Hinz&Kunzt 346 Dezember 2021
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Das Hamburger<br />
Straßenmagazin<br />
Seit 1993<br />
N O <strong>346</strong><br />
Dez .21<br />
2,20 Euro<br />
Davon 1,10 Euro für<br />
unsere Verkäufer:innen<br />
Ich sehe<br />
was, was ihr<br />
nicht seht<br />
Geschichten vom Weihnachtsmann
Editorial<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>346</strong>/DEZEMBER <strong>2021</strong><br />
Für unseren<br />
Schwerpunkt zum<br />
Thema „Inklusion“<br />
hat sich unser<br />
Autor Ulrich Jonas<br />
unter anderem mit<br />
Rollstuhl-Skater<br />
David Lebuser<br />
getroffen.<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
haben Sie schon einmal einem Weihnachtsmann dabei geholfen, seinen<br />
Mantel über dem runden Bauch zu schließen? Ich hatte die Ehre, als uns<br />
Weihnachtsmann Claudius zum Fototermin für diese <strong>Dezember</strong>ausgabe<br />
besucht hat. „Ich will auch euch mal was Gutes tun“, sagte er. Meine Kollegin<br />
Anna-Elisa Jakob hat länger mit ihm geplaudert. Aber lesen Sie selbst.<br />
Weihnachtsmann Claudius hat übrigens auch einen Wunsch: „Dass es<br />
weniger Kinder gibt, die mit Hartz IV auskommen müssen“, sagt er. Gäbe es<br />
faire Arbeitsbedingungen und eine gerechte Bezahlung für alle in der Europäischen<br />
Union, wären wir diesem Ziel näher. Wir haben unter anderem<br />
darüber mit EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit gesprochen.<br />
Um Fairness, Gerechtigkeit und um Zusammenhalt geht es auch im<br />
Schwerpunkt dieser Ausgabe. Am 3. <strong>Dezember</strong> ist der Internationale Tag<br />
der Menschen mit Behinderungen. Wir haben uns daher mit dem Thema<br />
Inklusion befasst: mit Betroffenen gesprochen, inklusive Sportangebote<br />
besucht und nachgeforscht, wie realistisch der Mindestlohn für Beschäftigte<br />
in Behindertenwerkstätten ist, wie ihn eine Online-Petition derzeit fordert.<br />
Ein paar Überraschungen haben wir auch. Fehlt Ihnen ein Weihnachtsgeschenk<br />
für Ihre Lütten? Upcycling-Expertin Steffi Treiber, bekannt<br />
durch die TV-Sendung „Lieblingsstücke“ im WDR, zeigt handwerklich<br />
Begabten, wie aus einem alten Stuhl eine Kinderküche entsteht. Mit Glück<br />
baut die Bühnenplastikerin bald auch ein Lieblingsstück für Sie! Schauen Sie<br />
dafür auf unseren Leser:innenaufruf. Außerdem hat uns unsere Druckerei<br />
A. Beig das Papier für acht zusätzliche Magazinseiten geschenkt. Die haben<br />
wir wie immer gewissenhaft für Sie gefüllt. Wir hoffen, Sie haben Spaß daran.<br />
<br />
Eine frohe Weihnachtszeit Ihnen allen!<br />
Ihre Annette Woywode<br />
Schreiben Sie uns an: briefe@hinzundkunzt.de<br />
TITELBILD: ANDREAS HORNOFF<br />
FOTO OBEN: DMITRIJ LELTSCHUK; UNTEN: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
2
06<br />
Exklusiv: EU-<br />
Sozialkommissar<br />
Nicolas Schmit<br />
im Interview<br />
Inhalt<br />
<strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong><br />
Stadtgespräch<br />
42<br />
Upcycling mit<br />
Steffi Treiber<br />
06 „Wir sehen an den Obdachlosen vorbei“<br />
EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit im Interview<br />
12 Nur wenige ziehen das große Los<br />
Das Hamburger Winternotprogramm hat begonnen.<br />
14 25 Jahre Mitternachtsbus für Obdachlose<br />
Die Ehrenamtliche Ellen Zander ist von Beginn an dabei.<br />
16 Geschichten vom Weihnachtsmann<br />
Claudius kommt seit 36 Jahren zur Bescherung.<br />
Inklusion<br />
22 „Menschen sind von Natur aus Mängelwesen“<br />
Fünf Menschen mit Behinderung berichten aus ihrem Alltag.<br />
28 Ausgeschlossen?<br />
Beschäftigte in Behindertenwerkstätten fordern mehr Lohn.<br />
32 Spielerisch zusammenwachsen<br />
Fünf Beispiele für gelebte Inklusion im Sport<br />
24<br />
Dorothee<br />
Reumann über<br />
ihren Job am<br />
Theater<br />
Freunde<br />
48 Barrierefrei kommunizieren<br />
„Capito“ übersetzt künftig Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Artikel in Leichte Sprache.<br />
Bauen&Basteln<br />
40 „Ich dachte ich spinne, ich träume!“<br />
WDR-Upcycling-Expertin Steffi Treiber macht aus Altem Neues.<br />
42 Ran an Herd und Spüle!<br />
Upcycling-Bauanleitung für eine Kinderküche<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
54<br />
Neuer Bildband:<br />
Eine Stadt wird bunt<br />
52 Theaterstück „Wir, ,Kinski‘ und ich“<br />
54 Eine Stadt wird bunt<br />
Bildband über die Anfänge der Hamburger Graffiti-Szene<br />
60 Tipps für den <strong>Dezember</strong><br />
64 Kolumne: Auf ein Getränk mit Andreas Moster<br />
66 Momentaufnahme: Vertriebskollege Gabor<br />
Rubriken<br />
04 Gut&Schön<br />
10 Zahlen des Monats<br />
15 Meldungen<br />
50 Buh&Beifall<br />
65 Rätsel, Impressum<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk
Nikolaus & Stille Nacht<br />
Das lässt sich Hinz&Künztler Peter, 63,<br />
trotz Corona nicht nehmen:<br />
Am 6. <strong>Dezember</strong> will er an seinem<br />
Stammplatz vor dem Edeka in Krupunder –<br />
dort steht er seit 24 Jahren – für die<br />
Kinder wieder den Nikolaus geben und<br />
kleine Geschenke verteilen. Weihnachten<br />
wird Peter dann aber still verbringen,<br />
bei einem ebenfalls geimpften Rolli-Freund<br />
in Bergedorf. Sein Wunsch für alle<br />
Leser:innen und sich selbst:<br />
„Dass nächstes Jahr alles wieder normal<br />
wird und planbar!“ JOC<br />
JOC<br />
•
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Gut&Schön<br />
Ehrung für GoBanyo<br />
Eine geniale Idee<br />
„Eine ebenso einfache<br />
wie geniale Idee“: Mit<br />
diesen Worten wurde<br />
das Team der Hamburger<br />
Duschbus-Initiative<br />
„GoBanyo“ mit der<br />
„Theodor-Heuss-<br />
Medaille“ gewürdigt.<br />
Die nach dem 1. Bundespräsidenten<br />
benannte<br />
Stiftung zeichnet<br />
vorbildliches demokratisches<br />
Engagement aus.<br />
Seit Start im <strong>Dezember</strong><br />
2019 konnte GoBanyo<br />
mehr als 11.000 mal<br />
Menschen ermöglichen<br />
zu duschen. JOC<br />
•<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE (S. 4), IMKE LASS (OBEN), PICTURE ALLIANCE/DPA/MARCUS BRANDT,<br />
MAMARAZZI HEIDI AUS BERGEN/KRONEVITZ (UNTEN RECHTS)<br />
Bundesverdienstkreuz am Bande für „Alfons“<br />
Viele kennen ihn aus seiner Paraderolle als satirischer Reporter „Alfons“, mit der<br />
Emmanuel Peterfalvi, 54, auch im NDR Kultstatus erlangt hat. „Die Menschen<br />
zum Nachdenken bringen, auf meine Weise, mit orangefarbener Jacke und<br />
Puschelmikrofon“ – so interpretiert er bescheiden seine Rolle. Doch der Franzose,<br />
der seit 1991 in Hamburg lebt und seit 2017 auch die deutsche Staatsbürgerschaft<br />
besitzt, hat dabei emphatisch vor allem für die Aussöhnung der<br />
beiden Völker und den europäischen Gedanken geworben. Nun bekam er dafür<br />
in Hamburg das<br />
Bundesverdienstkreuz<br />
am Bande.<br />
Staatsrat Christoph<br />
Holstein<br />
würdigte Peter falvi<br />
als „wichtigen<br />
Botschafter für<br />
Toleranz und<br />
Humanität“.<br />
Inzwischen gibt es<br />
mit „Le Freundeskreis“<br />
sogar<br />
eine eigene Plattform<br />
für Alfons-<br />
Fans. JOC<br />
•<br />
Weitere Infos:<br />
www.le-freundes<br />
kreis.de<br />
5<br />
Bully-Helden<br />
Aus ihrem „Bullybert“, einem alten<br />
VW-Bus, verteilt die Hamburger<br />
„Mobile Bully-Suppenküche“<br />
Gratis-Essen und Kleidung. Dafür<br />
gab es jetzt den mit 5000 Euro<br />
dotierten „Smart Hero Award“ der<br />
„Stiftung Digitale Chancen und<br />
Meta“ in der Kate gorie „Sozial<br />
Handeln“. Vereins vorsitzende Julia<br />
Radojkovic freut die Aufmerksamkeit:<br />
„So kommt das Thema Obdachlosigkeit<br />
auch in einer reichen<br />
Stadt wie Hamburg zur Sprache.“<br />
Das Preisgeld will man in winterfeste<br />
Schlafsäcke, Medikamente und<br />
Reparaturen am Bully stecken. JOC<br />
•<br />
Infos: www.mobilebullysuppenkueche.de
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
„Wir sehen<br />
die Obdachlosen –<br />
aber wir sehen auch<br />
an ihnen vorbei<br />
Der Luxemburger Nicolas Schmit ist seit 2019 EU-Sozialkommissar.<br />
Redakteur Benjamin Laufer hat mit dem Sozialdemokraten gesprochen –<br />
über Obdachlosigkeit als europäisches Problem, Mindestlöhne,<br />
Saisonarbeiter:innen und explodierende Mieten.<br />
FOTOS: IMAGO/KARIN WESSLÉN (S. 6), EPA/OLIVIER HOSLET<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Herr Schmit, es gibt<br />
mehr als 700.000 wohnungslose<br />
Menschen in der EU, Zehntausende<br />
schlafen auf Europas Straßen.<br />
Ist das nicht ein dramatisches Zeugnis<br />
für eine gescheiterte Sozialpolitik?<br />
Nicolas Schmit: Auch in Deutschland haben<br />
die Zahlen in den letzten Jahren<br />
stark zugenommen. Das ist eine dramatische<br />
Entwicklung und in einem gewissen<br />
Sinn auch ein Misserfolg der Sozialpolitik.<br />
Es zeigt, dass das soziale Netz Löcher<br />
hat und immer mehr Menschen durch<br />
diese Löcher fallen. Eine ganze Reihe<br />
von Gründen haben zu dieser dramatischen<br />
Entwicklung geführt, und wir können<br />
dieses Problem nur mit einer sehr<br />
breiten Herangehensweise bekämpfen.<br />
Haben Sie denn das Gefühl, dass<br />
genug dafür getan wird? Angesichts<br />
steigender Zahlen könnte man den Eindruck<br />
gewinnen, dass Obdachlosigkeit<br />
eher verwaltet statt bekämpft wird.<br />
Wir sehen die Obdachlosen, wir sehen<br />
aber auch an ihnen vorbei – das ist<br />
nicht normal, da muss etwas geschehen.<br />
Wenn die Bürger verlangen, dass diesen<br />
Menschen geholfen wird, wird die<br />
Politik vielleicht noch energischer<br />
handeln. Obdachlosigkeit ist zu einer<br />
reellen politischen Frage geworden, da<br />
haben auch das Europäische Parlament<br />
und sehr viele NGOs mitgeholfen. Ich<br />
glaube wir sind an einem Punkt, an<br />
dem jeder bereit ist, mehr zu tun.<br />
Sie haben als EU-Sozialkommissar<br />
leicht reden – zuständig sind ja<br />
die Länder. Was kann die EU tun,<br />
um Obdachlosigkeit zu bekämpfen?<br />
Es gibt keine europäische Kompetenz<br />
für Obdachlosigkeit, aber es ist ein<br />
europäisches Problem. Sie finden Obdachlosigkeit<br />
in Stockholm, in Hamburg,<br />
in Luxemburg und in Rom – in<br />
„Die Wohnung<br />
ist zentral, aber<br />
sie genügt nicht.“<br />
fast allen Großstädten Europas. Im Juni<br />
haben wir die „Europäische Plattform<br />
zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit“<br />
gestartet. Hier bringen wir alle Akteure<br />
zusammen, verbessern die Daten und<br />
werten aus, was bislang gut funktioniert<br />
hat und was verbessert werden kann.<br />
Jeder Mitgliedstaat und jede Stadt kann<br />
von diesem Erfahrungsaustausch profitieren.<br />
Und wir können Projekte und<br />
NGOs finanziell unterstützen.<br />
7<br />
Das Europaparlament hat ja<br />
beschlossen, dass Obdachlosigkeit<br />
bis 2030 überwunden sein soll.<br />
Um das zu schaffen, müssten<br />
immense Anstrengungen unternommen<br />
werden. Haben Sie den<br />
Eindruck, dass das passiert?<br />
Ich bin Optimist und würde sagen,<br />
dass wir in den nächsten Jahren mehr<br />
Anstrengungen unternehmen werden.<br />
Natürlich kann man nicht einfach<br />
beschließen, dass es ab 2030 keine<br />
Ob dachlosigkeit mehr gibt. Ich glaube<br />
nicht so richtig daran, aber wir müssen<br />
alles dafür unternehmen. Wir müssen<br />
dafür sorgen, dass Menschen, die obdachlos<br />
sind, wieder auf eigenen Füßen<br />
stehen und ein „normales“ Leben<br />
führen können. Außerdem müssen<br />
wir präventiv handeln, damit weniger<br />
Menschen in Obdachlosigkeit fallen.<br />
Von allen EU-Ländern ging nur in<br />
Finnland die Zahl der Wohnungslosen in<br />
den vergangenen Jahren zurück – dank<br />
„Housing First“. Ist es ein Patentrezept<br />
gegen Obdachlosigkeit, Wohnungen<br />
ohne Vorbedingungen zu vergeben?<br />
Wir wissen alle: Die Wohnung ist zentral,<br />
aber sie alleine genügt nicht.<br />
Menschen, die jahrelang auf der Straße<br />
gelebt haben, müssen während einer<br />
Übergangszeit von sozialen Diensten<br />
begleitet werden. Wir müssen ihnen
Stadtgespräch<br />
helfen, wieder autonom zu werden. Das<br />
funktioniert aber nicht in einer Notunterkunft<br />
mit Hunderten anderen.<br />
Woher sollen die Wohnungen dafür<br />
kommen? Berlin hat angekündigt,<br />
jährlich bis zu 2000 der städtischen<br />
Wohnungen an Wohnungslose zu<br />
vergeben. Das gilt als ambitioniert,<br />
aber bei rund 50.000 Menschen in<br />
öffentlichen Unterkünften und bis zu<br />
10.000 auf der Straße reicht das ja bei<br />
Weitem nicht aus.<br />
Diese Frage stellt sich ja nicht nur für<br />
die Obdachlosen. In vielen Teilen Europas<br />
sind Wohnungsnot und die Preisentwicklung<br />
auf dem Wohnungsmarkt zentrale<br />
Probleme. So wichtig Mindestlöhne<br />
auch sind – wenn gleichzeitig die Preise<br />
auf dem Wohnungsmarkt explodieren,<br />
dann kann ich mir damit keine Wohnung<br />
mehr leisten. Das ist skandalös.<br />
Wir haben aus dem Wohnungsmarkt<br />
einen spekulativen Markt gemacht. Wir<br />
brauchen mehr Wohnungen, durch<br />
private und öffentliche Investitionen.<br />
Und wir brauchen ein Minimum an<br />
Regulierung. Ohne das werden wir das<br />
Problem nicht meistern.<br />
„Es wird keinen<br />
einheitlichen<br />
Mindestlohn<br />
geben.“<br />
Selbst wenn es genügend Wohnungen<br />
geben sollte – den meisten Menschen<br />
aus Osteuropa, die hierzulande auf der<br />
Straße leben, würde das nicht helfen.<br />
Anders als erhofft finden sie hier<br />
keine Arbeit und haben dann auch<br />
keinen Anspruch auf Sozialleistungen,<br />
also auch nicht auf Housing First.<br />
Hamburg hat in der Vergangenheit<br />
Dutzende Obdachlose abgeschoben.<br />
Damit ist niemandem geholfen.<br />
Wir können aber auch nicht sagen, dass<br />
alle, die nach Hamburg kommen, vom<br />
ersten Tag an Sozialleistungen bekommen.<br />
Das hört sich gut an, würde aber<br />
Sozialkommissar Nicolas Schmit will soziale Standards in der EU angleichen.<br />
eine ganze Reihe von Problemen in den<br />
Mitgliedsstaaten schaffen. Es müssen<br />
pragmatische Lösungen für diese<br />
Menschen gefunden werden.<br />
Fachkräfte aus dem EU-Ausland<br />
werden gerne genommen, aber mit den<br />
sozialen Problemen will sich offenbar<br />
niemand auseinandersetzen ...<br />
… und die Heimatländer bedauern,<br />
dass so viele junge Menschen abwandern.<br />
Natürlich ist die Lösung, dass wir<br />
jungen Menschen gute Perspektiven in<br />
ihrem Heimatland geben. Wir arbeiten<br />
daran, eine Aufwärtskonvergenz der<br />
sozialen Standards zu erreichen, bei<br />
Mindestlöhnen zum Beispiel. Wenn die<br />
Unterschiede sehr hoch sind, kann man<br />
verstehen, dass die Menschen ihre<br />
Zukunft eher woanders sehen. Die<br />
Pandemie hat auch ein Schlaglicht auf<br />
die teils prekären Wohn- und Arbeitsbe<br />
dingungen ausländischer Saisonarbeiterinnen<br />
und -arbeiter geworfen.<br />
Hunderttausende Saisonarbeiter unterstützten<br />
jährlich wichtige Bereiche der<br />
europäischen Wirtschaft, etwa in der<br />
Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie.<br />
Die schlechten Arbeitsbedingungen,<br />
die unmensch liche Behandlung<br />
der Arbeitnehmer und die<br />
mangelnde Transparenz sind völlig<br />
inakzeptabel und stehen im Widerspruch<br />
zu unseren Grundsätzen und<br />
Werten. Die Rechte der Arbeit nehmer,<br />
einschließlich Saisonarbeitskräfte oder<br />
mobile Arbeitnehmer, müssen uneingeschränkt<br />
geachtet werden, unabhängig<br />
davon, welche Art von Vertrag sie<br />
haben. Einige Länder haben bereits<br />
Maßnahmen ergriffen und sind gegen<br />
schlechte Arbeits bedingungen vorgegangen,<br />
aber es sind noch weitere Fortschritte<br />
erforderlich.<br />
Wo stehen wir denn bei der<br />
Angleichung der Mindestlöhne?<br />
Die Kommission hat Vorschläge zu<br />
e inem Rahmen für Mindestlöhne<br />
gemacht. Darüber wird verhandelt. Es<br />
wird keinen einheitlichen Mindestlohn<br />
geben, das wäre nicht realistisch. Aber<br />
wir senden damit ein Signal aus. Einen<br />
derartigen Vorschlag hätte sich vor<br />
zehn Jahren niemand vorstellen können.<br />
Ich bin optimistisch, dass wir das<br />
in den nächsten Monaten hinbekommen<br />
und eine positive Dynamik bei den<br />
Mindestlöhnen auslösen.<br />
Einen Aufwärtstrend gibt es gerade<br />
auch bei den Energiepreisen.<br />
Wie kann verhindert werden, dass<br />
arme Menschen in ihren Wohnungen<br />
frieren und ihnen der Strom abgestellt<br />
wird, weil sie die Rechnung nicht<br />
mehr bezahlen können?<br />
Auch hier hat die Kommission Vorschläge<br />
gemacht. Wenn Gas- und<br />
Strompreise um 30 Prozent oder mehr<br />
steigen und Menschen wirklich in einer<br />
Notsituation sind, kann es nicht sein,<br />
8
Stadtgespräch<br />
dass wir ihnen den Strom abstellen. Das können wir als<br />
Kommission nicht veranlassen, aber wir haben den<br />
Mitgliedstaaten empfohlen, dass Ausnahmen gemacht<br />
werden können. Und wir brauchen Zuschüsse für die<br />
Menschen, die niedrige Einkommen haben. Ohne die<br />
wird es nicht gehen. Längerfristig müssen Wohnungen<br />
renoviert und besser isoliert werden. Wichtig ist allerdings,<br />
