AUSGABE 2
8. Januar 2022
JETZT STARTE ICH!
Gesundheit • Psyche • Finanzen
So gelingt Ihnen ein erfolgreiches 2022
WIRTSCHAFT
Wann in Deutschland
Autos autonom fahren
POLITIK
Wer gegen wen?
Die Duelle des Jahres
CORONA
Warum es immer noch
keinen Totimpfstof f gibt
POLITIK
BLINDBLIND
Die Duelle
In Berlin dominiert vor allem ein Kampf:
das Land gegen Omikron. Längst aber streitet
die Politik auch um andere Themen: Klima,
Impfpflicht, Abtreibung. Wer gegen wen?
Fo t o s : Peter Rigaud/laif
Ring frei!
Neukanzler Olaf Scholz
und Bald-CDU-Chef
Friedrich Merz können
sich nicht nur aufeinander
konzentrieren. Auf beide
warten viele Gegner
TEXT VON MARC ETZOLD UND MARCEL WOLLSCHEID
28 FOCUS 2/2022
AUSBLICK
des Jahres
FOCUS 2/2022 29
POLITIK
Brinkhaus, Maaßen,
Söder – die internen
Rivalen des Friedrich Merz
Wenn Friedrich Merz und
Markus Söder kerzengerade
nebeneinanderstehen,
überragt der
Sauerländer den Franken
um vier Zentimeter.
Der 198 Zentimeter lange Merz
läuft allerdings gern mal leicht gebückt.
Und dann sind der künftige CDU-Chef
und sein Kompagnon aus Bayern auf
Augenhöhe, mindestens. In Sachen Körpergröße,
politisch sowieso. So sieht es
jedenfalls Söder.
In zwei Wochen dürfte Friedrich Merz
im dritten Versuch zum Vorsitzenden der
CDU gewählt werden. Die Mitglieder
haben für ihn gestimmt, nun soll ein
Parteitag deren Willen vollziehen.
Merz und Söder sind sich seit
Jahren in Abneigung verbunden.
Doch das Duell mit dem
CSU-Chef ist längst nicht das
einzige, das auf Merz wartet.
Mario Czaja
Der künftige Generalsekretär
ist ein Parteilinker
und Sozialpolitiker.
Wie viel
inhaltlichen
Raum bekommt er?
Ralph Brinkhaus
Bis April ist er als
Fraktionschef
im Bundestag gewählt.
Diesen Posten will
Brinkhaus behalten,
doch Merz könnte ihn
verdrängen
Karin Prien
Die Bildungsministerin aus
Schleswig-Holstein gilt als
liberal und will CDU-Vize werden
2018 unterlag er gegen
Annegret Kramp-Karrenbauer,
2021 gegen Armin Laschet. Jetzt
ist Friedrich Merz dran. Es warten
viele unionsinterne Gegner
Am liebsten würde der 66-Jährige
seine ganze Energie auf die
Auseinandersetzung mit Bundeskanzler
Olaf Scholz (SPD)
richten. Doch in der bröckelnden
Union gibt es viele andere
Baustellen. Merz muss sich entscheiden,
ob er Ralph Brinkhaus
vom Fraktionsvorsitz im Bundestag verdrängen
will, ob Hans-Georg Maaßen
aus der Partei fliegen soll, wie viel Raum
er den Sozialpolitikern gibt, allen voran
seinem künftigen Generalsekretär Mario
Czaja. Dann ist da noch die AfD, die ihm
von rechts zu schaffen macht.
Und schließlich das wahrscheinlich
wichtigste Duell des Friedrich Merz: der
Kampf gegen sich selbst, genauer gesagt
gegen sein Image, das ihm seit Jahren zu
schaffen macht: neoliberal, kaltherzig,
chauvinistisch. Merz bezeichnet solche
Zuschreibungen als „bösartig“. Auch
er will geliebt werden. Oder zumindest
etwas weniger verachtet. Das zu ändern
dürfte Jahre brauchen.
Tatsächlich erinnert der Merz aus dem
Jahr 2022 kaum noch an den Merz von
2002. Ein Adoptionsrecht für homosexuelle
Paare kann er sich heute ebenso gut
vorstellen wie eine Frauenquote für die
CDU, nichts weniger als die „modernste
Volkspartei Europas“ hat Merz im Sinn.
