Leseprobe_Senfls-Liedsätze
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Senfls Liedsätze
Klassifikation und Detailstudien
eines modellhaften Repertoires
WIENER FORUM FÜR
ÄLTERE MUSIKGESCHICHTE
Herausgegeben von Birgit Lodes
BAND 10
SONJA TRÖSTER
SENFLS LIEDSÄTZE
KLASSIFIKATION UND DETAILSTUDIEN
EINES MODELLHAFTEN REPERTOIRES
Wissenschaftlicher Beirat
Anna Maria Busse Berger (USA)
Paweł Gancarczyk (PL)
Andreas Haug (D)
Klaus Pietschmann (D)
Nicole Schwindt (D)
Reinhard Strohm (GB)
Diese Publikation wurde im Peer-Review-Verfahren evaluiert.
Umschlaggestaltung: Gabriel Fischer
Satz: Imke Oldewurtel
Hergestellt in der EU
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung.
Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses
urheberrechtlich geschützte Werk oder Teile daraus in einem photomechanischen oder
sonstigen Reproduktionsverfahren zu vervielfältigen und zu verbreiten.
Die Autorin hat sich nach Kräften bemüht, alle Publikationsrechte einzuholen.
Sollten dennoch Urheberrechte verletzt worden sein, werden die betroffenen
Personen oder Institutionen gebeten, sich mit der Autorin in Verbindung zu setzen.
© HOLLITZER Verlag, Wien 2019
ISBN 978-3-99012-574-8
ISSN 2617-2534
www.hollitzer.at
Inhalt
Wohlauf, wohlauf
Einleitung 9
Man hat bisher
1. Tradierte Terminologie und Klassifizierungs ansätze 13
1.1. Volksliedforschung 14
1.2. Das Liedrepertoire jenseits des Volkslieds 43
1.3. Die ,Gattung Tenorlied‘ 53
1.4. Konsolidierung des polaren Begriffspaars Volkslied und Hofweise 61
Die Not sucht Weg
2. Klassifikation des mehrstimmigen Liedœuvres
der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 67
2.1. Register der musikalischen Ebene 70
2.2. Typologie der Liedtexte 92
Weil ich groß Gunst trag zu der Kunst
3. Senfls Liedsätze klassifiziert nach Stilregistern und Liedtypen 101
3.1. Sätze im formellen Register 110
3.2. Sätze im schlichten Register 139
3.3. Sätze im kombinativen Register 146
3.4. Experimentelle Lösungen 176
3.5. Klassifikation der Liedsätze mit unsicherer Zuschreibung 187
Lug wohl und schau
4. Ein frischer Blick auf Senfls Liedœuvre 211
4.1. Modus und Stimmendisposition in den Liedsätzen Senfls 211
4.2. Mit unterschiedlicher Stimmenzahl überlieferte Liedsätze 221
4.3. Übergreifende musikalische Gestaltungskonzepte 228
4.4. Geistliche Liedsätze 256
4.5. Akrostichonlieder: Liedsätze für Adel und Bürgertum 289
4.6. Liedsätze mit Bezug zu Maria von Ungarn 294
4.7. Liedportrait: Mein Fleiß und Müh ich nie hab gspart 303
4.8. Liedportrait: Das Gläut zu Speyer 316
Sich hat ein neue Sach aufdraht
5. Panorama der quantitativen Erfassung nach Stilregistern 325
5.1. Stilregister und die Überlieferung von Senfls Liedsätzen 326
5.2. Klassifikation und Gegenüberstellung verschiedener Liedœuvres 334
Anhang: Senfls Liedsätze im formellen Register 343
Verzeichnisse 357
Quellen und Literatur 361
Register
Register der erwähnten Kompositionen Ludwig Senfls 395
Personen- und Werkregister 401
VORWORT UND DANK
Dieses Buch stellt eine Überarbeitung meiner Dissertation dar, die im Jahr
2015 an der Universität Wien angenommen wurde. Neben der Einarbeitung
neuerer Literatur wurden für die Publikation einige Kapitel umgestellt, neue
Abschnitte eingearbeitet, andere gekürzt oder umformuliert. Die der wissenschaftlichen
Arbeit beigegebenen Übertragungen und der Liedkatalog wurden
nicht in das Buch mit aufgenommen, da erstere das Buchformat belastet hätten
und alle Daten zu Senfls Liedsätzen inzwischen im ersten Band des Senfl
Catalogue recherchierbar sind. Hinzugekommen sind dafür Liedincipits aus
Senfls Schaffen, die den einzelnen Kapiteln des Buches jeweils als Motto vorangestellt
sind.