dass die Mieten dadurch nicht ansteigen und<br />
die Mieter anschließend darin wohnen bleiben können.<br />
Das ist eine Frage der Regulierung des Wohnungsmarkts.<br />
Energie wird in Zukunft noch teurer werden, wenn<br />
der Klimawandel gebremst werden soll. Wie können<br />
die Regierungen den CO 2<br />
-Ausstoß reduzieren,<br />
ohne die Armen damit zu belasten?<br />
Indem man die Einnahmen aus dem CO 2<br />
-Preis zugunsten<br />
von Menschen mit niedrigem Einkommen umverteilt.<br />
Das ist unbedingt notwendig. Im <strong>Dezember</strong> wird<br />
die Kommission weitere Empfehlungen machen, wie der<br />
Wandel sozialverträglich gestaltet werden kann und wie<br />
beispielsweise der „Social Climate Fund“ in diesem Sinne<br />
eingesetzt werden kann. Und wir müssen massiv in<br />
energiefreundliche Techniken investieren und brauchen<br />
Instrumente, damit Menschen mit niedrigem Ein kommen<br />
das auch finanzieren können. Viele Menschen können<br />
sich keine neue Heizung leisten – wenn eine Reduzierung<br />
des CO 2<br />
-Ausstoßes ein öffentliches Ziel ist, müssen<br />
die öffentlichen Finanzen dazu beitragen, diese Transformation<br />
hinzubekommen.<br />
Hoffen wir, dass das besser gelingt als in der<br />
aktuellen Krise. Durch die Coronapandemie sind die<br />
Armen noch ärmer geworden. Ebenfalls kein gutes<br />
Zeugnis für die Sozialpolitik.<br />
Wir werden den Europäischen Grünen Deal nur hinbekommen,<br />
wenn er sozial abgesichert ist. Klimapolitik<br />
und Sozialpolitik müssen eng miteinander verzahnt<br />
werden. Die Bekämpfung von Ungleichheiten ist ein<br />
wichtiges Anliegen dieser Kommission. Wir haben ein<br />
neues EU-weites Ziel festgelegt, um die Zahl der von<br />
Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen<br />
bis 2030 um mindestens 15 Millionen zu senken, darunter<br />
5 Millionen Kinder. •<br />
© Julia Krojer<br />
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NACHHALTIGE GELDANLAGE SEIT 1975.<br />
Benjamin Laufer sieht es kritisch, dass die Mitgliedstaaten<br />
der EU Rosinenpickerei betreiben.<br />
Den Menschen in ihren Herkunftsländern zu helfen,<br />
damit sie dort bleiben können, ist ein hehres<br />
Ziel. Doch es wird schon seit Jahren verfehlt.<br />
benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />
In der EU zählt Wirtschaft mehr als Soziales<br />
Sozialpolitisch gilt in EU-Ländern nationales Recht. Die<br />
EU-Kommission hat wenig Mitspracherecht: Nicolas Schmit<br />
kann Debatten vorantreiben, aber keine Vorgaben machen.<br />
9<br />
KONFLIKTE<br />
DIE AUSSTELLUNG<br />
03.11.<strong>2021</strong> – 08.05.2022<br />
shmh.de<br />
Stiftung Historische Museen Hamburg,<br />
Museum der Arbeit<br />
Wiesendamm 3, 22305 Hamburg
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Zahlen des Monats<br />
Energiepreise<br />
Stromsperren sind<br />
keine Lösung<br />
4945<br />
Hamburger Haushalten wurden in den ersten neun Monaten dieses Jahres<br />
der Strom abgeklemmt, weil sie Rechnungen nicht bezahlt haben.<br />
Verbraucherschützer:innen befürchten, dass die Zahl der Betroffenen in<br />
den kommenden Monaten weiter ansteigen wird. Denn die Strompreise<br />
sind zuletzt stark gestiegen – laut dem Vergleichsportal Verivox um<br />
20,9 Prozent innerhalb eines Jahres. „Ein Normalverdienender kann<br />
100 Euro nachzahlen. Doch wenn es beim Geld Spitz auf Knopf steht,<br />
bedeutet das einen Schlag ins Kontor“, sagt Kerstin Föller von der<br />
Ver braucherzentrale Hamburg.<br />
Anders als bei Heiz- oder Wasserkosten berücksichtigt das Jobcenter beim<br />
Strom nicht den realen Bedarf. Diese Kosten sind Teil des Regelsatzes und<br />
müssen deshalb von Hilfeempfänger:innen selbst bezahlt werden, argumentiert<br />
das Amt. Was der Staat für Strom vorsieht, ist aber viel zu wenig, sagt<br />
Verbraucherschützerin Föller und fordert: „Die Ämter sollten den tatsächlichen<br />
Verbrauch zahlen, mindestens aber 20 Euro pro Monat mehr.“<br />
Wie viele Hartz-IV-Haushalte Darlehen beantragen müssen, weil sie Stromschulden<br />
haben, weiß das Hamburger Jobcenter nicht. Das Amt könne „zu<br />
Energieschulden keine Zahlen zur Verfügung stellen“, so eine Behördensprecherin.<br />
Darlehen würden grundsätzlich nur dann gewährt, „wenn die<br />
Sperrung der Stromversorgung droht“.<br />
Andere EU-Staaten haben auf die steigenden Energiepreise reagiert.<br />
So hat Frankreich die Preise für Strom und Gas bis April gedeckelt und gibt<br />
Energiegutscheine aus: 100 Euro für sechs Millionen besonders bedürftige<br />
Haushalte. Spanien dagegen hat die Mehrwertsteuer auf Strom vorübergehend<br />
gesenkt. Wie die künftige Regierungskoalition dem Problem begegnen<br />
will, war bei Redaktionsschluss (20. November) noch unklar. Die<br />
Grünen hatten in der Vergangenheit gefordert, Stromsperren müssten<br />
grundsätzlich verhindert werden. Noch im September sagte ihr sozialpolitischer<br />
Sprecher Sven Lehmann: „Jede Stromsperre ist eine zu viel.“<br />
Einen Antrag der Linksfraktion, Energiesperren in Hamburg auszusetzen<br />
und einen Zuschlag für Hilfeempfänger:innen zu prüfen, lehnten alle<br />
anderen Parteien Mitte November in der Bürgerschaft ab. •<br />
TEXT: ULRICH JONAS<br />
ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />
Mehr Infos unter www.huklink.de/stromsperren<br />
11
Nur wenige ziehen<br />
das große Los<br />
Anfang November begann das Winternotprogramm<br />
der Stadt Hamburg, über die Verteilung der<br />
begehrten Container-Schlafplätze wurde schon<br />
zuvor entschieden. Ein Blick auf die ersten Wochen.<br />
TEXT: ANNA-ELISA JAKOB<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
D<br />
er letzte Freitag im Oktober,<br />
vor der Tagesaufenthaltsstätte<br />
(TAS) in Eimsbüttel<br />
geht langsam die<br />
Sonne auf. Während auf dem Radweg<br />
die ersten Menschen durch die Dämmerung<br />
flitzen, stehen auf dem Fußweg<br />
daneben mehrere Männer ruhig in<br />
einer Reihe. Dick eingepackt, manche<br />
mit Gepäck, andere nur mit kleiner<br />
Tasche. Noch sind es sechs Grad, doch<br />
es soll ein milder Herbsttag werden.<br />
Für einen Teil der Wartenden könnte er<br />
auch einen milden Winter bedeuten.<br />
Darüber entscheidet ab acht Uhr<br />
das Los. Diejenigen, die am Eingang<br />
der TAS einen Zettel mit einer<br />
Nummer ziehen, bekommen einen<br />
Container für den Winter zugeteilt. In<br />
dem sie schlafen, den sie absperren<br />
und in dem sie ihre Sachen aufbewahren<br />
können. Beinahe wie eine<br />
eigene Wohnung. Alle, die einen leeren<br />
Zettel ziehen, blicken hingegen einem<br />
unsicheren Winter entgegen – die täglich<br />
wiederkehrende Suche nach einem<br />
Schlafplatz wartet auf sie.<br />
Mittlerweile haben die ersten Männer<br />
ihr Los gezogen, manche sitzen nun<br />
im Innern der TAS, die anderen stehen<br />
davor auf der Straße. „Das ist Lotterie“,<br />
sagt einer. Ein anderer rennt nach draußen,<br />
flucht lautstark auf Spanisch. „It’s<br />
a 50-50-chance, man“, versucht ihn ein<br />
Mann, der ebenfalls eine Niete gezogen<br />
hat, zu beruhigen. „Bullshit“, schimpft<br />
der andere und geht.<br />
Ein paar Tage später trifft man ihn<br />
wieder: Diesmal in Hammerbrook, wieder<br />
eine Schlange an Menschen. Es ist<br />
kurz nach 17 Uhr, vor einem umgebauten<br />
Bürogebäude stehen Sicherheitskräfte<br />
und kontrollieren den Eingang<br />
zu einer der drei Notunterkünfte<br />
in Hamburg. Etwa 1030 zusätzliche<br />
Schlafplätze stellt die Stadt in diesem<br />
Winter zur Verfügung.<br />
Das Ziel des Winternotprogramms,<br />
so heißt es von der Stadt, sei der Schutz<br />
vor dem Erfrieren, aber auch die Möglichkeit<br />
„zur Ruhe zu kommen“.<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Sozialarbeiter Stephan<br />
Karrenbauer sieht grundsätzlich eine<br />
12
Stadtgespräch<br />
Obdachlose wie Hinz&Künztler<br />
Dominik (Foto) hoffen bei<br />
der Platzverlosung auf einen<br />
Wohncontainer für den Winter.<br />
Verbesserung der Notunterkünfte. So<br />
ist in diesem Jahr ein ehemaliges Hotel<br />
in Billbrook hinzugekommen: bis zu<br />
300 Schlafplätze, viele in Einzelzimmern<br />
(siehe Hinz&<strong>Kunzt</strong> Nr. 345). Ein<br />
beliebter Zufluchtsort; zuletzt waren<br />
199 Plätze vergeben (Stand: 23.11.).<br />
Aber Karrenbauer sieht das Winternotprogramm<br />
auch kritisch: Die Stadt<br />
setze weiterhin auf Großunterkünfte<br />
statt auf dezentrale kleinere Einheiten.<br />
Außerdem dürfen sich die Menschen<br />
auch im ehemaligen Hotel, wie in den<br />
anderen Notunterkünften der Stadt,<br />
nicht tagsüber aufhalten. Sie müssen<br />
jeden Morgen ihre Sachen packen und<br />
können erst abends zurückkehren. „Es<br />
wäre ein wichtiger Schritt, dass sie<br />
wenigstens am Wochenende in den<br />
Zimmern bleiben dürfen und so zumindest<br />
etwas zur Ruhe kommen“, sagt<br />
Karrenbauer.<br />
Die Chance selbst zu entscheiden,<br />
wann man seine Unterkunft verlässt,<br />
bieten bislang nur die Container, deren<br />
Anzahl auf etwa 100 begrenzt ist. An<br />
jenem Morgen vor der TAS hat etwa<br />
jeder zweite Wartende einen Platz bekommen.<br />
Dominik zum Beispiel, ein<br />
junger Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer. Kurz<br />
nach Sonnenaufgang kramt er einen<br />
hellblauen Zettel aus der Tasche, darauf<br />
die Nummer 55: sein Los für einen<br />
Winter im Warmen. •<br />
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Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>346</strong>/DEZEMBER <strong>2021</strong><br />
teren Stationen, um die Unterhaltung<br />
fortzusetzen.<br />
Worüber sprechen Sie so?<br />
Ich muss nicht viel sagen. Ich lasse<br />
die Obdachlosen reden. Die erzählen,<br />
was sie erlebt haben, was behördenmäßig<br />
ansteht, was sie belastet. Wenn<br />
du dann Rat geben kannst, freuen sie<br />
sich. Und wer Hilfe braucht, den<br />
schicke ich zum Diakonie-Zentrum für<br />
Wohnungslose.<br />
„Ich lasse die<br />
Menschen reden“<br />
Seit 25 Jahren fährt der Mitternachtsbus zu den Schlafplätzen<br />
von Obdachlosen. Wir haben mit Ellen Zander (68) gesprochen,<br />
die von Beginn an als Ehrenamtliche dabei ist.<br />
INTERVIEW: ULRICH JONAS; FOTO: DMITRIJ LELTSCHUK<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Frau Zander, wie kommt es,<br />
dass Sie Obdachlosen helfen?<br />
Ellen Zander: Das hat mit meiner Erziehung<br />
zu tun. Mein Vater hat immer gesagt:<br />
„Behandle deine Mitmenschen so,<br />
wie du gerne behandelt werden möchtest.“<br />
Und als ich beim Mitternachtsbus<br />
das erste Mal mitfuhr, merkte ich: Die<br />
Menschen freuen sich, wenn wir kommen.<br />
Einige sagen sogar: „Schön, dass<br />
du da bist! Wann kommst du wieder?“<br />
Es geht um mehr als heiße Getränke<br />
und Schlafsäcke.<br />
Ja. Die Gespräche sind wichtiger. Manche<br />
kommen am selben Abend zu wei<br />
Sie erleben Obdachlosigkeit seit<br />
25 Jahren. Was hat sich verändert?<br />
Es sind mehr Menschen geworden mit<br />
der EU-Osterweiterung. Und die Stimmung<br />
ist aggressiver. Das hängt sicher<br />
mit Verständigungsschwierigkeiten zusammen<br />
– und mit dem Alkohol.<br />
Was wünschen Sie sich?<br />
In den Herkunftsländern vieler Obdachloser<br />
müsste mehr für die Menschen<br />
getan werden. Viele sagen: „Hier<br />
ist es auf der Straße immer noch besser<br />
als bei uns.“ Das sagt alles.<br />
Ist das auf Dauer nicht deprimierend?<br />
Es gibt auch Erfolgsgeschichten. Einen<br />
Mann mit schweren Erfrierungen<br />
haben wir erst in die Krankenstube für<br />
Obdachlose vermittelt. Später habe ich<br />
ihm eine Wohnung besorgen können.<br />
Dort hat er noch neun schöne Jahre<br />
verbracht. •<br />
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Stadtgespräch<br />
Meldungen<br />
Politik & Soziales<br />
Neue Zahlen des Senats<br />
Deutlich mehr Obdachlose gestorben<br />
Mindestens 29 Obdachlose sind in diesem Jahr auf Hamburgs Straßen gestor -<br />
ben – deutlich mehr als bislang bekannt. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2020<br />
wurden 14 Todesfälle bekannt, bei denen Obdachlose draußen ums Leben<br />
kamen. „Dass in Hamburg so viele Menschen im Freien sterben, macht mich<br />
fassungslos und ist kein Zustand, an den wir uns gewöhnen dürfen“, sagte<br />
Stephanie Rose, sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion, durch deren<br />
Bürgerschaftsanfrage die Zahl öffentlich wurde. Nötig sei „ganzjährig und<br />
ganz tägig ein dezentrales Notunterkunftssystem, möglichst mit Einzelzimmern“,<br />
so Rose. Und: „Wir brauchen Prävention von Obdachlosigkeit, von Wohnungsverlusten,<br />
und wir brauchen den bedingungslosen Zugang zu bezahlbarem<br />
Wohnraum für sehr viel mehr Menschen, als es jetzt der Fall ist.“<br />
Die Aufzählung der Todesfälle beruht, wie aus der Senatsantwort hervorgeht,<br />
auf einer „überschlägigen Sichtung und Auswertung“ des Instituts für<br />
Rechts medizin am Universitätsklinikum Eppendorf. Dort wird allerdings nur<br />
dann die Todesursache überprüft, wenn sie nicht eindeutig feststeht. Es muss<br />
also davon ausgegangen werden, dass die Zahl tatsächlich noch höher ist. Neben<br />
den 28 in dieser und älteren Senatsantworten gelisteten Fällen ist Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
zumindest ein weiterer auf der Straße verstorbener Obdachloser bekannt.<br />
Zusätzlich zu den Menschen, die etwa auf Parkbänken, auf der Straße<br />
oder in Grünanlagen tot aufgefunden wurden, sind dieses Jahr weitere 17<br />
Obdachlose in Hamburger Krankenhäusern verstorben, wie ebenfalls aus der<br />
Antwort her vorgeht. Altersangaben veröffentlicht der Senat nicht. Bekannt ist,<br />
dass Obdachlose oft viel zu früh sterben: Laut einer Hamburger Studie<br />
werden sie im Durchschnitt nur 49 Jahre alt.<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer zeigt sich erschüttert<br />
angesichts der neuen Zahlen: „Ich finde keine Worte für die dramatische<br />
Situation, in der sich Obdachlose auf Hamburgs Straßen befinden“, sagt er<br />
und fordert einen Systemwechsel: „Man sieht, dass die Menschen nicht nur im<br />
Winter, sondern auch im Sommer auf der Straße sterben. Sie brauchen eine<br />
dauerhafte statt einer nur vorübergehenden Unterkunft.“ LG<br />
•<br />
Grußwort des Bundespräsidenten<br />
Straßenmagazine sind wichtig!<br />
„Zusätzliche Erkenntnis“: Die gewinnen<br />
Leser:innen von Straßenmagazinen<br />
nach Ansicht von Frank-Walter<br />
Steinmeier. „Indem sie unseren<br />
Blickwinkel nur ein wenig verändern,<br />
zeigen sie uns, dass uns unsere<br />
all täg liche Umgebung alles andere<br />
als altbekannt ist“, so der Bundespräsident<br />
in seinem traditionellen<br />
Weihnachts-Grußwort an die bundesdeutschen<br />
Straßenmagazine. UJO<br />
•<br />
Notunterkünfte in Berlin<br />
EU-Gelder für Obdachlose<br />
Berlin bietet Obdachlosen in diesem<br />
Winter Unterkünfte an, die 24 Stunden<br />
am Tag und sieben Tage die<br />
Woche geöffnet sind. Finanziert<br />
werden die drei Unterkünfte mithilfe<br />
von Geldern der Europäischen Union:<br />
11,4 Millionen Euro aus dem<br />
Topf für Corona- Hilfen für Wohnungslose<br />
sicherten den Betrieb für<br />
zwei Jahre, so die Berliner Sozialverwaltung.<br />
UJO<br />
•<br />
Mehr Infos: www.berlin.de/sen/soziales<br />
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Bereitet sich akkurat auf<br />
jeden seiner Besuche vor:<br />
Weihnachtsmann Claudius
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Der Echte<br />
Seit 36 Jahren beglückt Weihnachtsmann Claudius<br />
Familien in Norddeutschland mit einer aufwendigen Bescherung.<br />
Ein Treffen in der Vorweihnachtszeit.<br />
TEXT: ANNA-ELISA JAKOB<br />
FOTOS: ANDREAS HORNOFF<br />
F<br />
alls sich die Verkäuferin über diesen Besucher<br />
wundern sollte, lässt sie es sich nicht anmerken.<br />
Er sei der Weihnachtsmann, sagt der ältere Herr,<br />
bevor er eine Riesencurrywurst mit Pommes und<br />
einen Kakao mit Sahne bestellt.<br />
Wer weiß, wen sie hier auf dem Hamburger Winterdom<br />
Tag für Tag mit Bratwürsten beglücken, vielleicht Staatsmänner<br />
und Staatsfrauen, tatsächliche und selbst ernannte<br />
Stars, und heute eben ihn: den Weihnachtsmann. „Unsere<br />
Soße ist super“, sagt die Verkäuferin nur.<br />
Es ist ja auch nicht einfach, Prominenz zu erkennen,<br />
wenn sie – wie Weihnachtsmann Claudius an diesem<br />
November abend – derart inkognito unterwegs ist. Mit<br />
schwarzem Mantel und schwarzem Hut, angereist aus einem<br />
Ort im Norden, der hier nicht genannt werden soll; genauso<br />
wie sein echter Name. Der Weihnachtsmann ist eine<br />
„mystische Figur“, sagt Claudius, und das soll er auch bleiben.<br />
Mit Sorge beobachtet er, wie sich im Fernsehen und anderswo<br />
vermeintliche Weihnachtsmänner demaskieren. Wie soll so<br />
denn bitte der kindliche Glaube an den Weihnachtszauber<br />
gewahrt bleiben?<br />
Die erste Regel des<br />
„Weihnachtsmann-<br />
Kodex“: Der Weihnachtsmann<br />
mag alle Kinder.<br />
Es gibt deswegen ein paar Regeln, die er und andere professionelle<br />
Weihnachtsmänner vor ein paar Jahren aufgestellt<br />