Das mag Politikersprech sein, gewiss.
Doch Ursula Münch, die Leiterin der Akademie
für Politische Bildung in
Tutzing, erkennt dahinter eine
Strategie. „Friedrich Merz will
andere Positionen einnehmen als
die, die ihm unterstellt werden“,
sagt die Politikwissenschaftlerin.
„Er will überraschen.“ Und das
muss er, unbedingt, zumindest
wenn ein Hauch von Aufbruchstimmung
entstehen soll.
Merz’ wichtigster Mitstreiter
wird so zugleich sein Konkurrent. Mario
Czaja, der neuer Generalsekretär
werden soll, ist ein Sozialpolitiker
und steht in der Partei eher
links. Wie viel Raum wird Merz
ihm gewähren? Wie viel soziale
Wohltaten darf Czaja versprechen,
bevor sein Chef ihn
ausbremst? Welche Antworten
wird die Union auf zwölf Euro
Mindestlohn, eine Kindergrundsicherung
und die Aktienrente
geben? Sozialpolitisch steht die
Union ziemlich blank da.
Als sich Merz im Jahr 2018
zum ersten Mal für den CDU-
Vorsitz bewarb, versprach er, die Konkurrenz
von rechts mindestens halbieren
zu können. Dieses Versprechen möchte
Merz zwar nicht mehr wiederholen. Aber
er garantiert eine „Brandmauer“ gegenüber
den Rechtspopulisten. Wer mit der
AfD kooperieren wolle, drohe aus der
Partei zu fliegen. Nur was ist mit einem
wie Hans-Georg Maaßen? Der hat Wahlkampf
für die CDU gemacht, sogar für
Markus Söder
Der CSU-Chef hat aus
seiner Skepsis gegenüber
Merz nie einen
Hehl gemacht.
Jetzt verspricht er einen
„Neustart“
Hans-Georg Maaßen
Der Ex-Verfassungsschutzchef
soll wegen umstrittener Impf-
Thesen aus der CDU fliegen,
meint Karin Prien. Und was
meint Merz?
Alice Weidel
Wer mit der AfD zusammenarbeiten
will, fliegt aus der
Partei, verspricht Merz. Mit ihm
gebe es eine „Brandmauer“
Armin Laschet. Mittlerweile teilt er aber
Videos von Verschwörungstheoretikern
und polemisiert gegen das Impfen. CDU-
Politikerin Karin Prien, die sich als Vizeparteichefin
bewirbt, will ein Parteiausschlussverfahren
einleiten. Ruft Merz sie
zurück oder teilt er ihre Haltung? Der
nächste Konflikt ist programmiert.
Von der Causa Maaßen könnte auch
das Verhältnis zur CSU abhängen. Traditionell
stand die CSU immer rechts von
der CDU. Im Moment positioniert sich
Markus Söder als liberaler Konservativer
mit grünem Anstrich. Er macht
der CDU in der Mitte Konkurrenz.
Sollte Merz Maaßen dulden,
wäre das ein Signal, dass er
eher in die konservative Nische
geht. Das kann kaum sein Interesse
sein, wenn die CDU nicht
viele Jahre in der Opposition
verbringen will.
Der Bruderkampf mit Söder
dürfte ein jahrelanger werden.
Im April steht aber zunächst ein
anderer an. Dann wird die Fraktionsführung
der Union im Bundestag
neu gewählt. Amtsinhaber Ralph
Brinkhaus würde den Job gerne behalten.
Politik-Expertin Münch rät zur Konfrontation:
„Merz muss den Machtkampf
mit Brinkhaus wagen.“ Ihm bleibe kaum
etwas anderes übrig. „Sonst entsteht der
Eindruck, Merz sei nicht die unangefochtene
Nummer eins in der CDU.“ Drängt
Merz auf die Spitzenposition, bleibt Brinkhaus
wohl nur eins: Platz machen. ■
Fo t o s : dpa, Daniel Biskup/laif
30 FOCUS 2/2022
AUSBLICK
Olaf Scholz hat einige
Gegner. Dazu gehört
auch sein früheres Ich
Olaf Scholz ist ein Mann, der
an Bewährtem festhält. Das
merkt man unter anderem daran,
dass der SPD-Politiker seit
mehr als 30 Jahren dieselbe
schwarze Aktentasche bei sich
trägt. Auch wenn sie sichtlich ausgebeult
und abgewetzt ist, denkt Scholz nicht daran,
eine neue zu besorgen. Er sagt, er
mag die Patina, die sich auf dem Leder gebildet
hat.
