flip-Joker_2021-10
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kunst KULTUR JOKER 11
Gehen als Haltung
Das Ausstellungsprogramm der Biennale für Freiburg ist im September gestartet
Mit dem Namen scheint alles
gesagt: Biennale für Freiburg,
kurz BfF. Doch was heißt das
„für Freiburg2? Zumal der unmittelbare
Anlass für die Biennale
– die Schließung der Außenstelle
der Staatlichen Akademie
der Bildenden Künste
Karlsruhe – manchen immer
noch als Verlust erscheint, anderen
aber herzlich egal sein
wird. Zu uneins ist die Kunstszene
über ihr Selbstverständnis
und zu wenig großzügig.
„Für Freiburg“ heißt jedenfalls,
dass die Kunst mitten in
der Stadt und im öffentlichen
Raum zu finden ist, in einzelnen
Kunsträumen oder dem
Stadtgarten. Auch wenn die
Biennale, nicht zuletzt wegen
Corona, weniger Leute als die
es interessieren könnte, erreicht
hat. Das sollte sich nun
ändern, denn seit Anfang September
sind die Ausstellungen
eröffnet; die Häuser wie das
Museum für Neue Kunst oder
den Kunstverein Freiburg mit
Off-Spaces zu einem Parcours
verbinden und auch einen neuen
Ort wie die Kaiserwache
einbeziehen. An insgesamt
acht Kunstorten ist die von
Leon Hösl kuratierte Biennale
zu sehen, alle sind selbst zu
Fuß gut zu erreichen.
Nicht wenige der Arbeiten
dieser ersten Biennale-Ausgabe
reflektieren den öffentlichen
Raum, die Nischen, die er
bietet oder sie inszenieren den
Ausstellungsort als Ausdruck
von Urbanität. Im Kunstverein
Freiburg, der das Herz der
Biennale-Ausstellung ist, thematisieren
Arbeiten wie die
von Patrizia Bach die Definitionsmacht
über den öffentlichen
Raum. Seit 2015 läuft sie Istanbul
ab und kartografiert die
Veränderungen der Straßennamen,
die einer politischen
Agenda folgen. Bach übersetzt
die Namen zudem aus dem
Türkischen ins Deutsche und
fächert so auf Listen die verschiedenen
Valenzen der Bedeutungen
auf. Sie wiedersetzt
sich damit dem Bestreben,
Geschichte und Gegenwart auf
eine eindeutige Lesart zu reduzieren.
Die Wiener Künstlern
Luiza Margan, die in Kroatien
geboren wurde, hat sich mit
einem Partisanendenkmal von
Vinko Matković (1911-1973)
befasst. Die Skulpturengruppe
der Allegorie der Freiheit mit
zwei martialisch bewaffneten
Partisanen steht in Rijeka auf
einem 19 Meter hohen Pfeiler.
Mit einer Hebebühne hat
sich Margan auf Augenhöhe
begeben und hat die Fotos mit
historischen Aufnahmen aus
Matkovićs Atelier sowie einer
Art Attitüdendarstellung
aus ihrem eigenen Atelier
verbunden. Es ist auch eine feministische
Aneignung, denn
in den ideologischen Denkmälern
sind die handelnden
Figuren männlich, die allegorischen
weiblich. Auffallend
viele Arbeiten erinnern daran,
dass die Gegenwart nicht das
Maß ist. So rekonstruierte Patricia
Esquivias 2019 in „Brave
Wounded Blows“ den handwerklichen
Charakter eines
Madrider Stadtviertels, indem
sie sich mit einer aufgegebenen
Kunstschmiedewerkstatt befasst.
Zeitgenössische Architektur
füllt diese Lücken und
wirkt neben der historischen
Bausubstanz wie eine flache
Mimikry. Und, ebenfalls im
Filmprogramm im Museum
für Neue Kunst zu sehen, erinnert
Milica Tomić in ihrer
Videoarbeit an Stätten des jugoslawischen
Widerstands gegen
die deutsche Besatzung im
Zweiten Weltkrieg, indem sie
Ausstellungsansicht Kommunales Kino, Michel Auder:
May in `68 in ´78, 1978/2019, Video, edited by
Michael Stickrod, Bleacher (#4), 2021: Michael Stickrod in
Kollaboration mit Julius Martin-Humpert, Maristella Witt,
Ilja Zaharov und Franziska Rist
Foto: Marc Doradzillo
Ausstellungsansicht Kunstverein Freiburg,
Niklas Goldbach, Aufstellung: Freiburg
Foto: Marc Doradzillo
diese Orte mit einer geschulterten
Waffe abläuft.
Und Kriz Olbricht, der an der
Freiburger Außenstelle studiert
hat, holt den Begrüßungston
Kölner Kioske in den Kunstraum.
Er wird durch einen Bewegungsmelder
ausgelöst und
ist im Kunstverein Freiburg
an verschiedene Sensoren gekoppelt,
so dass er zum Sound
der Ausstellung wird. Niklas
Goldbach wiederum hat an
Freiburgs verborgenen Orten
fotografiert und Plätze dokumentiert,
die Wohnungslosen
als Unterschlupf und Rückzug
dienen. All das zeigt: es könnte
auch anders sein.
Nach ihrer Ausstellung vor
drei Jahren in der Galerie für
Gegenwartskunst im E-Werk
ist im Pförtnerhaus nun eine
Rauminstallation der 1979 in
Stuttgart geborenen Liesl Raff
zu sehen, die den ganzen Off-
Space ausfüllt. Raff arbeitet
vorwiegend mit Latex. Aus
diesem Material ist auch der
brombeerfarbene Vorhang,
der auf künstliches und natürliches
Licht jeweils anders
reagiert. „Schwindel“ heißt
ihre Ausstellung, der ausgelöst
werden könnte durch den
Wechsel zwischen den Materialien,
dem hautähnlichen
Charakter des Materials und
den Geruch von Latex, der
sich in dem kleinen Raum ausbreitet.
Rahima Gambo, deren
Videoarbeiten und Installation
im Museum für Neue Kunst
und im Delphi zu sehen sind,
stellt mit ihren Walks so etwas
wie die Leitfigur der Biennale
dar. Die nigerianisch-britische
Künstlerin hat das Gehen als
eine Praxis etabliert, die auch
den Dingen und Geschichten
am Wegesrand gerecht wird,
indem sie sie erzählt und vergegenwärtigt.
Es ist ein bisschen
so als ob sie in Gedanken
die Welt zurechtrückt, die leider
trotzdem unvollkommen
bleibt. Das muss man aushalten
– Kunst kann zeigen, wie.
Biennale für Freiburg #1,
bis 3. Oktober. BfB Besucherzentrum,
Münsterplatz 6. Do
12-20 Uhr, Fr –So 12-18 Uhr.
www.biennalefuerfreiburg.de
Annette Hoffmann