haben. Den „Ehrenkodex des Weihnachtsmannes“ haben sie<br />
ihn genannt. Die erste Regel: Der Weihnachtsmann „mag<br />
alle Kinder, von 0 bis 100 Jahren und älter“. Weiter: Der<br />
Weihnachtsmann flucht nie. Er trinkt, raucht und telefoniert<br />
nicht im Kostüm. Und er ist immer korrekt gekleidet.<br />
Weihnachtsmann Claudius trägt bei seinen Besuchen ein<br />
Gewand, das ausgefeilt ist bis zu den Schellen seiner Stiefel.<br />
Mantel und Mütze in Rot-Weiß, dichter Bart und lange<br />
Handschuhe. Sogar weihnachtliche Badekleidung besitzt<br />
Claudius; die trägt er allerdings nur auf dem Weltkongress<br />
der Weihnachtsmänner, der jeden Sommer in Kopenhagen<br />
stattfindet.<br />
Sein erstes Kostüm kauft er 1985. Damals war er selbst<br />
noch Student und seine eigenen Kinder noch klein. Eines<br />
Abends sah er einen Weihnachtsmann: Der trug nicht nur<br />
grüne Stiefel, sondern bestrafte die Kinder auch noch mit<br />
einer Rute. Der junge Vater<br />
war entsetzt. Er ging in<br />
die Bibliothek, las über<br />
Weihnachten und seine<br />
Bräuche, bei Hans<br />
Christian Andersen<br />
und Theodor Storm;<br />
und schrieb danach<br />
ein erstes Drehbuch<br />
für seinen eigenen<br />
Weihnachtsabend,<br />
ein Ritual auf vier<br />
DIN-A4-Seiten.<br />
Bis heute bereitet er<br />
jeden seiner Besuche akkurat<br />
vor. Pünktlich müssen die<br />
Eltern mehrere Formulare ausfüllen,<br />
55 Fragen beantworten:<br />
Wie heißen Kuscheltiere und<br />
Groß mütter? Hat das Kind den<br />
Baum geschmückt? Was hat es<br />
gut gemacht im vergangenen Jahr,<br />
was weniger? Diese Frage ist<br />
übrigens mit einem Sternchen<br />
markiert: Wenn es nichts<br />
Negatives gibt, umso besser.<br />
Als Student bekam<br />
Claudius pro Besuch noch<br />
20 DM, heute sind es<br />
rund 100 Euro. Ein<br />
gängiger Preis für<br />
Weihnachtsmänner,<br />
wenn man sich<br />
im Netz umsieht.<br />
17
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>346</strong>/DEZEMBER <strong>2021</strong><br />
Die meisten Familien, die Claudius<br />
buchen, müssen für seinen Besuch nicht<br />
sparen. Der Großteil sind Gutverdienende.<br />
Mag sein, dass es daran liegt,<br />
dass er, wie er sagt, ein „Professional“<br />
ist – professioneller Bart, professioneller<br />
Mantel, professioneller Auftritt.<br />
Aber vielleicht ist ihm deswegen<br />
diese Familie besonders in Erinnerung<br />
geblieben: Die Tochter hatte zwei<br />
Wünsche, ein Fahrrad und den Weihnachtsmann.<br />
Weil die Eltern sich nur<br />
eines leisten konnten, buchten sie ihn,<br />
Claudius, für den Weihnachtsabend.<br />
Nach seinem Besuch fragte er das Mädchen,<br />
ob es zufrieden sei mit den<br />
Menschen<br />
freuen sich,<br />
umarmen ihn,<br />
sind dankbar.<br />
Geschenken. Das Mädchen nickte. Und<br />
das, obwohl es noch gar nicht wusste,<br />
dass im Treppenhaus ein Fahrrad<br />
wartete. Die Eltern hatten doch noch<br />
ein gebrauchtes Rad bekommen.<br />
Geheimnis gelüftet:<br />
Wegen der Schellen<br />
an den Stiefeln<br />
klingelt es, wenn der<br />
Weihnachtsmann zur<br />
Bescherung kommt.<br />
Neben solchen Besuchen in Familien<br />
gibt es auch in diesem Jahr Weihnachtsmänner<br />
in Hamburg, die zu denjenigen<br />
gehen möchten, die sonst alleine wären.<br />
Bei Essenausgaben, in Kinder- und<br />
Seniorenheimen. Einer erzählt am<br />
Telefon, was auch Claudius seit Jahren<br />
beeindruckt: dass Menschen sich über<br />
die Aufmerksamkeit freuen, ihn umarmen,<br />
dankbar sind.<br />
Ein Anruf bei Thomas Hauschild,<br />
Weihnachtsmann-Experte. Vor knapp<br />
zehn Jahren hat der Ethnologe ein Buch<br />
veröffentlicht: „Die wahre Geschichte<br />
des Weihnachtsmannes“. Darin beschreibt<br />
er den Streit, den es um dessen<br />
multiple Ausprägungen gibt. Und auch,<br />
wie dieser Streit immer häufiger politisch<br />
instrumentalisiert wird. Nikolaus,<br />
Santa Claus – wer ist denn nun der<br />
richtige? Hauschild sagt: Den gibt es<br />
nicht, der Weihnachtsmann sei eine<br />
„kollektive Fantasiebildung“.<br />
Denn in vielen Kulturen gebe es<br />
seit jeher ähnliche Figuren, die im<br />
Winter plötzlich auftauchen und Gaben<br />
verteilen. Egal ob Christkind oder<br />
Väterchen Frost: Sie alle richten sich<br />
an die Armen und Schwachen einer<br />
Gesellschaft.<br />
Mit Religion haben sie nur bedingt<br />
zu tun. Vielmehr ermöglichen sie ein<br />
Ritual, durch das Menschen Hilfen und<br />
Gaben annehmen können, ohne sich<br />
von denjenigen abhängig fühlen zu<br />
müssen, die finanziell bessergestellt sind.<br />
Weihnachtsmann Claudius besucht<br />
nun seit 36 Jahren die Wohnzimmer<br />
unterschiedlicher Familien, glücklicher<br />
und weniger glücklicher. Er war inmitten<br />
streitender Familien und solcher,<br />
die friedlich wirkten und im nächsten<br />
Jahr getrennt lebten. Der Weihnachtsmann,<br />
sagt Claudius, stehe dabei immer<br />
auf der Seite der Kinder. Er erwartet,<br />
dass die ganze Familie mithilft, das<br />
Geheimnis seiner Identität zu wahren.<br />
Zumindest bis die Kinder neun Jahre<br />
alt sind. Dann fragt er die Eltern, ob<br />
sie sicher sind, dass ihr Kind noch an<br />
den Weihnachtsmann glauben sollte.<br />
Manche sagen dann: An ihn, den<br />
Weihnachtsmann Claudius, schon. •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de
Mittendrin<br />
statt nur dabei<br />
Wie fühlt sich ein Leben mit Behinderung an? Welche Hürden<br />
sind zu bewältigen, welche Chancen bieten sich? Fünf Menschen<br />
mit Behinderung berichten in Protokollen aus ihrem Alltag (S. 22).<br />
Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit Behinderung<br />
fordern derweil eine bessere Bezahlung – und stellen damit ein<br />
ganzes System infrage (S. 28). Wie Inklusion gelingen kann,<br />
zeigen Sportler:innen mit und ohne Einschränkungen (S. 32).<br />
Rollstuhl-Skater David Lebuser erklärt im Interview, warum<br />
Sport beim Thema Inklusion eine so wichtige Rolle spielt (S. 39).
„Menschen sind von<br />
Natur aus Mängelwesen“<br />
Seit 2009 ist in Deutschland<br />
die UN-Behindertenrechtskonvention<br />
geltendes Recht.<br />
Ihr Ziel: für alle Menschen<br />
mit Behinderungen volle<br />
Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />
zu gewähr leisten.<br />
Gelingt die Inklusion?<br />
Fünf Betroffene erzählen<br />
von ihren Erfahrungen.<br />
PROTOKOLLE: MISHA LEUSCHEN<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Professor Siegfried<br />
Saerberg in der<br />
Evangelischen Hochschule<br />
für Soziale<br />
Arbeit & Diakonie
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Inklusion<br />
„Inklusion betrifft alle“<br />
Siegfried Saerberg, 60, Professor für Disability Studies und Teilhabeforschung<br />
Es ist ein irrationales Verhalten zu denken,<br />
von Einschränkungen wie Demenz, einer<br />
Erkrankung oder einer Behinderung werde<br />
man nicht betroffen sein. Der gesunde,<br />
fitte Idealmensch aus der Werbung ist ein<br />
Konstrukt; wir sind alle verletzlich, dafür<br />
muss man das Bewusstsein schärfen. Denn<br />
es wäre doch schlau, alles dranzusetzen,<br />
dass das Leben für alle leichter wird.<br />
Menschen sind von Natur aus Mängelwesen<br />
und auf Kultur und Gesellschaft<br />
angewiesen. Tiere sind nach ihrer Geburt<br />
sehr schnell selbstständig, eine kleine<br />
Giraffe in der Savanne ist schnell auf den<br />
Hufen, sonst ist sie in Lebensgefahr.<br />
Säuglinge brauchen sehr lange Unterstützung<br />
– und Gesellschaft als Sicherheit<br />
und Stütze. Migranten, Behinderte oder<br />
Obdachlose werden aber ausgegrenzt.<br />
Inklusion betrifft alle, nicht nur Menschen<br />
mit Behinderungen. Sie erfordert nicht<br />
nur kleine Verbesserungen, sondern eine<br />
gesellschaftliche Veränderung. Dass wir dabei<br />
vorankommen, liegt vor allem daran, dass<br />
Barrierefreiheit gesetzlich festgelegt und<br />
verpflichtend ist. Gesellschaft muss zugänglich<br />
sein. Gehörlose und Blinde sind schon<br />
gut organisiert, um ihre Interessen zu vertreten,<br />
aber Menschen mit Lernschwierigkeiten<br />
sind oft noch unterrepräsentiert. Das gilt<br />
auch für eine Beteiligung am Arbeitsmarkt.<br />
Ich bin privilegiert, weil ich es beruflich<br />
als Professor geschafft habe. Ich hatte viele<br />
Komplikationen in meiner Karriere. Aufgrund<br />
einer Erkrankung bin ich mit Anfang<br />
20 erblindet. Mein Abitur habe ich mit<br />
Unterstützung von einigen Lehrern an einer<br />
Regelschule machen können. Da konnte ich<br />
noch ein bisschen gucken, aber es war anstrengend.<br />
Ich hatte keinerlei berufliche<br />
Vorstellung und dachte, ich kriege sowieso<br />
keinen Job. Alle Blinden studierten damals<br />
Jura, das habe ich auch versucht, aber abgebrochen<br />
und habe umgesattelt auf Philosophie<br />
und Soziologie. Die Literaturbeschaffung<br />
war mühsam, ich musste Vorleser<br />
engagieren, das war teuer und umständlich.<br />
Dabei hatte ich noch Glück, andere Behinderte<br />
konnten nicht mal die Hörsäle erreichen,<br />
die nicht barrierefrei waren. In Soziologie<br />
schrieb ich meine Abschlussarbeit zum<br />
Thema „Blindheit als Lebenswelt“, da hatte<br />
ich ja praktische Erfahrung. Die Arbeit<br />
wurde sogar veröffentlicht. Die Promotion<br />
lief leider nicht so toll, also habe ich erst einmal<br />
was anderes gemacht. Kunst hat mich<br />
immer interessiert, ich war Mitbegründer<br />
des Vereins „Blinde und Kunst“. Wir haben<br />
auch Events gemacht, so ähnlich wie die<br />
Ausstellung „Dialog im Dunkeln“.<br />
Ich fühle mich nicht von Blindheit behindert,<br />
sondern von gesellschaftlichen<br />
Umständen wie zum Beispiel Vorurteilen.<br />
Ich komme im Alltag zurecht, mit meinem<br />
Stock bewege ich mich sicher. Als Mensch<br />
„Behinderte Menschen<br />
als Menschen sehen“<br />
Patrick Hofmann, 39, Schlosser<br />
mit erworbener Blindheit weiß ich ja, wie der<br />
Hase läuft, ich habe aus der Erinnerung eine<br />
Vorstellung von der Welt. Für mich war und<br />
ist der Computer ein Segen! Heute arbeite<br />
ich mit einem „sprechenden Laptop“, doch nur<br />
die wenigsten Websites sind barrierefrei –<br />
auch die von Hinz&<strong>Kunzt</strong> nicht.<br />
Menschen Wissen nahezubringen ist<br />
mir wichtig. Ich lehre bei „Zedis“, dem Zentrum<br />
für Disability Studies. Dieser Begriff<br />
beschreibt die soziale und kulturelle Dimension<br />
von Behinderung – in allen Bereichen.<br />
•<br />
Inklusion heißt für mich, dass wir Menschen mit Behinderung als Menschen gesehen<br />
werden. Das ist nicht immer so, überhaupt nicht! Ich war mal mit einer Nachbarin<br />
unterwegs, die im Rolli sitzt. Da sind wir übel beschimpft worden. Mir ist das auch<br />
schon passiert, als ich allein unterwegs war. Aber ich habe eine große Klappe und<br />
mit Humor quatsche ich mich überall raus. Gefährlich kann das aber trotzdem<br />
werden. Ich denke, solche Menschen haben Angst. Wenn sie mal mit uns tauschen<br />
könnten, hätten sie mehr Respekt.<br />
Mein Traum ist, eine eigene<br />
Wohnung zu besitzen. Mit meiner<br />
Verlobten würde ich gern zusammenziehen,<br />
wenn sie das auch möchte.<br />
Zur Zeit bin ich im Wohntraining beim<br />
Rauhen Haus und übe, bis ich das<br />
auch schaffe. Ich habe eine Lernschwäche<br />
und muss noch an meiner<br />
Merkfähigkeit und meiner Orientierung<br />
arbeiten. Ich koche selbst<br />
Nudeln und Pizza, das mache ich<br />
gern. Meine Wäsche wasche ich<br />
selbst und putze mein Apartment. An<br />
fünf Tagen arbeite ich als Schlosser<br />
bei „alsterarbeit“ in einem Arbeitsprojekt<br />
für Menschen mit Handicap.<br />
Deshalb bin ich nicht so viel zu Hause,<br />
da stört es mich nicht, wenn es<br />
un ordentlich ist. Für meine Arbeit<br />
werde ich nicht gut bezahlt. Andere,<br />
die die gleiche Arbeit machen, bekommen<br />
viel mehr. Gerecht ist das nicht.<br />
Auf Mallorca zu wohnen wäre<br />
toll, da bin ich mehrmals gewesen<br />
und es hat mir gut gefallen. Eine<br />
Wohnung im Grünen gefällt mir.<br />
•<br />
23
Dorothee Reumann<br />
auf der Bühne des<br />
Klabauter Theaters
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Inklusion<br />
„Jeder kommt mit Stärken und Schwächen“<br />
Dorothee Reumann, 32, Schauspielerin beim inklusiven Klabauter Theater<br />
Ich bin Schauspielerin. Das macht mich stolz und glücklich. Hier ist<br />
meine Arbeit, die ich sehr gern mache. Den Körper zu benutzen, um<br />
sich auszudrücken, das ist intensiv. Ich schreibe Texte, tanze und<br />
spiele auf der Bühne.<br />
Was Inklusion bedeutet? Das kann ich nicht erklären. Jeder von<br />
uns kommt mit dem, was er hat, mit Stärken und Schwächen.<br />
Wir können alles brauchen. Ich kann nicht so gut sprechen, aber ich<br />
habe mich hier verbessert. Texte lerne ich besser, wenn ich sie<br />
nachsprechen kann. Ich lerne auch von Schauspielern im Fernsehen,<br />
wie man Theater spielt, das ist sehr gut für mich. Ich würde<br />
sehr gern auch mal im Fernsehen spielen, aber das ist schwer,<br />
weil meine Sprache nicht so gut ist. Ich möchte weiterhin als<br />
Schauspielerin arbeiten und hierbleiben, weil wir bei Klabauter ein<br />
gutes Team sind und ich mich sicher fühle.<br />
•<br />
„Ich möchte gern<br />
wieder selbstständig sein“<br />
Sarina Möller, 37, Physiotherapeutin<br />
Wenn ich essen oder ins Konzert gehen möchte, muss ich<br />
vorher planen. Ist der Zugang barrrierefrei? Wo liegen die<br />
Toiletten und sind sie auch mit Griffen für Rollifahrer ausgestattet,<br />
damit ich mich umsetzen kann? Mit U- und S-Bahn<br />
fahre ich kaum noch, da ist es viel zu voll und zu eng. Ich nutze<br />
mit meinem E-Rolli mittlerweile meist die Busse, auch auf<br />
dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen, das ist komfortabler.<br />
Der Fahrer lässt die Rampe runter und ich bin drin.<br />
Früher habe ich mir über Inklusion wenig Gedanken<br />
gemacht. Ich habe Handball und Tennis gespielt, wollte<br />
reisen und eine Familie gründen. Mit 28 hatte ich vier<br />
Schlaganfälle, ausgelöst durch eine Entzündung im Gehirn.<br />
Ich hatte zwar häufiger Kopfschmerzen, aber so etwas hatte<br />
ich mir nicht vorstellen können. Ich lag im Koma, der Schädel<br />
musste geöffnet werden, um das Gehirn zu entlasten.<br />
80 Prozent meiner rechten Gehirnhälfte sind zerstört, so<br />
viel wie meine Faust groß ist.<br />
Es ist gut, dass ich Physiotherapeutin bin, da konnte ich<br />
einschätzen, was auf mich zukommt. Es war ein langer Weg<br />
mit Krankenhausaufenthalten und Rehas, aber ich bin eine<br />
Kämpferin. Vier Jahre lang habe ich bei meiner Mutter<br />
gelebt. Als ausgebildete Pflegefachkraft konnte sie mich<br />
gut betreuen. Danach bin ich in die „Arche Nova“ gezogen,<br />
eine Selbsthilfe-Initiative für Menschen mit erworbenen Hirnschäden.<br />
Seit dem Frühjahr wohne ich nun als Mieterin in<br />
meiner eigenen Wohnung in einem Wohnhaus für Menschen<br />
mit Behinderungen und werde ambulant betreut. Was ich am<br />
meisten schätze? Die Ruhe hier und aktiv sein zu können.<br />
Dass ich mal wieder allein leben könnte, habe ich mir<br />
nicht vorstellen können. Ich musste wieder essen lernen,<br />
weil ich nicht mehr schlucken konnte. Meine linke Hand<br />
ist gelähmt, mein Sehen ist eingeschränkt. Aber die<br />
Infrastruktur ist für mich gut zugänglich. Im Moment arbeite<br />
ich in der Tagesförderung, dort mache ich Workshops und<br />
fertige Grußkarten für alle Anlässe. Ich möchte gern wieder<br />
selbstständig sein können, dafür kämpfe ich. Das ist<br />
für mich Inklusion: Teilhabe am Leben, eine Wiedereingliederung<br />
in ein soziales Leben.<br />
•<br />
25
Inklusion<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>346</strong>/DEZEMBER <strong>2021</strong><br />
„Man muss sich auch helfen lassen wollen“<br />
André Kissling, 43, Servicekraft in der „Bascherie“ im Stadtteilzentrum Barmbek°Basch<br />
Ich freue mich jeden Tag auf die Arbeit,<br />
meine vielen Stammgäste sind mir ans Herz<br />
gewachsen. Seit sieben Jahren bin ich hier<br />
in der Bascherie, das ist ein geschützter<br />
Arbeitsplatz der Sozialpsychiatrie des<br />
Rauhen Hauses. Mittlerweile kann ich jeden<br />
Tag drei Stunden arbeiten, ich bin symptomfrei,<br />
nehme Medikamente als Prophylaxe<br />
und bin damit gut eingestellt.<br />
Mit 19 Jahren bin ich psychisch<br />
erkrankt, ich habe Stimmen gehört. In manchen<br />
Phasen hatte ich keine Krankheitseinsicht.<br />
Schlimm war, dass mein Freundeskreis<br />
wegrutschte, weil viele nicht wussten,<br />
wie man mit einer solchen Krankheit umgehen<br />
sollte. Aber ich kann es ihnen nicht verdenken.<br />
Ich hatte Glück, meine Erkrankung<br />
wurde im Krankenhaus besser, aber man<br />
muss sich auch helfen lassen wollen.<br />
Inklusion bedeutet für mich, wieder in<br />
normale Umstände zu kommen, einen geregelten<br />
Tagesablauf zu haben und wieder<br />
auf eigenen Beinen stehen zu können.<br />
Im Moment lebe ich in einem Haus mit anderen<br />
Klienten zusammen. In der Bascherie<br />
verdiene ich drei Euro pro Stunde, also neun<br />
Euro am Tag (siehe hierzu ab Seite 28). Ich<br />
komme damit zurecht. Allerdings finde ich,<br />