Man könnte das als Marotte abtun. Oder
als Aberglaube, Wehmut oder Geiz. Doch
das ist es alles nicht. Dieses Festhalten an
der alten Tasche passt erstaunlich gut zur
politischen Erzählung, die ihn ins Kanzleramt
gebracht hat. Sie handelte von: Kontinuität.
Scholz präsentierte sich im Wahlkampf
als natürlicher Erbe von Angela
Merkel, als nüchterner Sachpolitiker, der
das Gute weiterführt, Probleme anpackt,
aber das Land nicht durcheinanderbringt.
Scholz versprach „Veränderung
ohne Disruption“, schrieb der
französische Politologe Alexandre
Robinet-Borgomano.
Wolfgang Kubicki
Der FDP-Vize ist gegen
die Einführung einer
allgemeinen Impfpflicht
und versammelt
im Bundestag
Unterstützer um sich
Jessica Rosenthal
Die 29-jährige Juso-
Chefin will die Regierungsarbeit
kritisch begleiten und drängt
auf einen Linkskurs der SPD
Nur: Um dieses Versprechen zu halten,
wird Scholz seine Gegner nicht nur verschmitzt
belächeln können. Es bahnen
sich im ersten Amtsjahr harte Konflikte
an, die sich nicht still und leise wegmoderieren
lassen. Der Kanzler Scholz wird
dem Land mehr zumuten müssen, als es
der Wahlkämpfer Scholz versprochen hat.
Das fängt bei Corona an. Vor der Wahl
war Scholz (wie viele andere Spitzenpolitiker)
gegen eine allgemeine Impfpflicht.
Als die Fallzahlen stiegen, schwenkte
auch er um. Spätestens bis März will
die Ampel die Impfpflicht im Bundestag
beschließen. Wegen der Ausbreitung der
hochansteckenden Omikron-Variante ist
Eile geboten, Scholz betont, man müsse
schneller sein als das Virus.
Showdown um die Impfpflicht
Christian Lindner
Der Finanzminister will zur
Schuldenbremse zurückkehren.
Damit könnte der FDP-Boss
teure Wahlversprechen kassieren
Robert Habeck
Der grüne Vizekanzler und
Superminister könnte
zum mächtigen
Gegenspieler
in der Koalition werden
Annalena Baerbock
Nicht nur bei
Nord Stream 2 stellt
sich die Grüne gegen
Scholz. Macht der
die Außenpolitik
zur
Chefsache?
Olaf Scholz
Der SPD-Mann ist der erste
Bundeskanzler, der in einem
Ampelbündnis regiert. Sein Ziel:
die Wiederwahl 2025
Doch manchen in der Koalition geht das
zu schnell. Bundestagspräsidentin
Bärbel Bas (SPD) mahnt, nichts zu
überstürzen. Außerdem sind da
Wolfgang Kubicki und die rund
30 FDPler, die sich gegen den
Kanzlerplan stellen. Das Parlament
soll ohne Fraktionszwang
über die Impfpflicht abstimmen,
Kubicki und seine Leute hoffen,
dass sich weitere Abgeordnete
ihrem Antrag anschließen.
Für Scholz wäre das heikel, womöglich
hat er gar keine Mehrheit. Für
seine Kanzlerschaft wäre das gleich zum
Auftakt ein Menetekel.
Auch bei einem anderen zentralen
Thema der Legislaturperiode ist sich
die Koalition uneins: dem Klimaschutz.
Der mühsam überschminkte Streit um
Atomkraft und Gas könnte nur ein Vorgeschmack
darauf sein, was bevorsteht.
Scholz hat sich im Wahlkampf zwar als
„Klimakanzler“ beworben, zu radikal will
er bei der Dekarbonisierung des Landes
aber dennoch nicht vorgehen. Er weiß,
dass die Stimmung in der Bevölkerung
kippen kann, wenn die Strom- und Benzinpreise
weiter steigen. Und dass seine
Chancen auf eine Wiederwahl sinken,
falls der klimaneutrale Umbau der Industrie
schneller Jobs kostet als neue bringt.
