Landschaft Westfalen (Ausgabe 6 / November 2021)
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AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
www.landschaft-westfalen.de
Einzelpreis: 2,40 Euro
4 193293 502408
06
Regional lesen, entscheiden, bewegen!
Abgewickelt:
Die EnergieAgentur
NRW vor dem Aus
Seite 3
Ausgedacht:
Die Ideen der Jugend
für ihre Heimat
Seite 7
Angestoßen:
Der Jugendtrainer
des VfL Bochum 1848
Seite 11
Aufgeforstet:
Der Weihnachtsbaum
aus dem Sauerland
Seite 12
Ausgestellt:
Die Krippen 2.0 im
Regio Museum Telgte
Seite 19
Digitale Unterschrift
statt Gang zum Amt
Düsseldorf. Von der Fischereierlaubnis
bis zum Notenverbesserungsversuch
im zweiten Jura-
Staatsexamen: Persönliche Behördengänge
sollen in NRW in vielen
Bereichen überflüssig werden. Die
Landesregierung legte einen Gesetzentwurf
vor, der in rund 100
Bereichen statt der Papier-Unterschrift
eine digitale Signatur ermöglicht.
„Das Wirtschafts-Service-Portal.NRW
bietet mehr als
70 Dienstleistungen digital an, bald
werden es Hunderte sein“, erklärte
Wirtschafts- und Digitalminister
Andreas Pinkwart (FDP). Ende 2022
solle der digitale Gang ins Rathaus
die Regel und nicht mehr die Ausnahme
sein. dpa
Mehr Einnahmen für
die Landeskasse
Düsseldorf. Die nordrhein-westfälische
Landesregierung kann laut
jüngster Steuerschätzung für die
Jahre 2021 bis 2025 mit insgesamt
rund 18 Milliarden Euro mehr Einnahmen
in der Landeskasse planen
als bislang veranschlagt. Das geht
aus einer Vorlage des Düsseldorfer
Finanzministeriums an den Fachausschuss
des Landtags hervor. Im
Vergleich zur Steuerschätzung vom
Mai ergibt sich demnach für alle
Jahre ein Zuwachs. Für 2021 kann
der Steuer-Haushaltsansatz um
mehr als 4,9 Milliarden auf rund
67,5 Milliarden nach oben korrigiert
werden und für das Jahr 2025
um gut 3,3 Milliarden auf rund 78,6
Milliarden Euro. Im Zuge der Corona-Krise
waren die Steuereinnahmen
eingebrochen. dpa
LPV GmbH Hülsbrockstraße 2–8 48165 Münster
ZKZ 32935 PVst+4 DPAG Entgelt bezahlt
Schatz im Silbersee
In Haltern kommen Solarmodule aufs Wasser
Auf dem Silbersee in Haltern wird die größte
schwimmende Fotovoltaikanlage Deutschlands
gebaut. 5800 Solarmodule sollen auf
einer knapp 1,8 Hektar großen schwimmenden
Insel installiert werden. Knapp drei Millionen
Kilowattstunden Strom könnte die Anlage damit
im Jahr produzieren. Das zuständige Bergamt hat ein
entsprechendes Vorhaben der Quarzwerke genehmigt.
Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Energiewende, bei
dem auch Westfalen noch ein gutes Stück vor sich hat.
Erler Eiche ist Naturerbe
Raesfeld. Die Erler Femeiche ist
Deutschlands zwölfter Nationalerbe-
Baum. Die Deutsche Dendrologische
Gesellschaft vermutet, dass es sich
bei der Stieleiche um den ältesten
Baum Deutschlands handelt. Urkundlich
belegt ist die Eiche als ältes-
Von Stefan Legge
So ähnlich wird die schwimmende PV-Anlage aussehen. Foto: Shutterstock
Deutschlands ältester Baum steht in Borken-Raesfeld. Foto: Oliver Berg/dpa
ter Gerichtsbaum Mitteleuropas seit
1363. Daher stammt auch der Name.
Zudem ist sie mit 12,45 Metern
Stammumfang die dickste Eiche
Deutschlands. Es handelt sich um den
ersten Nationalerbe-Baum in Nordrhein-Westfalen.
nri
Der weit überwiegende Teil der Energie, die für Strom,
Wärme oder Mobilität benötigt wird, stammt heute noch
aus Kohle, Gas und Öl. Kann das gesteckte Ziel der Klimaneutralität
trotzdem erreicht werden? Der Landesverband
Erneuerbare Energien fordert dazu im Interview mit
Landschaft Westfalen ein beherzteres Vorgehen der Politik.
Und die Landesregierung? Sie stellt sich kurz vor der
Landtagswahl mit der Abwicklung der EnergieAgentur.
NRW und der Gründung der neuen Landesgesellschaft
NRW.Energy4Climate organisatorisch neu auf.
„Statt einer
Modernisierung
des Versammlungsrechts
drohen mehr
Staat und weniger
Freiheit.“
Wilhelm Achelpöhler, Rechtsanwalt,
über das neue Versammlungsgesetz
auf Seite 10
Unsere Werte,
unsere Bilder,
unser Recht
Europas Außengrenzen sind von
Westfalen weit entfernt. Gleichwohl
sind es in einem vereinten Europa
eben auch unsere Außengrenzen.
Und für Solidarität mit Polen –
das eine lange EU-Außengrenze hat
– gibt es gerade für Westfalen vielfältige
gute historische Gründe. Im
Grenzgebiet zwischen Polen und
Belarus sitzen Menschen in Kälte und
Schlamm fest, angelockt von einem
skrupellosen Minsker Machthaber,
der sie dort als Propagandainstrument
benutzt. Er kalkuliert mit der
Macht der Bilder und der schwierigen
innenpolitischen Diskussion zu
Flüchtlingsthemen in Polen. Dabei
dürfen wir Polen nicht alleinlassen.
Und auf dieses Kalkül darf sich eine
rechtsstaatlich organisierte EU auch
nicht einlassen. Sie darf nicht erpressbar
sein. Für uns Deutsche ist das
auch eine schwere Lehre aus dem
Umgang mit terroristischen Erpressungen
der 1970er-Jahre.
Das bedeutet aber nicht, nichts zu
tun: im Gegenteil! Wir müssen Lukaschenko
die Macht über diese Menschen
und die Macht über die Bilder
nehmen. Selbstverständlich müssen
wir die Fluchtrouten schließen. Und
das geht: Die EU hat in einem sehr
deutlichen Dialog mit den relevanten
Fluglinien klargemacht, dass die Beteiligung
an Schleuseraktivitäten
nicht hingenommen werde und die
EU mit ihrer Entscheidungsgewalt
über Lande- und Überflugrechte über
ausreichend Möglichkeiten verfüge,
sich solcher Geschäftspraktiken zu
erwehren. Das bedeutet aber auch, die
Menschen, die an der Grenze ausharren,
dem Zugriff des Minsker Machthabers
zu entziehen.
An dieser Stelle gilt es, stark und
prinzipienfest zu sein. Wer aus anderen
Ländern in die EU fliehen oder
einwandern möchte, verdient es, dass
wir uns mit ihm darüber nach rechtsstaatlichen
Prinzipien auseinandersetzen:
diskret und menschenwürdig
und nicht als mediales Ferngespräch
zum Gaudium skrupelloser Schleuser.
Das sollten wir in der EU tun,
innerhalb unserer Grenzen, dort, wo
wir Herr des Verfahrens sind. So
schlagen wir Erpressern ihre Instrumente
aus der Hand. Dann sind es
unsere Werte, unsere Bilder und
unser Recht.
Thorsten Weiland
KOLUMNE
BUCH EINS
2 | Akzente
AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
KOMMENTARE
DIE WAHRHEIT ÜBER …
PERSÖNLICH
… GEOTHERMIE erforscht der Geologische
Dienst Nordrhein-Westfalens. Um
dafür geeignete Gesteinsformationen
ausfindig zu machen, fuhren im November
sogenannte Vibro-Trucks durch das
Münsterland. Das sind spezielle seismische
Messfahrzeuge, die mit einer hydraulischen
Rüttelplatte Schallwellen
ins Erdreich abgeben.
Spezielle Fahrzeuge, die Vibro-Trucks, untersuchen
die geologische Struktur im Münsterland.
Foto: DMT
Geologe Ingo Schäfer untersucht
Geologische Schichtgrenzen reflektieren
die in die Tiefe gesandten Signale,
und zuvor ausgelegte Geofone (ähnlich
Mikrofonen) nehmen die Reflexionen
auf. Sind genug solcher Daten gesammelt,
können Geowissenschaftler daraus
ein komplexes Bild des Untergrundes
erstellen – ähnlich einer Ultraschallaufnahme
in der Medizintechnik.
„Geothermie könnte auch in NRW
schon in naher Zukunft eine sehr wichtige
Rolle spielen, um Haushalte und
Gewerbe mit klimafreundlicher Wärme
zu versorgen – rund um die Uhr, verlässlich
und witterungsunabhängig“,
sagt Ingo Schäfer, zuständiger Geologe
beim Geologischen Dienst NRW (GD
NRW). „Um sie nutzen zu können, sind
jedoch geeignete Strukturen im Untergrund
erforderlich, in denen sich heißes
Tiefenwasser befindet. Deshalb
untersuchen wir in der Pilotregion
Münster im Rahmen der geologischen
Landesaufnahme den tiefen und mitteltiefen
Untergrundaufbau mit seismischen
Messungen.“
Zu den Gesteinen mit den höchsten
geothermischen Potenzialen zählen
Kalksteine (Karbonate). In diesen Gesteinen
kann es Strukturen geben, die
sowohl über viele Hohlräume verfügen,
in denen sich das heiße Tiefenwasser
sammeln kann, als auch über Verbindungen
zwischen den einzelnen Hohlräumen,
sodass eine ergiebige Fließrate
zustande kommt. Den Untergrund
im Münsterland machen Kalkgesteine
interessant, deren Existenz die Tiefenbohrung
„Münsterland 1“ in Billerbeck-
Aulendorf während der 1960er-Jahre
in etwa 6000 Meter Tiefe vermuten
lässt. In solchen Tiefen herrschen Temperaturen
von bis zu 180 Grad Celsius,
die für eine geothermische Nutzung
sehr interessant sind.
www.seismik-muensterland.nrw
Münsterländer Boden.
Das geplante Versammlungsgesetz für NRW ruft schon seit Monaten Proteste hervor. Foto: Roberto Pfeil/dpa
Mehr Staat, weniger Freiheit
Die Landesregierung will das Versammlungsrecht ändern –
bedenklich findet das Rechtsanwalt Wilhelm Achelpöhler
Wer auf ein bürgerfreundliches
Demonstrationsrecht für
NRW hoffte, muss bitter enttäuscht
sein. Statt einer Modernisierung
des Versammlungsrechts
droht ein Versammlungsrecht mit
mehr Staat und weniger Freiheit.
Ein Beispiel, wie es künftig um die Versammlungsfreiheit
in NRW bestellt ist: Zwei
Junglandwirte wollen mit einem Transparent
„no farmer, no food, no future“ auf dem Gehweg
vor einem Discounter für faire Lebensmittelpreise
demonstrieren. Ein Polizeiwagen
kommt, und ein Beamter weist die beiden darauf
hin, nach dem neuen Gesetz müsse jede Versammlung
einen Leiter haben. Die beiden schauen sich verdutzt an.
Immerhin halten beide das Transparent ganz gleichberechtigt.
Schließlich gibt einer seinen Namen an, den der Polizeibeamte
sofort notiert. Auf der Wache fertigt der Beamte
dann eine Strafanzeige. Bereits eine öffentliche Meinungskundgabe
von zwei Personen stellt eine dem
NRW-Versammlungsgesetz unterworfene Versammlung
dar. Weil die Versammlung der zwei Landwirte nicht wie
vorgeschrieben 48 Stunden vorher bei der Polizei angemeldet
war, hat sich der Leiter der Versammlung strafbar
gemacht. Die Strafe: bis zu ein Jahr Freiheitsstrafe.
In Bayern geht es da liberaler zu: Dort gibt es vielleicht
ein Bußgeld, wie für Falschparken. In Schleswig-Holstein
nicht mal das, weil das Versammlungsgesetz dort erst Versammlungen
ab drei Personen regelt. Gleiches gilt in den
meisten anderen Bundesländern, bei denen ein Versammlungsleiter
keineswegs zwingend ist.
Das Anmeldeverfahren für Versammlungen wird bürokratisiert,
den Versammlungsteilnehmern werden umfang-
Eine ganze Woche hat die ARD uns
kürzlich noch einmal die Unterschiede
zwischen Stadt und Land vor
Augen geführt. Unter dem Titel
„Stadt.Land.Wandel – Wo ist die Zukunft
zu Hause?“ wurde ein wahres
Füllhorn von Beiträgen über die Zuschauer
und Zuhörer ausgeschüttet.
Je nachdem, auf welchem Sender man
gelandet war, wurden die Bewohner
der ländlichen Räume mal belobigt,
mal belächelt und oft bemitleidet –
kein Krankenhaus mehr in der Nähe,
kein öffentlicher Nahverkehr und
schon gar kein Handynetz.
Tatsächlich ist es so, dass die ländlichen
Räume in ihrer Infrastruktur
mit den Städten nicht mithalten können.
Dass man Felder der Daseinsvorsorge
wie Gesundheit, Mobilität oder
auch Breitbandausbau schon lange
Foto: Ralf Emmerich
reiche Pflichten auferlegt, Filmaufnahmen von
Demonstrationen dort ermöglicht, wo sie die
Polizei für sinnvoll hält, ein „Militanzverbot“
eingeführt und der Straftatenkatalog erweitert.
Gleich acht Straftatbestände enthält das NRW-
Gesetz. Schleswig-Holstein hat nur drei.
Kein Wunder, dass die Landesregierung zur
Begründung ihres Gesetzes auf Distanz zum
Bundesverfassungsgericht geht: Von „mangelnder
juristischer Präzision“ in der grundlegenden
Brokdorf-Entscheidung ist da die
Rede, die Verfassungsrichter hätten „ausgeblendet,
dass die Ausnutzung des Sensationsbedürfnisses
der Medien (...) zur Überrepräsentation
von Versammlungsereignissen in der Berichterstattung
führen könne“.
Man muss den Eindruck haben, mit diesem Gesetz reagiere
die Landesregierung darauf, dass immer mehr Menschen
für ihre Anliegen auf die Straße gehen: die Schülerinnen
und Schüler von „Fridays for Future“, Landwirte,
Klimaschützer oder Gewerkschafter. Der Landesregierung
ist das wohl etwas viel Mitsprachewille der Bürgerinnen
und Bürger. Sich selbst wollen die Parteien der Landesregierung
zur Abwehr von Gegendemonstranten künftig
den Einsatz professioneller Ordnerdienste genehmigen
und nach Paragraf 8 Abs. 1 Satz 2 VersG des Gesetzentwurfes
allen Ernstes sogar das Mitführen von Waffen,
„wenn dies zum Schutz einer an der Versammlung teilnehmenden
Person erforderlich ist“. Als wenn Personenschutz
nicht Sache der Polizei wäre.
Wilhelm Achelpöhler ist Mitglied des Ausschusses Gefahrenabwehrrecht
des Deutschen Anwaltsvereins und war Sachverständiger bei der Anhörung
zum Versammlungsgesetz.
Stadt, Land, Kluft?
Von Stefan Legge
gewinnorientiert beackert, hat die
Kluft zwischen Stadt und Land größer
werden lassen.
Diese Lücke lässt sich nicht schließen.
Wenn wir ehrlich sind, war sie
mal kleiner, aber sie ist schon lange da.
Viele Menschen lieben das Landleben
trotzdem. Bis zu einem gewissen Grad
nehmen sie Nachteile sogar bewusst
in Kauf, schließlich hat das Landleben
ja auch viele Vorteile.
Daseinsvorsorge überdenken
Damit dieses Maß nicht überläuft, respektive
die Kluft zwischen Stadt und
Land nicht noch größer wird, muss
nicht nur die Rolle des Staates in der
Daseinsvorsorge überdacht werden.
Auch der Handlungsspielraum der
Akteure vor Ort braucht eine Stärkung.
Dafür müssen wir unsere föderalistischen
Strukturen wieder ernst
nehmen. Ein Stadtrat oder Kreistag,
der kaum freie Haushaltsmittel hat,
verwaltet den Notstand.
In einer repräsentativen Demokratie
sollten die gewählten Vertreter
entscheiden dürfen, welche Projekte
sie angehen wollen. Soll zuerst die
Schultoilette, der Sportplatz oder das
Dorfgemeinschaftshaus saniert werden?
Wenn eine Kommune so etwas
selbst entscheiden und finanziell
stemmen kann, werden auch die richtigen
Prioritäten gesetzt. Wer jedoch
in einem Förderdickicht aus EU-,
Bundes- und Landesmitteln gefangen
ist, der entscheidet anders. Ist das jetzt
wirklich unser dringlichstes Vorhaben?
Na, wer wollte bei einer Förderquote
von 90 Prozent noch widersprechen?
Gerechtigkeit
und Hoffnung
Annette Kurschus, neu gewählte
Ratsvorsitzende der Evangelischen
Kirche Deutschlands,
stammt aus der Evangelischen
Kirche von Westfalen. Hier ein
Auszug aus ihrer ersten Rede:
„Das Leben auf der Erde, von Gott
geschenkt, ist gefährdet wie nie. Alles
tun, um das Leben in seiner Vielfalt zu
schützen und zu erhalten, damit auch
unsere Kinder und Kindeskinder auf
dieser Erde leben können, das ist
gegenwärtig eine unserer vornehmsten
Aufgaben. Und wenn wir hier
wirklich konsequent bleiben wollen,
dann wird uns das einiges kosten,
ganz buchstäblich und im übertragenen
Sinne des Wortes, und das muss
es uns Wert sein. Das hat sehr viel mit
Gerechtigkeit zu tun. (...)
Die Mitte unserer Aufmerksamkeit
und unseres Tuns liegt an den Rändern
(...). Bei den Schwachen und
Verletzten, bei den Verliererinnen
und den Abgehängten. Hinsehen,
hinhören, Unrecht benennen, auch
das eigene Unrecht, Schuld eingestehen,
um Vergebung bitten, umkehren
und neue Wege einschlagen, das
gehört zum tiefen Kern unseres
christlichen Lebens. (...) Wir blicken
anders in die Welt als andere und
deshalb braucht die Welt uns. Wir
sind von einer Verheißung getragen,
auf Hoffnung hin, und die machen wir
stark. (...) Gott wird nicht preisgeben,
was er geschaffen hat, er wird uns
nicht im Stich lassen, dieses Oberlicht
bleibt offen, diese Gewissheit trägt
mich, von der lasse ich nicht.“
Impressum
VERTRIEB:
Lorena Gerversmann, Telefon: 0 25 01/801 44 82,
E-Mail: vertrieb@lp-verlag.de
VERLAG:
BUNTEKUH Medien in der LPV GmbH.
Geschäftsführer: Dr. Thorsten Weiland
Anschrift: Hülsebrockstraße 2–8, 48165 Münster.
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Telefon: 0 25 01/801 61 71
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DRUCK:
Druckzentrum Nordsee, Am Grollhamm 4,
27574 Bremerhaven
REDAKTION:
Dr. Thorsten Weiland (Chefredakteur,
v.i.S.d.P.), Nicole Ritter (Stellv. Chefredak teurin,
Leitung BUNTEKUH Medien), Manuel Glasfort,
Stefan Legge
Schlussredaktion: Schlussredaktion.de
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Illustrationen: Neil Gower, Marianna Weber
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DEZEMBER 2021 / AUSGABE 6
BUCH EINS
Agenda | 3
DÜSSELDORF
Kann der
Staat es
besser?
Die EnergieAgentur.NRW
wird zum Ende des Jahres
abgewickelt
Von Stefan Legge
Die EnergieAgentur.NRW hat viele Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien,
wie Freiflächenfotovoltaik, angestoßen und begleitet. Foto: Getty Images
Zum Ende des Jahres 2021 ist Schluss. Nach 31
Jahren wird die EnergieAgentur.NRW Geschichte
sein. Die Landesregierung setzt bei der
Energiewende stattdessen auf eine neu gegründete
Landesgesellschaft für Energie und Klimaschutz.
Im Moment trägt diese den Namen „NRW.Energy4Climate“.
Warum glaubt Wirtschaftsminister Andreas
Pinkwart, immerhin ein Liberaler, dass der Staat hier
der bessere Unternehmer ist?
Der noch unter Johannes Rau gegründeten Energieagentur
war immer eine hervorragende Arbeit attestiert
worden. Ihre Initiativberatung, ihre Netzwerk- und Informationsarbeit
schätzen auch viele Kommunen. Sie arbeitete
zudem eng mit der Landwirtschaftskammer zusammen.
Organisiert ist sie als privatwirtschaftliches Unternehmen
mit den Gesellschaftern Agiplan und EE Energy
Engineers, einem Tochterunternehmen des TÜV Nord.
Finanziert wurde sie aus Landes- und EU-Mitteln.
Widersprüchliche Gutachten
Gutachter im Auftrag der Landesregierung waren
2010 und 2015 noch zu dem Ergebnis gekommen,
dass die Lösung mit externen Beratungsfirmen
die effizienteste sei. „Ein Gutachten
der gleichen Berater kommt dann 2020 zu
einem völlig anderen Ergebnis“, sagt Uwe H.
Burghardt, Pressesprecher der Energieagentur.
„Das NRW-Ministerium teilte uns mit, dass
das neue EFRE-Programm der EU eine weitere
Finanzierung einer EnergieAgentur.NRW
nicht zulasse.“
Die vergaberechtlichen Bedenken gegen die
bisherige Praxis von jeweils fünf- bis sechsjährlichen
Ausschreibungen wirken ein wenig konstruiert.