das ist zu wenig. Ich mache meine Arbeit<br />
gut, im Service und auch an der Kasse. An<br />
manchen Tagen bin ich sogar allein hier. Ich<br />
möchte gern auf den ersten Arbeitsmarkt,<br />
wenn meine Stabilität dafür reicht, und so<br />
lange arbeiten wie andere auch. Im Moment<br />
26<br />
darf ich nur 15 Stunden arbeiten, weil es ein<br />
geschützter Arbeitsplatz ist. Ein Jobcoach<br />
hilft mir dabei, eine Wiedereingliederungsmaßnahme<br />
zu finden. Da geht was!<br />
Inklusion funktioniert für mich. Selbst<br />
aktiv zu sein und mitzumachen ist dabei<br />
wichtig. Wer wirklich Hilfe will, der schafft<br />
es auch.<br />
•<br />
Misha Leuschen ist überrascht,<br />
wie souverän Menschen<br />
mit Behinderungen<br />
oft ihren Alltag meistern –<br />
trotz unzähliger Barrieren.<br />
redaktion@hinzundkunzt.de
KUNZT-<br />
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Blick in den Berufsbildungsbereich<br />
Verpackung<br />
und Konfektionierung der<br />
Elbe-Werkstätten:<br />
Hier werden gerade Akkus<br />
von Stadtrad gepolstert und<br />
mit Henkel versehen.<br />
Ausgeschlossen?<br />
Menschen mit Einschränkungen fordern den Mindestlohn für ihre Arbeit in<br />
Werkstätten. Die Fragen, die sie aufwerfen, stellen ein ganzes System infrage.<br />
E<br />
r hätte sehr gerne einen.<br />
Doch bislang hat Frank<br />
Belling keinen Job auf dem<br />
ersten Arbeitsmarkt bekommen.<br />
Seit gut drei Jahrzehnten arbeitet<br />
TEXT: ULRICH JONAS<br />
FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK<br />
28<br />
der Rollstuhlfahrer in einer Werkstatt<br />
für behinderte Menschen, derzeit in<br />
einer Montage- und Verpackungsgruppe.<br />
„Die Arbeit macht Spaß“, sagt der<br />
54-Jährige, den die Folgen von Komplikationen<br />
bei einer Zwillingsgeburt in ein<br />
besonderes Leben gezwungen haben.<br />
„Aber die Entlohnung …“ 188 Euro<br />
bekommt Frank Belling dafür, dass er<br />
19 Stunden die Woche zum Beispiel
Inklusion<br />
Kristin Laßmann, Betriebsleiterin bei den<br />
Elbe-Werkstätten: „Wir können aus unseren<br />
Erlösen keine Mindestlöhne bezahlen.“<br />
Kosmetikartikel für eine Drogeriemarktkette<br />
verpackt. Gerecht findet er<br />
das ebenso wenig wie den Umstand,<br />
dass es für ihn offenbar keinen Weg aus<br />
der Werkstatt hinaus gibt.<br />
Der Hamburger, der als Werkstattrat<br />
auch für die Interessen seiner Kolleg:innen<br />
streitet, ist nicht allein. „Stellt<br />
uns ein – Ich fordere den Mindestlohn<br />
für Menschen in Behindertenwerkstätten!“<br />
heißt eine Onlinepetition, die bis<br />
Mitte November bundesweit mehr als<br />
135.000 Menschen unterzeichnet haben.<br />
Gestartet hat sie Lukas Krämer, ein mittlerweile<br />
recht bekannter Youtuber aus<br />
Trier, der fünf Jahre Werkstatterfahrung<br />
gesammelt hat und heute für die Grünen<br />
arbeitet. 1,35 Euro die Stunde habe<br />
er einst verdient, schreibt Krämer in der<br />
Petition und bezeichnet das Konzept<br />
der Werkstätten als „im Grunde kriminell“:<br />
„Das kann man mit uns machen,<br />
weil wir eine Behinderung haben.“<br />
Die Welt der Werkstätten steht auf<br />
dem Prüfstand. Nicht nur Beschäftigte<br />
sind unzufrieden. Die Vereinten Nationen<br />
halten das System für unvereinbar<br />
mit der Behindertenrechtskonvention<br />
(siehe Infokasten S. 30). Und das Bundessozial<br />
ministerium will mithilfe einer<br />
29<br />
Studie herausbekommen, wie die Bezahlung<br />
in den Werkstätten verbessert<br />
werden könnte. Aus einem Zwischenbericht,<br />
der kürzlich veröffentlicht<br />
wurde, lässt sich herauslesen, dass die<br />
Forschenden Handlungsbedarf sehen.<br />
Selbst Werkstatt-Vertreter:innen<br />
zeigen Sympathien für das Ansinnen:<br />
„Das sind berechtigte Forderungen“,<br />
sagt Kristin Laßmann, Betriebsleiterin<br />
Rehabilitation bei den Elbe-Werkstätten,<br />
einem der beiden Betreiber von<br />
Behindertenwerkstätten in Hamburg.<br />
„Das Problem ist: Wir können aus unseren<br />
Erlösen keine Mindestlöhne bezahlen.“<br />
Menschen mit Einschränkungen<br />
seien nicht so leistungsfähig wie herkömmliche<br />
Beschäftigte, so die Sozialpädagogin.<br />
Deshalb könnten Werkstattbetriebe<br />
nur beschränkt Einnahmen<br />
erwirtschaften. Und die Mehrzahl der<br />
Beschäftigten habe vor allem kognitive<br />
oder psychische Einschränkungen.<br />
„Sollen wir den Leistungsdruck auf<br />
diese Menschen erhöhen, um den<br />
Bedingungen des ersten Arbeitsmarktes<br />
näherzukommen?“<br />
Rund 4000 Menschen mit Behinderungen<br />
arbeiten in Hamburg derzeit<br />
in Werkstätten. Einige sind auf sogenannten<br />
Außenarbeitsplätzen tätig,<br />
etwa als Hauswirtschafter:innen im<br />
Altenheim. Dort erledigen sie meist in
Inklusion<br />
Gehandicapte nicht nur als Handlanger:innen,<br />
sondern auch als<br />
Expert:innen betrachtet würden: „Warum<br />
werden für Übersetzungen in ,Einfache<br />
Sprache‘ nicht Menschen mit<br />
Einschränkungen ein gestellt?“ Würde<br />
„Ich möchte<br />
keinen Druck<br />
ausüben.“<br />
BETRIEBSLEITERIN KRISTIN LASSMANN<br />
kleinen Gruppen Aufgaben, begleitet<br />
von Fachkräften, die die Werkstatt mitschickt.<br />
Der Weg hinein in die Gesellschaft<br />
bleibt den allermeisten versperrt:<br />
Nicht einmal ein Prozent aller Beschäftigten<br />
findet einen Job auf dem ersten<br />
Arbeitsmarkt – obwohl genau das, die<br />
Vermittlung in reguläre Arbeit, eine<br />
Aufgabe der Werkstätten ist.<br />
Die miese Quote hat viele Ursachen.<br />
Nicht jede:r Beschäftigte wolle<br />
den geschützten Werkstattbereich verlassen,<br />
berichtet Betriebsleiterin Laßmann.<br />
Das merke sie beispielsweise,<br />
wenn sie Kandidat:innen für eine neue<br />
Außenarbeitsgruppe sucht: „Manche<br />
reagieren sehr empfindlich. Ich möchte<br />
aber keinen Druck ausüben in die<br />
Richtung, dass die Menschen wechseln<br />
müssen.“ Und auch nicht jedes Unternehmen<br />
eignet sich für eine Zusammenarbeit.<br />
„Wir schauen ja auch: Geschieht<br />
dort Inklusion oder werden nur billige<br />
Arbeitskräfte gesucht?“<br />
Hinzu kommen Fehler im System.<br />
Zwar sind Arbeitgeber:innen ab einer<br />
bestimmten Betriebsgröße verpflichtet,<br />
auch Schwerbehinderte zu beschäftigen.<br />
Doch können sie sich mithilfe der Ausgleichsabgabe<br />
billig freikaufen (siehe<br />
Infokasten). Die Folge: Viele Jobs entstehen<br />
gar nicht. Und: Für Unternehmen<br />
ist es oft lukrativer, einen Auftrag an eine<br />
Werkstatt zu vergeben, statt selbst Menschen<br />
mit Behinderung einzustellen.<br />
Es ist genug Geld da, es besser zu<br />
machen, meint Christian Judith. Der<br />
57-Jährige ist ein Beispiel dafür, wie<br />
Inklusion gelingen kann. Von Geburt<br />
an körperbehindert hat er nie in einer<br />
Werkstatt gearbeitet. Hat Sozialpädagogik<br />
studiert und eine Firma gegründet,<br />
in der Menschen mit und ohne<br />
Einschränkungen gemeinsam arbeiten,<br />
etwa bei inklusiven Tanzprojekten.<br />
Judith spinnt Ideen für die inklusive<br />
Welt von morgen. Denkt über Jobs<br />
nach, die entstehen könnten, wenn<br />
30<br />
Träumt von<br />
einem Job<br />
auf dem ersten<br />
Arbeitsmarkt:<br />
Werkstattrat<br />
Frank Belling<br />
UN-Behindertenrechtskonvention<br />
Das „Übereinkommen über die Rechte<br />
von Menschen mit Behinderungen“ wurde<br />
2006 von der Generalversammlung<br />
der Vereinten Nationen verabschiedet,<br />
in Deutschland gilt es seit 2009. Die<br />
Konvention konkretisiert die allgemeinen<br />
Menschenrechte für Menschen mit Einschränkungen,<br />
etwa das Recht auf Arbeit<br />
oder das Verbot von Diskriminierung.<br />
Die Umsetzung wird von Expert:innen<br />
regelmäßig überprüft. Mehr Infos:<br />
www.institut-fuer-menschenrechte.de<br />
man das Geld umverteilen, das derzeit<br />
für Werkstätten, Sozialhilfe und Mietzuschüsse<br />
ausgegeben wird, „entsteht daraus<br />
vielleicht etwas Gutes“, meint Judith.<br />
Werkstattrat Frank Belling hat einmal<br />
„draußen“ gearbeitet: als Toilettenmann<br />
in der Rathauspassage, einem<br />
Sozialprojekt der Diakonie. Der Job habe<br />
ihm Spaß gemacht, erzählt er. „Leider<br />
ging es irgendwann nicht mehr, aus gesundheitlichen<br />
Gründen.“ Ob Belling<br />
noch eine Chance bekommen wird?<br />
Einen Job am Telefon stellt er sich vor,<br />
„etwa die Kontaktpflege zu Kunden“.<br />
Kommunikativ ist er, witzig auch.<br />
Warum sollte er das nicht können? •<br />
Ulrich Jonas war beeindruckt<br />
vom Engagement der Menschen<br />
in den Werkstätten.<br />
Eine inklusive Gesell schaft<br />
stellt er sich dennoch anders vor.<br />
ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />
Ausgleichsabgabe<br />
Firmen mit 20 oder mehr Beschäftigten<br />
sollen nach dem Gesetz mindestens fünf<br />
Prozent der Stellen an Schwerbehinderte<br />
vergeben. Andernfalls müssen sie eine<br />
sogenannte Ausgleichsabgabe zahlen.<br />
Die beträgt 140 bis 360 Euro monatlich<br />
pro nicht besetztem Pflicht-Arbeitsplatz.<br />
Rund jedes dritte Unternehmen in<br />
Hamburg kommt seiner Verpflichtung<br />
nicht nach. Folge: 11.000 Jobs für<br />
Schwer behinderte fehlen. Mehr Infos:<br />
www.hamburg.de/integrationsamt
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Inklusion<br />
Leben mit<br />
Behinderung<br />
Warum das Thema Inklusion aktuell ist, zeigen diese Zahlen.<br />
REDAKTION: JONAS FÜLLNER<br />
ILLUSTRATIONEN: GRAFIKDEERNS.DE<br />
Schwerbehinderte<br />
in Deutschland<br />
Viele Behinderungen<br />
erfolgen im Verlauf des Lebens.<br />
Nur vier bis fünf Prozent der<br />
Betroffenen sind von<br />
Geburt an behindert.<br />
Quelle: Statistisches<br />
Bundesamt, 2020<br />
7,9 Millionen<br />
schwerbehinderte<br />
Menschen<br />
Bevölkerung<br />
83,1 Millionen<br />
Inklusion in der Schule<br />
Die Behindertenrechtskonvention<br />
der Vereinten Nationen (UN-BRK)<br />
garantiert in Deutschland seit<br />
2009 das Recht auf inklusive Bildung.<br />
Obwohl die Inklusionsquote (also<br />
der Anteil behinderter Kinder) an<br />
allgemeinbildenden Schulen<br />
stetig steigt, besucht noch etwa<br />
jedes zweite Kind mit Behinderung<br />
eine Förderschule.<br />
1,1 Prozent 2009<br />
2,1 Prozent 2014<br />
3,3 Prozent 2020<br />
Quelle: Bildungsstatistische Analysen der Kultusministerkonferenz (KMK)<br />
Realistisches Bild<br />
von Menschen<br />
mit Behinderungen<br />
in den Medien?<br />
42 Prozent der Deutschen<br />
findet, dass die Medien<br />
das Leben und den Alltag<br />
von Menschen mit<br />
Behinderungen weniger gut<br />
widerspiegeln, 16 Prozent<br />
sogar, dass ihnen das nicht<br />
gut gelingt. Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
widmet dem<br />
Thema Inklusion erst<br />
im 29. Jahr seines<br />
Bestehens einen<br />
großen Schwerpunkt.<br />
Quelle: Institut für<br />
Demoskopie Allensbach (2011)<br />
67.107 Arbeitgeber:innen<br />
mussten keine Ausgleichsabgabe zahlen.<br />
104.492 Arbeitgeber:innen mussten Ausgleichsabgabe<br />
zahlen, statt Schwerbehinderte zu beschäftigen.<br />
Inklusion<br />
in der Arbeitswelt<br />
Bundesweit beschäftigen drei von fünf der<br />
per Gesetz dazu verpflichteten Unternehmen<br />
keine oder zu wenig Menschen mit Schwerbehinderung<br />
– eine Quote, die zeigt, dass<br />
die Ausgleichsabgabe viel zu gering ist, um<br />
für Inklusion in der Arbeitswelt zu sorgen.<br />
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019)<br />
154.550 schwerbehinderte Menschen<br />
waren arbeitslos gemeldet.<br />
31
Sport kann so<br />
inklusiv sein!<br />
Eine Handvoll Vereine in Hamburg macht vor, wie<br />
es gehen kann: Sie laden Menschen mit und ohne<br />
Einschränkungen zum gemeinsamen Sport ein.<br />
TEXTE: ULRICH JONAS<br />
FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK<br />
Teamsport total<br />
Leander pariert auch hart geworfene Bälle wie ein alter Hase.<br />
Dabei ist der 13-Jährige erst das zweite Mal beim Aquaball-Training<br />
des Eimsbüttler TV dabei. Dass er hier als „Normaler“ mit sogenannten<br />
Behinderten spielt, findet Leander „echt cool“: „Man<br />
kann mit allen gut kommunizieren. Und wenn jemand mal einen Ball<br />
verkackt, ist das nicht schlimm. Dann muntert man sich halt auf.“<br />
Die Kids haben gerade ihr Training beendet. Nun wühlt ein<br />
knappes Dutzend Jugendlicher und Erwachsener durch das kleine<br />
Schwimmbecken, angeleitet von zwei Trainern. Die Regeln<br />
sind schnell gelernt: Jede Mannschaft besteht aus vier Leuten,<br />
gespielt wird – anders als beim Wasserball – in brusthohem Wasser.<br />
Wer den Ball hat, darf nicht laufen. Und vor einem Torwurf<br />
muss die Kugel dreimal weitergegeben worden sein – echter<br />
Teamsport also.<br />
Morten, ein Junge mit Behinderung, ist schon einige Jahre dabei,<br />
außerdem ist er Schwimmer. Als solcher ist er mit dem Verein sogar<br />
in Japan gewesen, im Rahmen eines Austauschs. Und was ist das<br />
Beste, was beim Aquaball passieren kann? „Gutes Teambuilding.“ •<br />
Mehr Infos www.aquaball.de und www.etv-hamburg.de
34
Inklusion<br />
„Wie Achterbahn<br />
fahren“<br />
Irgendwann hatte Inka keine Lust mehr,<br />
immer nur zuzuschauen als „Fußgängerin“ –<br />
so nennen Rollstuhlfahrer:innen Menschen,<br />
die laufen können. Also setzte sich die<br />
24-Jährige an einem schönen Sommertag in<br />
den Sportrollstuhl ihres Freundes und drehte<br />
vorsichtig erste Runden. „Ein cooles Gefühl“<br />
erzeuge das, sagt Inka einige Monate später –<br />
vor allem wenn sie Rampen herunterfährt.<br />
„Das ist ein bisschen so wie Achterbahn,<br />
diese Schwerelosigkeit.“<br />
Samstagnachmittag im umge bauten<br />
Veranstaltungsraum des Hauses der Jugend<br />
Eidelstedt: Ein gutes Dutzend Kinder,<br />
Jugendliche und Erwachsene skatet über<br />
„Was ich hier<br />
lerne, kann ich<br />
im Alltag nutzen.“<br />
MARCEL<br />
Spezielle Rollstühle und Helme<br />
gehören beim Rolli-Skaten dazu.<br />
Schrägen, Hindernisse und Rampen, übt<br />
Sprünge und Stürze. Marcel, anders als seine<br />
Freundin auf den Rollstuhl an gewiesen,<br />
sieht vor allem die praktischen Vorteile des<br />
Trainings: „Was ich hier lerne, kann ich im<br />
Alltag nutzen. Wenn etwa ein Aufzug mal<br />
wieder kaputt ist, ist es gut, wenn ich das<br />
Treppenfahren geübt habe.“<br />
WCMX (Wheelchair Motocross) nennt<br />
sich der Sport, der in den USA erfunden<br />
wurde. Hierzulande bekannt gemacht hat ihn<br />
David Lebuser, der 2014 sogar Weltmeister<br />
wurde. Der 35-Jährige, der neuerdings in<br />
Hamburg lebt, organisiert gemeinsam mit<br />
anderen die monatlichen Events – und ist für<br />
viele ein Vorbild (siehe auch Interview S. 39).<br />
Zum Beispiel für die kleine Aylin. Die<br />
war gerade mal zweieinhalb, als sie ihren<br />
künftigen Helden in einem Youtube-Film<br />
das erste Mal sah – und beschloss, ebenfalls<br />
mit dem Rollstuhl skaten zu wollen.<br />
Heute flitzt die Neunjährige so furchtlos<br />
durch die Parcours, dass sie den Spitznamen<br />
„Kamikaze-Aylin“ trägt. Für ihren Sport<br />
reist sie einmal im Monat von Bielefeld aus<br />
an, denn, so ihre Mutter: „Bei uns gibt es nur<br />
einen ganz kleinen Skatepark.“<br />
•<br />
Mehr Infos und Termine unter<br />
www.sitnskate.de<br />
35
Kürzlich erst ist der FC St. Pauli<br />
Deutscher Blinden fußball-Meister<br />
geworden. Grund genug für den<br />
Nachwuchs, gemeinsam mit Trainer<br />
und Spieler:innen zu posieren.<br />
36
Inklusion<br />
„Voy! Voy! Voy!“<br />
Wie magisch angezogen stürmt der Junge<br />
mit dem Ball am Fuß auf das Tor zu, das er<br />
nicht sehen kann. „Freie Bahn, Nathan!“,<br />
hört er den Rufer („Guide“) seines Teams,<br />
der hinter dem Kasten der gegnerischen<br />
Mannschaft steht und seinen Angriff kommentiert:<br />
„Zehn Meter noch, acht, sechs,<br />
vier, Schuss!“ Das Leder zappelt im Netz,<br />
das Zusammenspiel ist gelungen.<br />
Blindenfußball ist gelebte Inklusion:<br />
Nicht Sehende, schlecht Sehende und gut<br />
Sehende bilden ein Team, und über allem<br />
steht das gemeinsame Erlebnis. Einige Besonderheiten<br />
gilt es zu beachten: Der Ball<br />
rasselt sobald er rollt, damit alle ihn hören.<br />
Banden ersetzen die Seitenlinien, sie dienen<br />
auch der Orientierung. Wer über den<br />
Platz läuft, ruft „Voy!“, um Zusammenstöße<br />
zu vermeiden. Guides sehen für Blinde.<br />
Und um die (sehenden) Torwarte vor Unfällen<br />
zu schützen, sollen Stürmer:innen<br />
spätestens zwei Meter vor dem Kasten zum<br />
Abschluss kommen.<br />
Aaron, seit einem Monat dabei, kann<br />
heute nicht kicken. Der Zwölfjährige ist<br />
beim Sprung auf einer Treppe umgeknickt<br />
und geht an Krücken. Das hindert ihn nicht,<br />
einen blinden Mitspieler beim Training<br />
über den Platz zu begleiten. Denn anders<br />
als dieser kann er den Ball sehen, wenn<br />
auch nur „extrem verschwommen“. Etwas<br />
skeptisch sei er vor seinem ersten Gastspiel<br />
beim Blindenfußball schon gewesen, erzählt<br />
Aaron hinterher. „Aber dann hat es sehr viel<br />
Spaß gemacht.“<br />
Im Tor steht heute der 18-jährige<br />
Julius. In einer Trainingspause berichtet er,<br />