Spannungen zwischen ihm und dem grünen
Vizekanzler Robert Habeck, der
die Energiewende managt, sind
damit programmiert. CDU-Chef
Friedrich Merz wird aus der
Opposition heraus alles dafür
tun, um die Ampel entlang dieser
Bruchstellen zu knacken – mit feinen
Stichen und groben Hieben.
Scholz muss diese Angriffe parieren
und dabei auch auf seine
eigene Partei achten. Mit Kevin
Kühnert ist ein einflussreicher
Wortführer der Linken und früherer
Scholz-Gegner zum Generalsekretär
der SPD aufgestiegen. Dass
er die Regierungspolitik einfach abnickt,
ist nicht zu erwarten. Ebenso wenig gilt
dies für die Jusos, die immerhin knapp
ein Viertel der Bundestagsfraktion ausmachen.
Deren selbstbewusste Chefin Jessica
Rosenthal will die Partei erklärtermaßen
vor sich „hertreiben“ – und damit auch
den Kanzler. Dies schränkt für Scholz den
Spielraum bei Kompromissen in der Ampel
ein, etwa bei der Reform der Grundsicherung
oder der Wohn- und Mietpolitik.
Immerhin, Scholz kann hoffen, 2022
außenpolitisch zu punkten. Dazu muss
er aber die grüne Außenministerin Baerbock
einschränken. Eine gute Gelegenheit
dafür ist der G7-Gipfel im Juni, bei
dem er die Staats- und Regierungschefs
führender Industrienationen auf Schloss
Elmau empfangen wird. Vom Glanz dieser
weltpolitischen Bühne profitierte 2015
schon Angela Merkel; Scholz wird versuchen,
es ihr gleichzutun. An anderer
Stelle setzte er sich dagegen klar von ihr
ab: Seine Neujahrsansprache hielt Scholz
im Gegensatz zur Ex im Stehen. Dem Pu-
Kevin Kühnert
Der Generalsekretär der SPD
blikum mutet er vielleicht doch eher mal
versteht sich vor allem als
etwas Neues zu als sich selbst. ■
Anwalt der Partei. Er traut sich,
FOCUS 2/2022 dem Kanzler zu widersprechen
31
POLITIK
Fo t o s : Peter Jülich/Laif, Sam Barker/Contour by Getty Images, Rolf Vennenbernd/dpa, Reiner Zensen/imago images, action press, Pepe Lange, Axel Heimken/dpa
Angriff auf das Schattenreich
Bundesinnenministerin Nancy Faeser und
Telegram-Gründer Pawel Durow
D
er bundesweiten Öffentlichkeit
war Nancy Faeser bislang
unbekannt, doch das dürfte
sich in ihrem neuen Job schnell
ändern. Als Innenministerin will
die SPD-Frau hart gegen Extremismus
im Netz durchgreifen.
Konzentrieren muss sich die
51-jährige Juristin aus Hessen
dabei vor allem auf die Chat-
App Telegram, auf der gewaltbereite
Querdenker ungestört
zum Mord an Politikern aufrufen.
Das Problem: Die Firma
sitzt in Dubai, und ihr Eigner, der
37-jährige russische Milliardär
Pawel Durow, kämpft mit allen
Mitteln gegen staatliche Regulierung.
Faeser muss beweisen,
dass sich der Rechtsstaat auch
in den dunklen Winkeln der
digitalen Welt durchsetzt (mehr
dazu auf Seite 40).
Wer ist der bessere Corona-Jäger?
RKI-Chef Lothar Wieler und Gesundheitsminister
Karl Lauterbach
Ob er noch zu Lothar Wieler stehe? „Sonst
säße er nicht hier“, antwortete Bundesgesundheitsminister
Karl Lauterbach (SPD)
kurz vor Weihnachten eher schroff. Zuvor hatten
Wieler und das von ihm geleitete Robert
Koch-Institut (RKI) den frisch eingesetzten
Pandemie-Expertenrat mit der Forderung nach
sofortigem maximalen Kontaktverboten düpiert.
Hinzu kommt ein Egoproblem: Der Tiermediziner
Wieler und Epidemiologe Lauterbach halten sich
selbst jeweils für wissenschaftlich sehr versiert.
