flip-Joker_2021-10
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6 KULTUR JOKER Theater
Vier Klappstühle in Reih und
Glied leuchten neonfarben im
Blaulicht der Freiburger Experimentalbühne,
darauf erahnt
man die schemenhaften Silhouetten
breitbeinig sitzender
Gestalten. Sehr futuristisch!
Plötzlich springen die Vier
auf und tanzen wild zu harten
RAP-Beats (Artur Grenz):
Zwei junge Frauen und zwei
junge Männer, unisex bekleidet
mit weißen Oberteilen und
Turnschuhen, grauen Jogginghosen
und Beanie-Mützen.
Willkommen im Theaterlabor!
Zehn emotionale Momente versprechen
Sujit Kuruvilla, Maya
Kenda, Jan Frederik Saure und
Alexandra Nesici, unzensiert
und pur. Aber wie funktioniert
das überhaupt, gespielte Gefühle
auf der Bühne? Sind die
dann echt? Wie viel Eigenes
steckt in den Bühnenfiguren
und wie lässt sich starke Emotionalität
reproduzieren? Spannende
Fragen, vor allem für die
Zuschauer*innen, die schauspielerische
Entwicklungsprozesse
nur vom Hörensagen
kennen.
„#nofilter“, so der Titel dieser
Produktion über Sein und
Es tagt der deutsche Ethik rat.
Es warten Dr. Keller (Natalia
Herrera), Frau Gärtner (Doris
Wolters) und ihre Anwältin
Dr. Brandt (Elisabeth Kreßler).
Und wir, dass noch der
letzte von uns seinen Platz
eingenommen hat und, dass
die ersten Experten zum
Sachverhalt Stellung beziehen
werden. Frau Gärtner möchte
nach dem Tod ihres Mannes,
Geballte Gefühlseruptionen
Freiburger Schauspielschule feiert Premiere mit „#nofilter“ im E-Werk
Schein in einem Beruf, der mit
Herz, Haut und Haar in fremde
Identitäten schlüpft (Regie:
So gehen wie gelebt
Ralf Burons Inszenierung von Ferdinand von Schirachs „Gott“ fragt, wie wir sterben wollen
Grete Linz). Über achtzehn
Monate lang machte Corona
dies unmöglich: Unterricht nur
Freiburger Schauspielschule feiert Premiere mit „#nofilter“
Foto: Promo
mit dem sie 42 Jahre glücklich
verheiratet war, nicht mehr.
Ihre Ärztin verweigert der
78-Jährigen die lebensbeendenden
Medikamente. Und da
ihr Mann ihr, als er starb, riet,
es richtig zu machen, hat sich
Frau Gärtner an den Ethikrat
gewandt. Denn ihr Fall – es
geht ja um nichts anderes als
mit ärztlicher Hilfe, aber im
Vollbesitz der geistigen Kräfte,
das Leben zu beenden ‒ ist
von grundsätzlicher Natur.
Spielen Ärzte Gott, wenn sie
jemandem helfen zu sterben
oder sind wir ihm gegenüber
verpflichtet zu leben? „Gott“
heißt auch das Stück von Ferdinand
von Schirach, das Ralf
Buron für das Kammertheater
im E-Werk eingerichtet hat.
Sterbehilfe ist in Deutschland
nicht zuletzt wegen der
praktizierten Euthanasie im
„Dritten Reich“ ein kompliziertes
Thema. Von Schirach
behandelt es ganz ähnlich wie
„Terror“ als Debattenstück,
das ein bisschen Gerichtssitzung
und Bürgerparlament
ist. Geht man aus dem Theater,
hat man Stellung bezogen und
seine Stimme abgegeben und
ist ein bisschen schlauer, so als
hätte man einer Stunde Staatsbürgerkunde
oder einer Veranstaltung
der Zentrale für politische
Bildung beigewohnt.
Es sind Fragestellungen für
das Bundesverfassungsgericht
und für Rhetorikklubs.
Doch dass der Tod das viel
beschworene gesellschaftliche
Tabuthema ist, darf bezweifelt
werden. Erst recht während
einer Pandemie. Es gibt nur
eben angenehmere Gedanken,
als „mit dem Nichts allein“ zu
einzeln oder online, Proben für
Stücke undenkbar. Zeit also für
eine Selbstreflexion in zehn
Kapiteln. - Da geht´s hauptsächlich
in Paar-Konstellationen
um´s Loslassen, die Kunst der
Pausen oder der Kommunikation
zwischen den Zeilen, um
Toxisches, Routine, Rausch
und Zulassen der Impulse. –
Das jedenfalls wird aus dem
Off eingesprochen, jeweils vor
einem poetischen, inneren Monolog.