dass er „schon immer St. Pauli-Fan“ war,<br />
aber nie selbst Fußball gespielt hat. Dass er<br />
hier ohne jegliche Kick-Erfahrung mitspielen<br />
kann, habe ihn gereizt. „Und ich<br />
finde es schön, dass hier viel mehr kommuniziert<br />
wird als beim normalen Fußball.“<br />
Spieler-Vater Udo Laskowski glaubt, auf<br />
dem Sportplatz den Entwurf einer besseren<br />
Gesellschaft zu sehen: „Ich wünsche mir,<br />
dass wir überall so miteinander umgehen<br />
wie wir hier beim Blindenfußball: vorsichtig,<br />
behutsam. In dem Bewusstsein: Wir sitzen<br />
alle in einem Boot – egal welche Hautfarbe<br />
du hast oder welche Religion, ob du blind<br />
bist oder sehend, arm oder reich.“<br />
•<br />
Mehr Infos: www.fcstpauli.info und<br />
www.blinden-fussball.de<br />
37
Freiwurf für alle<br />
Diesen Sieg haben sie hart erkämpft. Wieder und wieder haben sie an diesem<br />
Samstagvormittag Bälle geworfen. Haben versucht, mit ihnen die Hütchen zu treffen,<br />
die ihre Trainerin auf zwei Barren mitten ins Tor gestellt hat. Die wollte das zweistündige<br />
Training eigentlich vor einigen Minuten beenden. Doch ihre Schützlinge wollten<br />
das nicht. Mussten erst noch das letzte Hütchen abräumen. Als das endlich gefallen<br />
und die Halle aufgeräumt ist, kommen die Handballer:innen zum Abschlusskreis<br />
zusammen und beantworten die Frage „Was sind wir?“ dreimal mit einem begeisterten<br />
„Ein Team!“.<br />
Die SG Wilhelmsburg ist einer von fünf Vereinen, die mit inklusiven Mannschaften<br />
regelmäßig gegeneinander antreten. „Freiwurf Hamburg“ ist die erste<br />
offiziell vom Deutschen Handballbund anerkannte Liga, in der Menschen mit und<br />
ohne Einschränkungen zusammenspielen. Glaubt man Tobi, erster Torwart seines<br />
Teams und seit bald fünf Jahren dabei, geht es dabei vor allem um den Spaß:<br />
„Gewinnen oder verlieren: Das ist egal.“ Teamkollege Fabian ergänzt: „Der<br />
Zusammenhalt ist das Wichtigste. Und jeder, der bei uns mitmachen will, ist<br />
herzlich eingeladen.“<br />
•<br />
Mehr Infos: www.sgwilhelmsburg.de und www.freiwurf-hamburg.de<br />
In der<br />
Schwerelosigkeit<br />
Gegen Ende des Nachmittags tobt ein Sturm<br />
auf offenem Meer. Um den zu erzeugen,<br />
haben die Trainer:innen ein buntes Tuch auf<br />
einem der beiden großen Trampoline ausgebreitet.<br />
Die kleinen Turner:innen, erschöpft<br />
vom vielen Springen, legen sich gerne drauf.<br />
Und dann geht es los: Das Tuch, an den vier<br />
Ecken gezogen, beginnt zu schwingen, erst<br />
leicht, dann immer stärker. Orkan! Die Kids,<br />
ob mit Einschränkungen oder ohne, rollen<br />
durcheinander und quietschen.<br />
„Das Tolle am Trampolinturnen ist, dass<br />
die Kinder sich und ihren Körper in der<br />
Schwerelosigkeit mal ganz anders erfahren“,<br />
sagt Stefan Schlegel, stellvertretender<br />
Geschäftsführer des SV Eidelstedt. Ständig<br />
schafft der Verein neue inklusive Angebote,<br />
„das ist unser gesellschaftspolitischer Auftrag“.<br />
Für sein bemerkenswertes Engagement<br />
hat der SV Eidelstedt in den vergangenen<br />
30 Jahren viele Preise abgeräumt – zuletzt<br />
für das Vorhaben, die Vereinsanlagen so umzugestalten,<br />
dass dort bald paralympisches<br />
Tennis möglich wird.<br />
Rund 820 Sportvereine gibt es in Hamburg.<br />
„Nur eine Handvoll bieten inklusiven<br />
Sport an. Leider.“ Dabei sei dieser gerade für<br />
junge Menschen so wertvoll, meint der Inklusionsexperte:<br />
„Kinder sehen andere nicht mit<br />
ihren Handicaps. Das ist ein klassisches<br />
Erwachsenending.“<br />
•<br />
Mehr Infos: www.sve-hamburg.de<br />
38
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Inklusion<br />
„Es geht um<br />
Selbstbewusstsein“<br />
Rollstuhl-Skater David Lebuser im Interview<br />
FRAGEN: ULRICH JONAS<br />
FOTO: DMITRIJ LELTSCHUK<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Warum ist Sport vor allem<br />
für Kinder mit Behinderungen so wichtig?<br />
David Lebuser: Es geht um spielerisches Lernen.<br />
Die Kids werden selbstbewusst, sodass<br />
sie sich im besten Fall irgendwann nicht<br />
mehr vorstellen können, dass es etwas geben<br />
soll, das sie nicht machen können. Dieses<br />
Selbstverständnis ist wichtig: Ich bin hier<br />
und darf teilhaben, wie jede:r andere auch.<br />
Kann beim Rollstuhl-Skaten<br />
jede:r mitmachen?<br />
Ja. Menschen mit jeder Art von Behinderung<br />
und auch solche ohne sind herzlich<br />
eingeladen. Und es geht nicht immer um<br />
krasse Tricks. Teilhabe kann auch anders<br />
stattfinden. Zum Beispiel indem eine:r<br />
filmt, kommentiert, fotografiert, Musik<br />
macht oder einfach nur mit uns abhängt.<br />
Warum ist das wichtig?<br />
Gerade weil Schulen Inklusion manchmal<br />
noch vermissen lassen, ist es wichtig, dass<br />
die Kids möglichst früh Kontaktmöglichkeiten<br />
mit Kindern ohne Behinderung<br />
haben. Je früher alle lernen, miteinander<br />
umzugehen, desto einfacher wird es später<br />
im Erwachsenenleben. Dann können Ängste<br />
und Vorurteile gar nicht erst entstehen<br />
oder direkt abgebaut werden.<br />
Wie weit sind wir in Sachen Inklusion?<br />
Es gibt noch viel zu tun. Deutschland ist in<br />
Sachen Teilhabe und Barrierefreiheit ein<br />
Stück weit hinterher. Es gibt noch Sonderschulen,<br />
Werkstätten und viel zu wenig<br />
inklusive Sport- und Freizeitangebote.<br />
Woran liegt das?<br />
Vor allem die Politik ist gefordert. In den<br />
USA gibt es seit mehr als 30 Jahren ein Gesetz,<br />
das Barrierefreiheit auch in der Privatwirtschaft<br />
vorschreibt, etwa in Cafés und<br />
Restaurants. Als Rollstuhlfahrer:in fühlst du<br />
dich dort freier. Selbst bei der abgelegensten<br />
Tankstelle habe ich einen Behinderten-<br />
Parkplatz und ein Behinderten-Klo gefunden.<br />
Und wenn ich in der Innenstadt von<br />
Los Angeles unterwegs bin, gibt es in jedem<br />
Geschäft eine Rampe oder einen Lift. In<br />
Deutschland haben wir in den vergangenen<br />
Jahren zweimal über entsprechende Gesetze<br />
gesprochen. Am Ende hieß es jedes Mal:<br />
Das ist zu teuer für die Wirtschaft. So kann<br />
inklusive Gesellschaft nicht funktionieren.<br />
Wie ist die Situation in Hamburg?<br />
Die Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr<br />
ist deutlich besser geworden. Schade<br />
finde ich, dass Hamburg in Sachen<br />
Inklusion nicht mit gutem Beispiel vorangeht<br />
und ein Landesgesetz auf den Weg<br />
bringt, das klare Regeln schafft dafür, dass<br />
Inklusion gelingen kann. •<br />
ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />
David Lebuser (35) ist seit einem Unfall 2008 auf<br />
den Rollstuhl angewiesen. Inspiriert durch eine<br />
USA-Reise gibt er seit 2013 Skate-Workshops.<br />
Die<br />
Großuhrwerkstatt<br />
Bent Borwitzky<br />
Uhrmachermeister<br />
Telefon: 040/298 34 274<br />
www.grossuhrwerkstatt.de<br />
Verkauf und Reparatur<br />
von mechanischen Tisch-,<br />
Wand- und Standuhren<br />
IN DER RUHE<br />
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040 / 431 39 40<br />
© Madle | pix & pinsel . madle@pixundpinsel.de . 040. 284 085 56
Steffi Treiber mit<br />
ihrem Hund Ronja<br />
im Werkstatt-Atelier
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Bauen&Basteln<br />
„Ich dachte ich spinne,<br />
ich träume!“<br />
Steffi Treiber ist Designerin und bekannt aus der WDR-Serie<br />
„Lieblingsstücke“. Auch für Hinz&<strong>Kunzt</strong> macht die Upcycling-Expertin<br />
künftig Neues aus Altem (siehe nächste Seite).<br />
TEXT: ANNETTE WOYWODE<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
L<br />
ausig kalt ist es im Werkstatt-<br />
Atelier von Steffi Treiber. Hier<br />
im Winter zu arbeiten, kann<br />
hart sein. Aber die alte Plönjeshausener<br />
Mühle in Bremervörde, in der die<br />
40-Jährige eine Etage gemietet hat, ist<br />
ein guter Ort. Wer das Atelier betritt,<br />
dem wird auf jeden Fall warm ums<br />
Herz. Denn dort trifft man überall<br />
auf Unikate, die auch in Steffi Treibers<br />
Buch „Kreative Lieblingsstücke“ abgebildet<br />
sind. In dem Buch zeigt die<br />
Upcycling-Expertin, wie aus altem<br />
Kram „neue“ Einrichtungs- oder Dekogegenstände<br />
entstehen: eine Lampe aus<br />
einem ausgedienten Lattenrost, eine<br />
aus alten Stühlen gebaute Schaukel<br />
oder ein Briefkasten aus einer ollen<br />
Schub lade. Alles selbst erdacht und<br />
selbst gebaut.<br />
Eigentlich ist Steffi Treiber Bühnenplastikerin.<br />
„Der geilste Beruf ever“,<br />
sagt sie. Gelernt und gearbeitet hat sie<br />
am Theater in Heidelberg. Dabei darf<br />
sie alle Gewerke durchlaufen, die<br />
sie will: Schreinerei, Schlosserei, Bühnentechnik,<br />
Licht- und Tontechnik,<br />
Polsterei. „Am Theater hast du alle<br />
Materialien und Möglichkeiten“,<br />
schwärmt Steffi. Plus: Handwerk und<br />
Kreativität seien dort eng miteinander<br />
verbunden. Einziger Haken: Die Bezahlung<br />
war schlecht.<br />
Also macht sie sich selbstständig,<br />
findet einen Job im Messebau – und hat<br />
ein krasses Erlebnis: „Du baust zwei<br />
Wochen auf“, sagt Steffi. „Du willst, dass<br />
es der schönste Stand wird, und nach<br />
fünf Tagen Messelaufzeit wird alles<br />
runtergerissen und in die Mülltonne gestopft.<br />
Ich dachte ich spinne, ich träume,<br />
Holz, Stoffe, Tische, Möbel, richtig<br />
schlimm!“ Mit offenem Mund habe sie<br />
der Ressourcenverschwendung zugesehen.<br />
Aber nicht lange. Mit einem gemieteten<br />
Lkw sichert sie sich die besten<br />
Sachen. Nach fünf Messejobs ist ihr<br />
Lager voll. 2012 eröffnet sie eine Werkstatt<br />
mit Ladenlokal in Köln-Bickendorf,<br />
baut Neues aus den geretteten Messematerialien<br />
und bietet sie zum Verkauf<br />
an. Dort wird auch der WDR auf Steffi<br />
Treiber aufmerksam, der gerade eine<br />
Upcycling-Fachfrau für die Fernsehsendung<br />
„Lieblingsstücke“ sucht.<br />
Seit 2017 lebt Steffi Treiber nun in<br />
Niedersachsen. Für die WDR-Sendung<br />
ist sie jeden Monat unterwegs. Das Format<br />
ist wie für sie geschnitzt, denn sie<br />
kann handwerklich alles und sprudelt<br />
vor kreativen Ideen. „Stimmt nicht“,<br />
sagt Steffi und winkt ab. „Ich kann fast<br />
alles ein bisschen. Aber aus allem kann<br />
was werden!“ Diese Einstellung vermittelt<br />
sie auch den Menschen, die sich in<br />
der TV-Serie mit ihrem ausgedienten<br />
Zeug an Steffi wenden, um unter ihrer<br />
Anleitung etwas Neues daraus zu bauen.<br />
„Einfach machen!“, empfiehlt sie.<br />
Den Anspruch nicht zu hoch stecken und<br />
sich nicht mit den Profis vergleichen –<br />
zumal die Handwerksgilde in Deutschland<br />
besonders gut sei. „Aber du traust<br />
dich doch auch, eine Wand zu streichen,<br />
und Maler ist doch auch ein Beruf.“<br />
Die Mission lautet also: Menschen<br />
zu motivieren, Handwerkerei zum<br />
Hobby zu machen. So viele Fertigkeiten<br />
würden nicht mehr gelehrt, bedauert<br />
Steffi. „Frauen sollten nicht für alles<br />
41<br />
Handwerkliche Männer brauchen“,<br />
sagt sie. „Aber ich sehe auch bei Männern,<br />
dass die in dem Bereich immer<br />
weniger können.“ Wie neulich, bei der<br />
Arbeit für ihre WDR-Serie. Da stieß sie<br />
auf einen 26-jährigen Mann, der noch<br />
nie einen Akkuschrauber in der Hand<br />
hatte. „Das kann doch nicht wahr<br />
sein!“, findet Steffi. Wie alle anderen<br />
musste auch er beim Bauen und Basteln<br />
mithelfen. „Nach der Sendung sagen<br />
alle: ,Boah, das hat Spaß gemacht!‘<br />
Und: ,Hätte ich das gewusst, ich hätte<br />
damit schon früher angefangen.‘“ •<br />
annette.woywode@hinzundkunzt.de<br />
Bitte umblättern<br />
zur Bauanleitung<br />
„Kinderküche“<br />
Aus Alt<br />
mach Neu:<br />
Das Buch<br />
„Kreative<br />
Lieblingsstücke“<br />
ist<br />
im August<br />
erschienen,<br />
160 Seiten<br />
mit detaillierten<br />
Bauanleitungen,<br />
24 Euro.<br />
Mehr Infos:<br />
www.stefanie-treiber.de<br />
Von dort gelangt man auch zu ihren<br />
beiden Onlineshops.
Ran an Herd<br />
und Spüle!<br />
Weihnachten und keine Geschenkidee fürs Kind? Steffi Treiber hilft<br />
aus der Klemme: mit einer Upcycling-Bauanleitung für eine Kinderküche –<br />
gefertigt aus einem alten Stuhl. Das ist gar nicht so schwer, aber<br />
umso aufwendiger, je mehr ausrangierte Fundstücke verbaut werden:<br />
alte Türklinken, Blechdeckel oder zerkratzte CDs.<br />
FOTOS: FRECHVERLAG/JULIA SANTOSO
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Bauen&Basteln<br />
Werkzeuge<br />
• Zollstock<br />
• Bleistift<br />
• Handkreissäge mit Schiene<br />
oder Holz beim Kauf im Baumarkt<br />
zuschneiden lassen<br />
• Schleifklotz mit Schleifpapier,<br />
120er-Körnung<br />
• Stichsäge – ein Muss für<br />
jede:n Hobbyhandwerker:in<br />
• Akkubohrschrauber<br />
• Holzspiralbohrer,<br />
Ø 10 mm, 12 mm und 18 mm<br />
• Messschieber<br />
• Anschlagwinkel<br />
• 2 Schraubzwingen<br />
• Atemschutzmaske und<br />
Gummihandschuhe<br />
Das brauchen Sie:<br />
• Schere<br />
• Pinsel<br />
• Schaumstoff-Farbwalze,<br />
Farbwanne und Rührstab<br />
• Handtacker<br />
• Heißklebepistole<br />
• Permanent-Marker in Weiß<br />
Materialien<br />
• alter Holzstuhl<br />
• Holzbrett für den Ofenboden,<br />
ca. 50 cm x 40 cm x 1,8 cm<br />
• Holzbrett für die Arbeitsplatte,<br />
ca. 120 cm x 40 cm x 1,8 cm<br />
• alte Blechschüssel mit Rand<br />
für die Spüle<br />
• alte Türklinke als Wasserhahn<br />
• Holztablett für das Regal,<br />
rechteckig, alternativ Deckel einer<br />
Holzkiste, mind. 50 cm x 20 cm<br />
• 4 CDs als Herdplatten<br />
• 4 identische Aluminium- oder<br />
Blechdeckel, z. B. von Glaskonserven,<br />
als Drehknöpfe<br />
• 400 ml Sprühlack in Schwarz<br />
• Stoff in Weiß, ca. 50 cm x 50 cm<br />
• Malerkreppband<br />
• ca. 20 ml Acryllack in Schwarz<br />
• 375 ml Acryllack in Hellblau, seidenmatt<br />
• Sanitär-Flexschlauch als<br />
Wasserleitung, ca. 30 cm lang<br />
• ca. 30 Schrauben,<br />
3,5 mm x 35/40/45 mm<br />
• Filzstoff in Grau als Kochfeld,<br />
ca. 500 mm x 500 mm x 1–3 mm<br />
• doppelseitiges Klebeband<br />
So geht’s:<br />
Damit der<br />
2. Boden zwischen<br />
die Stuhl beine passt,<br />
muss das Brett ausgeklinkt<br />
werden:<br />
Schabloniere dafür<br />
die Stuhlbeine<br />
und schneide die<br />
Rechtecke mit der<br />
Stichsäge aus.<br />
Aus dem kürzeren Holzbrett sägst du einen<br />
1. Boden als Ofenfach aus: Miss dafür Länge und<br />
Breite des Stuhls bis zu den Außenkanten der Stuhlbeine<br />
aus und übertrage die Maße auf das Holzbrett.<br />
Dann mit der Handkreissäge zusägen und die<br />
Kanten mit dem Schleifklotz abschleifen.<br />
3.<br />
Setze das<br />
ausgeklinkte<br />
Holzbrett ein:<br />
Nun hat der<br />
Ofen einen<br />
Boden.<br />
43
Lege das zweite Holzbrett auf die Sitzfläche, um Länge<br />
4. und Breite der Arbeitsplatte zu bestimmen. Dabei auch<br />
den Durchmesser der Blechschüssel beachten, die das<br />
Spülbecken darstellen soll, damit diese auf jeden Fall in die<br />
Arbeitsplatte hineinpasst. Mit der Handkreissäge zusägen.<br />
Für das Spülbecken zunächst ein Loch in die Arbeitsplatte<br />
sägen, in das die Blechschüssel später einge-<br />
5.<br />
setzt werden soll. Lege dafür die Schüssel zunächst verkehrt<br />
herum auf die Arbeitsplatte und zeichne den Umriss nach.<br />
Miss nun die Breite des Schüsselrands und zeichne in den<br />
ersten Kreis im Abstand dieser gemessenen Breite einen<br />
zweiten, kleineren Kreis.<br />
6.<br />
Bohre nun mit<br />
dem 10-mm-Holzspiralbohrer<br />
ein Loch an<br />
der inneren Kreislinie und<br />
führe hier das Stichsägenblatt<br />
ein. Den Kreis aussägen<br />
und testen, ob die<br />
Schüssel hineinpasst.<br />
7.<br />
Der Wasserhahn entsteht aus der Türklinke.<br />
Zunächst mit dem Messschieber die Breite der<br />
Türklinke am Hals (nicht am Griff) abmessen. Auf der<br />
Arbeitsplatte das Bohrloch neben der Schüssel markieren<br />
und mit einem ausreichend großen Holzbohrer ausbohren.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Bauen&Basteln<br />
Aus dem Holztablett<br />
8. entstehen die beiden<br />
Regalbretter, die an die<br />
Stuhllehne montiert werden.<br />
Bestimme mit dem Anschlagwinkel<br />
die Mitte des Tabletts,<br />
zeichne sie an und halbiere<br />
das Tablett mit der Stichsäge.<br />
Aus den Regalbrettern müssen die senkrechten Streben der Stuhllehne<br />
9. ausgeklinkt werden. Dafür jedes Brett mit den Schraubzwingen an der<br />
gewünschten Position fixieren und mit dem Anschlagwinkel auf beiden Seiten<br />
die Form der Strebe übertragen. Dann die Rechtecke mit der Stichsäge aussägen.<br />
11.<br />
Für das Ofenfach habe ich dem weißen Stoff ein Streifenmuster<br />
verpasst, damit er an eine Ofenklappe erinnert. Den Stoff dafür<br />
zunächst passend zuschneiden und eventuell an den Rändern umnähen.<br />
Dann mit dem Malerkreppband Streifen in unterschiedlichen Breiten<br />
abkleben und mit dem Pinsel vorsichtig schwarzen Acryllack auftragen.<br />
Das Malerkrepp abziehen, solange die Farbe noch feucht ist!<br />
Für die Herdplatten die alten CDs,<br />
10. für die Drehknöpfe die Blechdeckel mit<br />
schwarzem Sprühlack ansprühen. Dabei Atemschutzmaske<br />
und Gummihandschuhe verwenden!