Gerade wird das RKI kritisiert, weil Corona-Daten
fehlten oder schlampig präsentiert wurden.
Zieht an der Saar der Scholz-Effekt?
Ministerpräsident Tobias Hans und SPD-Wirtschaftsministerin
Anke Rehlinger
Es könnte eng werden für Ministerpräsident
Tobias Hans (CDU) bei der Landtagswahl
im Saarland am 27. März. Nach der jüngsten
Umfrage führt die SPD von Herausforderin
Anke Rehlinger mit 33 Prozent, die CDU ist von
40,7 Prozent bei der vergangenen Landtagswahl
auf 28 Prozent im aktuellen Trend geschrumpft.
Das muss so nicht bleiben, doch der Bundestrend
spricht derzeit gegen die Christdemokraten,
und die neue Bundesregierung ist noch nicht
lange genug an der Macht, um ihre Politik in
Wahlkampfthemen umzumünzen. Hinzu kommt,
dass CDU und SPD an der Saar miteinander koalieren,
was Wahlkampf gegeneinander zusätzlich
erschwert. Vielleicht setzt Anke Rehlinger auf
den Scholz-Effekt: Wer jetzt schon ordentlich
mitregiert, kann es später auch alleine.
Wüste Zeiten in Düsseldorf
Ministerpräsident Wüst und SPD-Herausforderer Kutschaty
Keine Namenswitze, zumal wenn der
Gegner Thomas Kutschaty heißt. Aber
es sind einfach wüste Zeiten für Hendrik Wüst:
Der 46-jährige passionierte Jäger und Landesverkehrsminister
hatte gerade eine Familie
gegründet, da rief bereits die nächste Pflicht:
Am 5. Oktober bestimmte ihn NRW-Ministerpräsident
Armin Laschet zu seinem Nachfolger,
damals noch hoffend, Düsseldorf als Kanzler
zu verlassen. Der Plan ging schief, Wüst übernahm
das Amt eines Verlierers. Trotzdem ist
es ein Bonus, denn der konservative CDU-Politiker
kann bis zum 15. Mai 2022 zeigen, ob er das
Zeug zum Landesvater hat. Thomas Kutschaty
(SPD, 53) lauert bereits. Er will Nordrhein-Westfalen
zurück in eine rote Zukunft führen.
Müssen wir uns diesen Namen merken?
Thomas Losse-Müller will Ministerpräsident in Kiel werden
Er ist erst seit Oktober 2020 in der SPD und will
schon Ministerpräsident werden. Volkswirt
Thomas Losse-Müller (l.) war Grünen-Mitglied,
als er 2014 die Leitung der Staatskanzlei unter
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten
Albig übernahm. Einen Parteiwechsel später hat ihn
die SPD zum Herausforderer von Daniel Günther
(CDU) nominiert. Gewählt wird am 8. Mai.
32 FOCUS 2/2022
AUSBLICK
Erst Drohungen,
dann 100 000 Soldaten,
um ernst genommen
zu werden
Was das Leben kosten darf
EZB-Chefin Christine Lagarde und Finanzminister Christian Lindner
teigende Preise für Strom, Sprit und Lebensmittel:
Das sei ein „Verarmungsprogramm
S
für Menschen ohne hohes Sachvermögen“, sagt
Christian Lindner. Denn wer wenig verdient, der
spürt die Inflation sofort. Wer hingegen Vermögen
hat, profitiert sogar, weil auch Immobilien und Aktien
im Wert steigen. Der neue Finanzminister weiß
um dieses Dilemma – nur tun kann er wenig. Er ist
angewiesen auf Christine Lagarde, die Chefin der
Europäischen Zentralbank (EZB). Die Preise stabil zu
halten ist ihr Job. Legt die Inflation zu, kann sie mit
einer restriktiveren Geldpolitik gegensteuern. Bislang
aber scheut Lagarde genau davor zurück: Sie hält die
Inflation für einen vorübergehenden Zustand. Irrt sie,
wäre das ein großes Problem. Denn dann muss die
EZB tatsächlich die Zinsen anheben und die Anleihekäufe
reduzieren – was hoch verschuldete Staaten
von Frankreich bis Griechenland hart treffen würde.