Zumal der Minister gegenüber dem
WDR Klartext sprach: „Das, was wir uns vorgenommen
haben für die nächsten zehn, zwanzig Jahre hier in Nordrhein-Westfalen,
ist ein richtiger Kraftakt. Und dieser Kraftakt
braucht eine schlagkräftige Organisation. Und die hatten
wir bisher leider nicht.“ Der Vorteil der neuen Agentur sei,
dass sie als hundertprozentige Landesgesellschaft direkter
von der Politik gesteuert werden könne.
Jahresgehalt von 200.000 Euro
Doch wie sieht es aus mit der Schlagkraft der neuen Gesellschaft?
Aktuell sucht sie neue Mitarbeiter. Die erfahrenen
und bestens vernetzten 160 Fachkräfte der nun abzuwickelnden
Energieagentur stehen dabei nicht allzu hoch
im Kurs. Nach Informationen von Landschaft Westfalen
sind bisher nur vierzehn von ihnen in der neuen Landesgesellschaft
angestellt. Die Besetzung des Chefpostens
Minister Andreas Pinkwart
will mehr Schlagkraft.
Foto: dpa
wurde zudem von heftiger Kritik begleitet. Die Berufung
von Ulf C. Reichardt, ehemaliger Hauptgeschäftsführer
der Industrie- und Handelskammer Köln, war Gegenstand
einer parlamentarischen Anfrage der Abgeordneten
Wibke Brehms (Bündnis 90/Die Grünen). Die Landesregierung
gab dabei Auskunft zur Zahl der Bewerbungen
auf die Stelle (204) und zum Gehalt: „Herr Reichardt erhält
für seine Tätigkeit als Geschäftsführer unter Zurverfügungstellung
eines Dienstwagens eine angemessene
Vergütung in Höhe von 200.000 Euro per anno sowie
eine Altersvorsorge in Höhe von 24.000 Euro per anno.“
Dass Reichardt damit in einer Gehaltsliga mit den Landesministern
spielt, ist Wasser auf die Mühlen der Kritiker.
Ein Kostenvorteil der neuen Agentur zum bisherigen
Konstrukt scheint bei näherem Hinsehen ohnehin
fraglich. So soll die Personaldecke bis 2024 von jetzt
44 auf 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei NRW.
Energy4Climate anwachsen. Zudem konnten sich weiterhin
Dienstleister auf Ausschreibungen des NRW-Wirtschaftsministeriums
bewerben.
Die Ausbaupotenziale für Windkraft in Nordrhein-
Westfalen sind umstritten. Foto: Getty Images
Kündigungen sind ausgesprochen
Auch wenn die beiden Gesellschafter der alten
Energieagentur hier wieder mit im Rennen
sind, wurde vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
bereits gekündigt. Reiner Priggen,
Vorsitzender des Landesverbandes Erneuerbare
Energien NRW, erklärte dazu: „Jede Landesregierung
hat natürlich das Recht, Strukturen
zu ändern. Das finde ich, ist erst mal legitim.
Aber dann muss man doch auch an die Menschen
denken. Die gehen weg. Und ich finde,
dieser menschlich unschöne Umgang mit dieser
Kompetenz von Leuten, der ist einfach nicht
zu akzeptieren.“ Das Klimabündnis Bielefeld,
ein Zusammenschluss verschiedener gesellschaftlicher
Gruppen, sammelte – wohl vergebens – mehr als 14.000
Unterschriften für eine Petition zum Erhalt der Agentur.
Offensichtlich wurde hier ein bewusster Bruch herbeigeführt.
Doch in welche Richtung wird sich die neue Landesgesellschaft
entwickeln? In einem Imagefilm ist Geschäftsführer
Ulf C. Reichardt bemüht, Aufbruch zu vermitteln:
„Das Ziel der neuen Landesgesellschaft ist es, der
zentrale Treiber in sämtlichen Fragen der Energiewende
und Klimaschutz zu sein.“ Auf Anfrage von Landschaft
Westfalen konkretisiert die kommissarische Pressesprecherin
Janne Hauke: „Wir sind sektorenübergreifend als
Ansprechpartnerin da, wenn es darum geht, Klimaschutzprojekte
voranzubringen – sei es in der Energiewirtschaft,
der Industrie, bei den Unternehmen oder den Kommunen.
Für Letztere werden wir unter anderem mit unseren Regionalmanager:innen
über NRW verteilt vor Ort präsent
sein. Kommunen und auch Unternehmen haben so eine
direkte erste Anlaufstelle, um Fragen zu klären und bei
konkreten Anliegen zu Umsetzungsprojekten Hilfestellung
zu erhalten.“
So oder so ähnlich sind auch stets die Aufgaben der
Energieagentur beschrieben worden. Diese trat gegenüber
dem Ministerium auch schon mal als Mahnerin für mehr
Tempo bei der Energiewende auf. Gibt es auch etwas Neues?
„Durch unsere Arbeit wollen wir mehr Fördergelder
aus Brüssel und Berlin nach NRW holen, aber auch mehr
private Investitionen anstoßen. Die Transformation ganzer
Sektoren steht an: Energie, Mobilität, Industrie, Gebäude
– überall müssen wir die Emissionen reduzieren.
Das ist eine Mammutaufgabe, für die immense Mittel und
Investitionen benötigt werden. Unsere Zielgruppe sind all
diejenigen, die jetzt handeln und umsetzen wollen – im
kleinen wie im großen Maßstab“, sagt Hauke. Dafür hat
ein FDP-Minister aus einer neutralen Dienstleistungsagentur
nun eine stärker steuerbare Landesgesellschaft gemacht.
BUCH EINS
4 | Schwerpunkt
AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
Gefährlicher
Parkplatzmangel
Viele Lastwagen, zu wenige Stellplätze:
Unterwegs mit der Autobahnpolizei
Von Manuel Glasfort
Der Streifenwagen der Autobahnpolizei nähert sich dem Parkplatz Hohe Heide an.
Kleine, unbeleuchtete Parkplätze wie dieser werden von Lkw-Fahrern mit wertvoller Fracht oft gemieden.
Martina Habeck tritt ans Führerhaus des Lkw
heran, der in der Raststätten-Ausfahrt geparkt
steht. Der Fahrer lässt die Seitenscheibe
herunter. „Können Sie bitte ein Stück
zurücksetzen?“, fordert ihn die Polizeihauptkommissarin
auf. „Das ist so zu gefährlich, wie Sie hier stehen.“
Der Fahrer ist einsichtig und setzt sein Gespann zurück.
Die Szene an einem Montagabend im Spätherbst an der
Raststätte Münsterland West spielt sich so oder so ähnlich
regelmäßig für die Beamten der Autobahnpolizei ab.
Dafür gibt es einen Grund: Die Trucker konkurrieren auf
deutschen Autobahnen Abend für Abend um knappe
Stellplätze für die Nacht, wie auch dieser Fahrer berichtet.
Zwei Rastanlagen habe er vergeblich angefahren, ehe
er hier fündig geworden sei, erzählt der Mann, der in
Flensburg losgefahren ist. Manch ein Lkw-Fahrer auf
Parkplatzsuche wird in der Not kreativ. Und während die
Polizisten gelegentlich Notlösung tolerieren, müssen sie
einschreiten, sobald die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer
gefährdet wird. „Wir müssen immer schauen,
dass der Durchgangsverkehr frei bleibt, gerade für die
Rettungskräfte“, sagt Habeck.
Mehr als 200 Polizisten der Autobahnpolizei des
Polizeipräsidiums Münster überwachen das Streckennetz
im Regierungsbezirk Münster. Dazu gehören Abschnitte
von A1, A2, A30, A31, A42, A43 und A52.
Insgesamt gilt es, 353 Betriebskilometer zu überwachen
– je Fahrtrichtung. Hinzu kommen autobahnähnliche
Bundesstraßen. Zum Aufgabenspektrum gehören
die Verkehrsüberwachung, die Unfallaufnahme, die
Begleitung von Schwertransporten, die Kriminalitätsbekämpfung
– und eben auch die allabendliche Kontrolle
von 10 Tank- und Rastanlagen und 62 Parkplätzen.
„WIR MÜSSEN
IMMER
SCHAUEN,
DASS DER
DURCH-
GANGSVER-
KEHR FREI
BLEIBT,
GERADE
FÜR DIE
RETTUNGS-
KRÄFTE.“
Martina Habeck,
Polizeihauptkommissarin
Der Mangel an Stellplätzen ist ein bundesweites Phänomen,
aber an bestimmten Strecken stärker ausgeprägt als
an anderen. Die A1 als vielbefahrene Nord-Süd-Verbindung
zählt zu den stärker betroffenen Autobahnen.
Die Situation ist seit Jahren bekannt – getan hat sich nach
Einschätzung von Habeck wenig: „Es ist definitiv nicht
besser geworden. Das Problem ist eigentlich gleichbleibend
schlimm.“ Die Polizistin kam 2007 zur Autobahnpolizei,
wo sie knapp zehn Jahre im Wach- und Wechseldienst
arbeitete. Seit einigen Jahren ist sie in der Verkehrsunfallprävention
mit dem Schwerpunkt Autobahn
tätig. Ins Gespräch mit den Fernfahrern kommt die
45-Jährige regelmäßig auch beim Fernfahrerstammtisch
in Münster, den sie moderiert. Dort bekomme sie zu
hören, dass die Fahrer gerade in der dunklen Jahreszeit
schon ab 17 Uhr nach einem Stellplatz Ausschau halten
müssten. Die Trucker müssen ihre vorgeschriebenen
Lenk- und Ruhezeiten einhalten. Sie könne auch den
Frust der Fahrer verstehen, sagt Habeck, wenn diese eine
Pause bräuchten und keinen Platz für ihren 40-Tonner
fänden. Wenn die Lkw-Fahrer immer weiter fahren
müssten, ergäben sich daraus Folgeprobleme, Stichwort:
Sekundenschlaf.
„Für uns ist es wichtig, dass keine anderen Verkehrsteilnehmer
gefährdet werden und dass die Lkw-Fahrer
sich selbst nicht gefährden. Die Lenk- und Ruhezeiten
sind ja auch zum Schutz der Fahrer gedacht, nicht nur
zum Schutz von anderen“, sagt Habeck. Nicht immer ist
es damit getan, dass der Fahrer sein Gespann ein paar
Meter versetzt, wie im Falle des Flensburgers. Manchmal
stehen die Lastwagen derart verboten, dass die Polizei
einen Platzverweis aussprechen und den Fahrer zum
Weiterfahren auffordern muss. „Es ist natürlich besonders
gefährlich, wenn Lkw bis in die Zufahrten der Parkplätze
stehen, unbeleuchtet, als Hindernis nicht zu erkennen
und dann fast mit dem Heck in die Hauptfahrbahn rein
ragen“, sagt Habeck. Immer mal wieder komme es auch
vor, dass Fahrer sich mit ihren Lastzügen einfach auf den
Seitenstreifen der Fahrbahn stellen. Und sobald einer den
Anfang gemacht habe, so Habeck, sinke die Hemmschwelle
für alle anderen. „Da versuchen wir natürlich
sofort, alle weiterzuschicken. Denn das ist zu gefährlich.“
Die meisten ermahnten Fahrer sind einsichtig, doch
manche reagieren aufbrausend. Kein Wunder: Spricht die
Polizei ein Platzverbot aus und fordert den Fahrer zur
Weiterfahrt auf, ist das für ihn in doppelter Hinsicht ein
Problem. Erstens registriert der digitale Fahrtenschreiber,
wenn der Lastwagen bewegt wird. „Da reicht eine kleine
Strecke umsetzen aus, dass die mangelnde Pause als Fehler
und Verstoß angezeigt wird“, sagt Habeck. Zweitens muss
der Fahrer einen neuen Platz für sein Gespann finden und
dafür zur Not runter von der Autobahn. Und nicht alle
Stellplätze sind bei den Truckern gleich begehrt: Wer
wertvolle Fracht geladen hat, meidet kleine, unbeleuchtete
Parkplätze, um Planenschlitzern zu entgehen, die im
Dunkeln die Ladefläche leer räumen. Dagegen sind Stellplätze
auf Autohöfen neben der Autobahn zwar sicherer,
dafür aber auch kostenpflichtig.
Habeck klingt etwas resigniert, wenn sie sagt:
„Wir müssen mit den Gegebenheiten umgehen.“ Die
Polizei müsse mit den Fahrern ins Gespräch kommen
„und denen klarmachen, dass wir zwar die Not verstehen,
aber trotzdem niemals ein anderer Verkehrsteilnehmer
gefährdet werden darf.“ An diesem Abend bleibt die
Lage vergleichsweise ruhig: Platzverweise muss Habeck
nicht erteilen.
DEZEMBER 2021 / AUSGABE 6
BUCH EINS
Schwerpunkt | 5
ASPEKTE
Angebot und Bedarf an Lkw-Stellplätzen
94.119
Hauptkommissarin Martina Habeck stellt sicher, dass
parkende Lkw nicht zum Sicherheitsrisiko für andere
Verkehrsteilnehmer werden. Fotos: Marco Stepniak
68.139
53.871
71.343
60.410
Fehlbestand
23.300
70.772
2008
2013
2018
abgestellte Lkw
verfügbare Lkw-Stellplätze
Quelle: Bundesanstalt für Straßenwesen
Knappes Gut: Lkw-Stellplätze
Es ist wie bei der Reise nach Jerusalem – nur dass es nicht um Stühle geht,
sondern um Lkw-Plätze. Abend für Abend konkurrieren Fernfahrer an
deutschen Autobahnen um einen Platz für ihr Gespann, in dem sie übernachten.
Die Bundesanstalt für Straßenwesen beobachtet die angespannte Situation
seit Jahren. Bei ihrer jüngsten Zählung im Jahr 2018 fehlten bundesweit
23.300 Stellplätze. Zwar ist die Kapazität entlang der deutschen Autobahnen
über die Jahre deutlich gewachsen, doch mit dem stark zunehmenden Bedarf
konnte das Angebot nicht Schritt halten (siehe Grafik).
Prekäre Lage in NRW
Besonders prekär sind die Verhältnisse nach den Erkenntnissen der Bundesanstalt
für Straßenwesen in Bayern und Nordrhein-Westfalen. So zählten die
Studienautoren in NRW 9734 Stellplätze für Lastwagen, hauptsächlich an
bewirtschafteten und unbewirtschafteten Rastanlagen, aber auch an Autohöfen
neben der Autobahn. Das reicht nicht annähernd, um den Bedarf zu decken:
13.526 abgestellte Lkw wurden pro Nacht im Durchschnitt gezählt. Mit anderen
Worten: Es quetschen sich deutlich mehr Lkw auf die Rastanlagen,
als eigentlich vorgesehen. „Wildes Parken“ gefährdet im schlimmsten Fall
die Verkehrssicherheit.
Bitte ein Stück zurücksetzen: An dieser Raststättenausfahrt hat sich ein Fahrer mit seinem
Sattelzug für Martina Habecks Geschmack etwas zu weit vorgewagt.
Bund fördert Privatinvestoren
Der ADAC-Verkehrsexperte Jürgen Berlitz betont: „Ein weiterer zügiger
Ausbau der Lkw-Stellplatzkapazitäten ist zwingend erforderlich. Zu oft sind
Lkw-Fahrer gezwungen, ihr Fahrzeug auf dem Standstreifen oder in Ausfahrten
von Rastanlagen abzustellen. Dies führt zu einer massiven Gefährdung der
Verkehrssicherheit.“ Der Bund ist inzwischen dazu übergegangen, den Bau
neuer Lkw-Stellplätze durch Privatinvestoren zu fördern. 90 Millionen Euro
will er in den nächsten vier Jahren für die Schaffung von 4000 zusätzlichen
Plätzen zur Verfügung stellen. Das teilte das Bundesverkehrsministerium im
Dezember vergangenen Jahres mit. Das Programm ist inzwischen angelaufen.
Gebaut werden Plätze im Drei-Kilometer-Radius von Autobahn-Anschlussstellen.
Es werde nun erstmals auch in den Ausbau von Stellplätzen auf Autohöfen
und in Gewerbegebieten investiert, teilte Bundesverkehrsminister
Scheuer mit. Die ersten Förderbescheide ergingen im September dieses Jahres
an drei Projekte in Hessen und Baden-Württemberg.
Allerdings räumt auch der ADAC ein, dass die Förderung von Privatinvestoren
nur einen kleinen Beitrag zur Behebung des Stellplatzdefizits beisteuern
kann. Linderung des Problems verspricht sich der Bund auch von der Einführung
eines „telematisch gesteuerten Kompaktparkens“, das helfen soll, vorhandenen
Parkraum besser auszunutzen.
Ihre Meinung zum Thema? Schreiben Sie uns!
Per E-Mail: redaktion@landschaft-westfalen.de oder Post:
Redaktion Landschaft Westfalen, Hülsebrockstraße 2–8, 48165 Münster
BUCH EINS
6 | Berichte AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
Gemeindefinanzierung:
Zuspruch für Gesetz
Paderborn. Die kreisangehörigen
Städte und Gemeinden sehen im
Entwurf der NRW-Landesregierung für
das nächste Gemeindefinanzierungsgesetz
(GFG) wichtige Verbesserungen.
Die Mitglieder des Finanzausschusses
des Städte- und Gemeindebundes
(STGB) NRW diskutierten bei einem
Treffen in Paderborn mit Ina Scharrenbach,
Ministerin für Heimat, Bauen,
Kommunales und Gleichstellung, die
drängendsten finanzpolitischen
Themen. „Der Anteil des kreisangehörigen
Raums an den Zuwendungen
des Landes schrumpft seit Jahren.
Mit den Änderungen im Gesetzentwurf
erkennt die Landesregierung
nun die realen Unterschiede bei den
Einnahmen-Potenzialen der Kommunen
an”, sagte Jürgen Frantzen,
Vorsitzender des StGB-Finanzausschusses.
Eine Großstadt habe durch
die direkte Anbindung an Verkehr und
Logistik Wettbewerbsvorteile, die eine
Gemeinde im ländlichen Raum nur
über niedrige Steuersätze kompensieren
könne. Wenn nun durch das neue
GFG bei der Berechnung von Finanzkraft
und Bedarf einer Kommune
zwischen Großstadt und kreisangehörigem
Raum differenziert werde,
mache dies den kommunalen
Finanzausgleich ein großes Stück
gerechter.
Bielefelder fahren
günstig
Bielefeld. Der ADAC hat die Preise
für Bus und Bahn in deutschen Großstädten
unter die Lupe genommen.
Auch die westfälischen Städte Bielefeld,
Dortmund und Bochum sind im
Preisvergleich dabei. Bielefeld kann
beim Preis für eine Wochenkarte für
Erwachsene punkten. Mit 23,50 Euro
liegt die Stadt in Ostwestfalen mehr
als drei Euro unter dem Bundesdurchschnitt
(27,15 Euro). Nur in Dresden
und München fahren die Bürger
noch günstiger. In Bochum und
Dortmund müssen die Menschen mit
29,50 Euro dagegen tiefer für eine
Wochenkarte in die Tasche greifen.
Nur in Hamburg und Berlin wird es
noch teurer. In den Kategorien Einzelfahrten,
Tages- und Monatskarte
für Erwachsene liegen die westfälischen
Städte im Bereich des Durchschnitts.
Die Untersuchung des ADAC
zeigt, dass die Preisgestaltung im
öffentlichen Nahverkehr sehr heterogen
ist.
Tecklenburger Nordbahn
kehrt zurück
Steinfurt. Auf der Tecklenburger
Nordbahn könnten bald wieder regelmäßig
Züge fahren. Der Zweckverband
Nahverkehr Westfalen-Lippe
will die stillgelegte Eisenbahnstrecke
zwischen Osnabrück und Recke im
Kreis Steinfurt reaktivieren. Das Land
stellt dafür eine Förderung in Aussicht,
kündigt das NRW-Verkehrsministerium
an. Gelingt dieser Plan,
dann könnten Züge im 30-Minuten-
Takt zwischen Osnabrück Hauptbahnhof
und Recke fahren, heißt es. Vier
Gemeinden im Kreis Steinfurt würden
durch die Tecklenburger Nordbahn
besser ans Bahnnetz angekoppelt
werden: In Recke, Mettingen-Schlickelde/Espel,
Mettingen, Westerkappeln,
Lotte-Wersen, Lotte-Büren
Kromschröder und Lotte-Büren/
Eversburg sind neue Stationen vorgesehen.
Im weiteren Verlauf sollen die
Züge an den Stationen Osnabrück
Altstadt und Osnabrück Hauptbahnhof
halten. Rund 41,8 Millionen Euro
sind für die Reaktivierung der Strecke
und der Stationen veranschlagt.
IBBENBÜREN
Süße gemeinsame Sache
Berufsimker vermarkten ihren Honig
künftig über eine Genossenschaft
Von Stefan Legge
Kirche 2040 klimaneutral
Bielefeld. Die Evangelische Kirche
von Westfalen (EKvW) will bis 2040,
eventuell sogar schon bis 2035, klimaneutral
werden. Das beschloss ihre
Landessynode, wie die Kirche am
Samstag mitteilte. Ob der frühere
Zeitpunkt möglich ist, werde geprüft.
Der Zeitplan stimme mit einem
aktuellen Beschluss der Synode der
Evangelischen Kirche in Deutschland
(EKD) überein. „Wir müssen jetzt
entschlossen handeln, damit unserer
Kinder und Kindeskinder nicht ihrer
natürlichen Lebensgrundlage beraubt
werden“, sagte Präses Annette Kurschus.
Mobilität, Beschaffung oder
auch der Umgang mit Pachtland und
Wald müsse neu gedacht werden, sag-
Gebäude sind ein wichtiger Faktor beim Thema Klimaneutralität.
Foto: Shutterstock
Imker Maximilian Urban hat sich mit Imkerkollegen in einer
Genossenschaft zusammengetan. Foto: Summstoff eG
te der Dezernent für gesellschaftliche
Verantwortung, Jan-Dirk Döhling.