Bauen&Basteln<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>346</strong>/DEZEMBER <strong>2021</strong><br />
Jetzt bemalst du die Küche.<br />
12. Verwende dafür die Farbwalze.<br />
Sind alle Teile lackiert und getrocknet,<br />
werden sie zusammengesetzt und verschraubt:<br />
Zuerst legst du den Boden für<br />
das Ofenfach ein und schraubst ihn an.<br />
Dann befestigst du von innen mit dem<br />
Handtacker die Ofenklappe.<br />
Bohre nun das Loch für den<br />
13. Sanitär-Flexschlauch, der die<br />
Wasserleitung darstellt, in den Stuhl.<br />
Nimm die richtige Seite, nämlich die,<br />
über der später die Spüle der Kinderküche<br />
liegt. Verwende dafür den<br />
12-mm-Holzspiralbohrer. Schiebe den<br />
Schlauch durch das Loch.<br />
14.<br />
Die Arbeitsplatte auf den Stuhl schrauben und das Spülbecken<br />
einlegen. Die Wasserleitung durch das Hahnloch schieben und<br />
mit Heißkleber am Hahn befestigen.<br />
15.<br />
Schraube die Regalbretter<br />
an die Querstreben der<br />
Stuhllehne, einmal von oben und<br />
einmal von unten. Das ist knifflig,<br />
weil die Streben so schmal sind –<br />
arbeite langsam und ziele gut!<br />
46
Lege den Filz, der das Kochfeld darstellt, mittig auf die Arbeitsplatte. Verteile<br />
16. deine Herdplatten darauf und zeichne mithilfe von Zollstock, Anschlagwinkel<br />
und Bleistift an, wie groß das Kochfeld sein muss. Mit der Schere ausschneiden, dann<br />
an einer langen Seite der Filzplatte von hinten doppelseitiges Klebeband anbringen.<br />
Die Trägerfolie noch nicht abziehen.<br />
Um die Position der Filzplatte<br />
17. noch korrigieren zu können, klebe<br />
zunächst nur eine Seite fest: Knicke dafür<br />
an einer Ecke der Filzplatte eine Ecke der<br />
Trägerfolie um, platziere den Filz auf der<br />
Arbeitsplatte und ziehe die Trägerfolie<br />
dann von unten langsam ab. Dabei den Filz<br />
nach und nach andrücken. Den noch nicht<br />
angeklebten Teil umschlagen, ebenfalls mit<br />
doppelseitigem Klebeband versehen und<br />
auf die gleiche Weise ankleben.<br />
Bringe auch auf der<br />
18. Rückseite der Herdplatten<br />
doppelseitiges Klebeband<br />
an und klebe sie auf das Kochfeld.<br />
19.<br />
Die Drehknöpfe für<br />
die Herdplatten mit<br />
dem weißen Permanent-Marker<br />
bemalen und vorne am Stuhl<br />
in gleichmäßigen Abständen<br />
zu einander anschrauben.<br />
Fertig ist die Kinderküche!<br />
Upcycling-Unikat gesucht?<br />
Fehlt Ihnen in Ihrer Wohnung ein dekorativer Gegenstand? Haben Sie Altes oder Ungenutztes<br />
im Schrank, auf dem Dachboden oder im Keller, aus dem etwas Neues entstehen kann?<br />
Mit Glück baut Ihnen Steffi Treiber daraus ein Upcycling-Unikat!<br />
Schicken Sie uns bis zum 31. Januar 2022 eine E-Mail an redaktion@hinzundkunzt.de.<br />
Schreiben Sie uns, was Ihnen fehlt und schicken Sie Handyfotos oder einen Handyfilm dazu:<br />
1) von den ungenutzten Dingen, die Steffi Treiber fürs Upcycling verwenden könnte und<br />
2) von der Leerstelle in Ihrer Wohnung.<br />
Unter allen Einsendungen losen wir eine:n Kandidat:in aus. Im Raum Hamburg holen wir den<br />
Gegenstand ab. Nach der Bauphase bringen wir Ihr neues Lieblingsstück zu Ihnen nach Hause.<br />
Einschränkung: Der Gegenstand muss mit einem normalen Pkw leicht zu transportieren sein.<br />
Die Bauanleitung für dieses Upcycling-Unikat veröffentlichen wir in unserer April-Ausgabe 2022.
Freunde<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>346</strong>/DEZEMBER <strong>2021</strong><br />
Das capito-<br />
Team (von<br />
links): Marie<br />
Christen,<br />
Sascha Preiß<br />
und Friederike<br />
von Bülow<br />
Wenn Sprache<br />
zur Barriere wird<br />
Das capito Netzwerk übersetzt für Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
einen Beitrag pro Ausgabe in Leichte Sprache –<br />
für all jene, denen das Lesen schwer fällt.<br />
TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
A<br />
lltag kann gefährlich sein,<br />
wenn man schlecht lesen<br />
kann, gehandicapt ist oder<br />
eine andere Muttersprache<br />
hat. Denn manchmal können Informationen<br />
lebenswichtig sein. Welche<br />
Nebenwirkungen haben Medikamente?<br />
Wie wird bei der Arbeit eine Maschine<br />
richtig bedient? Meist fehle das<br />
Bewusstsein dafür, dass Informationen<br />
nicht allen Menschen zugänglich sind,<br />
sagt capito-Projektleiterin Marie Christen.<br />
Mit viel Engagement arbeitet das<br />
capito-Team der Grone Netzwerk<br />
Hamburg GmbH dafür, die Welt ein<br />
bisschen verständlicher zu machen.<br />
„Davon profitieren alle“, findet die<br />
49-Jährige.<br />
Dafür werden bei capito Texte in<br />
eine leicht verständliche Sprache übersetzt.<br />
Die sogenannte Leichte Sprache<br />
nutzt einfache, gut bekannte Worte und<br />
kurze Sätze, die für jeden verstehbar<br />
sind. Eine etwas anspruchsvollere<br />
Variante ist die „Einfache Sprache“.<br />
Für Hinz&<strong>Kunzt</strong> wird capito künftig<br />
aus jeder Ausgabe einen Text übersetzen,<br />
den man dann auf der Homepage<br />
in Leichter Sprache nachlesen kann<br />
(siehe hierzu Symbol und QR-Code Seite 49).<br />
Kommunikation und Information barrierefrei<br />
zu machen, ist das Ziel der Arbeit.<br />
„Nur die Schrift größer zu machen<br />
oder lauter zu sprechen, reicht dafür<br />
nicht“, sagt Übersetzerin Friederike von<br />
Bülow. Bei capito haben diejenigen das<br />
letzte Wort, die betroffen sind. Wenn<br />
die Übersetzer:innen die Texte bearbeitet<br />
haben, kommen Prüfgruppen zum<br />
Zug. Sie setzen sich aus Menschen mit<br />
Lernschwierigkeiten und Migrant:innen<br />
oder Geflüchteten zusammen. „Ohne<br />
sie geht es nicht“, sagt Marie Christen,<br />
und Friederike von Bülow ergänzt: „Für<br />
uns ist es spannend zu sehen, wie unterschiedlich<br />
die Teilnehmenden Texte<br />
bewerten.“<br />
Für öffentliche Stellen sei es bereits<br />
verpflichtend, barrierefrei zu kommunizieren.<br />
„Meist ist die Umsetzung jedoch<br />
oberflächlich“, findet Friederike von<br />
Bülow. Doch auch wenn die Mitarbeiter:innen<br />
in Behörden wissen, dass<br />
Standardformulare nur schwer verständlich<br />
sind, dürfen sie nicht einfach<br />
geändert werden, denn dann sind sie<br />
nicht mehr rechtsverbindlich – ein großes<br />
Problem für beide Seiten. „Dabei<br />
löst Behördenpost allein schon oft Ängste<br />
aus“, weiß Marie Christen – umso<br />
48
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
schlimmer, wenn Menschen nicht verstehen<br />
können, was darinsteht.<br />
Friederike von Bülow bietet wie ihr<br />
Kollege Sascha Preiß (45) auch Fortbildungen<br />
in Leichter Sprache an. „In den<br />
Köpfen muss sich etwas ändern“, findet<br />
die 59-Jährige. „Oft genug herrscht<br />
noch die Vorstellung, das sei die Sprache<br />
für Bekloppte.“ Marie Christen<br />
nickt: „Es fehlt oft die Sensibilität<br />
für die Notwendigkeit und für den<br />
Bedarf.“<br />
Für die capito-Mitarbeiter:innen<br />
gibt es auch in anderen Feldern viel zu<br />
tun. Denn neben sprachlichen Barrieren<br />
gibt es im Internet auch technische<br />
Barrieren, die den Zugang zu Informationen<br />
erschweren. Dies betrifft zum<br />
Beispiel hör- oder sehgeschädigte<br />
Menschen, aber auch diejenigen, die<br />
sich mit zunehmendem Alter mit digita-<br />
Freunde<br />
len Medien schwertun. Bei Unternehmen<br />
müsse man das Bewusstsein<br />
für diese alltäglichen Barrieren erst<br />
wecken, „aber immer diplomatisch!“ •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Leichte Sprache:<br />
Das obige Symbol unter einem Text<br />
im Magazin zeigt an, dass er in Leichte<br />
Sprache übersetzt worden ist. Wenn<br />
Sie den QR-Code<br />
scannen, gelangen<br />
Sie zu dem Text auf<br />
der Web seite. Oder<br />
folgen Sie dem Link:<br />
www.huklink.de/<strong>346</strong>-leichte-sprache<br />
JA,<br />
ICH WERDE MITGLIED<br />
IM HINZ&KUNZT-<br />
FREUNDESKREIS.<br />
Damit unterstütze ich die<br />
Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />
Meine Jahresspende beträgt:<br />
60 Euro (Mindestbeitrag für<br />
Schüler:innen/Student:innen/<br />
Senior:innen)<br />
100 Euro<br />
Euro<br />
Datum, Unterschrift<br />
Ich möchte eine Bestätigung<br />
für meine Jahresspende erhalten.<br />
(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />
Meine Adresse:<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Nr.<br />
PLZ, Ort<br />
Dankeschön<br />
Telefon<br />
E-Mail<br />
Wir danken allen unseren Spender:innen,<br />
die uns im November unterstützt haben,<br />
sowie allen Mitgliedern im Freundeskreis von<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>! Wir freuen uns gleichermaßen<br />
über kleine und große Beträge!<br />
Auch unseren Unterstützer:innen auf<br />
Facebook: ein großes Dankeschön!<br />
DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />
• wk it services • Hamburger Tafel<br />
• Obstmonster GmbH • Hanseatic Help<br />
• Axel Ruepp Rätselservice<br />
• Hamburger Kunsthalle • WTS-Stiftung<br />
• Ursula und Peter Weinem und ihre Gäste für<br />
die Spende zur Goldenen Hochzeit<br />
• Roger Bansbach und seine Gäste<br />
• Christian Denso und seine<br />
Geburtstagsgäste<br />
• Waltraud Hartwich für die gesellige<br />
Vertriebsspende<br />
• Firma Still Niederlassung Hamburg<br />
• Polly für die Geburtstagsspende<br />
• Marianne und Hans-Joachim Jackwirth und<br />
ihre Gäste zur Goldenen Hochzeitsfeier<br />
• die Hildegard und Horst Röder-Stiftung<br />
Medizinische Masken werden permanent für<br />
die Hinz&Künztler benötigt. Danke an:<br />
Tagespflege in der Kösterstraße<br />
NEUE FREUNDE:<br />
• Kathrin Bahnsen von Cramer<br />
• Benjamin Bahr<br />
• Thomas Böckmann-Nalop<br />
• Eva-Maria Braje • Holger Burmeister<br />
• Werner Damisch • Sarah Gurinskas<br />
• Fouad Hamdan • Svenja Lina Harten<br />
• Alejandro Izuel Vinue<br />
• Margret und Karl-Heinz Josch<br />
• Jens Kappenberg • Peter Kubasch<br />
• Ludwig Lierhammer • Stefan Loder<br />
• Sam Lowes • Felix Luther<br />
• Florian Müller • Ulrich Petersen<br />
• Nadine Pohontsch • Melanie Rieckmann<br />
• Najet Sahin • Hendrik Schaper<br />
• Kandida Steger • Elisabeth Trepesch<br />
• Leonhard von Herzogenberg<br />
• Gunther Wallrath • Stanley Weber<br />
• Heiko Wegner • Walter Wildemann<br />
Einzugsermächtigung:<br />
Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />
Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />
Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />
IBAN<br />
BIC<br />
Bankinstitut<br />
Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />
der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />
Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />
Ja<br />
Nein<br />
Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />
Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />
Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />
Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />
genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />
jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />
mehr von uns bekommen möchten, können<br />
Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />
personenbezogenen Daten widersprechen.<br />
Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />
einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />
Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />
Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />
49<br />
HK <strong>346</strong>
Buh&Beifall<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>346</strong>/DEZEMBER <strong>2021</strong><br />
Was unsere Leser:innen meinen<br />
„Das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus ist ein abgefahren geiles Projekt!“<br />
Tränen der Rührung<br />
H&K 345, „Wir sind Glückspilze“ –<br />
Wohn gemeinschaften im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus<br />
Das ist so ein abgefahren geiles Projekt,<br />
das ihr mit dem Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus gestartet<br />
habt! Ich bin wirklich begeistert<br />
und ich hoffe, dass es Schule machen<br />
wird. CLEMBERG_HAMBURG VIA INSTAGRAM<br />
Hammer, hab Tränen in die<br />
Augen bekommen, als ich das las! <br />
<br />
DANA DOLATA VIA FACEBOOK<br />
„Mutig und toll“<br />
H&K 345, Die Retterin<br />
Sie hat mutig und toll gehandelt. Jeder<br />
kann ganz schnell abrutschen. Als<br />
meine Eltern beide im Abstand von drei<br />
Monaten starben, wäre ich definitiv in<br />
einen Drogensumpf verfallen, weil der<br />
Schmerz so groß war. Ich hatte zum<br />
Glück keinen Bezug zu Drogen, aber<br />
hab viel gegessen. Du weißt nie, wann<br />
das Leben dir den Boden unter den<br />
Füßen wegzieht. Deswegen immer<br />
Respekt zeigen und verstehen, dass<br />
Schwächeren geholfen werden muss. <br />
<br />
KHATERA_ACCESSORIES VIA INSTAGRAM<br />
„Er war ein sehr netter Mann“<br />
H&K 345, Altona trauert um Lucas<br />
Lucas war ein sehr netter Mann. Ich<br />
finde es bedrückend, dass eine reiche<br />
Stadt wie Hamburg es nicht geschafft<br />
hat, ihm ein Angebot zu machen, das<br />
ihm aus seiner Sucht heraushilft. PELDA<br />
Genossenschaft vor<br />
H&K online: Sozialbehörde sucht Betreiber<br />
für Housing First<br />
Eine Genossenschaft in öffentlicher<br />
Hand wäre die wohl bessere Lösung, als<br />
sich dafür privaten Unternehmen an die<br />
Brust zu legen. MARTINA JACOBS VIA FACEBOOK<br />
Ins Mark getroffen<br />
H&K online: Feuer zerstört<br />
Obdachlosen schlafplatz<br />
Solche Grausamkeiten treffen mich<br />
bis ins Mark. Möge die arme Person,<br />
die alles verloren hat, in Zukunft<br />
Hilfe und Wohlwollen erfahren. <br />
<br />
UTE HITMEIER VIA INSTAGRAM<br />
Leser:innenbriefe geben die Meinung der<br />
Verfasser:innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />
Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen.<br />
Schreiben Sie uns an briefe@hinzundkunzt.de<br />
Wir trauern um<br />
Jacek Kowalczyk<br />
13. September 1970 – 14. Oktober <strong>2021</strong><br />
Jacek ist aus noch ungeklärten<br />
Gründen in seinem Zelt verstorben.<br />
Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />
HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />
DER ETWAS ANDERE<br />
STADTRUNDGANG<br />
Wollen Sie<br />
Hamburgs City<br />
einmal mit<br />
anderen Augen<br />
sehen? Abseits<br />
der glänzenden<br />
Fassaden zeigen wir<br />
Orte, die in keinem<br />
Reiseführer stehen:<br />
Bahnhofsmission<br />
statt Rathaus und<br />
Tagesaufenthaltsstätte<br />
statt Alster.<br />
Sie können mit<br />
unserem Stadtführer<br />
Chris zu Fuß auf<br />
Tour gehen, einzeln<br />
oder als Gruppe<br />
bis 25 Personen.<br />
Auch ein digitaler<br />
Rundgang ist<br />
möglich. Das ist fast<br />
genauso spannend.<br />
Offener Rundgang am Sonntag, 5.12. und 19.12., jeweils 15 Uhr<br />
Reguläre Rundgänge bequem selbst buchen unter:<br />
www.hinzundkunzt.de/stadtrundgang<br />
Digitale Rundgänge bei friederike.steiffert@hinzundkunzt.de oder<br />
Telefon: 040/32 10 84 04<br />
Kostenbeitrag: 5 Euro/10 Euro<br />
pro Person<br />
100Jahre<br />
Wenn die Welt<br />
auf einmal<br />
stillsteht.<br />
Zuverlässige und<br />
persönliche Hilfe im<br />
Trauerfall – jederzeit.<br />
Immer für Sie da.<br />
040 - 24 84 00<br />
www.gbi-hamburg.de
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Schwere Gedanken: Im Theaterstück Wir, „Kinsky“ und ich wird psychische Erkrankung erlebbar (S. 52).<br />
Buntes Hamburg: Ein gewaltiger Bildband dokumentiert die Anfänge der Graffiti-Szene (S. 54).<br />
Schwarzer Kaffee: Literaturpreisträger Andreas Moster über einen ungewöhnlichen Arbeitsort (S. 64).<br />
Feinstes Kunsthandwerk<br />
fernab vom Weihnachtstrubel<br />
in der City – das bietet die<br />
Adventsmesse der Koppel 66<br />
in St. Georg vom 26.11. bis<br />
19.12., jeweils freitags bis<br />
sonntags von 11–19 Uhr.<br />
Anmeldung unter:<br />
www.koppel66.de<br />
FOTO: BENTE WOLKE
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Schauspieler Metin Turan (links und<br />
oben mit Autorin Wiebe Bökemeier)<br />
über psychische Erkrankungen:<br />
„Das könnte mir genauso passieren.“<br />
Sechs von<br />
17 Millionen<br />
Ein Theaterstück von Wiebe Bökemeier<br />
und Metin Turan macht den Ausnahmezustand<br />
zum Thema. Ihr Wunsch: ein aufmerksamerer<br />
Blick für psychisch kranke Menschen.<br />
TEXT: SIMONE DECKNER<br />
FOTOS: JULIAN GERCHOW (OBEN), PRIVAT<br />
Da ist die zweifache Mutter<br />
Anna-Maria, 50 Jahre alt,<br />
die morgens nicht mehr<br />
aufstehen kann. Da ist<br />
Stephan, 24 Jahre alt, der glaubt, dass<br />
seine Blicke töten können. Und da sind<br />
Wiebe, 41 Jahre alt, Autorin und<br />
Journalistin, und Metin, 43 Jahre alt,<br />
Regisseur und Schauspieler. Sie<br />
bringen die Geschichten von Anna-<br />
Maria, Stephan und vier weiteren<br />
Hamburger:innen mit psychischen<br />
Erkrankungen auf die Bühne.<br />
Sechs Geschichten von 17 Millionen.<br />
So viele Menschen sind in<br />
Deutschland psychisch krank. „Jede:r<br />
kennt eigentlich jemanden, der betroffen<br />
ist, aber die meisten Menschen<br />
wollen sich nicht damit beschäf tigen,<br />
weil es einfach weh tut“, sagt Bökemeier.<br />
Sie hat 2019 ein Buch über Menschen<br />
geschrieben, deren Alltag zum Ausnahmezustand<br />
geworden ist – es bildet die<br />
Vorlage für das Theaterstück. Metin<br />
Turan erzählt die Geschichten in collageartigen<br />
Szenen, er ist dabei allein auf<br />
der Bühne. „Das ist kein Abend, den<br />
ich so aus dem Ärmel schüttle“, sagt er.<br />
„Manche Momente gehen mir sehr<br />
nah.“<br />
52
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Der Schauspieler verzichtet bei seiner<br />
Darstellung auf Plakatives, lieber setzt<br />
er bei einem Rollenwechsel auf subtile<br />
Zeichen wie Zigarette oder Sonnenbrille.<br />
Turan: „Im besten Fall spiele ich<br />
die Geschichten so gut, dass man die<br />
Zeichen gar nicht unbedingt benötigt.“<br />
Etwa wenn er in die Rolle der depressiven<br />
Anna-Maria schlüpft und sie mit<br />
weicher Stimme erzählen lässt, dass sie<br />
nie da angekommen ist, wo sie hinwollte:<br />
„Ich wollte doch nur einen<br />
netten Mann, eine Familie, einen Job,<br />
ein Leben ohne Existenzängste. Und<br />