Lindner hat da gut reden, wenn er sagt, die öffentlichen
Finanzen solide zu halten sei ein wesentlicher
Baustein im Kampf gegen die Inflation.
Der grüne Wirtschaftsminister
Robert Habeck wird sich
2022 mit vielen Interessenvertretern
herumschlagen – auch mit jenen
des Roten Milan
Der liebste Feind
US-Präsident Joe Biden und Amtskollege Wladimir Putin
Eigentlich würde sich Joe Biden wohl lieber
mit seinem richtigen Gegner beschäftigen.
Und der heißt Xi Jinping und sitzt in China.
Stattdessen muss er sich nun erst einmal
mit dem russischen Präsidenten Wladimir
Putin auseinandersetzen. Der hat seinen US-
Kollegen zum liebsten Duellpartner erkoren –
fast wie in alten Zeiten, als die Atommächte
USA und Sowjetunion noch die Weltläufe
bestimmten und sich gegenseitig ernst nahmen.
Putin will nun wieder ernst genommen
werden und ließ an der Grenze zur Ukraine über
100 000 Soldaten aufmarschieren, um seine
Forderungen zu verdeutlichen.
Die Nato dürfe keine US-
Der Minister und die Tiere
Wirtschaftsminister Robert Habeck und der Artenschutz
Es gab einmal einen Energieminister, der wollte alles besser machen. Er
gehörte einer Partei an, die sich für Klima- und Artenschutz einsetzte in
diesem modernen Land, das so viel Energie brauchte. Also wollte er die Kraft
der Sonne und des Windes auffangen und daraus Strom gewinnen. Doch die
Tiere an Land und im Wasser gerieten in Gefahr. Rotmilane wurden von den
Windmühlen zerhäckselt, Schweinswale erlitten Hörstürze durch den Krach
– was der Energieminister auch versuchte, immer war ein Tier im
Weg, das zu schützen wichtig war. Und es gab Widerstand.
Gerichte urteilten gegen die neuen Anlagen, Artenschützer
demonstrierten, die Energiewende wurde teurer – und
dem Minister schmerzlich bewusst: Diese Aufgabe verlangt
mehr als schöne Worte und Ehrgeiz.
Waffensysteme an die russische Grenze verlegen,
die Ukraine schon gar nicht Mitglied der
Militärorganisation werden. Sonst werde es
einen Bruch in den Beziehungen mit den USA
geben. Biden drohte für den Fall eines weiteren
russischen Einmarsches „einschneidende
Sanktionen“ an. Klingt auch bekannt, Drohung
folgt auf Drohung. Aber immerhin werden
Amerikaner und Russen in der kommenden
Woche ausführlich über den Ukraine-Konflikt
sprechen. Kurz danach wird der Nato-Russland-Rat
tagen – nach zweieinhalb Jahren
Sendepause. Und vielleicht hat Biden danach
irgendwann wieder Zeit, sich um seine wirklich
ernsten Herausforderer zu kümmern, den
Chinesen Xi und, ja, einen gewissen Donald
Trump, der ihn bei den US-Zwischenwahlen im
Herbst übertrumpfen will.
Fo t o s : Mikhail Metzel/EPA, Hermann Bredehorst/laif, imago images, dpa
FOCUS 2/2022 33
POLITIK
Kräftemessen um
Werte und Zahlen,
Versprechen und
Wirklichkeit
Provokation aus Warschau
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gegen
Polens Vize-Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczynski
Rhetorisch greift Jaroslaw Kaczynski tief
in die Kiste der nationalistischen Ressentiments,
wenn er Brüssel vorwirft, Polen auf Geheiß
Berlins die Souveränität entreißen und seine
Regierung stürzen zu wollen. Man wolle so den
Widerstand gegen den perfiden Plan brechen,
die EU in einen undemokratischen Superstaat
unter deutscher Führung umzuwandeln. Denn
Deutschland, so der Vorsitzende der Regierungspartei
Recht und Gerechtigkeit (PiS), plane,
„mithilfe der EU das Vierte Reich zu errichten“.
Grund für solche Entgleisungen, denen EU-
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
bisher mit stoischer Ruhe begegnet, ist die Entscheidung
des Europäischen Gerichtshofs,
Polen zu Strafzahlungen zu verurteilen: Täglich
wird eine Million Euro fällig, solange die
PiS-Regierung ihre Justizreform, die gegen EU-
Normen und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit
verstoße, nicht rückgängig macht. Als Pfand
hält Brüssel 24 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbauplan
zurück.
