsprache, durch die auch Dirigenten wie Pierre Boulez auf ihn aufmerksam geworden sind: mit dreißig Jahren gelang ihm 1972 sein Durchbruch als Komponist. Einen Wendepunkt in seinem Schaffen markiert das »epochale« Requiem De ur alla minnen fallna, »ein mächtiges Fresko über den Kindsmord im Holocaust, das als eines der bekanntesten Werke der schwedischen Musik des 20. Jahrhunderts heraus sticht«, wie die Musikwissenschaftlerin Camilla Lundberg schreibt. Damit einhergehend suchte Sandström zugleich nach einer emotionaleren, einfacheren Ansprache des Hörers. Die Hohe Messe aus dem Jahr 1994 deutet bereits auf eine Thematik hin, die den Komponisten seither nicht losgelassen hat. Sandström bezieht sich mit seinem Werk auf Johann Sebastian Bachs h-moll-Messe. Seither hat er sich immer wieder an Texte gewagt, die bereits Bach vertont hat, so in seinem Zyklus von sechs Motetten. Und wie sein großes Vorbild komponierte er zwischen 2008 und 2011 für jeden Feiertag des Kirchenjahres ein eigenes Werk. Im Schwierigkeitsgrad orientierte er sich keineswegs nur an den schwedischen »Elite-Chören«, denen er bereits seit langem verbunden ist, der Zyklus schließt auch für Laien-Chöre geeignete und rein instrumentale Werke mit ein. sVen-DaViD sanDströM (*1942) »Magnificat« Sandströms 2005 im Auftrag der Stuttgarter Bach-Akademie komponiertes Magnificat findet ein unmittelbares Vorbild bei Bach. Darauf weist schon die Orchesterbesetzung hin, die mit Trompeten, Oboen, Pauken, Orgel, Vokalsolisten, Chor und Streichern dem Magnificat des Thomaskantors sehr nahe kommt. Er verzichtet auf die Flöten, die Bach zusätzlich einsetzt, benötigt vier Solisten statt fünf; anders als Bach, der seinen Chor fünfstimmig führt, lässt Sandström seinen sechsstimmigen Chor gelegentlich gar in bis zu zwölf Stimmen fließen. Auch die Strukturierung des Psalms in zwölf musikalische Sinnabschnitte 4 5