dann hat die Hölle angefangen.“ Wiebe<br />
Bökemeier erinnert sich gut an das<br />
Treffen mit Anna-Maria: „Als sie mir<br />
ihre Geschichte erzählt hat, kamen<br />
da schon Tränchen. Sie ist eine so<br />
warmherzige Person.“<br />
„Man wirft alle in einen Topf“<br />
Worüber sich die Autorin ärgert: Wenn<br />
psychisch erkrankte Menschen auf ihre<br />
Diagnose reduziert werden: „Die Eigenschaften,<br />
die ihre Charaktere ausmachen,<br />
werden gar nicht mehr gesehen,<br />
alles bezieht sich auf die<br />
Krankheit. Sie werden als verrückt abgestempelt“,<br />
so Bökemeier. Wie bei Stephan,<br />
der sich zwei Wochen im Wald<br />
versteckte. „Das ist ein ruhiger, sehr kluger<br />
Charakter. Ihn hat ein psychotischer<br />
Schub erwischt. Er hat im Wald<br />
Wasser aus hohlen Baumstümpfen getrunken<br />
und sich von geklauten Äpfeln<br />
ernährt. Irgendwann ist er einem Mann<br />
vors Auto gelaufen, der ihn dann in eine<br />
Klinik gefahren hat“, so Bökemeier.<br />
Damit hat der Autofahrer so<br />
gehandelt, wie es sich die Theatermacher:innen<br />
wünschen: „Ein bisschen<br />
aufmerksamer in die Welt und auf das<br />
konkrete Umfeld schauen, statt nur<br />
dumm zu gucken, wenn jemand aus der<br />
Rolle fällt“, sagt Wiebe Bökemeier. „Die<br />
Gesellschaft muss Menschen, die anders<br />
sind, mehr akzeptieren“, sagt Metin<br />
Turan, „ob uns das jetzt gefällt, wie sie<br />
leben, oder nicht.“ •<br />
simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />
Wir, „Kinski“ und ich:<br />
„Wir, ‚Kinski‘ und ich – Ausnahmezustand<br />
im Theater“, Kampnagel, Jarrestraße 20,<br />
Uraufführung: Do, 16.12., 19 Uhr, ab 16<br />
Jahre, Eintritt: 23 Euro, weitere Termine<br />
siehe www.kampnagel.de<br />
FREIWILLIG<br />
HELFEN<br />
Abendbrot für obdachlose<br />
Menschen<br />
Suppe kochen, Brote schmieren, Essen ausgeben –<br />
machen Sie mit! Der Förderverein Winternotprogramm<br />
für Obdachlose e. V. sucht Freiwillige.<br />
Das Abendbrot wird aus Lebensmittelspenden,<br />
unter anderem von der Hamburger Tafel, zubereitet.<br />
Geldspenden für Zukäufe an den Förderverein<br />
sind willkommen: IBAN DE03 2005 0550 1208 1225 62<br />
winternotprogramm.de
Botschaften ins Rollen bringen:<br />
besprühter S-Bahn-Zug im<br />
Bahnhof Hasselbrook, 1995<br />
Als Hamburg plötzlich<br />
bunt wurde
FOTO: ANDREAS TIMM<br />
Ein neues, bildgewaltiges Buch dokumentiert<br />
die Anfänge der Hamburger Graffiti-Szene:<br />
auf Spurensuche zwischen Sprühdosen,<br />
Sonderkommission und Selbstbehauptung<br />
TEXT: SIMONE DECKNER
Gegen alles Grau:<br />
Eric (†) sorgte in der Szene<br />
mit seinen Graffitis für<br />
Aufsehen. Das „Funk<br />
Music“-Piece befand<br />
sich 1988 an der<br />
Rübenkamp-Brücke.<br />
W<br />
er Graffito sagt, hat sich schon geoutet“, sagt<br />
Mirko Reisser und lacht. Grammatikalisch ist<br />
das zwar korrekt. Aber kein Mensch aus der<br />
Szene rede so. „Wir sagen: ein Graffiti,<br />
mehrere Graffitis.“ Reisser weiß das. Der heute 50-Jährige<br />
hat mit 18 Jahren erstmals eine Sprühdose in die Hand genommen.<br />
Von den Graffitis, die er unter seinem Pseudonym<br />
DAIM macht, kann er schon lange leben. „Aber um mich<br />
geht es hier ja heute nicht“, bremst Reisser Fragen nach<br />
seiner Person sanft ab. Lieber will er über das Buch reden,<br />
das auf einem großen Tisch vor ihm liegt: ein dicker Wälzer<br />
mit Tausenden von Abbildungen, 3,7 Kilo schwer und so<br />
sperrig, dass er jeden normalen Briefkasten sprengen würde.<br />
Rund 425.000 Fotos, Negative, Dias und Skizzen hat<br />
Mirko Reisser mit seinen Kollegen Oliver „Davis“ Nebel,<br />
Frank Petering und Andreas „Cario“ Timm dafür gesichtet.<br />
Sie haben 800 Zeitungsartikel gelesen, genau 45.561 Euro<br />
über Crowdfunding gesammelt und viele der „alten Leute“<br />
56
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Nicht nur bunte Balken:<br />
Mit Meinungsgraffitis wurden<br />
politische Inhalte transportiert –<br />
gern auch auf gut sichtbaren<br />
Häuserwänden wie hier<br />
an der Hafenstraße.<br />
FOTO: ANDRÉ LÜTZEN<br />
FOTO: MARILY STROUX<br />
„Eine Stadt<br />
braucht kreative<br />
Freiräume.“<br />
MIRKO REISSER<br />
aufgespürt, wie Reisser sie nennt. Fünf Jahre hat das gedauert.<br />
Aber die Herausgeber wollten nicht nur einen weiteren<br />
Graffiti-Bildband auf den Markt werfen, sondern Graffiti als<br />
kulturgeschichtliches Phänomen erklären – und damit ein breites<br />
Publikum ansprechen. Das ist Reisser wichtig: „Das Buch<br />
ist für jedermann und jedefrau, nicht nur für die Szene.“<br />
Deshalb kommen neben damals aktiven Graffiti-<br />
Writer:innen, Szenekenner:innen und Magazinredakteuren<br />
auch ein Soziologe und eine Architekturhistorikerin zu Wort.<br />
„Graffiti ist ja nicht plötzlich in einem luftleeren Raum<br />
entstanden. Das hat ganz viel mit der Stadt und ihren Freiräumen<br />
zu tun“, erklärt Reisser. Er meint nicht nur die<br />
Brachflächen, von denen es früher viel mehr gab als heute<br />
(eindrucksvoll durch bisher unveröffentlichte Fotos dokumentiert),<br />
sondern auch politische und kulturelle Freiräume: „Das<br />
‚Ahoi‘ in der Hafenstraße war ein ganz wichtiger Ort der<br />
Sozialisierung. Oder auch das ‚Otto‘“, sagt Reisser über die<br />
Kneipen im Umfeld der ehemals besetzten Häuser. „Solche<br />
57
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>346</strong>/DEZEMBER <strong>2021</strong><br />
FOTO: FEDOR WILDHARDT<br />
Made in Hamburg: Die Graffiti-Writer<br />
CanTwo und Jase alias „Crime Partners“<br />
posieren 1988 im Rapper-Stil vor ihren<br />
Pieces in Halstenbek (oben).<br />
Vollgetaggte Wartehäuschen am<br />
S-Bahnhof Langenfelde.<br />
FOTO: WERNER „MR.W“ SKOLIMOWSKI<br />
58<br />
Räume braucht eine Stadt, sonst entsteht auch nichts<br />
Neues, sonst entsteht auch keine Kreativität.“ Ebenso wie<br />
Kampnagel: „Das war ein Ort, wo Graffiti geduldet wurde.<br />
Man konnte da sprühen am Tag und niemanden hat es<br />
gestört“, erzählt Reisser.<br />
Stadt und Polizei reagierten weniger entspannt auf das<br />
neue Phänomen, das aus den USA herübergeschwappt war:<br />
1988 gründete die Bahnpolizei die SOKO Graffiti. Deren<br />
damaliger Leiter Bodo Claußen wird mit den Worten zitiert:<br />
„Wir wussten nur, dass auf einmal die Wände bunt waren.<br />
Aber welche Kultur das war, woher das kam, das wussten<br />
wir zu der Zeit noch nicht.“ Wer erwischt wurde, musste<br />
mit Geldstrafen wegen Sachbeschädigung zwischen 800<br />
und 2000 D-Mark rechnen. Rigoros ging man auch gegen<br />
die S-Bahn-Surfer vor, aus Sorge vor dem Nachahmungseffekt,<br />
nachdem erste Jugendliche die Mutprobe nicht<br />
überlebt hatten.<br />
„Der normale Spießer sah nur Schmiererei“<br />
Doch die Kriminalisierung der Graffitiszene war nur eine<br />
Seite. Von Anfang an bekamen die Sprayer auch viel Unter-
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
stützung. „Clubbesitzer haben Graffiti entdeckt und gesagt:<br />
‚Hey, ich habe hier eine Disco, die will ich modern gestalten,<br />
da hole ich mir doch ein paar Graffiti-Jungs.‘“ Mädchen<br />
und junge Frauen waren tatsächlich eine Minderheit in der<br />
Szene. Die Hamburger Verkehrsbetriebe und die Stadt<br />
luden Sprüher:innen gar zu Wettbewerben und Kunstaktionen<br />
ein. „Man wollte die Energie in geordnete Bahnen<br />
umleiten“, erklärt Reisser. Bereits 1986 ließ die Kulturbehörde<br />
das neue Phänomen wissenschaftlich von der<br />
Geschichtswerkstatt Barmbek untersuchen. „Das war<br />
damals schon wahnsinnig gut recherchiert, und auch die<br />
Schlüsse, die daraus gezogen wurden, sind heute absolut<br />
„Graffiti lebt<br />
von der<br />
Gemeinschaft.“<br />
MIRKO REISSER<br />
gültig“, lobt Reisser. Man habe die unterschiedlichen<br />
Strömungen erkannt: auf der einen Seite die politischen<br />
Graffitis aus dem Punk, bei denen die Message im Vordergrund<br />
steht. Auf der anderen die figurativen Graffitis, bei<br />
denen es eher um Technik und Ästhetik geht.<br />
Natürlich habe es „den normalen Spießer“ gegeben, für<br />
den Graffiti nur Schmiererei war. Reisser: „Die Standardfrage<br />
war: ‚Was sind das denn für bunte Balken?‘“ Doch in<br />
Hamburg, anders als etwa in München, hätten die Menschen<br />
früh unterscheiden können zwischen „Schmiererei im Auge<br />
des Betrachters und Kunst“, sagt Reisser. Wie der Besitzer<br />
des Farbgeschäfts Tapeten Hesse in Langenhorn. Er bot den<br />
Sprühern die dringend benötigten, aber für sie viel zu teuren<br />
Dosen zum vergünstigten Preis an und wurde so schnell zum<br />
Dealer des Vertrauens.<br />
„Eine Stadt wird bunt“ enthält viele solcher Anekdoten.<br />
Eine aber steht nicht in dem Buch. Mirko Reisser erzählt sie,<br />
bevor er sich verabschiedet. „Wir haben uns früher immer an<br />
einem Corner getroffen – aber wir haben nicht gecornert“,<br />
sagt er und lacht. „Dieser Begriff ist erst heute üblich.“ •<br />
Fotograf: Dmitrij Leltschuk, Gestaltung: grafikdeerns.de<br />
Foto: Oliver Fantitsch<br />
simone.deckner@hinzundkunzt.de<br />
Hamburgs Graffiti-Geschichte:<br />
„Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980–1999“,<br />
Hrsg.: Oliver „Davis“ Nebel, Frank Petering, Mirko Reisser und<br />
Andreas „Cario“ Timm, Double-H (Eigenverlag), 560 Seiten,<br />
über 1300 farbige und schwarz-weiße Abbildungen, 69,90 Euro.<br />
Wir verlosen drei Bücher unter allen, die bis zum<br />
29. <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong> eine E-Mail an info@hinzundkunzt.de<br />
schicken. Kennwort im Betreff: Eine Stadt wird bunt.<br />
Mehr Infos: www.einestadtwirdbunt.de<br />
59<br />
Kalender 2022:<br />
Freunde auf vier Pfoten<br />
Obdachlose haben oft niemanden außer dem Hund an<br />
ihrer Seite. Wir haben mit unseren Verkäufer:innen über<br />
ihre besten Freunde gesprochen. Dmitrij Leltschuk hat<br />
tolle Fotos gemacht. Den Kalender gibt es in unserem<br />
Shop und bei unseren Hinz&Künztler:innen.<br />
Für 6,80 Euro<br />
Davon 3,40 Euro für<br />
unsere Verkäufer:innen
Kult<br />
Tipps für den<br />
Monat <strong>Dezember</strong>:<br />
nicht alle gemütlich, nicht<br />
alle weihnachtlich<br />
Ein Fest<br />
für alle<br />
„Frö-hö-liche Weihnacht überall …“ mit Weihnachtsliedern und<br />
Kerzenschein? Nicht jeder kann oder mag die Weihnachtszeit so<br />
feiern. Unsere Kultur-Tipps sind daher kunterbunt verpackt.<br />
„Liebe Genossen!“<br />
So lautet der Titel des Eröffnungsfilms beim<br />
Hamburger Deutsch-Russischen Kinoforum<br />
„KinoHafen“ im Metropolis. Regisseur Andrei<br />
Konchalovsky erinnert an die erbarmungslose<br />
Niederschlagung des Arbeiteraufstands in<br />
Nowotscherkassk 1962. Ein blutiges Kapitel<br />
sowjetischer Geschichte, das viele gern vergessen<br />
machen würden. Der 2020 gedrehte<br />
Film bekommt durch die Schwarz-Weiß-Optik<br />
eine gewisse historische Distanz, doch<br />
Anspielungen auf die Gegenwart sind nicht zu<br />
übersehen. Der gelungene Balanceakt Konchalovskys<br />
wurde beim Filmfestival in Venedig<br />
ausgezeichnet und ging bei den Oscars ins<br />
Rennen. Fünf weitere aktuelle Kinofilme und<br />
ein zweiteiliger Kurzfilmwettbewerb stehen für<br />
das lange Wochen ende auf dem Programm,<br />
übrigens alle im Original mit Untertiteln.<br />
Im Foyer zeigt die in Hamburg lebende Malerin<br />
Helen Shulkin in Kooperation mit der Initiative<br />
„New Belarus Art“ ihre Werke. Sie ist in<br />
Weißrussland geboren, hat in Minsk/<br />
Belarus, Kunst studiert. 2015 ist sie<br />
nach Deutschland übergesiedelt. Ihre<br />
neuesten Sujets zeigen die Gegend um<br />
die Elbbrücken: Architektur, fast<br />
surrealistisch, in poppigen Farben<br />
umgesetzt. Beim Konzert zur<br />
Eröffnung des Festivals spielen<br />
Olga Maschanskaja (Geige) und Elena<br />
Gromyko (Klavier) und widmen die Musik der<br />
„stillen Schönheit und dem verzweifelten Mut<br />
des Landes Belarus“. Berührend!<br />
•<br />
Metropolis, Kleine Theaterstraße 10, Fr, 3.12.,<br />
Eröffnungskonzert 19.30 Uhr, bis Mo, 6.12.,<br />
Tickets 10/5 Euro, hamburger-kinoforum.de<br />
Weihnachtliches Benefizkonzert<br />
zugunsten von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
Die Kirchengemeinden der zwei Hauptkirchen St. Jacobi und<br />
St. Petri laden am Nikolaustag ein zum vorweihnachtlichen<br />
Festkonzert: Gerhard Löffler (im Foto links), Kantor und<br />
Organist an St. Jacobi, lässt bei Kerzenschein die weltberühmte<br />
Arp-Schnitger-Orgel mit adventlichen Werken von<br />
J. S. Bach und Norddeutschen Meistern für eine halbe<br />
Stunde erklingen. Dann geht es zu Fuß rüber in die Kirche<br />
St. Petri, wo Kirchenmusikdirektor Thomas Dahl die Orgel<br />
spielt, improvisiert und Zuhörer:innenwünsche erfüllt. •<br />
Beginn in St. Jacobi, Jakobikirchhof 22, Mo, 6.12., 18 Uhr.<br />
Eintritt frei. Wir freuen uns über Spenden: www.hinzundkunzt.de<br />
FOTOS: FILMS BOUTIQUE, MIGUEL FERRAZ, DEUTSCHE KINEMATHEK, DREYSSE.COM, SUSANNA WENGELER<br />
60
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Brennende Betten<br />
Heiß begehrter Wohnraum im Schanzenviertel – war schon 1987 ein<br />
Thema. Das inspirierte Regisseurin und Hauptdarstellerin Pia Frankenberg<br />
zu diesem Film: Sie als Gina und Rockstar Ian Dury als Harry<br />
geben sich bei der Wohnungssuche als zweckoptimiertes Paar aus,<br />
aber schnell bekommen sie ein ziemlich explosives Problem. Unvermeid<br />
liche Liebhaber:innen gehen Ein und Aus und zündeln das Feuer<br />
der Eifersucht. „Brennende Betten“ lebt von der herrlichen 80s-Atmosphäre<br />
Hamburgs und läuft beim jährlichen Gemeinschaftsprojekt der<br />
Arthouse- und Programmkinos „Eine Stadt sieht einen Film“.<br />
•<br />
In den Arthouse-Kinos der Stadt, auf 16 Leinwänden von Alabama<br />
bis Zeise, So, 12.12., www.eine-stadt-sieht-einen-film.de<br />
Pony Royale:<br />
The Lucky Riders<br />
Bühne frei für die brandneue Hamburger Indie-<br />
Pop-Band „Pony Royale“. Seinen ersten Aufritt<br />
absolviert das Trio in der legendären Astra Stube.<br />
Die drei Herren sind in der Hamburger Musikszene<br />
alte Bekannte: Thomas Mydlach war vor<br />
gut 20 Jahren Singer/Songwriter der Hamburger-<br />
Schule-Band „Camping“ und hat „Pony Royale“<br />
im Frühjahr 2020 gegründet. Tilmann Zuper spielt<br />
das Schlagzeug (auch ehemals bei „Camping“ und<br />
„Achtung! Kabel“) und Ronald Strehl den Bass<br />
(ehemals „Zuhause“). Pandemiebedingt konnten sie<br />
mit ihrem neuen Bandprojekt<br />
zunächst nicht<br />
auftreten, haben die<br />
Zeit aber genutzt und<br />
fleißig geprobt. Mit<br />
Indie-Gitarrenpop<br />
und etwas raueren<br />
60er-Sounds erwarten<br />
sie ihr Publikum –<br />
glücklich, endlich<br />
live zu spielen. •<br />
Astra Stube,<br />
Max-Brauer-Allee 200,<br />
Fr, 10.12., 20.30 Uhr,<br />
13,60 Euro,<br />
www. ponyroyale.de<br />
Gehen ein Bär, ein Dachs und<br />
ein Goldfisch in den Wald …<br />
„Unten breit und oben spitz muss er sein. Nicht zu groß und nicht zu klein.<br />
Und dunkelgrün leuchten soll er.“ Drei Freunde haben eine ziemlich genaue<br />
Vorstellung vom perfekten Weihnachtsbaum, als sie sich auf die Suche in den<br />
verschneiten Wald begeben. Nur mit Bauer Hackenpiep haben sie nicht gerechnet.<br />
Der will auch Weihnachten feiern und fast hätte er ihnen den schönsten<br />
Baum vor der Nase weggeschnappt – aber so schnell geben sich die Freunde<br />
nicht geschlagen: Dr. Brumm, der promovierte Bär, Dachs, der Dachs, und<br />
Pottwal, der Goldfisch, sind die bezaubernden Schöpfungen des Autors und<br />
Illustrators Daniel Napp (Foto). Sein Kinderbuchklassiker „Dr. Brumm feiert<br />
Weihnachten“ wird am Freitagnachmittag vor dem vierten Advent im<br />
Sasel-Haus Kindern ab vier Jahren vorgelesen.<br />
•<br />
Sasel-Haus, Saseler Parkweg 3, Fr, 17.12., 15.20 Uhr und 16.15 Uhr,<br />
kostenlos, Spende erbeten. Anmeldung unter kinderleseclub@saselhaus.de<br />
61
Spitzen-Tanz<br />
John Neumeier bringt mit seinem Hamburg Ballett das Weihnachtsoratorium<br />
I-VI auf die Bühne des Großen Hauses. Das Stück passt<br />
wie die Gans – oder der vegane Braten – zum Festtagsschmaus, denn<br />
das Oratorium von Johann Sebastian Bach fügt sich wunderbar in<br />
die Adventszeit ein. Es verbindet Andacht und pulsierende Energie,<br />
Eleganz und spontane Lebendigkeit. Neumeier choreographiert eine<br />
zeitlose Geschichte über Vertrauen und Zuversicht, innere Einkehr<br />
und universelle Freude, alles Dinge, die man gerade nach den vergangenen<br />
Monaten brauchen kann. Über drei Stunden dauert dieses<br />
tänzerische Meisterwerk, das seine Uraufführung bereits 2013 in<br />
Hamburg feierte. Den Sopran-Part übernimmt Marie-Sophie Pollak,<br />
den Tenor gibt Manuel Günther und Gianluca Capuano trägt die<br />
musikalische Leitung des Philharmonischen Staatsorchesters und des<br />
Staatsopernchors. Ein Weihnachtsvergnügen der Spitzenklasse. •<br />
Opernhaus, Dammtorstr. 28, Do, 23.12., 19 Uhr, Sa, 25.12., 18 Uhr, Mo,<br />
27.12., 19 Uhr, Sa, 1.1.22, 18 Uhr, Eintritt: ab 15 Euro, hamburgballett.de<br />
Sammelsurium<br />
Das Museum für Kunst & Gewerbe (MK&G) zeigt in seiner Ausstellung „Poster und Papierkram. Ein Glossar<br />
des Sammelns“, wie aus einzelnen Objekten (zum Beispiel die Dom-Werbegrafik links) überhaupt erst<br />
eine Sammlung entsteht. Wer entscheidet eigentlich, was gesammelt wird?<br />
Und wie? Denn so viel ist klar: Ohne Struktur und Masterplan ist eine Sammlung<br />
nur eine Ansammlung von Objekten. Am Beispiel der Sammlung „Grafik und<br />
Plakat“ lädt die Ausstellung die Besucher:innen ein, spielerisch stöbernd einen<br />
Blick hinter die Kulissen zu werfen. Entlang von Schlagwörtern wie „Auswahl“,<br />
„Budget“, „Lücken“ oder „Handschuhe“ verbindet sie Historisches mit zeitgenössischen<br />
Fragen und macht die Menschen, Wünsche, Umstände und Praktiken<br />
greifbar, die diese Sammlung prägen. Zugleich schaut das MK&G selbst<br />
zurück auf 150 Jahre Sammelleidenschaft.<br />
•<br />
MK&G, Steintorplatz, bis So, 6.3.22, Eintritt: 12/8 Euro, mkg-hamburg.de<br />
62
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Der gestiefelte Kater<br />
Marionettenspieler Thomas Zürn, auch genannt „Gepetto<br />
des Nordens“, ist, so scheint’s, ein Meister der Puppenführung.<br />