Gebäude seien dabei der wichtigste
Faktor: „Sie machen 80 Prozent unserer
Emissionen aus und müssen ins
Zentrum der Veränderung rücken.“
Kurzfristig sollen erste Klimaschutz-
Managerinnen und -Manager in den
Kirchenkreisen eingesetzt werden –
unterstützt von Fachleuten auf landeskirchlicher
Ebene.
Die Landessynode, in der die 465
Gemeinden vertreten sind, ist das
höchste Gremium der EKvW. Unter
Leitung von Kurschus tagten die insgesamt
193 Mitglieder in diesem Jahr
erstmals in einer Frühjahrs- und einer
Herbstsynode. dpa
Wir Berufsimker haben alle das
gleiche Problem“, sagt Maximilian
Urban. „Um davon leben zu können,
müssen wir so viel Honig erzeugen,
dass wir ihn nicht mehr direkt an
der Haustür verkaufen können. Dafür
ist die Menge einfach zu groß.“ Anders
als ihre Hobbyimkerkollegen
seien die Berufsimker dann gezwungen,
an den Großhandel zu verkaufen.
„Der orientiert sich am Weltmarktpreis“,
weiß Urban. Auch wenn für
Ware aus Deutschland noch deutlich
mehr bezahlt werde als für Honig aus
China oder Argentinien, Preise um
die 3,50 Euro pro Kilogramm seien
einfach zu wenig.
Vier Berufsimker haben daher etwas
sehr Naheliegendes getan, sie haben
sich zusammengeschlossen. Die
Summstoff Imkergenossenschaft eG
aus Ibbenbüren will den Honig ihrer
rund 1000 Bienenvölker künftig gemeinsam
vermarkten. „Jeder von uns
ist als Einzelkämpfer zu klein, um direkt
an den Lebensmitteleinzelhandel
heranzutreten. Gemeinsam können
wir aber immer ausreichend Ware bereithalten“,
erklärt Maximilian Urban,
der das Projekt gemeinsam mit seinem
Vater Michael federführend betreut.
Zudem sei eine moderne Maschinenausstattung
mit Schleuderstraße und
Weiterverarbeitung für einen einzelnen
Imkereibetrieb viel zu teuer.
„Durch den Zusammenschluss
konnten wir uns technisch viel besser
aufstellen“, sagt Urban. Auch sei die
Hürde von Audits und Zertifizierungen
gemeinsam leichter zu nehmen
gewesen als allein. Dabei geben die
Imkereien ihre Eigenständigkeit und
Oetker-Umbau abgeschlossen
Bielefeld. Die nach einem jahrzehntelangen
Streit um die Ausrichtung von
Dr. Oetker im Juli angekündigte Aufspaltung
der Oetker-Gruppe in zwei
Teile ist vollzogen. Dies teilten die
beiden neuen Unternehmensgruppen
in Bielefeld mit.
Die Gesellschafter Alfred, Carl
Ferdinand und Julia Johanna Oetker
übernehmen unter einem gemeinsamen
Dach unter anderem die Töchter
Henkell & Co. Sektkellerei, die Martin
Braun Backmittel KG, die Chemiefabrik
Budenheim, einige Häuser aus
der Hotelsparte sowie die Kunstsammlung
August Oetker. Die Gruppe
wird geführt von der Geschwister
Oetker Beteiligungen KG. Der umsatzstärkste
Teil mit Lebensmitteln
(Pizzen, Backmischungen, Tiefkühltorten
und Pudding), die Radeberger
auch die Eigenarten ihres Honigs nicht
auf. Zwar wird er unter der Marke
Summstoff mit einheitlichen Etiketten
und Gläsern vermarktet. Per QR-Code
kann die Herkunft des Honigs aber zu
jedem einzelnen Betrieb zurückverfolgt
werden. „Die klare Herkunftskennzeichnung
und die Regionalität
unterscheidet uns ja gerade von den
Billigprodukten aus anderen Teilen der
Welt“, sagt Urban.
Das Interesse anderer Berufsimker
bei Summstoff mitzumachen, sei groß.
Michael Urban ist daher optimistisch,
dass er schon bald weitere Mitstreiter
hinzugewinnen wird. Und auch die
Kunden haben die Möglichkeit, das
Unternehmen zu fördern. „Über eine
Genussrechtsbeteiligung bieten wir
eine Kapitalverzinsung von bis zu vier
Prozent und eine Naturalverzinsung
in der gleichen Größenordnung“, sagt
Urban. Die Wachstumsziele sind ehrgeizig
gewählt. Bereits im Jahr 2024
will die Genossenschaft über eine Million
Euro Umsatz machen.
In sechs Rewe-Märkten bei Osnabrück
steht der Summstoff-Honig
bereits. Die Listung bei Edeka steht
kurz bevor. „Wir wollen jetzt Schritt
für Schritt unsere Absatzwege erweitern.
Auch der Verkauf in Raiffeisenmärkten
ist angedacht“, sagt Urban.
Mittelfristig könnten sich noch weitere
Vorteile für die Mitgliedsbetriebe
ergeben. „Im Moment fahren wir
unsere Bienen vom Münsterland nach
Brandenburg oder Süddeutschland.
Nur um beispielsweise Waldhonig im
Sortiment zu haben. Wenn wir uns
gegenseitig ergänzen, können diese
Wege in Zukunft wegfallen.“
Nur noch ein Teil der Tradition: Oetker-Schriftzug am Stammsitz in Bielefeld.
Foto: Rolf Vennenbernd/dpa
Gruppe sowie einige Hotels bleiben
in der Hand der Gesellschafterstämme
von Richard und Philip Oetker, Rudolf
Louis Schweizer, Markus von
Luttitz sowie Ludwig Graf Douglas.
Diese Gruppe wird geführt von der
Dr. August Oetker KG.
„Die Entscheidung hat keine Auswirkungen
für die Mitarbeiter in den
einzelnen Unternehmen der Oetker-
Gruppe“, hatte es bereits im Juli geheißen.
Für Dr. Oetker und seine
Tochterfirmen arbeiteten Ende 2020
weltweit rund 37.000 Beschäftigte.
2020 hatte Dr. Oetker einen Umsatz
von mehr als 7,3 Milliarden Euro vermeldet.
Anfang Oktober hatte die
seinerzeit noch ungeteilte Gruppe
mitgeteilt, dass das Bankhaus Lampe
an die Hauck & Aufhäuser Privatbankiers
AG verkauft worden sei. dpa
DEZEMBER 2021 / AUSGABE 6
BUCH EINS
Berichte | 7
SÜDWESTFALEN
Utopien für den ländlichen Raum
Junge Leute arbeiten in Zukunftskonferenzen an ihrer Vision von Heimat
Von Stefan Legge
Fünf Kreise, fünf Utopia-Veranstaltungen
– Jugendliche und junge
Erwachsene in Südwestfalen sind auch
im kommenden Jahr aufgerufen, kreativ
über ihre Zukunft in der Region
nachzudenken. Soll es ein bedingungsloses
Dorfeinkommen geben? Welche
Chancen bietet autonomes Fahren?
Was ist ein Digital Hero? Über die Jahre
sind in Südwestfalen schon einige
Ideen zusammengekommen, und das
Format hat sich etabliert.
„Was bewegt euch zum Gehen,
was zum Bleiben? Und was müsste
passieren, damit die Region für euch
spannend ist?“ Diese Fragen hat Stephanie
Arens bereits 2010 an junge
Leute herangetragen. Die Prokuristin
der Südwestfalen Agentur hat Filmprojekte
und Schulwettbewerbe initiiert.
„Wir wollten den Dialog mit
den jungen Leuten aber auf nachhaltige
Füße stellen und sie noch stärker
in die Gestaltung der Region mit einbeziehen“,
sagt Arens.
Aus dieser Überlegung ist eine Jugendkonferenz
und Denkwerkstatt
entstanden. Ihr Name: Utopia. Ihre
Idee: Junge, kreative Köpfe aus südwestfälischen
Städten und Dörfern
sagen, was sie stört – und entwickeln
Projekte, Gedanken und Ideen, wie
sich die Region in den kommenden
Jahren verändern kann und soll.
Rabea Leikop ist ein kreativer Kopf.
Die 26-jährige Angestellte aus Brilon
engagiert sich seit zwei Jahren bei Utopia.
„Die Chance darüber nachzudenken,
was ist cool, was ist uncool, und
neue Ideen zu entwickeln, hat mich
sofort angesprochen“, sagt sie. Die
Bandbreite der diskutierten Themen
sei enorm. „Wir reden über Mobilität,
Arbeitswelt, Digitalisierung oder
Nachhaltigkeit.“ Die Heimatliebe sei
bei vielen jungen Menschen in der Region
groß. Daher lohne es sich, über
Verbesserungen nachzudenken.
Praktika in Unternehmen
Dass die Utopien der jungen Leute
auch Wirklichkeit werden, zeigt das
„Gap Year Südwestfalen“. Ein Programm,
das Schülerinnen und Schülern
oder Studierenden nach ihrem
Abschluss ein Jahr mit drei verschiedenen
Praktika in drei heimischen
Unternehmen ermöglicht. Die Idee
dazu ist in einer Utopia-Zukunftskonferenz
entstanden. Ebenso wie ein
Tischkalender zu gendergerechter
Sprache, der mit jungen Leuten ent-
Auch beim Utopia Day in Rüthen entwickelten junge Leute neue Ideen
für ihre Heimat. Foto: Südwestfalen Agentur
wickelt wurde und über die Südwestfalen
Agentur vertrieben wird.
Durch Sitz und Stimme im Beirat
der Regionale 2025 habe man zudem
echten Gestaltungsspielraum. „Wir
entscheiden mit, welche Projekte vor
Ort umgesetzt werden“, sagt Leikop,
die sich im Utopia-Beirat engagiert. In
einer „Höhle der Löwen“ bei den Utopia
Days gebe man den Projektträgern
auch schon vorab Hinweise, wie die
Belange der jungen Leuten noch stärker
berücksichtigt werden können.
Die Präsenz in allen fünf Kreisen
im kommenden Jahr ist auch der Versuch,
noch mehr Mitstreiter für Utopia
zu gewinnen. „Wir sind mit der
Resonanz bisher zufrieden, aber es
könnten immer noch mehr Teilnehmende
sein“, so Rabea Leikop.
Stephanie Arens zieht ein positives
Zwischenfazit: „Die Utopist:innen
haben – aus ihrer aktuellen Lebenssituation
heraus – eine eigene
Haltung und ein eigenes Verständnis
für die Herausforderungen und Chancen
unserer Region und finden über
die Utopia einen Weg, diese auch zu
formulieren und damit aktiv an der
Zukunftsgestaltung in Südwestfalen
mitzuwirken. Genau deshalb ist dieses
Projekt so wichtig.“
Lobby-Vertretung der
Exil-Sauerländer
in Berlin gegründet
Berlin. Sie kommen aus verschiedenen
Parteien, machen sich in Berlin
aber für dieselbe Heimat stark: Bei der
ersten Veranstaltung der neu gegründeten
„Sauerländer Botschaft“ in Berlin
stellen sich mehrere Bundestagsabgeordnete
aus der Region dem
Gespräch. Zugesagt haben nach Angaben
des Netzwerks die CDU-Politiker
Friedrich Merz und Paul Ziemiak sowie
der Schirmherr der Veranstaltung, Dirk
Wiese (SPD), und seine Fraktionskolleginnen
Nezahat Baradari, Luiza Licina-
Bode sowie Bettina Lugk und der FDP-
Politiker Carl-Julius Cronenberg.
Sie alle sind aufgefordert, bei dem
Treffen jeweils ihre politische Agenda
zu präsentieren und in den Austausch
mit den Gästen zu treten – ganz besonders
über die Belange des ländlich
geprägten Sauerlands, wie der Geschäftsführer
der „Sauerländer Botschaft“,
Michael Herma, ankündigte.
Der Verein „Sauerländer Botschaft“
versteht sich als Netzwerk für
„Exil-Sauerländer“ in Berlin und
andere, die in der Hauptstadt die
Interessen der Region vertreten wollen
– etwa Unternehmerinnen und
Unternehmer, aber auch Politiker und
Politikerinnen sowie Funktionäre von
Verbänden und anderen Institutionen.
Sauerländer und Sauerländerinnen
haben „auf viele Herausforderungen
unserer Zeit schon
heute eine Lösung“, heißt es auf der
Homepage des Vereins. Diese Ideen
und Menschen müssten vernetzt
werden. dpa
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BUCH EINS
8 | Westfalen in Zahlen
AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
Unter Strom
Eckdaten zur Energieversorgung in Westfalen
Watt und Wärme
36,8 % 194 239 56 %
Für die Erzeugung von Wärme wird
mehr Energie aufgewandt als für unseren
Strom. Anders als Strom kann
Wärme aber nicht über ein Leitungsnetz
beliebig weit transportiert werden,
sondern wird in der Regel vor
Ort erzeugt und verbraucht. Es liegen
daher wenig konkrete Statistiken dazu
vor. Im Hinblick auf den Klimaschutz
und die Umsetzung der Energiewende
hat der Wärmesektor aber mindestens
ebenso viel Potenzial.
des Stromverbrauchs
in Ostwestfalen
kann über erneuerbare Energien abgedeckt
werden. In den Regierungsbezirken
Münster (34,3 Prozent) und Arnsberg
(15,0) liegt der Anteil darunter.
tausend
Fotovoltaikanlagen
sind auf westfälischen Dächern montiert.
Das Münsterland führt mit 76.078
Anlagen vor Ostwestfalen (61.739) und
Südwestfalen (55.923) die Statistik an.
Megawatt
neu installierte
Leistung,
mehr Zubau an Windenergie gab es
2020 in Westfalen nicht. Bei einer Anlagenleistung
von 6 Megawatt sind das
nur 40 neue Windräder.
der Bruttostromerzeugung
in NRW
stammt aus Kohle.
Braun- und Steinkohle liefern mit zusammen
255.853 Terajoule weit mehr
Strom als Gas (23 Prozent) oder erneuerbare
Energien (18 Prozent).
10
Steinkohlekraftwerke
stehen in Westfalen. Außerdem gibt
es 20 Erdgas- und ein Mineralölkraftwerk.
Braunkohlekraftwerke gibt es in
Westfalen nicht.
2689
Windenergieanlagen
Andreas Pinkwart, Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie in NRW:
„Die Energiewende ist uns eine Herzenssache - aber umsetzen müssen wir sie mit
Augenmaß und kühlem Verstand. Auch der Wind schläft mal, und die Sonne versteckt
sich täglich stundenlang hinter der Erdkugel. Das heißt: Bis unsere Ingenieure große
Speicher entwickelt haben, brauchen wir Gas- und Kohlekraftwerke.“
8526
Stromertrag je Regierungsbezirk
im Jahr 2020 aus erneuerbaren Energien
Wind (GWh/a)
waren Ende des Jahres 2020 in Westfalen
in Betrieb; je rund 1000 in den
Regierungsbezirken Detmold und
Münster, im Regierungsbezirk Arnsberg
stehen 626 Anlagen.
4668
3234 3355
1517 997
3609
Biomasse (GWh/a)
PV-Dachfläche (GWh/a)
1829 1439 1562 1322 798
70 %
Westfalen
Detmold
Münster
Arnsberg
der Energie,
die in Nordrhein-Westfalen aus
Rohstoffen gewonnen wird, stammt
aus Braunkohle. Nur 17 Prozent aus
erneuerbaren Energien. Mit dem
Ende der Steinkohleförderung geht
die Primärenergiegewinnung stetig
zurück.
Stromverbrauch und Wärmebedarf
im Jahr 2020 nach Regierungsbezirken
Detmold
16.553
29.548
159
Münster
21.134
30.891
Hektar
Arnsberg
28.832
46.855
werden im Regierungsbezirk Detmold
für Freiflächen-Fotovoltaikanlagen
in Anspruch genommen. Im
Münsterland sind es 75, in Südwestfalen
63 Hektar.
Quellen: LANUV, ITNRW
Westfalen
66.519
107.294
Stromverbrauch
(GWh/a)
Wärmebedarf
Raumwärme (GWh/a)
AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
www.landschaft-westfalen.de
BUCH ZWEI
Bochum: Alexander Richters Leben für den Fußball Seite 11 | Oberkirchen: Familie Feldmann-Schütte und ihre Bäume Seite 12 |
Westfalen: Hebammen schlagen Alarm Seite 15 | Münster: Fotograf Pan Walther und das Prinzip Licht Seite 16
SAUERLAND
Es grünt
so grün
Das Sauerland ist das
größte Anbaugebiet
für Weihnachtsbäume
Von Nicole Ritter
Am Wimpel zu erkennen: Sauerländer Weihnachtsbaum kurz vor der Ernte. Foto: David Inderlied/dpa
Die Preise für Weihnachtsbäume aus dem Sauerland
werden nach Einschätzung der Erzeuger zu
diesem Fest allenfalls leicht anziehen. „Die Preisspanne
liegt voraussichtlich zwischen 21 und
27 Euro pro laufendem Meter für eine Nordmanntanne“,
sagte Eberhard Hennecke, Vorsitzender der Fachgruppe
Weihnachtsbaum- und Schnittgrünerzeuger im Landesverband
Gartenbau NRW am Dienstag. Im vergangenen
Jahr war die Preisspanne mit rund 20 bis 25 Euro etwas
niedriger taxiert worden. Gestiegene Kosten bei Lohn,
Energie und Betriebsmitteln sorgten vor allem im Sortiment
der größeren Bäume für leichte Preissteigerungen.
Für Blautannen erwarten die Weihnachtsbaumerzeuger
einen Preis von 12 bis 16 Euro und für Fichten von 9 bis
12 Euro pro laufendem Meter.
Zur Eröffnung der diesjährigen Saison für den Weihnachtsbaumverkauf
im westfälischen Anröchte blickten
die Erzeuger auf ein gutes Jahr zurück: Dank ausreichenden
Regens und frostfreiem Frühling gebe es „gute Qualitäten
in allen Größen“, hieß es. Es sei davon auszugehen, dass
die Nachfrage der Verbraucher wie schon im vergangenen
Jahr erneut hoch sei. Echte Weihnachtsbäume seien weiterhin
im Trend – allein zur Vermeidung von Plastik, aber
eben auch, weil es sich um ein emotionales Produkt handele.
Der beliebteste Baum zum Fest sei weiterhin die
Nordmanntanne, gefolgt von Blaufichte und Nobilis. Immer
mehr Kunden kauften dabei direkt ab Hof: 25 Prozent
der Bäume werden dem Verband zufolge inzwischen bei
landwirtschaftlichen Betrieben gekauft.
Das Sauerland gehört zu den größten Anbaugebieten
für Weihnachtsbäume in Europa. Sie wachsen hier auf
einer Fläche von etwa 18.000 Hektar. Zuletzt seien rund
7 Millionen Weihnachtsbäume von dort pro Jahr verkauft
worden. In Deutschland werden jährlich 23 bis 25 Millionen
Weihnachtsbäume verkauft. mit dpa
Einblicke in den Anbau von Weihnachtsbäumen auf den Seiten 12/13
NRW stärkt Radverkehr
Erstes deutsches Flächenland
mit eigenem Fahrradgesetz
Als erstes Flächenland in der Bundesrepublik
hat NRW nun ein
Fahrradgesetz. Der Landtag nahm den
Entwurf mit den Stimmen der
schwarz-gelben Regierungsfraktionen
an. SPD und Grüne stimmten dagegen,
die AfD enthielt sich. Der Anteil
des Radverkehrs am Verkehrsaufkommen
in Nordrhein-Westfalen soll
von derzeit etwa 9 auf 25 Prozent
gesteigert werden.
Das Gesetz geht auf den Erfolg der
Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“
zurück, die mehr als 200.000 Unterschriften
gesammelt hatte. Daraufhin
war das Gesetz vom Haus des damaligen
Landesverkehrsministers Hendrik
Wüst (CDU) ausgearbeitet worden.
Wüst ist neuerdings NRW-Ministerpräsident.
Die Volksinitiative hatte als Zieldatum
das Jahr 2025 gefordert. Im
Entwurf der Landesregierung wird
dieses Datum nicht im Gesetzestext
verankert.
Das Rad soll in NRW künftig anderen
Verkehrsmitteln gleichgestellt
werden. Auch der Bau von barriere-
freien Gehwegen wird gestärkt. Die
Planung beim Ausbau von regionalen
Radwegen soll beschleunigt werden.
Das Ziel, dass niemand im Straßenverkehr
zu Schaden kommen soll,
wurde im Gesetz verankert. Die immer
beliebteren Lastenfahrräder werden
ebenfalls berücksichtigt.
Die SPD kritisierte das Gesetz als
„unambitioniert“. Es sei nicht mehr
als eine „warme Absichtserklärung“.
Unklar sei, wie das Gesetz vor Ort von
den Kommunen nun auch umgesetzt
werden solle. dpa
Radfahren bevorzugt – Münster macht das schon lange vor. Foto: Oliver Berg/dpa
Der Synodale Weg ist lang und steinig
Viele Laien gehen voran und warten vergeblich auf ihre Hirten
BUCH ZWEI
10 | Wir in Westfalen AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
Von Monika Schmelter, Theologin und Mitgründerin der Initiative Maria 2.0
IN DEN SCHUHEN VON …
Maria Schmelter sieht wenig Interesse am Dialog. Foto: privat
Gemeinsam unterwegs zu sein, das hört sich erst einmal gut an. Denn genau
das will die römisch-katholische Kirche mit dem Synodalen Weg, einem
jahrelangen Dialogprozess in Deutschland, demonstrieren. Es soll Schluss damit
sein, dass die Hirten vorwegmarschieren, stets vorgeben zu wissen, wo es
langgeht und die Schäfchen brav hinterhertrotten. Spätestens seit der Aufdeckung
des sexuellen Missbrauchs und den ungezählten Vertuschungen durch
die Hirten haben die Schäfchen aufgeschaut und begriffen, dass die Hirten die
Orientierung verloren haben.