Dann geht es los, von
Null auf Hundert. Wer nun genau
guckt, kann den Fokus des
Schauspiels erkennen, bei dem
geliebt, gelacht und geweint
wird. Leider ist der Laie dann
aber weniger mit Technik und
Nuancen beschäftigt, sondern
versucht sich zum Gesehenen
eine Geschichte zusammen zu
basteln.
Dabei erlebt man viel: Die
beiden, die sich an der Bushaltestelle
anbrüllen, die ängstliche
Annäherung zweier Liebender,
die glückliche Ausgelassenheit
plötzlich Verliebter,
langweiligen Sex in verqueren
Positionen oder geteilte Trauer.
Und Sujit Kuruvilla, Maya
Kenda, Jan Frederik Saure und
sein, wie es Frau Gärtner formuliert.
An das große Tabu
Tod scheint auch Buron nicht
ganz zu glauben, lässt er die
drei Schauspielerinnen doch
erzählen, wie Freunde starben
oder lebensgefährlich erkrankt
waren. Eine schöne Idee, die
jedoch effekthaschend jeweils
mit großem Krachen angekündigt
wird.
Doch ein Tabu zu beschwören,
gehört auch zur Masche
der Stücke von Schirachs,
denn das muss man sich erst
einmal vorstellen, das Leben
eines anderen zu beenden oder
wie in „Terror“ menschliches
Leben gegeneinander aufzurechnen.
Dabei ist es auch
nicht so, dass die Zuschauer,
völlig wertneutral durch ihre
Meinungsbildung geführt
werden. Es gibt Positionen,
wie hier die des Theologen,
die auf verlorenem Posten stehen.
Und sei es nur, weil wir in
einer säkularen Gesellschaft
leben. Manche werden als
Sympathieträger gezeichnet,
anderen möchte man das eigene
Leben nicht überantworten.
In Ralf Burons Inszenierung
werden die Experten,
der Verfassungsrechtler (Peter
Haug-Lammersdorf), die
Ärztin (Myriam Tancredi),
Alexandra Nesici geben dabei
alles! – Das ist an diesem
Abend (gerade erst ist die Crew
vom Young Theatre Festival
aus Kroatien zurückgekehrt)
auf der mit Klebeband markierten
Minibühne stellenweise
zu viel, zu hochtourig, zu laut.
Vielleicht liegt es aber auch an
der Szenen-Reihenfolge, dass
soviel geballte Gefühlseruption
irgendwann erschöpft. Da ist es
gut, dass sich die Spieler*innen
dazwischen in der virtuellen
Disco wieder frei hüpfen. Dabei
wird sehr gut gespielt, vieles
packt und fesselt. Der Transfer
zur Analyse funktioniert aber
nur bedingt. Da wäre ein Flyer
mit Statements oder gar ein
abschließendes Publikumsgespräch
mit den Akteur*innen
spannend, rund um die Fragen
„Was denkst du, wenn du
fühlst? Was fühlst du, wenn du
denkst?“und „Warum dieser
Beruf? Was hast du diesbezüglich
während des Lockdowns
am meisten vermisst?“
Weitere Vorstellungen: 1. bis
3. und 8. bis 10. Oktober, je 20
Uhr, sonntags um 18 Uhr, Experimentalbühne
im E-Werk.
Marion Klötzer
der Chef der Ärztekammer
(Christoph Stein) und der
Bischof (Boris Koneczny)
per Video zugeschaltet. Das
wechselnde (Fach)Bücherregal
im Hintergrund mag ein
ironischer Verweis auf die diversen
Zoom-Konferenzen der
letzten Monate sein, doch ist
eben auch sehr stereotypisch.
Die anwesenden drei Frauen
werden, sitzen sie links am
Tisch, ebenfalls gefilmt und
projiziert, was zu merkwürdigen
Doppelungen führt.
Zudem verträgt eine derartige
Großaufnahme einzig die
Figur von Doris Wolters. Bei
der Anwältin und der Vorsitzenden
des Ethikrats ist viel
Strategie, viel Mokieren und
Markieren im Spiel. Das wäre
in einer realen Sitzung schon
nicht ganz zweckfrei und so
geht keine plötzliche Einsicht
oder keine Freude über eine
geistreiche Finte über die Gesichter,
die nicht gestellt wäre.
Das unterliegt der Mechanik
von den Stücken Ferdinand
von Schirachs, könnte aber
subtiler und weniger langatmig
sein.
Weitere Termine im E-Werk:
20./21./23.10., je 20.30 Uhr.
Annette Hoffmann