Zusammen mit Komponistin Christine Brückner<br />
und seinem Ensemble präsentiert er im stilvollen Ambiente<br />
des klassizistischen Jenisch Hauses ein poetisches Puppenspiel für Kinder und<br />
Erwachsene. Dessen Inhalt orientiert sich an den Gebrüdern Grimm: Mit seinem<br />
letzten Geld schenkt ein armer Müllerssohn seinem scheinbar gänzlich nutzlosen<br />
Kater ein paar Stiefel und sein Vertrauen. Der zeigt ihm den Weg ins große Glück.<br />
Eine Stunde Märchenspaß mit Retro-Feeling für Menschen ab vier Jahre.<br />
•<br />
Jenisch Haus, Baron-Voght-Straße 50, 18.–30.12., immer Sa und So,14.30 Uhr<br />
und 16.30 Uhr, Eintritt: 20/15 Euro, marionetten-spieler.de<br />
Fettes Fest<br />
Konrad Stöckel zelebriert Weihnachten<br />
wieder im ganz fetten Stil<br />
– und lädt dazu alle komischen<br />
Kreativen ein, die er im Laufe<br />
des Jahres bei seinen zahlreichen<br />
Auftritten kennengelernt hat.<br />
Die weihnachtliche Vorsause<br />
im Schmidt’s für Festtagsliebhabende<br />
und -fürchtende. •<br />
Schmidt Theater, Spielbudenplatz 21-22,<br />
Do, 23.12., 19.30 Uhr, Eintritt: ab 19,80<br />
Euro, www.tivoli.de<br />
Tanz’ die Weihnacht’<br />
Seit 34 Jahren bringt die X-Mas Reggae Show<br />
karibische Beats in die Hamburger Weihnachtsnacht.<br />
In diesem Jahr schauen die Macher:innen<br />
zurück auf mehr als drei Jahrzehnte Show mit<br />
Livemusik am Heiligen Abend.<br />
Fabrik, Barnerstr. 36, Fr, 24.12., 22 Uhr,<br />
Eintritt (VVK): 25 Euro, www.fabrik.de.<br />
Wir verlosen fünf mal zwei Eintrittskarten.<br />
Schreiben Sie uns bis zum 17.12. an<br />
info@hinzundkunzt.de, Betreff: Reggae<br />
FOTOS: KIRAN WEST, MK&G, STEFAN FUNK, JULIA ZENK, HORST WARNEYER, HEIKE BOGENBERGER<br />
Die Sinnsuchende<br />
Das Hamburger Sprechwerk bringt mit „Das Pferd will eine Elfe sein“<br />
das berührende Psychogramm der Tänzerin Victoria-Marie auf die<br />
Bühne, deren Traum von der Primaballerina Assoluta in der Wirklichkeit<br />
keinen Platz mehr hat: Scheitern von Träumen, Kampf gegen<br />
das vermaledeite Altern, dem keiner und keine entkommen kann.<br />
In einem fiktiven Dialog lässt uns Schauspielerin Christa Krings an<br />
ihren Gedanken teilhaben – und an der Erkenntnis, dass Hoffnung<br />
die größte Triebfeder im Leben sein kann. •<br />
Hamburger Sprechwerk, Klaus-Groth-Straße 23,<br />
Mi, 22.12., 20 Uhr, Eintritt: 19,40/12,80 Euro,<br />
https://sprechwerk.hamburg<br />
Verpasste Chancen<br />
„Was wäre wenn“, fragt<br />
sich Lizzie Doron in ihrem<br />
gleichnamigen Roman.<br />
Wäre aus Lizzie und Yigal<br />
ein Liebespaar geworden,<br />
wäre er nicht in syrische<br />
Kriegsgefangenschaft geraten?<br />
Jahrzehnte vergehen,<br />
bis Yigal sich eines Tages<br />
wieder bei Lizzie meldet.<br />
Lesung mit Gespräch. •<br />
Jüdischer Salon,<br />
Grindelhof 59, Mi, 15.12.,<br />
19.30 Uhr, Eintritt 10/5 Euro,<br />
www.salonamgrindel.de<br />
63
Leselounge<br />
#2<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>346</strong>/DEZEMBER <strong>2021</strong><br />
Auf ein Getränk mit …<br />
Andreas Moster<br />
Der Hamburger Literaturpreisträger<br />
verrät Kolumnistin Nefeli Kavouras, warum er<br />
viel Geld in Americano investiert.<br />
Wäre es möglich, sich seine Nachbarn<br />
selbst auszuwählen, so wäre Andreas<br />
Moster ein fabelhafter Kandidat. Nahbar<br />
wirkt er im Gespräch und doch zurückhaltend<br />
genug, als stünde er hinter<br />
einem hölzernen Gartenzaun und würde<br />
einem morgens zuwinken.<br />
Um Nachbarschaft geht es unter<br />
anderem in seinem jüngsten Roman<br />
„Kleine Paläste“, der im vergangenen<br />
Monat mit dem Hamburger Literaturpreis<br />
ausgezeichnet worden ist. Allerdings<br />
wird das Thema Nachbarschaft<br />
dort nicht wohlwollend behandelt. Der<br />
Autor, der in einer pfälzischen Kleinstadt<br />
aufwuchs, ist vor allem vom Nähe-<br />
Distanz-Verhältnis zwischen Nachbarn<br />
fasziniert. So fragt er sich: „Was glaubt<br />
man denn zu verlieren, wenn die Nachbarn<br />
eben nicht die gute Fassade sehen?<br />
FOTOS: IMKE LASS<br />
Warum wäre der Blick hinter die Fassade<br />
so schlimm?“<br />
Ich treffe den Autor unweit seiner<br />
Wohnung auf sein Wunschgetränk:<br />
schwarzer Americano. Ungewohnt ist<br />
es für mich, ungesüßten Kaffee zu trinken,<br />
während Andreas mir gesteht, dass<br />
er Kaffee gar nicht wegen des Geschmacks,<br />
sondern vor allem der Wirkung<br />
wegen trinkt. Überhaupt ist Kaffee<br />
sein treuer Begleiter. Sein Arbeitszimmer<br />
ist eine Bäckereikette in einem<br />
Einkaufszentrum. Dort sitzt er wochentags<br />
in der Früh und schreibt an seinem<br />
Roman. Wir rechnen aus: Im Jahr gibt<br />
er in dieser Bäckerei etwa 450 Euro für<br />
Kaffee aus, „gut investiertes Geld“, findet<br />
Andreas. Wirklich viel Zeit hat der<br />
Vater von zwei Kindern fürs Schreiben<br />
nicht, obwohl die mittlerweile in seine<br />
Fußstapfen treten. „Meine 11-jährige<br />
Tochter hat schon 60 Seiten von ihrem<br />
Fantasyroman fertig, ich habe aktuell 65<br />
Seiten von meinem neuen Roman geschrieben“,<br />
erzählt er mir väterlich stolz –<br />
und ergänzt direkt, dass seine Tochter<br />
gerade an einer Schreibkrise leide. Seinen<br />
Tipp gegen Schreibkrisen teilt Andreas<br />
nicht nur mit ihr, sondern auch<br />
mit mir: „Versuch nicht an der Stelle, wo<br />
du hängengeblieben bist, weiterzuschreiben.<br />
Schreib woanders weiter.<br />
Und hör vor allem nicht einfach auf. Die<br />
Geschichte darf nicht plötzlich damit<br />
enden, dass ein Meteorit auf die Welt<br />
gekracht ist und alle gestorben sind.“<br />
Man merkt Andreas schnell an,<br />
dass er stets weiterschreiben muss. Er<br />
kann gar nicht anders. Schon als Schüler<br />
schrieb er heimlich im Lateinunterricht<br />
englische Metal-Songtexte. Doch<br />
er widerspricht dem Bild des Autors,<br />
der sich in den Rausch hineinschreibt.<br />
Wenn er von seinem Schreibprozess erzählt,<br />
wirkt der auf mich eher wie eine<br />
zähe Angelegenheit. „Aber dann gibt es<br />
auch Euphoriegefühle, wenn ich spüre,<br />
dass die Figuren etwas machen, was<br />
nicht ich, sondern der Text von ihnen<br />
verlangt. Dann wird es lebendig.“ Und<br />
während Andreas das erzählt, habe ich<br />
das Gefühl, dass ihn nicht der Kaffee<br />
wach macht, sondern das Sprechen<br />
über seine Schreibleidenschaft. •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Lesetipp von Andreas Moster:<br />
Der Horror-Roman „It“ von Stephen King.<br />
Er hat das Buch mehrfach im Sommer<br />
gelesen. Vor allem die Jugendlichen<br />
darin haben ihn fasziniert.<br />
64
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rätsel<br />
Kunstsprung<br />
Bereitschaft<br />
zur Buße<br />
Delegation<br />
griechische<br />
Vorsilbe:<br />
Stern...<br />
lauter<br />
Zuruf<br />
Volk in<br />
Südostnigeria<br />
Schülersprache:<br />
logisch<br />
abrichten<br />
italienischer<br />
Barockmaler<br />
Blutsverwandter<br />
d. männl.<br />
Linie<br />
4<br />
1<br />
1<br />
3<br />
7<br />
5<br />
lateinisch:<br />
Wasser<br />
2<br />
1<br />
7<br />
5<br />
2<br />
3<br />
Nervenarzt<br />
Verbindungsbolzen<br />
3<br />
6<br />
8<br />
2<br />
5<br />
Wickeltuch<br />
gebundene<br />
Schreibblätter<br />
besitzanzeigendes<br />
Fürwort<br />
2<br />
4<br />
5<br />
7<br />
4<br />
9<br />
Lehrstoff<br />
für eine<br />
bestimmte<br />
Zeit<br />
deutscher<br />
Karikaturist,<br />
Komiker †<br />
7<br />
6<br />
5<br />
sehr<br />
flaches,<br />
rundes<br />
Brot<br />
5<br />
8<br />
4<br />
2<br />
7<br />
1<br />
weidmänn.:<br />
Hasenlager<br />
Namenshinweis<br />
am<br />
Eingang<br />
Stadt im<br />
östlichen<br />
Ruhrgebiet<br />
Behälter<br />
für Tierprodukte<br />
Elbe-<br />
Zufluss<br />
Magnetende<br />
Filmpreis<br />
in den<br />
USA<br />
Nervenzentrum<br />
6<br />
1<br />
9<br />
AR0909-1219_10sudoku<br />
6<br />
schwanz-<br />
papagei<br />
Gürtel<br />
um den<br />
Kimono<br />
großer<br />
Lang-<br />
Abk.: unbekanntes<br />
Flugobjekt<br />
Warthe-<br />
Zufluss<br />
in Polen<br />
Einbringen<br />
der Feldfrüchte<br />
angesehen,<br />
honett<br />
Wasser-<br />
maßlos,<br />
tiefen-<br />
messer<br />
ungeheuer<br />
Landkartensammlung<br />
in<br />
Buchform<br />
Inschrift<br />
am<br />
Kreuze<br />
Jesu<br />
Kurzform<br />
von:<br />
Eduard<br />
alpines<br />
Skirennen<br />
poetisch:<br />
Nadelwald<br />
einfarbig<br />
griechischer<br />
Buchstabe<br />
hinderliche<br />
Ungelegenheit<br />
amerikanischer<br />
Kuckuck<br />
Füllen Sie das Gitter<br />
so aus, dass die Zahlen<br />
von 1 bis 9 nur je einmal<br />
in jeder Reihe, in jeder<br />
Spalte und in jedem<br />
Neun-Kästchen-Block<br />
vorkommen.<br />
Als Lösung schicken<br />
Sie uns bitte die farbig<br />
gerahmte, unterste<br />
Zahlenreihe.<br />
Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Minenstraße 9, 20099 Hamburg,<br />
per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />
Einsendeschluss: 29. <strong>Dezember</strong> <strong>2021</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />
Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann<br />
zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle gewinnen oder eines von drei<br />
Hamburger Jahrbüchern für Literatur „Ziegel“ (Mairisch Verlag).<br />
Das Lösungswort des November-Kreuzwort rätsels war: Blumenbeet.<br />
Die Sudoku-Zahlenreihe lautete: 517 238 469.<br />
9<br />
6<br />
10<br />
7<br />
4<br />
8<br />
6<br />
9<br />
7<br />
2<br />
10<br />
3<br />
121910 – raetselservice.de<br />
Impressum<br />
Redaktion und Verlag<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />
Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />
Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />
Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />
E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />
Herausgeber<br />
Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />
Externer Beirat<br />
Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />
Mathias Bach (Kaufmann),<br />
Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />
Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />
Karin Schmalriede (ehemals Lawaetz-Stiftung, i.R.),<br />
Dr. Bernd-Georg Spies (Spies PPP),<br />
Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />
Geschäftsführung Jörn Sturm<br />
Redaktion Annette Woywode (abi, CvD; V.i.S.d.P. für Gut&Schön,<br />
Schwerpunkt Inklusion, Bauen&Basteln, Freunde, Buh&Beifall, <strong>Kunzt</strong>&Kult),<br />
Jonas Füllner (jof, V.i.S.d.P. für Stadtgespräch, Weihnachten),<br />
Lukas Gilbert (lg, V.i.S.d.P. für die Momentaufnahme)<br />
Benjamin Laufer (bela), Simone Deckner (sim), Kirsten Haake (haa),<br />
Jochen Harberg (joc), Anna-Elisa Jokob (aej) Ulrich Jonas (ujo),<br />
Nefeli Kavouras (mnk), Misha Leuschen (ml),<br />
Regine Marxen (rem), Simone Rickert (sr)<br />
Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />
Korrektorat Christine Mildner, Kerstin Weber<br />
Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />
Sonja Conrad, Anja Steinfurth<br />
Artdirektion grafikdeerns.de<br />
Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />
Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />
Anzeigenvertretung Gerald Müller,<br />
Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, g.mueller@wahring.de<br />
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 25 vom 1. Januar <strong>2021</strong><br />
Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Gabor Domokos,<br />
Meike Lehmann, Sergej Machov, Frank Nawatzki,<br />
Sigi Pachan, Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />
Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />
Spendenmarketing Gabriele Koch<br />
Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />
Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel,<br />
Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />
Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Chris Schlapp<br />
Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Stefan Calin, Fred Houschka, Mandy Schulz<br />
Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />
Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger,<br />
Klaus Peterstorfer, Herbert Kosecki<br />
Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />
Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />
Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />
Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />
QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />
Spendenkonto Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />
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Die Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />
Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />
des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797,<br />
vom 15.3.<strong>2021</strong> für das Jahr 2019 nach § 5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftssteuergesetzes<br />
von der Körperschaftssteuer und nach<br />
§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />
Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist als<br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />
Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />
Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />
weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />
www.hinzundkunzt.de. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />
obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />
Das Magazin wird von Journalist*innen geschrieben, Wohnungslose und<br />
ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter*innen<br />
unterstützen die Verkäufer*innen.<br />
Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />
Gesellschafter<br />
Durchschnittliche monatliche<br />
Druckauflage 4. Quartal <strong>2021</strong>:<br />
72.333 Exemplare<br />
65
Momentaufnahme<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>346</strong>/DEZEMBER <strong>2021</strong><br />
„ Jetzt ist alles gut!“<br />
Gabor, 43, arbeitet im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Vertrieb.<br />
TEXT: LUKAS GILBERT<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
„Solange du ihn wieder zurückbringst,<br />
darfst du dir Gabor ausleihen“, ruft<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Vertriebsurgestein Siggi<br />
vor dem Interviewtermin schmunzelnd<br />
über den Verkaufstresen. Erst seit wenigen<br />
Monaten arbeitet Gabor fest angestellt<br />
im Vertrieb – und ist schon nicht<br />
mehr wegzudenken. Geboren wurde er<br />
1978 als Sohn einer Deutschen und<br />
eines Ungarn in Budapest. Sein Vater<br />
pendelte als Ingenieur durch die Welt,<br />
seine alkoholkranke Mutter je nach<br />
Pegel zwischen Hingabe und Gleichgültigkeit<br />
für ihre beiden Kinder.<br />
„Durch sie habe ich gelernt, was für eine<br />
schreckliche Krankheit Alkoholismus<br />
ist“, sagt Gabor heute ohne Groll.<br />
„Dadurch verstehe ich Menschen mit<br />
Alkoholproblemen besser.“ In Alkoholkranke<br />
hineinversetzen kann er sich<br />
aber auch aus eigener Erfahrung.<br />
Nach Schule und Wehrdienst in<br />
Ungarn ging es für Gabor zunächst<br />
nach Innsbruck. Das war nicht weit weg<br />
und bot die Möglichkeit, seine Deutschkenntnisse<br />
aufzubessern. Er arbeitete<br />
erst in einem Café, dann in einem Gemüsegroßhandel.<br />
Zurück in der Heimat<br />
fehlte dem damals Anfang 20-Jährigen<br />
die Motivation. „Ich habe rumgegammelt.“<br />
Gemeinsam mit dem Vater entwickelt<br />
er eine fixe Idee: ab nach Hamburg.<br />
Die Stadt kannte der Vater von<br />
seinen Reisen, und in Deutschland sollte<br />
es Jobs geben. Die deutsche Staatsbürgerschaft,<br />
die Gabor durch seine Mutter<br />
besaß, war ein weiteres Argument.<br />
Er fand ein Zimmer in einer Pension<br />
auf der Reeperbahn, später in einer Gemeinschaftswohnung,<br />
hatte aber mehr<br />
Spaß in Kneipen als bei der Jobsuche.<br />
In den folgenden Jahren trank er viel,<br />
machte immer mal wieder Gelegenheitsjobs<br />
– und landete, nachdem er im Streit<br />
mit seiner damaligen Freundin über<br />
seine Trinkerei die gemeinsame Wohnung<br />
verließ, plötzlich auf der Straße.<br />
Es war Sommer und Gabor richtete<br />
sich auf einer Parkbank in einer Kleingartenanlage<br />
ein. Nicht erreichbar<br />
sein, keine Verpflichtungen – obdachlos<br />
zu sein klang für ihn in diesem Moment<br />
nach Freiheit. Ein Irrtum: „Duschen,<br />
Wäsche waschen, essen und so weiter:<br />
Da muss man sich wirklich gut organisieren.“<br />
Umso schwieriger sei das<br />
mit einem Alkoholproblem. „Und auch<br />
zur Ruhe kommt man nicht. Das ist das<br />
Schlimmste.“<br />
Ein paar Monate ging das so, bis<br />
sich Gabor aufraffen konnte und mithilfe<br />
des Amts eine Wohnung fand. Er<br />
hielt sich weiter mit Gelegenheitsjobs<br />
über Wasser und lernte den heutigen<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Stadtführer Chris kennen,<br />
über den er schließlich mit dem<br />
Magazinverkauf begann. Als vor etwa<br />
einem Jahr eine Stelle als Vertriebsmitarbeiter:in<br />
bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> ausgeschrieben<br />
war, musste er nicht lange<br />
über legen und bewarb sich. Mit Erfolg.<br />
Die Arbeit macht ihm Spaß. Sie gibt<br />
ihm die Struktur, die er in all den Jahren<br />
vermisst hat und die ihm hilft, vom<br />
Alkohol wegzubleiben: „Das ist ganz<br />
wichtig für mich.“<br />
Halt gibt ihm außerdem seine<br />
Freundin Franzi, mit der er seit mehr als<br />
einem Jahr zusammen ist – und mit der<br />
Gabor mittlerweile in einer gemeinsamen<br />
Wohnung in Eppendorf wohnt. Für ihn<br />
das absolute Glück, wie er strahlend erzählt:<br />
„Jetzt ist wirklich alles gut.“ •<br />
lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />
66
Das neue Buch von Raúl Krauthausen<br />
und Benjamin Schwarz gibt Anstöße<br />
Wer die Welt verändern will, braucht mutige Aktivist:innen.<br />
Die beiden Autoren sprechen über ihre Erfahrungen u. a.<br />
mit Luisa Neubauer, Tupoka Ogette, Gerhard Schick und<br />
Margarete Stokowski. Ein Buch, das viel bewegen wird.<br />
Foto: David Ausserhofer<br />
Erhältlich in allen Buchhandlungen.<br />
www.edition-koerber.de<br />
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