DÜSSELDORF
Christian Mildenberger
Geschäftsführer des Landesverbandes
Erneuerbare Energien e.V. (LEE)
Es zeichnet sich in Berlin der politische
Wille ab, künftig 2 Prozent der Landesfläche
für Windenergie zu nutzen. Ist
dieses Ziel für Westfalen realistisch?
Eindeutig ja! In ganz NRW werden bislang
nur etwa schätzungsweise 0,8 Prozent
der Landesfläche für die Windenergie
genutzt. Wenn wir vom Ruhrgebiet
absehen, gibt es im gesamten
Land noch große ungenutzte Flächenpotenziale.
Den größten Nachholbedarf
sehen wir im Regierungsbezirk Arnsberg.
Es wäre für den Klimaschutz und
auch für viele Waldbauern viel gewonnen,
wenn in einem ersten Schritt so
schnell wie möglich zumindest auf den
von Borkenkäfern geschädigten Nutzwaldflächen
Windenergieanlagen errichtet
werden könnten.
In der Vergangenheit standen oft naturschutzrechtliche
Belange dem
Ausbau der Windkraft entgegen. Lässt
sich dieser Zielkonflikt lösen?
Auf jeden Fall, indem demnächst wirklich
in jedem Bundesland zwei Prozent
der Landesfläche für die Windenergienutzung
ausgewiesen werden. Bei der
Ausweisung dieser Flächen werden
naturschutzrechtliche Belange berücksichtigt,
sodass tendenziell kritische
Standorte bei Planungen unberücksichtigt
bleiben können. Auf den zwei
Prozent der jeweiligen Landesfläche für
die Windkraft muss dann der Klimaschutz
eindeutig Vorrang haben.
DREI FRAGEN AN ...
Wie ließen sich die Genehmigungsverfahren
beschleunigen?
Die Politik und die Genehmigungsbehörden
wären wirklich gut beraten,
endlich die Chancen der Digitalisierung
für das Genehmigungsprozedere zu
nutzen. Wir müssen von der heutigen
Praxis wegkommen, dass auf Kreisebene
Windprojekte genehmigt werden.
Wir brauchen eine zentrale digitale Anlaufstelle
im Land, die alle notwendigen
Verfahrensschritte mit der erforderlichen
Kompetenz und dem Know-how
wesentlich schneller und einheitlich
umsetzen kann. Die Zeiten, in denen
Personalnot und andere Faktoren in
den einzelnen Kreisen lange Verfahren
für die Genehmigung der Windenergieanlagen
verursachen, sollten sehr bald
der Vergangenheit angehören.
Foto: LEE
Durch den gemeinsamen Weg von Klerikern und Laien sollen längst überfällige
Reformen in der deutschen Kirche auf den Weg gebracht werden, um verlorenes
Vertrauen wiederzugewinnen. Manche versprechen sich viel von diesem Prozess,
bei dem es in vier Arbeitsforen um die Themen „Macht und Gewaltenteilung“,
„priesterliche Lebensform“, „Leben in gelingenden Beziehungen“ und „Frauen
in Diensten und Ämtern“ geht. Weit mehr als 200 Delegierte engagieren sich
meist ehrenamtlich und mit großem Engagement in diesem Prozess, während
einige Bischöfe mit Spitzengehältern noch bei keiner Arbeitssitzung anwesend
waren, obwohl sie sich alle verpflichtet haben, daran mitzuarbeiten.
Ich sehe diesen gemeinsamen Weg – wie übrigens viele andere in dieser
Kirche – durchaus sehr kritisch. Zum einen setzen viele Christen und Christinnen
eine große Hoffnung auf diesen zeit- und energieintensiven Prozess
beziehungsweise die daraus resultierenden Reformen, die nur enttäuscht werden
kann, weil etliche Themen gar nicht in Deutschland entschieden werden
können. Zum anderen können vereinbarte und vorgeschlagene Reformschritte
bis zum Schluss scheitern, weil die Geschäftsordnung vorsieht, dass es eine
Zweidrittelmehrheit der Bischöfe bei der letzten Abstimmung geben muss.
Schon hier kann von „gemeinsam“ und „ergebnisoffen“ nicht mehr die Rede
sein! Und zudem ist jeder Bischof nach Abschluss dieses Prozesses völlig frei,
ob er die dort verabschiedeten Beschlüsse in seinem Bistum umsetzt oder zu
Hause in der Schublade ablegt, wo bereits zig andere Reformpapiere vergilben.
Kritik und Skepsis an diesem Synodalen Weg sind wohl angebracht. Die
einen unken, der Prozess sei schon gescheitert, bevor er zu Ende sei, die anderen
gießen noch das zarte Pflänzchen Hoffnung. Fast tragisch scheint mir allerdings
zu sein, dass es viele Menschen überhaupt nicht mehr interessiert. Durch
einen jahrzehntelangen Reformstau haben sich sehr viele engagierte Menschen
von dieser Kirche verabschiedet, die neuesten Austrittszahlen liegen auf Rekordniveau.
Dabei hätte die Botschaft Jesu für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt
unglaublich viel beizutragen.
Foto: VM/Ralph Sondermann
Neue Ministerin
für Verkehr
… ist Ina Brandes. Die 44-jährige gebürtige
Dortmunderin war bisher für
den schwedischen Planungskonzern
Neue Direktorin
für die Pflege
Foto: privat
… in den LWL-Fachkliniken in Dortmund
und Marl-Sinsen ist Kristin
Assmann. Die 42-jährige gebürtige
Papenburgerin arbeitete nach einer
Ausbildung zur Kinderkrankenschwester
zunächst als Stationsleiterin
und schloss ein berufsbegleitendes
Pflegemanagement-Studium an der
Hochschule Osnabrück an. Die beiden
Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
-psychotherapie und -psychosomatik
bieten insgesamt 154
vollstationäre Behandlungsplätze an
und betreuen zusätzlich sechs Tageskliniken.
Der Pflege- und Erziehungsdienst
stellt 205 der 480 Klinikmitarbeitenden.
Sweco tätig; zuletzt als Sprecherin der
Geschäftsführung. Sie tritt die Nachfolge
von Hendrik Wüst an, der zum
CDU-Vorsitzenden und neuen Ministerpräsidenten
in Nordrhein-Westfalen
gewählt wurde. Anlässlich ihrer
Berufung sagte Brandes: „Die Nordrhein-Westfalen-Koalition
hat in den
vergangenen Jahren Rekordsummen
in Schiene, Straße und Radwege investiert,
um den Sanierungsstau der
Vergangenheit aufzulösen und den
Menschen bessere, sichere und saubere
Mobilitätsangebote zu machen.
Diesen pragmatischen und ideologiefreien
Kurs werde ich als neue Verkehrsministerin
Nordrhein-Westfalens
konsequent fortführen.“ Ihr Ministerium
fördert unter anderem neue
Forschungsprojekte zur Mobilität auf
dem Land und zum autonomen Fahren.
Neue Direktorin
des Museums
… Marta Herford ist Kathleen Rahn.
Sie folgt auf Roland Nachtigäller, der
das Haus zum Jahresende verlassen
wird. „Das Marta Herford ist ein außergewöhnliches
Museum und durch kluge
und herausragende Architektur sowie
die programmatische Gestaltung
meiner Vorgänger ein profiliertes Haus
mit internationaler Strahlkraft“, sagte
die Kunstwissenschaftlerin. Es sei ihr
eine große Ehre, dass sie diese reizvolle
Arbeit weiterführen und neue Impulse
setzen dürfe. Die 48-Jährige wurde
in Wesel geboren und lebt derzeit
mit ihrer Familie in Hannover.
Foto: Sebastian Golnow/dpa
… Christian Haase,
Parlamentarier
Foto: Deutscher Bundestag/Inga Haar
Die kommunale Selbstverwaltung ist
Christian Haase ein Herzensanliegen.
„Grundlage unseres Politikverständnisses
ist der Subsidiaritätsgedanke“,
sagt der Christdemokrat aus Beverungen
und spricht damit für die Kommunalpolitiker
der CDU und CSU.
Gerade ist er als kommunalpolitischer
Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
im Amt bestätigt worden.
Bevor Haase 2013 das Direktmandat
für den Bundestag in seinem
Wahlkreis Höxter/Lippe II erstmals
erringen konnte, hat er die kommunale
Verwaltung von der Pike auf
gelernt. Mit 16 Jahren begann er bei
der Kreisverwaltung in Höxter, qualifizierte
sich weiter und wurde als
Diplomverwaltungswirt erst Beigeordneter
und dann Bürgermeister
der Stadt Beverungen.
Er weiß, wo bei den Kommunen
der Schuh drückt: „Entscheidend für
einen erfolgreichen Föderalismus
sind klare Strukturen und Zuständigkeiten
sowie die zur Aufgabenerfüllung
erforderlichen Mittel – im Besonderen
die notwendigen Finanzmittel.“
Förderprogramme des Bundes entpuppten
sich immer wieder als „goldene
Zügel“, weil der Bund nicht nur die
Mittel bereitstelle, sondern auch mitbestimme,
wie diese Mittel verwendet
würden. „Hinzu kommt, dass
Förderprogramme die Schere zwischen
finanzstarken und finanzschwachen
Kommunen weiter öffnen, da finanzschwache
Kommunen sich oftmals
den nötigen Eigenanteil nicht leisten
können. Kommunalpolitik muss
mehr Instrumente für die Gestaltung
vor Ort erhalten. Überbordende Bürokratie,
Förderdschungel und Finanzkorsett
haben uns schwer zu schaffen
gemacht. Mit neuem Elan müssen wir
vor Ort wieder die Innovationsmotoren
werden.“
Ob in der Regierungsfraktion oder
in der Opposition – Haase fühlt sich
dem ländlichen Raum verpflichtet:
„Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse
ist mir wichtig. Auch auf
dem Land müssen Wirtschaft und
Infrastruktur funktionieren. Dabei
spielt die Landwirtschaft weiterhin
eine große Rolle – nicht mehr nur als
regionaler Versorger mit Lebensmitteln,
sondern als Wirtschaftskraft,
Tourismusfaktor, wichtiger Akteur
der Energiewende, Teil des Ökosystems
und kulturelle Stütze des Gemeinwesens.“
sle
DEZEMBER 2021 / AUSGABE 6
BUCH ZWEI
Porträt | 11
Im Bochumer Ruhrstadion wird nach elf Jahren endlich wieder Bundesligafußball gespielt. Alexander Richter hat hinter der Haupttribüne sein Büro. Fotos: Marco Stepniak
BOCHUM
Typ Trainer
Alexander Richter hat sich im Leben durchgebissen – das verlangt er auch
von den Talenten, die er beim VfL Bochum 1848 zu Bundesligaspielern formt
Von Stefan Legge
Die Sonne ist so gar nicht verstaubt an diesem Morgen an der
Castroper Straße. Hier, wo die Fans bei den Heimspielen des
VfL Bochum 1848 die Hymne von Herbert Grönemeyer und
damit ihre Heimatstadt Bochum besingen. Hier, wo in dieser
Saison nach elf Jahren endlich wieder Bundesligafußball gespielt
wird. Die Aussicht vom vierten Stock des Bürogebäudes am Ruhrstadion
ist ungetrübt – die Arenen in Gelsenkirchen und Dortmund sind gefühlt
nur einen Steinwurf entfernt. Kein Zweifel: Hier ist man mittendrin
im Fußball-Westen.
Alexander Richter hat hier oben sein Büro. Seit 2008 leitet er die Jugendarbeit
des Vereins. Beim VfL nennen sie ihr Nachwuchsleitungszentrum
„Talentwerk“. Die Nationalspieler Ilkay Gündogan, Lukas Klostermann und
Leon Goretzka haben hier Tempoläufe, Umschaltspiel und Pässe in die Tiefe
trainiert. Hier haben sie das Rüstzeug für die Champions League bekommen.
Überdurchschnittlich viele Bochumer Nachwuchskicker schaffen den
Sprung zu den Profis. Von Fußball-Glamour oder gar Überheblichkeit ist
hier aber keine Spur. „Ich weiß, wo ich herkomme“, sagt der 51-jährige
Familienvater Richter, der mittlerweile in Datteln wohnt.
„Wenn dein
Heimatverein
dich fragt,
überlegst
du genau
zwei Sekunden.“
Alexander Richter
Für die Talente gibt es in Bochum
ein eigenes Trainingsgelände.
„Natürlich habe ich auch davon geträumt Profi zu werden“
In Bochum-Hofstede aufgewachsen, kam er als Nachwuchskicker über seinen
Heimatverein SV Phönix Bochum zum VfL. „Natürlich habe ich auch davon
geträumt, Profi zu werden, aber in der A-Jugend wurde ich dann aussortiert.
Damals hat das wehgetan, im Nachhinein war das aber eine ganz wertvolle
Erfahrung. Wenn ich heute mit Jugendlichen diese Gespräche führe, weiß ich
genau, wie sich das anfühlt.“
Er bleibt trotzdem weiter am Ball. Als Spieler und als Trainer. Schon als
19-Jähriger beginnt er bei Westfalia Herne die E-Junioren zu coachen und
arbeitet sich hoch bis zu den B-Junioren in der damaligen Westfalenliga. Er
durchläuft erste Trainerlehrgänge beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) und
muss an der Basis auch mal improvisieren. „Samstagmorgens habe ich mit
meinem alten Fiat Punto die Nachzügler, die keine Wecker hatten, von zu
Hause abgeholt, damit wir überhaupt eine Mannschaft auf den Platz bekamen“,
erinnert er sich.
Auch auf anderen Feldern muss er kämpfen. „Mein Vater wurde arbeitslos,
und zu Hause war das Geld knapp. Ich habe nachts ab 3 Uhr Fleischwurst
ausgefahren, Farbe in einem Bochumer Farbenwerk abgefüllt, für die Ruhr
Nachrichten geschrieben und noch andere Nebenjobs gemacht.“ Malochen
halt – auch um sein Sportstudium an der Ruhr-Universität zu finanzieren.
Nebenher immer Fußball – als Spieler und als Trainer. „Ich bin manchmal fast
im Stehen eingeschlafen“, sagt er heute lachend.
In dieser Schule des Lebens hat er viele wertvolle Kontakte geknüpft. Uwe
Neuhaus war sein Coach in der zweiten Mannschaft von Wattenscheid 09.
Der spätere Bundesligatrainer von Arminia Bielefeld und Union Berlin sprach
Sonderregelungen mit Richter ab, wenn er mal zu einem Lehrgang musste
oder eine Überschneidung mit dem Nachwuchstraining in Herne auftrat.
Einer, mit dem er für den Trainerschein büffelte, fiel damals schon als herausragendes
Talent auf: „Bei Jürgen Klopp hat man früh gemerkt, dass er eine
besondere Ansprache an die Spieler hat“, denkt Richter zurück. Und auch sein
Kumpel aus Studienzeiten ist unter Fußballfans kein Unbekannter. Markus
Kauczinski war zuletzt Cheftrainer von Dynamo Dresden.
Ein Netzwerk, das Richter sicher geholfen hat, 2001 beim DFB als Stützpunkt-Koordinator
anzufangen. „Das erste Mal, dass ich tatsächlich nur einen
einzigen Job hatte.“ Einen, der ihn allerdings auch forderte. Denn ganz Ostwestfalen-Lippe
und Teile Südwestfalens gehörten zu seinem Zuständigkeitsbereich.
Nach dem frühen Ausscheiden der Nationalmannschaft bei der EM
2000 sollte die Talentförderung im deutschen Fußball komplett neu aufgestellt
werden. Auch die Trainerausbildung wurde stärker in den Blick genommen.
A-Lizenzinhaber Richter hat hier Basis- und Pionierarbeit geleistet.
„Da ist ein Traum wahr geworden“
2007 kam dann der Anruf vom VfL Bochum. „Wenn dein Heimatverein
dich fragt, ob du dort Jugendcheftrainer werden willst, überlegst du genau
zwei Sekunden“, schildert Richter seine damalige Gefühlslage. „Da ist ein
Traum wahr geworden.“ Seit 2008 verantwortet er die Nachwuchsarbeit
und hat sie professionell aufgestellt. Sein Team von über 100 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern betreut 180 Kinder und Jugendliche in verschiedenen
Altersklassen. Allein an die 30 Fahrer holen die Spieler von ihren Wohnorten
ab und bringen sie abends nach dem Training wieder nach Hause.
„Seit einigen Jahren haben wir fest angestellte Trainer, Fachbereichsleiter
und pädagogische Fachkräfte. Nur so und nur als Team können wir uns um
jeden einzelnen Spieler kümmern und ihn individuell besser machen“, sagt
Richter. Denn letztlich geht es hier darum, die Besten zu finden und zu formen.
Der Anspruch ist, bereits bei den Acht- und Neunjährigen eine so gute
Auswahl zu treffen, dass später die Fluktuation gering bleibt.
„Scouting“, wie es in der modernen Fußballsprache heißt, ist also eine zentrale
Aufgabe von Richters Team. Bis zur U13 werden regelmäßig Spieler
aus kleineren Vereinen zu Perspektivtrainings eingeladen. So finden auch
schon mal Kicker aus Rheine oder Siegen den Weg ins Talentwerk nach
Bochum. Wenn sie älter werden, können sie in einem Talentehaus wohnen.
„Lieber ist es uns aber, wenn die Jugendlichen so lange wie möglich in ihren
Familien bleiben“, sagt Richter.
Der Bundesligaspieler von morgen müsse vor allem Hartnäckigkeit und
Durchsetzungsfähigkeit mitbringen. Technik und Ausdauer ließen sich
durch stetiges Training erlernen, ist sich Richter sicher. „Nur bei der
Schnellkraft und der Schnelligkeit gibt es genetische Voraussetzungen, die
wir nicht komplett aushebeln können.“ Aktuell ist er besonders stolz auf die
Innenverteidigung des Bundesligisten. Maxim Leitsch und Armel Bella-
Kotchap haben beide den Sprung aus dem Talentwerk zu den Profis geschafft.
Es werden nicht die Letzten sein. „Als Verein, der finanziell nicht auf Rosen
gebettet ist, sind wir mit unserer Strategie, jungen Spielern eine Chance zu
geben, in der Vergangenheit gut gefahren“, sagt der Chefausbilder des VfL
Bochum 1848. Dass die Stars von morgen auch ein Stück Bodenhaftung mit
auf den Weg bekommen, dafür wird Alexander Richter schon sorgen.
BUCH ZWEI
12 | Feature
AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
SCHMALLENBERG-OBERKIRCHEN
„Eine Kultur wie
Zwiebeln oder Möhren“
Seit Generationen baut die Familie Feldmann-Schütte
Weihnachtsbäume an. Über eine Tradition im Wandel der Zeit
Von Nicole Ritter
Marianne Feldmann-Schütte
etikettiert für die diesjährige Ernte. Foto: Heidi Bücker
Z
wischen großen, kleinen, geraden und manchmal auch
ein bisschen krummen Bäumchen lässt Marianne Feldmann-Schütte
noch einmal den Blick schweifen, ehe sie
zum letzten Etikett greift: „Ausgezeichnet!“ Viele Tage
hat sie auf den 120 Hektar des Familienbetriebs in
Schmallenberg-Oberkirchen verbracht, um die Bäume
für den diesjährigen Verkauf auszuwählen. Jetzt wehen
gelbe, rote, blaue und manchmal auch gestreifte Wimpel
in den Baumspitzen. Diese Bäume – kleine, mittlere und
große – werden an Weihnachten in deutschen und niederländischen
Wohnzimmern stehen. Die ganz großen,
etwa 10 Meter lang, liegen jetzt, Anfang November,
schon am Waldrand bereit, fertig eingenetzt. Sie warten
auf den Abtransport, um in der Adventszeit Rathäuser
und Marktplätze zu zieren. Und in den Waldstücken mit
den 20, 30 Meter hohen Blau- und Rotfichten, den
besonders wohlriechenden Nobilistannen, grüngelben
Thujen und natürlich Nordmanntannen liegen große
Haufen mit Schnittgrün unter den Bäumen, die zu 5-Kilogramm-Bündeln
gepackt das Material für Adventskränze,
Gestecke und Sträuße bilden.
30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind zurzeit im
Betrieb der Familie Feldmann-Schütte damit beschäftigt,
das Weihnachtsgeschäft voranzutreiben. „Die heiße
Phase im Jahr“, erklärt am Küchentisch Georg Feldmann-
Schütte, die er vor allem mit Saisonarbeitern aus Osteuropa
bestreitet. Anfang des Jahres sinkt die Mitarbeiterzahl
gegen null, im Sommer sind es etwa 15. „Anders
geht das heute leider gar nicht mehr“, berichtet der Hausherr
und bedauert, dass auch Auszubildende, denen er
gern in Kooperation mit anderen Forstbetrieben eine
berufliche Perspektive in seinem Wald bieten würde,
nicht mehr zu bekommen seien. Denn: Die Arbeit ist
hart, nicht nur in diesen letzten Wochen im Jahr, wenn
die Ernte beginnt. Bis ein Weihnachtsbaum schließlich
so weit ist, dass an seinen Ästen Lichter, Kugeln und
Figürchen hängen können, vergehen mindestens sechs
bis zehn Jahre, und jeder Baum bekommt immer wieder
Besuch von einem Menschen, der ihn düngt, pflegt und
schneidet. 80 Stunden pro Hektar im Jahr, rechnet man,
sind in eine Weihnachtsbaumplantage an Zeit zu investieren,
ähnlich viel wie in einen Weinberg.