Soziale Marktwirtschaft
Agrarminister Cem Özdemir und Rewe-Chef Lionel Souque
Kaczynski, formell Vize-Regierungschef, de facto
der mächtigste Strippenzieher, lässt die Lage eskalieren:
Das gleichgeschaltete Verfassungsgericht
befand, das EU-Recht sei für Polen nicht bindend,
PiS droht mit Polexit. Hoffnung besteht trotzdem:
Laut Umfragen wünschen nach wie vor 90 Prozent
der Polen die EU-Mitgliedschaft. Und im kommenden
Jahr finden die nächsten Wahlen statt.
Manchmal habe er das Gefühl, ein gutes Motoröl sei uns wichtiger als ein
gutes Salatöl, sagt Cem Özdemir. Das Auto leisten wir uns, aber im Supermarkt
greifen wir zu Billigprodukten. Deshalb fordert der neue Agrarminister:
„Die großen Player dürfen nicht mehr länger die Preise diktieren.“ Damit meint
er Leute wie Rewe-Chef Lionel Souque. Der aber argumentiert ganz anders:
Supermarktketten wie seine bräuchten Verhandlungsmacht, damit die Industrie
nicht überzogene Preise durchsetze. Denn: „Am Ende zahlt dafür der Kunde.“
Fo t o s : Aris Oikonomou/dpa, Czarek Sokolowski/dpa, Ina Fassbender/REUTERS,
Oliver Berg/dpa, Christoph Soeder/dpa, Sven Hoppe/dpa, Jörg Carstensen/dpa
Die Preisfrage
Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) und die Deutsche Bahn
Die Deutsche Bahn soll mehr Geld bekommen, das Schienennetz ausgebaut
werden. Verkehrsminister Volker Wissing von der FDP soll
das umsetzen. Eine Zerschlagung der Bahn für mehr Wettbewerb auf
der Schiene soll es laut Koalitionsvertrag nicht geben. Das hätte womöglich
zu günstigeren Preisen geführt. Stattdessen hat die Deutsche Bahn die
Preise jüngst erhöht. Gelingt es dem Minister, die Bahn zum Transportmittel
der Zukunft aufzuhübschen? Oder ist das Monstrum unbeherrschbar?
Wie wird die Bahn
besser und günstiger?
Diese Frage muss
Volker Wissing beantworten
400 000 Wohnungen –
wo und wie? Bundesbauministerin
Geywitz bekommt Gegenwind
aus der Baubranche
34
Wohnbauoffensive
Bauministerin Klara Geywitz (SPD) und die Baubranche
Fachleute nennen es „serielles Bauen“, wenn
eine große Zahl von Modulen vorgefertigt
und dann rasant zu einer ganzen Siedlung wird.
Bundesbauministerin Klara Geywitz will jedes
Jahr 400 000 neue Wohnungen bauen. Doch
selbst bei größter Geschwindigkeit – die Baubranche
ist extrem skeptisch, allen voran der
Präsident des Zentralverbands des Deutschen
Baugewerbes, Reinhard Quast. Das Problem sei
nicht nur Materialknappheit, es fehle auch an
Grundstücken und Baugenehmigungen.
Vor allem die Genehmigungsprozesse
müssten vereinfacht werden.
Familienzoff
Familienministerin Anne Spiegel und die katholische Kirche
Vegetarierin? Na gut. Feministin? Nun ja. Verheiratete
Mutter von vier Kindern? Wunderbar! Aber dass Anne
Spiegel, kaum im Amt, verkündet, das Werbeverbot für
Schwangerschaftsabbrüche abzuschaffen und das heilige
Sakrament der Ehe mit „Verantwortungsgemeinschaften“
zwischen aller Art Liebenden gleichzusetzen – das geht der
katholischen Kirche entschieden zu weit. Schließlich gilt
noch immer die „Amoris laetitia“ (Die Freude der Liebe), in
der Papst Franziskus 2016 Mann und Frau als einzig von Gott
gewollte Keimzelle der Familie besungen hat. CSU und Bischöfe
werden sich an der grünen Familienministerin abarbeiten.