Viel Handarbeit in der Plantage
Was in der Plantage zu tun ist, demonstriert Lisa Feldmann-Schütte,
die älteste Tochter von Marianne und
Georg Feldmann-Schütte. Die Bäume reichen der hochgewachsenen
jungen Frau auf diesem Waldstück knapp
unters Kinn, und hier und da hat auch schon der eine oder
andere Baum einen roten, gelben oder blauen Wimpel.
Sie sind etwa sieben Jahre alt und machen bald Platz für
die umstehenden Bäume. Mit einem speziellen Werkzeug
haben im vergangenen Sommer Mitarbeiter den
obersten Trieb der Nordmanntannen eingeritzt, damit
dieser nicht zu stark austreibt. „Das Ziel ist, einen möglichst
gleichmäßigen Wuchs zwischen den Quirlabständen
zu erreichen“, erklärt Lisa Feldmann-Schütte, die Forstwirtschaft
studiert hat und nun die Eltern im Betrieb
unterstützt. Oft klemmt noch ein Stäbchen an der Spitze.
„Das soll verhindern, dass Vögel im Sommer auf der
noch weichen Triebspitze landen und sie abbrechen.“
Auch den Austrieb der Zweige kontrollieren die Forstarbeiter
regelmäßig, damit der Baum am Ende eine schöne
Pyramide bildet. Düngen, mähen und Maßnahmen für
den Pflanzenschutz kommen hinzu. Sie roden alte und
bepflanzen neue Flächen. Mit drei Jahren kommen die
kleinen Tannen aufs Feld, vor Wildverbiss mit einer Eingatterung
geschützt. Unter hohen Bäumen im Wald ist
der Boden zwar übersät von Sämlingen, die Jungpflanzen
stammen aber aus altem Baumbestand und werden nach
der Zapfenernte in Baumschulen gezogen.
Die Nordmanntanne trifft man auf den verschiedenen
Parzellen der Feldmann-Schüttes am häufigsten an, der
Deutschen liebsten Weihnachtsbaum. Zumindest seit der
Anbau der Bäume in eigens dafür angelegten Plantagen
„MIT DEM
STEIGENDEN
WOHLSTAND
WOLLTE MAN
SICH EINEN
SCHÖNEREN
WEIHNACHTS-
BAUM
GÖNNEN.“
Georg Feldmann-
Schütte, Oberkirchen
vor sich geht. Historisch waren es die einfachen Fichten,
die die Bauern aus dem Hochwald holten und dann für
kurze Zeit in der guten Stube aufstellten, erzählt Georg
Feldmann-Schütte. „Das war die sogenannte kalte Pracht“,
sagt er und lacht. Nur an vier Tagen habe man damals die
Stube geheizt, ansonsten hatte es die Fichte schön kühl.
Kurz nach Neujahr warf sie dann trotzdem die Nadeln ab.
Feldmann-Schüttes Onkel hatte in den 1950er-Jahren
begonnen, beständigere Blaufichten speziell als Weihnachtsbäume
zu kultivieren.
Eine Zeit, in der sich die gesamte Landwirtschaft im
Sauerland im Umbruch befand, landwirtschaftliche Flächen
nicht mehr produktiv genug waren für Ackerbau
und Viehzucht, zugleich Waldflächen wieder aufgeforstet
werden sollten. „Mit steigendem Wohlstand wollte man
sich auch einen schöneren Weihnachtsbaum gönnen“,
kommentiert Feldmann-Schütte. Die Blaufichte entsprach
diesem Anspruch, gefiel in Form und Farbe und brachte
gute Preise. Die Nordmanntanne verdrängte sie erst später
vom ersten Platz. Feldmann-Schütte begann mit deren
großflächigem Anbau in den 1990er-Jahren.
Wie die Kulturen, so änderte sich mit der Zeit auch
die Logistik: Waren es früher die Kohlen- und Kartoffelhändler
aus dem Ruhrgebiet, die auch die Weihnachtsbäume
aus dem Sauerland in die Städte transportierten,
DEZEMBER 2021 / AUSGABE 6
BUCH ZWEI
Feature | 13
O Tannenbaum
ZUCKERWERK, ÄPFEL UND WACHSLICHTER – Goethes „Werther“ wird eine der ersten
Erwähnungen des geschmückten Baums in der deutschen Literatur zugeschrieben.
Wann der „Christbaum“ tatsächlich zum ersten Mal urkundlich erwähnt wurde, darüber
sind die Gelehrten nicht ganz einig, irgendwann im späten Mittelalter wird es wohl gewesen
sein. Fest steht aber, dass der Brauch, zur Wintersonnenwende frisches Grün aus dem
Wald zu holen, schon in vorchristlicher Zeit bestand.
Das Grün als Symbol der Lebenskraft und der Hoffnung ist bis heute mit Regionen verbunden,
in denen immergrüne Bäume zahlreich wachsen – beispielsweise im Sauerland.
Etwa 30 Prozent der in Deutschland zu Weihnachten aufgestellten Tannen, Fichten und
Kiefern stammen aus dem Hochsauerlandkreis.
//aus
ge
zeich
net*
Hanglage ist typisch für das
Hochsauerland.
Nobilistannen liefern robustes Schnittgrün.
Fotos: Nicole Ritter
gehen die Produzenten heute viele verschiedene Wege.
Manche haben eigene Verkaufsstände, andere verkaufen
Bäume online oder beliefern Bau- und Supermärkte.
Feldmann-Schütte hat seit vielen Jahren feste Geschäftsbeziehungen
in die Niederlande und zum Groß- und Fachhandel.
Was sich allerdings nicht geändert hat, ist das
Ansehen der Weihnachtsbaumproduzenten. „Es gibt ein
paar Ganovenbranchen in Deutschland“, erzählt er
schmunzelnd, „und wir gehören neben Schaustellern und
Sägewerkern dazu.“ Dabei sitzt die Bürokratie den
Weihnachtsbaumanbauern nicht nur mit der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit im Nacken. „Es ist auch sonst
alles geregelt“, sagt er. Denn eigentlich seien Weihnachtsbäume
„eine Kultur wie Zwiebeln oder Möhren“.
Der Sturm Kyrill änderte alles
Seit 1980 sind Weihnachtsbaumkulturen allerdings
genehmigungspflichtig, seit 198 schon gelten sie außerhalb
des Waldes auf landwirtschaftlicher Nutzfläche
nicht mehr als Wald und neue Kulturen als Eingriff in
Natur und Landschaft. Und dann kam 2007 der Sturm
Kyrill. „Waldbauern standen damals vor einem großen
Problem“, erinnert sich Feldmann-Schütte. „Ein umgefallener
Wald, das bedeutet 40 Jahre keine Einnahmen.“
Zudem der schlechte Holzpreis. Die Folge: Viele verlegten
sich erst einmal aufs Weihnachtsbaumgeschäft – so viele,
dass die Landesregierung auch da einen Riegel vorschob:
„Da wollte man den Weihnachtsbaumkerlen das Handwerk
legen“, sagt Georg Feldmann-Schütte. Seit 2013
dürfen auf Waldflächen keine Weihnachtsbäume mehr
neu angepflanzt werden, bestehende Flächen haben Bestandsschutz
bis 2028, PEFC-zertifizierter ökologischer
Anbau bis 2045. Für historisch gewachsene Betriebe wie den
der Familie Feldmann-Schütte bedeutet das: Es gibt Kulturen
auf Waldflächen und auf landwirtschaftlichen Flächen,
es gibt konventionelle Flächen und ökologische Flächen,
es sind Zertifikate und Audits notwendig, unterschiedliche
Behörden sind zuständig. An den Folgen des Sturms
Kyrill arbeiten sich die Waldbesitzer bis heute ab. Und die
Folgen späterer Waldschäden wie der jüngsten Borkenkäferplage
sind noch lange nicht absehbar.
In diesem Jahr aber gilt: Es gibt eine Menge prächtiger
Weihnachtsbäume. Nach den letzten Dürresommern mit
entsprechend schwachem Wuchs sind Bäume und
Schnittgrün 2021 dicht und prall. Der Borkenkäfer ist im
Hochsauerland noch nicht ganz so stark verbreitet wie in
tiefer gelegenen Wäldern, sagt Lisa Feldmann-Schütte.
50.000 Bäume und 100 Tonnen Schnittgrün werden in
den nächsten Wochen den Hof der Familie verlassen.
Und dann ist erst mal: Weihnachten.
*Medien aus
gutem Hause.
BUNTEKUH Medien bündelt
die Corporate-Publishing-Aktivitäten
von Landwirtschaftsverlag
und Lebensmittel Praxis Verlag.
Kontakt:
info@buntekuh-medien.de
Hülsebrockstraße 2–8
48165 Münster
Telefon: 02501/8013271
BUCH ZWEI
14 | Berichte AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
Neuer Schub für
Medizin-Projekt
Siegen. Das Modellvorhaben „Medizin
neu denken“ der Universitäten Bonn
und Siegen hat mit der Gründung
einer interdisziplinären Einrichtung
einen weiteren Meilenstein genommen.
Unter dem Titel „Digitale Medizin
und Versorgungsforschung im ländlichen
Raum“ sollen neue Ansätze in
Lehre und Forschung entstehen,
die dazu beitragen, die gesundheitliche
Versorgung im ländlichen Raum in
Zukunft sicherzustellen. Ein Schlüssel
soll die Digitalisierung sein. Beteiligt
sind neben den Hochschulen fünf
Kliniken in Bonn und Südwestfalen.
Durch das Vorhaben sollen Studierende
der Humanmedizin in Bonn und
medizinnaher Studiengänge in Siegen
an die Herausforderungen in der
medizinischen Versorgung in ländlichen
Regionen herangeführt werden,
heißt es von der Universität Siegen:
„Der wissenschaftliche Ansatz der
Einrichtung orientiert sich an den
Bedürfnissen der Patienten und stellt
statt der Technik den Menschen in
den Mittelpunkt.“
„Münster-Mumie“
zurück im Museum
Münster. Eine aufwendig restaurierte
Mumie ist nun wieder dauerhaft im
Archäologischen Museum der Universität
Münster zu sehen. Nach einer
zweijährigen Wanderausstellung durch
Japan betteten Museumsmitarbeiter
das Exponat mitsamt reich verziertem
Holzsarg wieder in seine Vitrine,
teilte die Universität Münster mit.
Die Mumie mit bewegter Geschichte
ist nun wieder Teil der Dauerausstellung.
Der rund 2700 Jahre alte mumifizierte
Körper eines jungen Mannes
und ein auf das Jahr 950 vor Christus
datierter reich verzierter Sarg stammen
als Dauerleihgabe von einem
Gymnasium in Mülheim an der Ruhr.
Sie waren bereits 1978 in die Obhut
des Museums gegeben worden, hatten
wegen ihres schlechten Zustands
jedoch jahrzehntelang im Depot geschlummert,
bis sie vor einigen Jahren
aufwendig restauriert worden waren.
Wettbewerb für
Schülerzeitungen
Münster. Gesucht wird: die beste
Schülerzeitung Westfalens. Am Wettbewerb
der Kulturstiftung der Westfälischen
Provinzial Versicherung
können Nachwuchsredaktionen der
Grund- und weiterführenden Schulen
teilnehmen. Bewerben können sich
die Redaktionen mit ihren aktuellen
Print- oder Onlineausgaben. Für die
weiterführenden Schulen gibt es
daher zum ersten Mal zwei Kategorien
und damit auch zwei erste Preise.
„Die Medienwelt verändert sich
konstant, und das in einem rasanten
Tempo. Für die Generation, die
jetzt an unserem Wettbewerb teilnimmt,
ist diese Schnelligkeit jedoch
die Norm“, sagt Thomas Tenkamp,
Geschäftsführer der Kulturstiftung
und Jurymitglied. Die Redaktion der
besten Schülerzeitung im Printformat
an weiterführenden Schulen gewinnt
einen Interview-Workshop bei den
Westfälischen Nachrichten. Die beste
digitale Schülerzeitung besucht die
Redaktion des Radiosenders Antenne
Münster. Außerdem gibt es für beide
Redaktionen technische Ausrüstung
zu gewinnen, um zukünftig noch
besser an den Zeitungen arbeiten
zu können. Die Siegergrundschule
bekommt als Preis Besuch vom
Zauberkünstler Dirk Windeck alias
Patrick Mirage. Er zaubert nicht nur,
sondern verrät auch den einen oder
anderen Trick.
OSTWESTFALEN
Artenreiche
Kulturlandschaft
Das Bowling-Projekt setzt auf einfache,
aber wirkungsvolle Maßnahmen
Von Stefan Legge
Die Landwirte in Ostwestfalen-Lippe
(OWL) haben sich die Förderung
der Artenvielfalt auf die Fahne
geschrieben. Im Bowling-Projekt, das
den A-Status als Regionale- 2022-Projekt
erringen konnte, soll in vielen
kleinen Schritten ein großes Ziel verfolgt
werden. „Bowling“ steht für
„Bauern in OWL für Insekten-, Naturund
Gewässerschutz“.
Michael Stotter, ausgebildeter
Landwirt und Agrarwissenschaftler
bei der Stiftung Westfälische Kulturlandschaft,
betreut das Projekt und
macht die Umsetzung an einem konkreten
Beispiel deutlich: „Die Feldwege
zwischen den Ackerflächen
wurden von unseren Vorvätern noch
anders bewirtschaftet“, berichtet er.
„Durch Beweidung oder Abfuhr und
Nutzung des Aufwuchses gab es früher
einen stetigen Stickstoffentzug
und damit günstigere Entwicklungsbedingungen
für heimische Wildkräuter.“
Heute würden dagegen die
meisten Feldwege gemulcht. „Der
Westfälisches Wörterbuch:
Wo ist das „Z“ geblieben?
Münster. Nach fast 50 Jahren ist das
Westfälische Wörterbuch des Landschaftsverbandes
Westfalen-Lippe
(LWL) fertig: Mit dem fünften Buchband
vervollständigt die LWL-Kommission
für Mundart- und Namenforschung
Westfalens die bisher umfangreichste
Dokumentation westfälischer
Sprache. Elf hauptamtliche und viele
ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter haben im Laufe der Jahre
an dem Projekt geforscht, berichtet
Markus Denkler, Geschäftsführer der
LWL-Kommission. „Unser Anspruch
war es, den westfälischen Wortschatz
ausführlich im Hinblick auf seine Bedeutungsdifferenzierungen
und seine
lautliche Vielfalt zu behandeln.“
Dass dieses Langzeitprojekt nun
wie geplant fertiggestellt werden
konnte, sei insbesondere dem Engagement
von Robert Damme zu verdanken.
Der Projektverantwortliche
hat seit 1985 an dem Wörterbuch gearbeitet
und es sich zum Ziel gesetzt,
ausbleibende Nährstoffentzug, die
Mulchschicht und ein kontinuierlicher
Nährstoffeintrag über die Atmosphäre
begünstigen die Gräser, wodurch
die meist konkurrenzschwachen
heimischen Wildkräuter in ihrer
Entwicklung unterdrückt werden“,
erklärt Stotter. Die Folge: Die meisten
Feldwege und Wegränder sind heute
überwiegend durch Gräser geprägt
und artenarm.
das Projekt bis zu seinem Ruhestand
abzuschließen: „In den 1990er-Jahren
lag noch nicht einmal der erste Band
vollständig vor. Es war vollkommen
unklar, ob das Wörterbuch jemals fertiggestellt
werden kann“, berichtet
der 67-Jährige. Einen ausführlichen
Bericht über seine Arbeit veröffentlichte
Landschaft Westfalen in Ausgabe
4/2021.
Das Wörterbuch erstreckt sich
nun auf fünf Bände mit über 3600
Seiten und rund 90.000 Stichwörtern
von „A“ (Ausruf bei unangenehmen
Empfindungen) bis „Ypern“ (Stadt in
Flandern). Und wo bleibt das „Z“? Das
gibt es im Niederdeutschen schlichtweg
nicht: Wörter, die im Hochdeutschen
mit „Z“ beginnen, haben im
Niederdeutschen zumeist ein „T“ am
Anfang, wie beispielsweise „Tied“
(Zeit), „to“ (zu) oder „tehn“ (ziehen).
Im kommenden Jahr wird eine digitale
Version kostenfrei verfügbar sein.
woerterbuchnetz.de
Endlich fertig: Robert Damme freut sich auf den Ruhestand. Foto: LWL/Markus Bornholt
Regiowiese statt Grasnarbe
Initiiert durch das Bowling-Projekt
und nach Austausch mit Akteuren des
Arbeitskreises Biodiversität der Stadt
Löhne plant die Stiftung Westfälische
Kulturlandschaft zusammen mit der
Stadt Löhne die Artenvielfalt auf einigen
Feldwegabschnitten durch gezielte
Maßnahmen zu erhöhen. Dazu
werden ortsansässige Landwirte mithilfe
ihrer Maschinen die stickstoffund
humusreiche Grasnarbe von geeigneten
Feldwegen abtragen und
Regiosaatgut aufbringen, erklärt Stotter.
Im Frühjahr soll es damit in der
Feldflur von Löhne-Mennighüffen
losgehen.
Doch das ist nur ein Beispiel. Heckenpflege,
Anlage von Lesesteinhaufen
oder Entschlammung von Kleingewässern
– Bowling setzt auf einfache,
aber ökologisch funktionale
Maßnahmen und auf ehrenamtliches
Engagement. „Das kann im Grunde
jeder machen. Wir sprechen ausdrücklich
nicht nur die Landwirte an“,
sagt Michael Stotter.
Viele Heimat- und Bürgervereine
engagierten sich bereits für den Umwelt-
und Naturschutz. Für eine naturschutzfachliche
Beratung und
neue Ideen seien sie oft dankbar. Gerne
könnten sich Interessierte bei ihm
An den Wegrändern soll wieder mehr blühen. Foto: Shutterstock
Rolle vorwärts:
Wer hat Preise gewonnen?
Siegen/Versmold. Bereits zum vierten
Mal wird 2021 „Rolle vorwärts,
der Preis des Westfälischen Heimatbundes
(WHB) für frische Ideen“ verliehen.
Mit dieser Auszeichnung prämiert
das Kuratorium des WHB seit
2015 in zweijährigem Rhythmus besonders
vorbildliches bürgerschaftliches
Engagement von Heimatakteurinnen
und -akteuren in Westfalen.
Zwei Preise zu je 4000 Euro werden
vergeben. Die Auszeichnung in
der Kategorie Innovation erhielt in
diesem Jahr das Projekt „Gemeinschaftsgarten:
Lebensmittel als Kultur-
und Gemeingut“ des Heimatund
Verschönerungsvereins Siegen-
Achenbach. Der Verein leiste „einen
wichtigen Beitrag zur Demokratiebildung
und zum gesellschaftlichen
Zusammenhalt“, führte Thomas Tenkamp,
Geschäftsführer der Kulturstiftung
der Westfälischen Provinzial
Versicherung, in seiner Laudatio aus.
Die Stiftung unterstützt den Preis.
melden. „Wir wollen, dass Gemeinschaftsaktionen
unterschiedlicher
Gruppen zur ökologischen Aufwertung
der heimatlichen Landschaft entstehen“,
bringt Projektleiter Stotter es
auf den Punkt.
Getragen wird das Projekt von der
Stiftung Westfälische Kulturlandschaft
und dem Bezirksverband OWL
des Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverbandes,
in Kooperation
mit der Westfälisch-Lippischen Landjugend
und unterstützt durch den
Lippischen Heimatbund, den Westfälischen
Heimatbund und die Landwirtschaftskammer
NRW. Finanziell
gefördert wird das Projekt durch die
Stiftung LV Münster sowie durch die
Stiftung Westfälische Landschaft.
Emil, Anni, Justus und Ben freuen sich über den Gewinn. Foto: WHB
Den Preis in der Kategorie Nachwuchs
erhält der Heimatverein Bockhorst
aus dem Kreis Gütersloh für das
Projekt „Kiebitz-Kids“. Mit dieser
„Draußen-Gruppe“ begeistere der
Verein Kinder vorwiegend im Grundschulalter
auf spielerische Weise für
ihr nahes Umfeld. Das offene, kostenlose
Angebot befördere einen Austausch
über die Generationen hinweg
sowie die Identifikation mit Ort und
Verein, so die Begründung. Stifter
dieses Preises sind die Sparkassen in
Westfalen-Lippe.
Silke Ehlers, Geschäftsführerin
des WHB, würdigte die Preisträger:
„Diese beispielgebenden, mit einem
hohen persönlichen Einsatz verbundenen
Initiativen sollten nicht als
Selbstverständlichkeit angenommen
werden. Es braucht eine zeitgemäße
Anerkennungskultur, die wahr- und
ernst nimmt, indem sie Ermöglichungsstrukturen
für Engagement
schafft.“
DEZEMBER 2021 / AUSGABE 6
BUCH ZWEI
Berichte | 15
WESTFALEN
„Es wird am Personal gespart“
Barbara Blomeier zur angespannten Lage in der Geburtshilfe
Interview: Stefan Legge
Barbara Blomeier ist Vorsitzende im Landesverband der Hebammen NRW.
Foto: Hebammenverband
Warum mussten zuletzt einige Kreißsäle
überraschend schließen?
Vorübergehende Schließungen beziehungsweise
die akute Abmeldung
vom Rettungsdienst erfolgen immer,
weil zu wenig Hebammen im
Dienst sind. Wenn sowieso schon
mit zu dünner Personaldecke kalkuliert,
also zu wenig Personal eingestellt
wurde, kann die geburtshilfliche
Versorgung nicht mehr aufrechterhalten
werden, sobald sich eine
Hebamme zu viel krank meldet.
Wann kommt es zur endgültigen
Schließung von Geburtsstationen?
Die endgültigen Schließungen kommen
meistens aus wirtschaftlichen
Gründen zustande. Geburtshilfe wird
über Fallpauschalen finanziert, die
aber den Zeit- und Personalaufwand
nicht wirklich abbilden. Je länger eine
normale Geburt ohne Eingriffe dauert,
umso größer wird das Minus, das
das Krankenhaus damit einfährt. Also
wird als Erstes am Personal gespart
und im zweiten Schritt dann irgendwann
die defizitäre Abteilung ganz
geschlossen. Das können sich die Kliniken
als Wirtschaftsunternehmen
auch erlauben, denn Geburtshilfe ist
nicht zwingend Bestandteil der Versorgung,
die gewährleistet sein muss.
Gibt es zu wenig Hebammen?
Die Ursache für das Problem – zumindest
in NRW – ist nicht der Mangel
an Hebammen, sondern der Mangel
an Kapazitäten und Leistungsangeboten.
Längst nicht jede Hebamme arbeitet
Vollzeit. Viele arbeiten mit kleinem
Stellenanteil in einer Klinik und
parallel dazu freiberuflich in Schwangerenvorsorge
und Wochenbettbetreuung.
Unbesetzte Stellen in den
Kreißsälen haben auch viel damit zu
tun, dass die Arbeitsbedingungen
nicht stimmen. Die Hebammen machen
es nicht mehr mit, dass sie aus
dem Kreißsaal irgendwohin beordert
werden, wo sie Tätigkeiten ausführen
müssen, die nichts mit Geburtshilfe
zu tun haben. Sie bewerben sich auch
nicht in Kliniken, von denen man
weiß, dass sie an Personal sparen, keinen
24-Stunden-Putzdienst haben
und von der Hebamme verlangen, die
Aufgaben einer Sekretärin zu übernehmen.
Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft
der Geburtshilfe im ländlichen
Raum aus?
Was im ländlichen Raum die Kilometer
zur nächsten Geburtsklinik sind, ist
in Ballungsgebieten die lange Fahrtzeit
mit Staus und Feierabendverkehr. Wir
brauchen flächendeckend eine gute
Versorgung mit geburtshilflichen Abteilungen.
Schon 2015 hat unser Gesundheitsministerium
im Abschlussbericht
des Runden Tisches Geburtshilfe
NRW festgeschrieben, dass
Frauen 20 bis maximal 40 Minuten
unterwegs sein sollen, innerhalb dieser
Zeit also ein Kreißsaal zu erreichen sein
soll. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Wer kann gegensteuern?
Der neue Krankenhausplan NRW sollte
dem Problem Rechnung tragen. Leider
ist Geburtshilfe dort nicht auf einer
Linie mit Schlaganfalleinheit und Unfallchirurgie,
sodass es den Kliniken
weiterhin überlassen bleibt, ob sie
Kreißsäle betreiben wollen oder nicht.
Es wird daher weitere Schließungen
von Kreißsälen geben, mit denen kein
Geld zu verdienen ist, nicht nur im
ländlichen Raum, sondern überall.
Hier sehe ich die Landesregierung absolut
in der Pflicht, etwas zu ändern!
Tourismuspreis NRW 2021
geht nach Warburg
Dortmund. Das Projekt „Lauschangriff“
des Warburger Kulturveranstalters
nurguteleute Kreativbüro hat
den ADAC Tourismuspreis NRW 2021
gewonnen. Prämiert wurde ein
Audio-Spiel für Arnsberg und Warburg,
bei dem die Teilnehmer mit
Kopfhörern durch enge Gassen laufen
und über versteckte Pfade der historischen
Städte in der hierfür programmierten
App einen geheimen
Code entschlüsseln.
„Als Corona kam, wollten wir etwas
anbieten, was auch allein Spaß macht.
‚Lauschangriff‘ ist eine Mischung aus
Erholung, Sport und Spaß – ein
Abtauchen in eine andere Welt. Und:
Bei unserem Audio-Urban-Game
kann man nur gewinnen!“, freute sich
Sarah Hakenberg vom nurguteleute
Kreativbüro bei der Preisverleihung
vor Publikum aus Politik, Verwaltung
und Akteuren der Tourismuswirtschaft
in Dortmund (DASA). Die Sieger
aus Ostwestfalen erhalten nun ein
wertvolles PR-Paket.
Auf dem zweiten Platz landete der
digitale Rundgang „Paderborn und
seine Graffitis“ vom Verkehrsverein
Paderborn. Über eine App mit virtuellem
Stadtplan, Videos, Audiobeiträgen,
Fotos und Texten zu den einzelnen
Stationen macht die Tour die
Vielfalt der Graffitis und Street-Art in
der Stadt individuell erlebbar – jederzeit
und kostenlos.
Der ADAC in NRW vergab in diesem
Jahr gemeinsam mit Tourismus NRW
erstmals einen landesweiten ADAC
Tourismuspreis. Insgesamt zehn Projekte
waren nominiert.
Jeden Tag alles Wichtige aus der
globalen Welt der Ernährungswirtschaft.
meln, Umwelt schützen,
nz erhöhen.
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Weitere
Infos auf S. 9
und über den
QR-Code
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he, Pöbeleien,
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an mit Maskenigerern
um? Seite 9
International übernimmt
ental Bakeries
ische Gebäckkonzern
eries mit Produktionsiederlanden,
Belgien,
len und Schweden wird
schen Biscuit Internahrenden
europäischen
rivate-Label-Gebäcken,
it der Übernahme und
l die Position des Geem
europäischen Prit
für Kekse und Brotweiter
gestärkt werden,
f den wichtigsten europäischen
Märkten werde erheblich
gesteigert. Vorreiter bei biologischen,
zuckerarmen und umweltfreundlichen
Produkten will man auch werden. „Die
Transaktion wird ein bedeutender Meilenstein
für unsere Entwicklung zum
europäischen Marktführer für Private-
Label-Gebäcke sein“, sagt Giampaolo
Schiratti, CEO bei Biscuit Internatio nal.
Der Konzern hat eine Einkaufsrallye
hinter sich: Auch A&W Feinbackwaren
in Deutschland und Dan Cake in Portugal
wurden gekauft. (hmi)
Markus Mosa, Edeka-Zentrale, während „Munich Transition for Tomorrow“. Foto: Burda
Die Frage ist nicht, ob wir in
das deutsche System hineinpassen,
sondern, ob wir das möchten.
Charlie McConalogue, Irlands Landwirtschaftsminister, Seite 24
Täglich.
International.
Up to date.
hart. Wie die Exportnation in die
Zukunft blickt: Seite 02
Exklusiv für Abonnenten
der LP.economy
Egal wie verwirrend staatliche Vorgaben oft sind, wer das Hausrecht hat, bestimmt die Regeln. Foto: Getty Images
Friesland Campina setzt weiter
auf den chinesischen Markt
Zehn Milliarden Euro will der inter -
nationale Molkereikonzern Friesland
Campina bald in China umsetzen. Das
sagte Grace Chen, China Managing Director,
bei der Eröffnung des Innovation
Experience Centre (IEC) in Xintiandi,
einem Viertel von Schanghai. Dieses
soll chinesischen Kunden Produkte
und Innovationen des Unternehmens
vorstellen. Friesland Campina sucht
nach neuen Wegen, um die Vorlieben
und Bedürfnisse des chinesischen
Markts zu ermitteln und zielgenau bedienen
zu können. Dazu könnte gehören,
dass mehr Produkte in lokalen Geschäften
angeboten und der Verkauf
über Onlineplattformen gesteigert
wird. „Wir haben in den letzten zwölf
Jahren ein außergewöhnliches Umsatzwachstum
in China erlebt“, sagte Chen
weiter. Das Unternehmen setzt auch
KI-Kundenservices ein. Auch Blockchain-Technologien
werden genutzt,
um die Herkunft von Rohstoffen sowie
die nationale und internationale Lieferkette
zu verfolgen. (hmi)
Nachhaltigkeit kann
nicht nur auf Bio bauen
Der Bio-Anbau ist nach Meinung von Markus Mosa, Vorsitzender
des Vorstands der Edeka Zentrale Stiftung & Co. KG,
allein kein ausreichendes Modell für eine nachhaltig orientierte
Lebensmittelwirtschaft. Man müsse auch darüber
nachdenken, „wie wir konventionelle Lebensmittel nachhaltiger
gestalten können“. Das sagte der Edeka-Chef im Rahmen
der Nachhaltigkeitskonferenz „Munich Transition for
Tomorrow“ des Burda-Verlages. Den Vorschlag, die eigene
Marktmacht doch zu nutzen, um nur nachhaltige Artikel in
den Regalen zu haben, konterte Mosa: Marktmacht sehe er
anders. Produkte wegen nicht-nachhaltiger Herstellung aus
dem Sortiment zu nehmen käme nicht infrage. Lieber würde
man Kunden überzeugen, die „richtigen“, also nachhaltig erzeugte
Artikel zu kaufen. Als Beispiel nannte er Zitrusanbau
in Andalusien. Hier arbeite Edeka derzeit mit 17 konventionellen
Plantagen zusammen und gebe klar vor: Erhalt der
Biodiversität, Süßwasser-Einsatz, Ressourcen- und Klimaschutz.
Das funktioniere, die Plantagen stünden besser da als
andere. Grundsätzlich gelte: „Alle in Deutschland verkehrsfähigen
Produkte kann es auch bei der Edeka geben.“ (rm)
Oktober 2021 Ausgabe 19
Ein Produkt der Lebensmittel Praxis
www.lpeconomy.de
Impressum, Seite 6
PERU
ZKZ 32213
Wie viele Staaten Südamerikas
traf die Pandemie auch Peru
Markt in Satipo, Peru. Foto: Engelhardt
KLEINER HELFER
Die Digitalisierung der Mobilität
erfolgt im Renntempo.Viele
Apps rund um Autos, Tanken,
Waschen und Tourenplanung
sind auf dem Markt. Seite 10
Zeigt den Reifendruck. Foto: Mercedes-Benz
QUALIVO
Hinter der Marke Qualivo steht
ein Gesamtkonzept für hochwertiges
Fleisch, das bei Rewe Südwest
angeboten wird. Seite 14
Qualitätsfleisch gesucht? Foto: Qualivo
ROHSTOFFE
Knapp, teuer und schwierig zu
bekommen: Rohstoffe und Vorprodukte
sind das neue Gold der
Industrie. Wie es aktuell auf den
Märkten aussieht ab Seite 17
„Goldreserven“: gefüllte Läger. Foto: I. Hilger
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BUCH ZWEI
16 | Ein Ort in …
HAGEN
Folkwangs Anfänge
vor 100 Jahren
Hagen ist eine junge Stadt – in diesem
Jahr erst 275 Jahre alt geworden.
Das dortige Osthaus Museum
würdigte jüngst die Stadtgeschichte
mit einer Ausstellung, die gerade zu
Ende ging. Noch bis zum Jahresende
zu sehen ist eine Ausstellung über den
Museumsgründer Karl Ernst Osthaus,
der im Jahr 1921 starb. Er gründete
das Museum im Jahr 1902 – also vor
fast 120 Jahren – als „Museum Folkwang“,
das dann 1922, nach dem Tod
des Gründers, nach Essen umzog. für
den heutigen Museumsdirektor Tayfun
Belgin ist die Idee des Gründers
immer noch Programm, „als Ort der
Inspiration, des sinnlichen Genusses
und der kommunikativen Auseinandersetzung“.
Die Ausstellung „Folkwang-Reflexe“
identifiziert noch einige Werke
der ursprünglichen Folkwang-
Sammlung in der heutigen Sammlung
des Osthaus Museums. Dazu
gehören beispielsweise Gemälde und
Grafiken von Christian Rohlfs, eines
westfälischen Malers, der lange Zeit
in dem Gebäude lebte, sowie Radierungen
von Käthe Kollwitz. Ein Buddha-Kopf
aus der Privatsammlung
von Osthaus repräsentiert, woran der
Mäzen bei der Gründung gedacht
hatte: Die Sammlung sollte neben
zeitgenössischer Malerei und Plastik
Weltkunst zeigen und eine beispielhafte
Sammlung auch der orientalischen,
afrikanischen, asiatischen und
ozeanischen Kunst sein.
Das Gebäude selbst ist einen Besuch
wert – es stammt von dem belgischen
Jugendstil-Künstler und
Architekten Henry van de Velde.
Feinster Jugendstil: das Osthaus
Museum in Hagen.
Foto: Werner J. Hannappel
Quelle: Geografische Kommission
für Westfalen 2020
„Das Osthaus Museum ist ein Ort der Inspiration,
des sinnlichen Genusses und der kommunikativen
Auseinandersetzung.“ Tayfun Belgin, künstlerischer Leiter
HERFORD
Schau genau
Im Museum Marta Herford geht es noch bis März 2022 darum
zu enthüllen, was sonst der Verhüllung dient: Mode
Mode – das ist schon immer das
Spiel zwischen gesellschaftlicher
Norm und individuellem Ausdruck.
In der globalisierten Welt ist es
auch die Auseinandersetzung mit
Ausbeutung und Beschleunigung. In
einer Themenausstellung im Museum
für Kunst, Architektur und Design
Marta Herford setzen sich 30 Künstlerinnen
und Künstler mit den verschiedenen
Dimensionen von Mode
auseinander: „Die Künstlerinnen und
Künstler produzieren keine ‚Waren‘,
sondern Ideen, Situationen und Statements,
mit denen sie kritisch Stellung
beziehen zu den vielfältigen Auffassungen
von der zeitgenössischen
Mode, ihren Wertesystemen und den
sozialen Geflechten, die daraus hervorgehen“,
erklärt Kuratorin Dobrila
Denegri vom Dutch Art Institute.
Der „Kiosk“ mit Eva & Adele steht mitten in der Ausstellung.
Foto: KunstArztPraxis.de/Marta Herford
Neben ungewöhnlichen Erfahrungen
mit dem Material der Kunst – die
Künstlerin Hrafnhildur Arnardóttir
beispielsweise lässt synthetisches Haar
wie Lianen von der Decke hängen –
geht es in einem dokumentarischen
Video auch um die Arbeits- und Lebensbedingungen
der produzierenden
Menschen. Hier wird der Ausstellungsbesucher
stiller Teilhaber des Geschehens
und kann die Verbindung zu seinen
Konsumgewohnheiten herstellen.
Ein weiteres, in der Modeindustrie
zunehmend diskutiertes Thema ist
die Überwindung von körperlichen
Normen. So bricht etwa die japanische
Multimedia-Künstlerin Mari
Katayama mit der Wahl ungewöhnlicher
Prothesen mit dem gängigen
Schönheitsideal, und auch die Österreicherin
Christiane Peschek führt in
„Die Künstlerinnen
und Künstler
zeigen
Ideen,
Situationen
und Statements.“
Dobrila Denegri,
Kuratorin
der digitalen Reproduktion einer
„Phantommuse“ Schönheitsstandards
ad absurdum. Fast praktisch
wird es, wenn es um neue Materialien
für Kleidungsstücke geht – etwa solche,
die eine zweite Haut bilden und
die Körperfunktionen aktiv unterstützen.
Und eigenes Verhalten?
Neben den 90 Werken umfasst die
Ausstellung eine zweite Erzählebene
mit Informationen zu aktuellen Entwicklungen
der Fashionwelt: Nachhaltigkeit,
innovative Materialien,
zukunftsweisende Technologien, digitale
Mode und Fashion-Avatare,
Schönheitsideale und Geschlechterklischees
sind nur einige Themen, die
anregen sollen, die eigene Haltung
kritisch zu hinterfragen.
MÜNSTER
Bilder eines Lichtbildners
Das Stadtmuseum Münster zeigt Arbeiten
des Fotografen Pan Walther
Der Münsteraner Fotograf Pan Walther
bezeichnete sich selbst gern
als Lichtbildner, und wer seine Aufnahmen
sieht, weiß auch, warum:
„Das Licht ist in seinen Aufnahmen
ein grundsätzliches Gestaltungsprinzip,
das er in der Dunkelkammer in
seinen Handabzügen noch weiter ausarbeitete“,
erläutert Barbara Rommé,
Direktorin des Stadtmuseums Münster.
„Pan Walther war ein Ausnahmefotograf,
der die Menschen bewegte.“
Walther wurde 1921 in Dresden
geboren, fast die Hälfte seines Lebens
verbrachte er aber in Münster, betrieb
ein Fotoatelier, unterrichtete an der
Werkkunstschule und porträtierte
„Das Licht
ist sein
grundsätzliches
Gestaltungsprinzip.“
Barbara Rommé, Museumsdirektorin
nicht zuletzt viele Prominente. Auf
Reisen entstanden aber auch ausdrucksstarke
Landschafts- und Architekturaufnahmen.
Besondere Werkschau
Das Stadtmuseum Münster zeigt bis
12. Februar 2022 eine Ausstellung
mit130 von Walther selbst bearbeiteten
Originalabzügen, die nicht nur
seine besondere Gabe für das Spiel mit
dem Licht, sondern auch die Momente
der besonderen Beziehung zwischen
dem Künstler und seinem Sujet
zeigen. Der Fürstenbergsaal des Museums
wurde dafür inklusive Fußboden
komplett in Weiß ausgestattet.
Landschaft mit Wasser. Foto: Stadtmuseum Münster
AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
www.landschaft-westfalen.de
WINTER-SPEZIAL
Telgte: Interpretationen der Weihnachtsbotschaft Seite 19 | Bünde, Bocholt, Nieheim-Oeynhausen: Handwerkskunst Seite 20/21 |
Westfalen: Kontinuität des Kolonialismus Seite 22 | Gütersloh/Bielefeld: Weihnachten in der Suppenküche Seite 23
Wird es Winter? Mit 2G? 3G?
Warten wir es ab. Lesen
(Seite 18), schauen (Seite 19)
oder Neues ausprobieren
(Seite 24) hilft!
Foto: Oliver Berg/dpa
WINTER-SPEZIAL
Bücher | 18 AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
Ein derber Plot und
filigrane Details
Bent Ohle: Die Kommissarin und der Metzger. Auf Messers
Schneide, nach einer Idee von Guido Höhner und Melanie
Suttarp, topagrar, LV Buch, Münster 2021, 14 Euro.
Es ist der erste Band einer neuen Krimireihe aus
dem Münsterland, und man könnte sich gewiss
fragen, ob es nötig ist, dass LV Buch den vielen
derartigen Reihen noch eine weitere hinzufügt.
Diesen Umstand jedoch einmal außer Acht gelassen,
gehört Autor Bent Ohle definitiv zu denjenigen, die
nicht aufgrund ihrer Herkunft zum Krimischreiber wurden
(er stammt gar nicht aus dem Münsterland), sondern
weil er es einfach kann. Als Film- und Fernsehdramaturg
und preisgekrönter Autor hat er das richtige Gespür für
sein Personal und die Details, die einen Krimi jenseits
der Handlung zu einem Lesevergnügen machen, und
beherrscht den perfekten Cliffhanger.
Die Geschichte ist mit Hauptfigur Tanja Terholte, der
Kommissarin vom Dorf, die es bis in die Großstadt
Münster gebracht hat, und ihrem Bruder, der eigentlich
Schlachter ist, aber als eifriger Konsument amerikanischer
True-Crime-Serien enormes forensisches Wissen
in die Geschichte einbringt, doppelt gut besetzt. Ein
dilettantischer Gerichtsmediziner liefert ein herrliches
Gegenstück zu Tatort-Forensiker Jan-Josef Liefers, der ja
in jedem Münsterlandkrimi unweigerlich mitspielt.
Warum der Oberkommissar wie so oft im Krimi ein
Blödmann ist, sei dahingestellt. Das Grundpersonal
jedenfalls liefert schon allein mit seinen jeweiligen
Lebensumständen genug Spannung für weitere Folgen.
Der erste Fall nun enthält eine Fülle regionaltypischer
Motive: Schweinebauern, den unvermeidlichen Veterinär,
die reitende Hautevolee und einen mittelständischen
Kaffeefabrikanten. Auf den ersten Blick scheint
der Fall durchsichtig: Es werden Leichenteile gefunden,
und der Tierarzt ist verschwunden. Als selbiger dann
allerdings reichlich unverblümt wieder auftaucht, gewinnt
die Geschichte schnell an Komplexität.
Gemessen an dem eingangs konstruierten Tatort –
das Bild vom Schweinchen mit einem menschlichen
Finger im Maul wird man so schnell nicht wieder los –
sind nachfolgende Details schon fast von filigranem
Witz: Indem Autor Bent Ohle den Tierarzt nicht die
Pferde, sondern ihre Reiterinnen dopen lässt und den
Schlachter eine Veganerin daten, lässt er erwarten, dass
ihm der Stoff für folgende Fälle nicht ausgehen wird. nri
Nachdenklich
und unterhaltsam
Das Fahrrad gehört zu Münster wie
die Wiedertäufer-Käfige zur
Lambertikirche. Kein Wunder, dass
die Münsteraner ein eigenes Wort
dafür haben. Was andernorts als
Drahtesel, Fietse oder Velo bekannt
ist, nennt man in der selbsternannten
Fahrradhauptstadt Deutschlands
auch Leeze.
Norbert Nientiedt, Theologe und
Autor religionspädagogischer Texte,
hat in „Leezengeschichten“ Erlebnisse
aus seinem eigenen Leben und seinem
Umfeld zusammengetragen, die
auf die eine oder andere Weise mit
dem Zweirad zu tun haben – mal komisch,
mal tragisch, mal skurril, mal
berührend.
Da ist zum Beispiel der Vorfall, bei
dem Nientiedt zum Schutzengel
wird, indem er einen jungen Mann
an der Ampel in letzter Sekunde vor
einem herannahenden Lastwagen
mit seitlich hervorragender Ladung
rettet. Es entspinnt sich ein Dialog
über Engel zwischen dem Geretteten
und dem Retter.
Nientiedt ist der Theologe anzumerken.
Immer wieder streut er Reflexionen
über seine Heimatstadt,
über die Gesellschaft im allgemeinen
oder über den Wandel der Zeit ein.