Die 41-jährige Ministerin stellt
das Familienbild des
Vatikans radikal infrage
Ganz weit außen
AfD-Rechtsaußen Höcke und der Verfassungsschutz-Chef
B
jörn Höcke hat die AfD auf seine Linie gebracht.
Als Ikone des nur formal aufgelösten
Rechtsaußenflügels der Rechtsaußenpartei
hat der Thüringer Landes- und Fraktionschef
erst Parteigründer Bernd Lucke aus der Partei
gedrängt, dann dessen Nachfolgerin Frauke
Petry und jetzt Noch-Bundes-Co-Chef Jörg
Meuthen. Das Spiel lief immer gleich: Ohne
selbst nach dem Parteivorsitz zu streben, stachelte
der Sportlehrer seine Gefolgsleute auf, um
jeden Versuch der „Gemäßigten“ zu sabotieren,
die Partei auch bei Leuten wählbar zu machen,
die offen praktizierende Neonazis für gefährlich
halten. Man darf getrost davon ausgehen,
dass Meuthens Nachfolger kein Höcke-Gegner
Wenn Idealismus auf Wirklichkeit trifft
Außenministerin Annalena Baerbock und die Firmenbosse
Die hohe Kunst der Diplomatie, heißt es
immer, ist die feine Abwägung von Interessen,
der eigenen und der des anderen, der Kompromiss
zwischen Idealismus und Realismus.
Gegen diesen Grundsatz hat Deutschlands neue
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne)
schon gleich zu Anfang verstoßen, jedenfalls
wenn man die mächtigen Industriebosse des
Landes fragt. „Wir brauchen mehr Kooperation
und Präsenz in China, nicht weniger!“, empörte
sich VW-Vorstandschef Herbert Diess und
verwies auf die Bedeutung des chinesischen
Marktes für die deutsche Automobilindustrie.
VW setzt rund 40 Prozent seiner Fahrzeuge in
dem Land ab. Erzürnt hat den Firmenchef Baerbocks
Ankündigung, Menschenrechtsverletzungen
dort künftig klar anzusprechen und auf
EU-Importverbote für Produkte aus Zwangsarbeit
hinzuwirken. „Beredtes Schweigen ist
auf Dauer keine Form von Diplomatie“, sagt
die Grünen-Politikerin. In der Provinz Xinjiang,
berüchtigt für Zwangsarbeit der uigurischen
Minderheit, produziert VW Autos für den chinesischen
Markt. Baerbocks wertegeleitete Außenpolitik
kollidiert mit den wirtschaftlichen Interessen
der Industrie. China reagierte wenig amused,
sprach von neuen Mauern- statt Brückenbauern
und hat schon gezeigt, dass es auf Boykott und
Strafzölle des Westens mit ebensolchen Mitteln
reagiert. Wenn China beispielsweise keine Solarzellen
mehr liefere, sei es mit der grünen Energiewende
schnell vorbei, warnte Siemens-Chef
Roland Busch. Anklagen lässt sich China schon
lange nicht mehr gefallen, das Selbstbewusstsein
ist mehr gestiegen, als manche wahrhaben
wollen. Man darf gespannt sein, wie die neue
deutsche Oberdiplomatin den Konflikt löst.
sein wird. Der härteste Gegner des Thüringers
ist ab sofort Thomas Haldenwang, Chef des
Bundesamtes für Verfassungsschutz. Wer von
beiden 2022 die erste Runde der Auseinandersetzung
gewinnen wird, zeigt sich spätestens
Anfang März. Bis dahin wird das Kölner Verwaltungsgericht
entschieden haben, ob die Beobachtung
der Partei rechtens ist.
REDAKTIONELLE MITARBEIT:
GUDRUN DOMETEIT, ANDREAS GROSSE
HALBUER, JAN-PHILIPP HEIN, TIM HOLZAPFEL,
MARKUS C. HUREK, KURT-MARTIN MAYER,
CARLA NEUHAUS, FRANZISKA REICH,
MARGOT ZESLAWSKI
Fo t o s : dpa, Shutterstock, Nikita Teryoshin, Steffen Roth/Agentur FOCUS, Martin Schutt/dpa, Fabian Sommer/dpa
FOCUS 2/2022 35