Nientiedt schildert denkwürdige Begegnungen
mit Bekannten und Fremden,
die auf ganz unterschiedliche
Arten in der Bredouille stecken. Zum
Beispiel Oliver, eine Kneipenbekanntschaft
Nientiedts, der als junger Familienvater
auf einmal arbeitslos wird
und bald Anzeichen einer Depression
erkennen lässt. Am Ende seiner Reha
hat Oliver neue Perspektiven auf sein
Leben gewonnen. An anderer Stelle
berichtet Nientiedt von Frau Kintrup,
die er als Fremde an seinen Tisch im
voll besetzten Café einlädt und die
ihm dann davon erzählt, wie sie rund
um die Uhr ihren an Parkinson erkrankten
Mann pflegt. Nientiedt fragt
sie: „Woher nehmen Sie eigentlich
Ihre Kraft, und wie lange wollen Sie
das denn durchhalten?“
Fahrradfans sollten gewarnt sein:
Die Leeze ist oft genug nur der Aufhänger
für Nientiedts Geschichten.
Wer unterhaltsame und nachdenkliche
Geschichten eines Ur-Münsteraners
sucht, ist bei diesem Autor aber
goldrichtig. mgl
Norbert Nientiedt:
Leezengeschichten
aus Münster zum
Nachdenken
und Schmunzeln.
Ardey Verlag 2021, 14,90 Euro.
Spurensuche
eines Enkels
Lange Zeit hatte er mit dem Karton
mit Briefen nichts anfangen können,
bis schließlich die Neugierde siegte
und er sich mittels dieser Briefe tief
in die Geschichte seiner deutschen
Vorfahren vergrub. Schon längst ein
erfolgreicher US-amerikanischer Marketingspezialist,
begab sich Emanuel
Rosen auf Spurensuche, traf Freunde
und Verwandte, reiste schließlich auf
den Spuren seiner Großeltern nach
Deutschland.
Die Briefe stammen von seinen
Großeltern Lucie und Hugo Mendel.
1956 waren diese, nachdem sie 1933
nach Palästina emigriert waren, nach
Deutschland gereist und hatten ihrer
Tochter, Rosens Mutter, in Briefen und
Postkarten von ihrer Reise berichtet.
Wer war also dieser Dr. Hugo
Mendel, einst angesehener Anwalt in
Hamm/Westfalen, der nach der
Deutschlandreise seiner Verzweiflung
und seinem Leben ein Ende setzte?
Und was war so anders an der Großmutter
Lucie? Was suchten die beiden
im Nachkriegsdeutschland? Genau
das versucht Rosen auf seiner eigenen
Reise an die Orte herauszufinden, die
seine Großeltern 1956 besucht hatten.
Düsseldorf, Wiesbaden und
Frankfurt, Zürich, Hannover, schließlich
Menden und Hamm.
Oft kann er nur ahnen, wie die
Großeltern diejenigen wahrnehmen,
die sie auf ihrer Reise treffen: Kaum
Entnazifizierte, Wirtschaftswunderprofiteure,
aus Palästina oder den USA
zurückgekehrte Juden – vor allem solche,
die allem Anschein nach ihren
Platz in der Nachkriegsgesellschaft
gefunden hatten. Nur der Großvater
Hugo findet diesen Platz nicht mehr,
und so wird Rosens Reise mehr und
mehr zu einer Spurensuche nach den
Gründen für den Freitod des Mannes,
dessen Rehabilitierung als Anwalt und
Opfer des Naziregimes seine Tochter
erst in einem langwierigen Prozess
viele Jahre nach seinem Tod erreichte.
Die Fülle der Orte, Menschen und
Erinnerungen an drei Generationen
der Familie Mendel machen das Buch
an manchen Stellen verwirrend, lassen
aber ein dichtes Netz an Impressionen
entstehen, die zeigen, wie tief
Verstrickungen sein können, die auf
den ersten Blick gar nicht sichtbar
sind. So wie der tägliche Ausspruch
von Rosens Mutter vor dem Mittagschlaf:
Wenn jemand anruft, sagt ich
bin tot. nri
Emanuel Rosen:
Wenn jemand anruft, sagt, ich bin tot.
Eckhaus Verlag, Weimar, 14,80 Euro.
DEZEMBER 2021 / AUSGABE 6
WINTER-SPEZIAL
Ausstellung | 19
TELGTE
Krippe 2.0
Von der Schnitzarbeit bis zur Lichtinstallation:
Interpretationen der Weihnachtsbotschaft
Von Nicole Ritter
Nur ein Halbsatz beschreibt im Lukasevangelium die Krippe, in die
Maria das Jesuskind gelegt haben soll. Kein Ochs und kein Esel
standen an diesem biblischen Futtertrog, und schon gar keine
Nordmanntanne mit Strohsternen und Lichterkette. Vielleicht ist
es gerade die Schlichtheit der biblischen Erzählung, die die Fantasie
der Menschen bis heute anregt. „Geheimnisse der Heiligen Nacht 2.0“
heißt also nicht ohne Grund die diesjährige Krippenausstellung im Westfälischen
Museum für Religiöse Kultur in Telgte; immerhin die 81. ihrer Art – auch
das ein Beleg dafür, dass die Weihnachtskrippe schon seit langer Zeit Gegenstand
vielfältiger künstlerischer Interpretationen ist.
Das Geheimnisvolle und Verborgene umkreisen etliche Arbeiten der diesjährigen
Ausstellung. Und auch die Corona-Pandemie hinterlässt ihre Spuren,
etwa in der Arbeit des polnischen Holzbildhauers Marian Ulc, der den Weisen
aus dem Morgenland einen Mund-Nasen-Schutz verpasst. Wer den zusammengewürfelten
Elektroschrott auf dem Sockel der Arbeit von Jens Henning sieht,
fragt sich erst einmal, was dieser bedeuten soll. Dieses Geheimnis lüftet der
Schatten an der Wand. Dort entpuppt sich der Schrott als Darstellung des in
der Krippe liegenden Jesuskinds mit dem Stern der Heiligen Nacht.
Teil der Ausstellung sind in diesem Jahr auch zwölf Beiträge des letzten
Wettbewerbs Ars Liturgica beim Bistum Essen. „Compassion“ des Bielefelder
Künstlers Joachim Staebler umfängt die Besucherinnen und Besucher mit herabhängenden,
bemalten Holzstücken, die die Protagonisten der Weihnachtsgeschichte
symbolisieren. Das Projekt, das in dem Wettbewerb im vergangenen
Jahr den ersten Platz belegte, ist in Telgte nur im 1:10-Modell zu sehen: Die
Installationskünstlerin Sabine Reibeholz schuf unter dem Titel „Fürchtet Euch
nicht“ einen lichtdurchfluteten Raum, der auf Ochs, Esel und das Jesuskind
verzichten kann und doch eine sehr komplexe Geschichte erzählt.
Wer den Weg nach Gelsenkirchen nicht scheut, kann das Original in der
Probsteikirche St. Augustinus nicht nur betrachten, sondern auch betreten und
erfahren, wie die Künstlerin die Krippe als Ort der Begegnung von Mensch und
Gott interpretiert.
Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0
81. Telgter Krippenausstellung
6. November 2021 bis 23. Januar 2022
dienstags bis sonntags 11 bis 18 Uhr
www.museum-religio.de
„Fürchtet Euch nicht“: Das 1:10-Modell der Installation von Sabine Reibeholz für die Probsteikirche St. Augustinus, Gelsenkirchen.
Fotos: Stefan Kube/religio
Franz-Josef Hartmeyer aus Warendorf
schuf eine sehr aktuelle Krippe mit
dem Titel: „Corona – das Geheimnis
des Lebens kommt von innen“.
„IHR WERDET
FINDEN DAS KIND
IN WINDELN
GEWICKELT UND
IN EINER KRIPPE
LIEGEN.“
Lukas 2,12
Eine sehr klassische Krippenszene entwarf Holzschnitzer Heinrich Ciempko, Münster.
WINTER-SPEZIAL
20 | Handwerk
AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
NIEHEIM-OEYNHAUSEN
Wertiges
aus Wolle
Portemonnaies aus dickem, natürlich g
Bestandteil von Leens Jan Ondras Prod
Schafhaar zu verarbeiten ist für Roland
Kummer eine Herzensangelegenheit
Von Katrin Quinckhardt
Bei Roland Kummer hat jedes Produkt einen Namen. Denn er kann
auf Wunsch jede Filzmatte einem einzelnen Schaf zuordnen. In
seiner Wollmanufaktur in Nieheim-Oeynhausen, Kreis Höxter,
verarbeitet er täglich bis zu acht Kilo Rohwolle. Das entspricht der
Schur von etwa drei Schafen. „Es gibt viele Schäfer und Hobbyhalter, die nicht
wissen, wohin mit der Wolle“, sagt Roland Kummer. Es ist ihm ein Rätsel,
warum selbst Schafhalter den vielfältig einsetzbaren Rohstoff nur wenig
wertschätzen und nutzen. Roland Kummer und seine Frau Corinna halten
selbst Schafe. Ihre zehn Skudden weiden rund um die Oeynhauser Mühle,
die das Paar vor drei Jahren gekauft hat. Auf den Wiesen pflanzten die Kummers
junge Obstbäume und umwickelten sie unten mit Schafwolle. „So schützen
wir sie vor dem Verbiss durch Wildtiere“, erklärt Corinna Kummer.
Eigentlich ist Wolle dafür viel zu schade, findet Roland Kummer.
Was er damit meint, macht ein Besuch im ehemaligen Getreidesilo der Mühle
deutlich. Das hat er in viel Eigenleistung zur Wollmanufaktur umgebaut.
Hier steht alles, was es zur Verarbeitung von Wolle braucht – nur eben kleiner
als in der Industrie. In der Summe investierte Roland Kummer etwa
100.000 Euro in Maschinen. Der 54-Jährige sieht das als gute Basis, um später
mal von der Manufaktur leben zu können. Derzeit führt er sie im Nebenerwerb.
Die Verarbeitung beginnt mit dem Wollpicker. Die Maschine zupft die
vorsortierte Wolle und reinigt sie von grobem Schmutz wie Gras. „Danach
geht’s ab in die Waschmaschine“, beschreibt Roland Kummer. Das Gerät ist
sein ganzer Stolz. Er hat es extra aus der Schweiz bestellt. 40 Grad warmes
Wasser, etwas Wollwaschmittel und Ultraschall reinigen die Wolle vorsichtig,
ohne sie zu verfilzen. Ausgebreitet auf alten Tulpengittern kommt das
feuchte Gut in den Trockenschrank. Mithilfe eines Raumentfeuchters trocknet
die Wolle binnen zehn Stunden, sodass Roland Kummer sie am nächsten
Morgen kardieren kann. In der Karde laufen große, mit unzähligen kleinen
Nadeln gespickte Walzen gegeneinander. Sie kämmen die Wolle zum Wollvlies,
dem sogenannten Batt, der Grundlage fürs Filzen und Spinnen.
Widerstandsfähige Wolle der Heidschnucke
„Die Wolle der Heidschnucke ist besonders widerstandsfähig“, sagt der
Wahl-Oeynhauser. Er schätzt sie als Zwischenlage für mehr Stabilität in Filzmatten,
aus denen er später Taschen näht. Alle Produkte fertigt Roland Kummer
aus dreifach gefilzten Matten. In einer Größe von 90 mal 70 Zentimeter
wiegen sie etwa 400 Gramm. Für ihre Produktion braucht er mindestens 600
Gramm Rohwolle. Für die unterschiedlichen Farben seiner Produkte nutzt
Roland Kummer die Wolle verschiedener Schafrassen, die er aus einem Umkreis
von 30 Kilometern bei anderen Schafhaltern abholt.
Ursprünglich hatte Roland Kummer geplant, die Rohwolle nur als
Dienstleister zu verarbeiten. Da die Schafhalter kein großes Interesse daran
hatten, ihre Wolle von ihm verarbeiten zu lassen und selbst zu vermarkten,
begann Kummer kurzerhand mit dem „Wolldesign“ und dem Verkauf –
zumindest war das der Plan, bis die Pandemie ihm einen Strich durch die
Rechnung machte. „Ich wollte meine Produkte gerne auf Handwerkermärkten
verkaufen, die dann aber leider alle ausfielen“, bedauert er. Vorerst setzt er
daher weiter auf Direktvermarktung. Vereinzelt findet er Kunden unter den
Gästen seiner Ferienwohnungen. Mehr unter www.oeynhauser-muehle.de
Jedes Produkt hat Roland Kummer nach einem seiner Tiere benannt. Skudde
„Peter“ ist Namenspatron für einen Filzkorb. Foto: Katrin Quinckhardt
WESTFALEN-TIPP:
Für Sie ausgewählt
Im ländlichen Raum gibt es viele Menschen mit tollen Ideen und
Produkten. Drei von ihnen stellen wir Ihnen auf diesen Seiten vor.
Sie fallen auf durch ihre Liebe zur Region, in der sie leben,
zum Material, mit dem sie arbeiten, und nicht zuletzt auch den
Mut, etwas zu riskieren.
Unseren Westfalen-Tipp werden Sie von nun an in jeder Ausgabe von
Landschaft Westfalen finden – mit Produkten, die der Redaktion
aufgefallen sind. Mehr davon finden Sie auf Seite 24 dieser Ausgabe.
BOCHOLT
Hochprozentige
Der Gutsbrennerei Geuting ist mit i
Whisky etwas Besonderes gelungen
Von Stefan Legge
Der Whiskytrinker ist gut informiert und sehr
anspruchsvoll.“ Magnus Geuting kennt seine
Kunden und ihre Vorlieben. Destillat, Fass,
Reifezeit, Wasser – was letztendlich den Geschmack,
das Aroma eines Whiskys ausmacht, darüber
können Kenner endlos lang philosophieren. „Das geht
quer durch alle Altersklassen und sozialen Schichten“,
sagt der Unternehmer, der den Familienbetrieb in sechster
Generation führt.
Als Profi der Spirituosenherstellung freut sich
Magnus Geuting auf das Fachgespräch mit den Kunden.
Er lädt sie zu sich nach Bocholt in seine Brennerei ein
und präsentiert sein Produkt auf Fachmessen. Freude
macht ihm das auch deshalb, weil er mittlerweile sicher
sein kann, dass ihm mit dem Münsterländer Whisky
etwas Besonderes gelungen ist.
„Natürlich war das ein Wagnis“, sagt er rückblickend.
Nach einem Studium der Betriebswirtschaftslehre in
Bielefeld und Lehrgängen zum Destillateur und Kornbrenner
hat er 2008 den Betrieb von seinem Vater übernommen.
Dieser war ab den 1970er-Jahren schon innovativ.
Zu Korn und Wacholder kamen verschiedene Liköre.
„Die Trinkgewohnheiten der Menschen haben sich verändert,
also hat sich auch unsere Produktpalette erweitert;
mal fruchtig, mal Kräuterlikör.“
Befreit von den Fesseln des Alkoholmonopols und
nach einigen Umbauarbeiten auf dem Hof war dann 2010
alles bereit für den Münsterländer Whisky. „Was wir nach
drei Jahren aus den Fässern rausholen würden, wussten
DEZEMBER 2021 / AUSGABE 6
WINTER-SPEZIAL
Handwerk | 21
BÜNDE
egerbten Leder sind ein wichtiger
uktpalette. Foto: Manuel Glasfort
Für die Ewigkeit
genäht
Leens Jan Ondra stellt in Ostwestfalen
hochwertige Lederprodukte her
Von Manuel Glasfort
„Mein größtes Problem ist es,
die Produktionsstätten zu finden.“
Leens Jan Ondra, Ondura
r vom Fass
Das Thema Nachhaltigkeit ist in aller Munde,
doch was bedeutet es eigentlich, nachhaltig zu
konsumieren? Leens Jan Ondra aus Bünde hat
davon eine klare Vorstellung. Das Produkt
müsse erstens „super haltbar“ sein, zweitens reparierbar.
„Und wenn es dann noch aus der Region kommt – top.“
Ondra setzt diese Philosophie in seinen Produkten konsequent
um. In seiner Werkstatt entstehen vor allem
Lederwaren, die er unter der Marke „Ondura“ an den
Mann und die Frau bringt. Schon der Markenname –
clever abgewandelt von Ondras Nachnamen - deutet auf
den Anspruch hin: das lateinische Wort „durare“ bedeutet
„halten“.
Vor sechs Jahren wagte Ondra den Schritt in die
Selbstständigkeit. Sein erstes Produkt: das Classic Biker
Wallet, ein Portemonnaie aus dickem, natürlich gegerbtem
Leder. Bereits während seines Modedesign-Studiums
in Berlin-Weißensee habe er nach so einem Modell gesucht.
„Dann hab ich mir gedacht, ich nähe mir selbst ein
neues Portemonnaie.“ Inzwischen ist die Ondura-
Produktpalette deutlich gewachsen. Neben Waren aus
dickem, natürlich gegerbtem Leder wie Portemonnaies,
Gürteln und Brillenetuis gehören auch Taschen und
Textilien zum Angebot. Ondra legt dabei nicht nur wert
auf Haltbarkeit, sondern auch auf ein zeitloses Design.
Ondra setzt damit einen Kontrapunkt zu den schnelllebigen
Produkten der Fast-Fashion-Industrie, die nach
einer Saison wieder ersetzt werden.
Der Bünder hat nach seinem Studium zunächst selbst
in der Branche gearbeitet: „Das hat mir gar nicht gefallen.
Insgesamt wurde immer in Fernost unter fragwürdigen
Bedingungen produziert. Und immer ,schnell, schnell,
schnell‘, denn es muss ja immer rechtzeitig zur Saison
fertig sein.“ Auch der handwerkliche Aspekt der Arbeit
sei zu kurz gekommen, erzählt Ondra, der nach der
Schule zunächst eine Lehre als Zimmerer absolviert hatte.
Im Endeffekt sei für ihn die Sinnhaftigkeit der Arbeit
verloren gegangen. Ondra wollte Produkte herstellen,
hinter denen er voll und ganz steht – und machte sich
selbstständig. In Bünde schaute er einem Sattlermeister
bei der Arbeit über die Schulter und eignete sich so das
handwerkliche Know-how an. Mit der Zeit wuchs auch
der Maschinenpark in seiner kleinen Werkstatt.
Seine Lederwaren stellt Ondra nach wie vor komplett
selbst her, andere Produkte werden von Partnern gefertigt.
Bei der Auswahl seiner Zulieferer und Auftragsfertiger legt
der Ostwestfale großen Wert auf Regionalität. Sein Leder
bezieht er beispielsweise von zwei Gerbereien aus Nordrhein-Westfalen.
Doch nicht immer lassen sich Partner in
der Region finden, dann sucht Ondra deutschlandweit.
Seine T-Shirts, Pullover und anderen Textilien bewirbt
er mit „Made in Germany“.
Doch manche Dinge werden in Deutschland schlicht
nicht mehr produziert – dann muss Ondra seinen Suchradius
auf die Nachbarländer erweitern. Vor einigen Jahren
wollte er Lederhandschuhe ins Programm aufnehmen.
„Ich habe ewig gesucht, aber ich habe in Deutschland
niemanden mehr gefunden.“ Schließlich fand er ein
deutsches Unternehmen, das Handschuhe in der Slowakei
herstellt. „Mein größtes Problem ist, die Produktionsstätten
zu finden.“
Produkte entwickeln und herstellen, Zulieferer finden
und gleichzeitig den Vertrieb managen – an Aufgaben
mangelt es dem Selbstständigen nicht. Inzwischen hat er
seine Marke etabliert, ein Produktportfolio entwickelt
und ein Händlernetzwerk aufgebaut. Er könne von seinem
Geschäft leben, sagt Ondra, der seine Waren auch direkt
im Netz verkauft unter www.ondura.de
hrem Münsterländer
Stefanie und Magnus
Geuting in ihrer Brennerei.
Foto: Stefan Legge
wir nicht“, blickt Geuting zurück. „Das Rezept waren 180
Jahre Familientradition in der Herstellung von Spirituosen
und theoretisches Fachwissen, der Rest war learning by
doing.“ Herausgekommen sei ein eigener Charakter. Eine
Harmonie aus Destillat und Fass.
Whiskyfässer haben alle eine Geschichte. Sei es durch
ein besonderes Holz, eine spezielle Vorbehandlung oder
ihre vorherige Nutzung. In einigen lagerte bereits Portwein
oder Sherry, andere sind durch eine frühere Whiskylagerung
vorgeprägt. Ergänzt um die Variablen Destillat,
Lagerort und Lagerdauer ergibt sich eine recht komplizierte
Gleichung.
Kaufempfehlung von Jim Murray
Sein strengster Kritiker ist Magnus Geuting selbst.
Er bestimmt den Brennvorgang, er wählt die Fässer aus,
er probiert. „Um eine objektive Meinung zu bekommen,
haben wir dann Proben unseres Whiskys verschickt.“
Was dem Restaurantliebhaber der Guide Michelin, ist
dem Whiskytrinker Jim Murray’s Whisky Bible.
„Von totalem Verriss bis zum überschwänglichem Lob
ist da alles möglich“, sagt Geuting. Mit einigen nationalen
Auszeichnungen im Rücken hat der Münsterländer
Whisky auch diesen Härtetest bestanden: 85 von möglichen
100 Punkten – Jim Murray spricht sogar eine
Kaufempfehlung aus.
Magnus Geuting wollte das immer machen: Schnaps
brennen. Seine ältere Schwester ging vom Hof, sein
jüngerer Bruder arbeitet heute im Familienunternehmen
mit. „Meine Arbeit ist abwechslungsreich und macht mir
Freude“, sagt der zweifache Familienvater. Seine Frau
Stefanie kam aus Wiesbaden ins Westmünsterland.
Sie kümmert sich um Werbung und PR für die Produkte.
Auch die 15-jährige Helena und der 12-jährige Valentin
packen mit an.
Als landwirtschaftliche Brennerei legt Geuting Wert
auf die Kreislaufwirtschaft und auf Nachhaltigkeit.
Das bedeutet aber auch, dass er seine 50 Hektar Ackerland
selbst bewirtschaftet. „Den Weizen, aus dem wir unser
Destillat für Korn oder Whisky gewinnen, bauen wir
selbst an. Auch die Schlempe, der Reststoff des Brennvorgangs,
kann auf dem Hof als Tierfutter verwertet werden.“
Und so geht dem Unternehmer im Jahresverlauf die Arbeit
nicht aus. „Wir brennen nur in den Wintermonaten.
Dafür brauchen wir unsere volle Konzentration, deshalb
haben wir Besuchergruppen für Besichtigungen auch nur
von März bis Oktober auf dem Hof.“
Zu kaufen gibt es die Produkte im Einzel- und Getränkefachhandel
der Umgebung oder im Onlineshop.
„Die Corona-Einschränkungen haben uns hart getroffen“,
sagt Magnus Geuting. Schützenfeste, Gastronomie,
Karneval: Das seien für die Brennerei immer Absatzbringer
gewesen. „Spirituosen trinkt man in Gesellschaft,
nicht allein.“ Einen edlen Tropfen zu verschenken, liege
aber nach wie vor im Trend. „Der November und der
Dezember sind traditionell unsere stärksten Monate.“
Schließlich kann Hochprozentiges nicht nur schmecken,
sondern in der kalten Jahreszeit auch von innen wärmen.
WINTER-SPEZIAL
22 | Geschichte
AUSGABE 6 / DEZEMBER 2021
„AUCH HIER SOLLTE
DAS DENKMAL
AUSGANGSPUNKT
FÜR KRITISCHE
AUSEINANDERSETZUNGEN
MIT DEN ZENTRALEN
AKTEUREN DER
DEUTSCHEN
KOLONIALGESCHICHTE
WIE WILHELM I. WERDEN.“
Sylvia Necker, Leiterin des
LWL-Preußenmuseums in Minden
Steingewordener Wilhelminismus: die Porta Westfalica. Foto: Friso Gentsch/dpa
WESTFALEN
Kontinuität des
Kolonialismus
Was die Geschichte der Wilhelminischen Zeit
mit Westfalen zu tun hat
Von Barbara Frey, Sebastian Bischoff und Andreas Neuwöhner
Als unlängst an der Porta Westfalica das 125-jährige
Jubiläum des Kaiser-Wilhelm-Denkmals
gefeiert wurde, regte die Leiterin des LWL-
Preußenmuseums in Minden, Sylvia Necker,
an, das Denkmal zum „Ausgangspunkt für
kritische Auseinandersetzungen mit den zentralen Akteuren
der deutschen Kolonialgeschichte wie Wilhelm I.“ zu
nehmen. Im Zuge der „Black lives matter“-Demonstrationen
weltweit gerieten Denkmäler von Versklavungshändlern
und Kolonisatoren in den Fokus der Öffentlichkeit –
aber warum sollte Kaiser Wilhelm I. als Kolonialakteur
kritisch betrachtet werden?
Als steingewordenes Symbol für das Nationalgefühl
des Deutschen Kaiserreichs erinnert das Denkmal auch
daran, dass unter der Regentschaft Wilhelms I. das Deutsche
Reich ab 1884 Kolonien in Afrika und in der Südsee
sowie ein Pachtgebiet in China „erwarb“. Etwas mehr als
dreißig Jahre herrschten die Deutschen in ihren Kolonien.
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs endete zwar die deutsche
Kolonialzeit offiziell – revanchistische Kräfte forderten
jedoch bis 1943, dass das Deutsche Reich wieder Kolonialmacht
werden müsse.
Aufarbeitung ließ lange auf sich warten
Die Aufarbeitung der Aus- und Nachwirkungen der deutschen
Kolonialzeit spielte in der bundesdeutschen Erinnerungskultur
lange eine untergeordnete Rolle. Kolonialismus
– das betraf vielleicht Großbritannien, Frankreich
und die Niederlande. Erst in den letzten Jahren nahm die
Debatte über Deutschlands Rolle an Fahrt auf. Trotz des
zunehmenden Wissens über die Massaker in den Kolonien
hält sich der Mythos, der deutsche Kolonialismus sei im
Verhältnis zu dem anderer Kolonialmächte eher unerheblich
gewesen, weiter fest im kollektiven Gedächtnis. Dabei
besaß das Deutsche Reich 1914 das an Fläche drittgrößte
Kolonialreich, gemessen an der Bevölkerungszahl lag es
an vierter Stelle.
Die Kolonialzeit manifestierte sich jedoch nicht nur in
den überseeischen Territorien durch die Anwesenheit von
Militär und Handel, Mission und Verwaltung, durch Eisenbahnbau,
Plantagen- und Landwirtschaft, sondern wirkte
auch in Deutschland und nach Deutschland zurück. In den
deutschen Hafenstädten und in Berlin, aber auch in Städten
und Ortschaften in der Provinz – und damit auch in Westfalen
– beteiligten sich Akteure und Befürworter, Profiteure
und Handlanger daran, den „kolonialen Gedanken“ in
der Bevölkerung zu verankern. Die Spuren sind allerorts
zu finden: materielle wie Gebäude, Denkmäler, Objekte,
Dokumente, immaterielle wie kolonialistisches und rassistisches
Gedankengut und andere Kontinuitäten wie
globale ökonomische Abhängigkeiten und Ungleichheiten.
Viele Zeugnisse in Westfalen
In Westfalen erzählen Straßennamen von kolonialen Akteuren
(oftmals sind diese erst in der Zeit des Nationalsozialismus
benannt worden), manch ein Kriegerdenkmal
erinnert auch an Soldaten, die in einem der Kolonialkriege
ihr Leben ließen, Gebäude künden von Wohlstand, der in
Übersee erwirtschaftet wurde. Westfälische Unternehmen
exportierten Stahl und Eisen für den Bau von Bahnen, Hafenanlagen
und Brücken in die Kolonien; Rohstoffe aus den
Kolonien wurden in hiesigen Tabak- und Schokoladenfabriken
verarbeitet. Völkerkundliche und Missions-Sammlungen
stellten Objekte zur Schau, die von Alltag, Riten
und der Kunst indigener Völker zeugten. Ob diese Objekte
legal erworben wurden, wird dabei nur selten hinterfragt.
Auf großen Kolonial- und Gewerbeausstellungen konnte
die westfälische Bevölkerung ein Bild von den wirtschaftlichen
Möglichkeiten gewinnen, die die Kolonien versprachen
– und nebenbei in Völkerschauen „Wilde“ begaffen.
Kolonialvereine veranstalteten Vorträge und Feste, Missionsvereine
sammelten Geld zur Unterstützung ihrer Tätigkeiten.
Und nicht zuletzt kauften die Menschen in Westfalen
in Kolonialwarenläden Kaffee, Tee, Schokolade und
viele andere Produkte. In den Tageszeitungen konnten sie
die neuesten Entwicklungen in den überseeischen Besitzungen
mitverfolgen. Die Kolonien waren der westfälischen
Bevölkerung der Kaiserzeit also durchaus präsent.
Umso erstaunlicher ist das lange Beschweigen der Kolonialzeit
nach 1945 und das Verdrängen der Täterschaft
deutscher Soldaten in den Kolonialkriegen – beim Völkermord
im Krieg 1904 bis 1907/08 gegen die Herero und
Nama in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), bei dem
über 80.000 Menschen umkamen, oder im Maji-Maji-Aufstand
in den Jahren 1905 bis 1907 in Deutsch-Ostafrika
Auch auf der Hohensyburg steht ein Reiterdenkmal für Kaiser Wilhelm I. Foto: Bernd Thissen/dpa
Die Autorin und die
Autoren des Beitrags
haben das Buch
„Koloniale Welten in
Westfalen“ herausgegeben,
der als Band
89 der Reihe „Studien
und Quellen zur
Westfälischen Geschichte“
im Verlag
Ferdinand Schöningh
erschienen ist.
(heute Tansania und Teile von Burundi und Ruanda), der
300.000 indigene Opfer forderte.
Debatten werden vielerorts geführt
Allmählich entsteht in der bundesdeutschen Gesellschaft
ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Aufarbeitung
der deutschen Kolonialzeit. In den Medien wird über die
Verhandlungen mit der namibischen Regierung über eine
offiziell sogenannte Wiederaufbauhilfe für die Nachfahren
der Herero und Nama informiert und die Rückgabe von
Kulturgütern, die in kolonialen Kontexten „erworben“
wurden, diskutiert. In Westfalen gab und gibt es mancherorts
Debatten um Umbenennungen von Straßen, die koloniale
Akteure ehren – wie um die Karl-Peters-Straße in
Bielefeld oder die Lettow-Vorbeck-Straße in Bünde – oder
um die Umgestaltung von Kriegerdenkmälern in Mahnmale
(zum Beispiel das Traindenkmal in Münster). Zivilgesellschaftliche
Gruppen wie Bielefeld postkolonial oder
Hagen postkolonial bieten Stadtführungen auf kolonialen
Spuren an; auf der Webseite Dortmund postkolonial wird
regionale Kolonialgeschichte aufgearbeitet. Auf Tagungen
werden Aspekte und Verflechtungen westfälischer Kolonial-
und Missionsgeschichte(n) diskutiert – wie auf der
Tagung „Aus Westfalen in die Südsee“ an der Westfälischen
Wilhelms-Universität in Münster 2017 oder auf der
Tagung „Koloniale Welten in Westfalen“ an der Universität
Paderborn 2019.
Kolonialismus ist keine geschichtlich abgeschlossene
Epoche, er wirkt bis heute fort. Seine Aufarbeitung erfordert
mehr als das bloße Sichtbarmachen von Spuren. Es
geht um das kritische Hinterfragen eines Geschichtsbildes,
das die Weltgeschichte entlang von europäischen und
nordamerikanischen Nationalgeschichten wahrnimmt
und diese zum Maßstab erklärt. Kolonial geprägte Menschenbilder
sind bis heute in Stereotypen und Machtverhältnissen
in unserer Gesellschaft sichtbar. Wer Rassismus
verstehen will, kommt an einer Beschäftigung mit der
Kolonialvergangenheit, als diese Sortierung der Menschen
nach vermeintlicher Wertigkeit begann, nicht vorbei.
DEZEMBER 2021 / AUSGABE 6
WINTER-SPEZIAL
Gesellschaft | 23
GÜTERSLOH/BIELEFELD
Weihnachten in der
Suppenküche
Mit großem Engagement stellen Vereine
Hilfebedürftigen täglich warme Mahlzeiten bereit.
Zu den Festtagen gibt es besondere Aktionen
Von Stefan Legge
Bis zu 120 Essen pro Tag werden in der Suppenküche
Gütersloh frisch zubereitet. Fotos: Marco Stepniak
Nur eine Woche dauerte die Schockstarre im Corona-Lockdown.
„Wir haben uns vom ersten Tag an Gedanken gemacht, wie wir
den Menschen trotzdem eine warme Mahlzeit bieten können“,
sagt Inge Rehbein, Gründerin und Vorsitzende der Gütersloher
Suppenküche. Not macht erfinderisch. Kurzerhand haben Rehbein
und ihre Helfer die Fenster im Erdgeschoss aufgemacht, einen Stuhl davor
gestellt und so eine kontaktlose und regelkonforme Essensausgabe geschaffen.
Eine kostenlose Hilfe, auf die viele Menschen in Gütersloh angewiesen sind.
120 Essen pro Tag gibt der Verein heraus.
Dass die Not auch ohne Corona groß ist, weiß Inge Rehbein. Seit 19 Jahren
führt sie den Verein und kennt die Menschen, die mittags zum Essen kommen,
persönlich. Sie kennt auch die Schicksale der Alleinerziehenden, Migranten
und Obdachlosen, deren Haushaltsbudget so klein ist, dass es nicht
zum Leben reicht. „Über die Jahre ist das deutlich mehr geworden. Vor allem
die Altersarmut hat zugenommen“, berichtet Rehbein. Zu ihrem Team gehören
13 hauptamtliche und 110 ehrenamtliche Helfer des Vereins. Das Essen,
die Räumlichkeiten, das Personal – all das wird durch Spenden finanziert.
„Sie können sich vorstellen, wie viel Überzeugungsarbeit wir dafür leisten
müssen“, sagt Rehbein.
Spendenbereitschaft steigt zum Jahresende
„Vor allem zum Jahresende verzeichnen wir höhere Spendeneingänge“ sagt
Ulrich Wienstroth, Geschäftsführer des Bielefelder Tischs. Sein Verein kommt
auf 250 warme Mahlzeiten am Tag und wird ebenfalls fast ausschließlich über
Spenden finanziert. „Alles gratis für die Gäste. Sie dürfen essen, so viel sie
wollen, und der Rest darf mitgenommen werden“, so Wienstroth. Die laufenden
monatlichen Kosten seines Vereins beziffert er auf über 4000 Euro: Miete,
Strom, Reparaturen, Versicherungen. „Für das Essen zahlen wir glücklicherweise
fast nichts. Supermärkte, Kantinen und Caterer wissen, wo sie ihre Restmengen
loswerden können. So bekommen wir oft schon fertig gekochte Gerichte,
und ohne uns würde das alles weggeschmissen“, sagt Wienstroth.
Genau wie in Gütersloh muss bei der Bielefelder Tafel niemand seine Bedürftigkeit
nachweisen. Alle sind willkommen. Wenig Geld ist oft nur ein
Grund fürs Kommen. „Für viele Menschen ist das der einzige soziale Kontakt
am Tag. Die gehen danach wieder in ihre seit dreißig Jahren nicht mehr renovierte
Wohnung, wo noch nicht mal ein Haustier auf sie wartet“, macht
Wienstroth die soziale Bedeutung seiner Einrichtung deutlich. Viele ältere
Herren seien beispielsweise gar nicht in der Lage, sich selbst mit warmem
Essen zu versorgen.
Für viele Menschen
ist der
Gang zur Essensausgabe
der
einzige soziale
Kontakt am Tag.
„Wir versuchen,
den Menschen
kleine Wünsche
zu erfüllen.“
Inge Rehbein,
Gründerin und Vorsitzende des Vereins
Gütersloher Suppenküchen
Bescherung am Heiligen Abend
„Gerade zu Weihnachten versuchen wir dann, den Menschen, die nicht auf der
Sonnenseite des Lebens stehen, eine besondere Freude zu machen“, sagt Wienstroth.
Die OWL-Weihnachtskiste ist so eine Initiative. Hier kann seit 15 Jahren
jeder ein Päckchen packen und das hineintun, worüber er sich selbst freuen
würde. Selbst gebackene Plätzchen, ein schönes Gedicht, ein komplettes Weihnachtessen
für eine sechsköpfige Familie – all das war in vergangenen Jahren
schon dabei. Früher wurden die Pakete vor dem Rathaus ausgegeben, seit Corona
werden mit dem Essen auch die Geschenke verteilt.
In Gütersloh nimmt sich Inge Rehbein am Heiligen Abend viel Zeit. Was
in Bielefeld die OWL-Weihnachtskiste, ist in Gütersloh das Paket mit Herz.
„Wir versuchen den Menschen damit kleine Wünsche zu erfüllen. Alkohol und
Tabak sind natürlich tabu“, berichtet Rehbein. Rasierzeug oder Duschgel seien
sinnvolle Sachen. Neben den Paketen gibt es von der Chefin aber auch für jeden
ein paar persönliche Worte. „Nach anderthalb Stunden habe ich dann oft keine
Stimme mehr“, sagt Rehbein und lacht.
Niemand muss unter der Brücke schlafen
Die beiden Einrichtungen sind Beispiele für ein Netz aus Suppenküchen und
Tagestreffs in Nordrhein-Westfalen. Als Mitunterzeichner einer gemeinsamen
Erklärung wandten sie sich zuletzt vor zwei Jahren an die Öffentlichkeit und
die politisch Verantwortlichen. „Bei uns bekommen Arme und Obdachlose
nicht nur Essen, Kleidung oder medizinische Versorgung, sondern fassen auch
neuen Mut. Sie erleben, dass sie in ihrer Menschenwürde wahrgenommen
werden, dass sich andere mit ihnen für eine gerechtere Welt einsetzen. In diesem
Sinne verstehen wir Initiativen uns als ‚Stachel im Fleisch‘ der Gesellschaft.
Wir wollen nicht zulassen, dass immer noch Menschen in Not kein Dach über
dem Kopf haben, dass in unseren Innenstädten kein Platz ist für die Gesichter
der Armut“, heißt es in der Erklärung.
Ihre zentralen Forderungen an die Politik: keine Vertreibung von Obdachlosen,
Öffnung von geschützten Räumen, ein sicherer Schlafplatz ohne Ämtergänge
und bezahlbarer Wohnraum. „Eine soziale Wohnungspolitik muss
sich angesichts explodierender Mieten auch an den Bedürfnissen der schwächsten
Mitglieder der Gesellschaft orientieren“, formulieren die Verfasser und
legen den Finger in die Wunde.
Von der Politik wünscht sich Ulrich Wienstroth mehr Unterstützung.
„Eigentlich machen wir hier den Job der Stadt. Die muss sich doch um ihre
Menschen kümmern.“ Positiv bewertet er das enge Netz von Anlaufstellen und
Notunterkünften in Bielefeld. „Auch wenn nicht jeder in einer Gruppenunterkunft
mit Achtbettzimmer übernachten möchte, das Angebot steht zur Verfügung.“
Das gelte auch für die Menschen in Gütersloh ohne festen Wohnsitz,
sagt Inge Rehbein: „Hier muss niemand unter der Brücke schlafen.“
DEZEMBER 2021 / AUSGABE 6
WINTER-SPEZIAL
Tipps | 24
OEDING
Geschwister der Wurstküche
Herzblut, Handwerk und
Heimatliebe: unsere Tipps für
besondere regionale Produkte
Eine ganz
besondere
Spezialität
Die Besonderheit aus dem Hause Rüweling, Papa
Pauls ganzer Stolz und der König unter den
Schinken: der Westfälische Knochenschinken.
Er muss mindestens ein Jahr lang reifen, ehe er
unter die Genießer darf. Und woher hat er seinen doch
etwas brutalen Namen? Ganz einfach: Der Röhrenknochen
des Schinkens bleibt bis zuletzt dran und verleiht ihm
schließlich seinen speziellen Namen.
Die handwerkliche Herstellung, für die viel Erfahrung
und Geschick gefordert sind, liegt den „Wurstgeschwistern“
Nadine, Anja und Daniel Rüweling ganz besonders
am Herzen. Sie führen in vierter Generation den Betrieb
weiter, den ihr Urgroßvater einst gründete. Das traditionelle
Handwerk haben sie mit modernem Marketing und
Vertrieb kombiniert, weil die Wurstpakete von zu Hause
bei ihren Freunden in Berlin und Hamburg immer der Renner
waren. Verschiedenste Wurst- und Schinkenspezialitäten,
Hausmannskost im Glas, Spezialitäten für den Grill
sowie Kuchen und Brot vom Bäcker nebenan, all das gibt
es online zu kaufen. Und der Renner: Für alle, die keine
Schokokalender mögen, gibt’s jetzt in der Adventszeit
einen Wurstkalender. www.wurstgeschwister.de
Der Westfälische Knochenschinken
ist ein Unikat. Foto: Wurstgeschwister
Skandinavisch inspiriert: die Tische Hippe (oben)
und Sprokame. Foto: Herr Lars
Feinste
Handwerkskunst
Jedes Stück Holz ein
treuer Begleiter
Steinfurt. Der Tisch Hippe holt mit einer Baumscheibe
ein herrliches Stück Natur in den Raum, und an Sprokame
nimmt eine ganze Großfamilie Platz: Inspiriert von
skandinavischem Design entstehen Stücke wie diese in
der Steinfurter Möbelmanufaktur von Lars Wilmer aus
zertifiziertem Holz, das in der Region geschlagen wurde.
Auch die übrigen Bauteile, etwa aus Stahl, stammen von
Partnerbetrieben aus dem Umland. Herz und Hand des
Designers und seines Teams machen daraus Unikate, die
ein Leben lang treue Begleiter sein werden. Jedes Möbelstück
– vom Hocker bis zum Schrank – wird auf Kundenwunsch
gefertigt.
Ehe man gleich einen ganzen Schrank online bestellt,
versendet die Manufaktur auch Holzmuster und
Farbproben. www.herr-lars.com
Ein Klassiker
wie der Dom
Münster. Mehr als 100 Brauereien gab
es einst in Münster, heute sind es noch
fünf, dabei gehört das Bier doch eigentlich
zu Münster wie der Dom. Ein
Stück der Biergeschichte wieder aufleben
zu lassen, haben sich die Macher
der Finne Brauerei vorgenommen.
Das Helle gehört zu den jüngeren Bieren,
und doch ist es längst ein Klassiker
für den Feierabend. Auch für
Craftbeer-Manufakturen gehört es
selbstverständlich zum Programm.
Egal ob am Prinzipalmarkt oder im
Stadion: Das Helle ist bekannt für
seine hohe drinkability. Aber das ist
natürlich längst nicht alles, was die
Finnen zu bieten haben. Wer einen
tiefen Schluck von den leuchtenden
Gerstenfeldern des Münsterlandes
nehmen möchte, finden im Bio Harvest
Brew ein goldgelbes Märzen. Der
wuchtige Hafenelefant steht für das
Finnen Pale Ale Bio Ipa. Sechs unterschiedliche
Malzsorten liefern die
feine Melange für das Bio Scottish Ale.
Wer all das nicht direkt in der Brauerei
im Münsteraner Kreuzviertel probieren
möchte, kann online bestellen.
www.finne-brauerei.de
Ein junger Klassiker der Biergeschichte.
Foto: Finnen Brauerei
Das Helle
steht für
drinkability