Die Entstehung dieses Bandes wurde von verschiedenen Personen unterstützt.
Mein erster Dank gilt der Betreuerin meiner Dissertation, Birgit Lodes,
die mir von der Phase der Themenfindung über die Strukturierung bis hin zur
Umarbeitung für die Publikation mit Hinweisen, Vorschlägen und Korrekturen
zur Seite stand. Es freut mich sehr, dass sie die Arbeit zur Publikation in
ihre Reihe Wiener Forum für ältere Musikgeschichte aufgenommen hat. Auch meinem
Zweitbetreuer, Markus Grassl, bin ich für umfangreiche Rückmeldungen
dankbar. Des Weiteren möchte ich Wolfgang Fuhrmann, Martin Kirnbauer
und David Fallows, die sich alle auf diese Studie eingelassen und mit hilfreichen
Kommentaren an deren Genese Anteil genommen haben, meinen Dank
aussprechen. Forschungsarbeit zum mehrstimmigen Lied des 16. Jahrhunderts
ist ferner ohne die grundlegenden Arbeiten Nicole Schwindts nicht denkbar;
sie bereitete das Thema richtungsweisend vor und von ihren Hilfe stellungen
und Denkanstößen konnte ich in vielerlei Hinsicht profitieren. Für den freundschaftlichen
und fruchtbaren Austausch bin ich zudem zahlreichen weiteren
Kollegen dankbar, die mir im Rahmen von Seminaren bis hin zu Gesprächen
auf Institutsgängen oder Konferenzen wertvolle Anregungen gaben.
Ein ganz besonderer Dank gilt meiner Freundin Imke Oldewurtel, die
das Layout dieses Bandes gestaltete und darüber hinaus auf vielfältigste Art
und Weise die Entstehung der Dissertation und die Publikation des Buches
begleitete und mit sanfter Beharrlichkeit vorantrieb. Ich danke außerdem dem
Institut für Musikwissenschaft an der Universität Wien für die Auszeichnung
meiner Arbeit mit dem Dissertationspreis und dem Verein der Freunde des
Insti tuts für die damit verbundene Publikationsunterstützung.
Wien, im September 2019
Sonja Tröster
WOHLAUF, WOHLAUF
EINLEITUNG
Vor genau 50 Jahren erschien eine umfassende Monographie zu den Liedern
Ludwig Senfls. Der Verfasser Wilhelm Seidel wurde 1966 mit dieser Arbeit an
der Universität Heidelberg promoviert und veröffentlichte sie drei Jahre später
als zweiten Band der Reihe Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft
unter dem Titel Die Lieder Ludwig Senfls. Das Anliegen Seidels in dieser Arbeit
war, den typischen Aufbau und die typischen Elemente der Liedkompositionen
Senfls herauszuarbeiten und als erster im Bereich der Liedforschung bezog
er die dazu nötigen Analysewerkzeuge wo möglich aus musiktheoretischen
Schriften des 15. und 16. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu früheren Untersuchungen,
die vornehmlich auf das Repertoire Klassischer Musik abgestimmte
Analyse methoden einsetzten, stützte er sich in erster Linie auf Johannes Tinctoris’
Liber de natura et proprietate tonorum und Heinrich Glareans Dodekachordon. 1
Mit diesem Ansatz und der systematischen Untersuchung der rhythmischen
Melodiegestaltung in Senfls Hofweisen stellte Seidel eine wichtige Weiche für
die Erforschung des mehrstimmigen Liedsatzes im frühen 16. Jahrhundert.
Sowohl seine Methoden als auch die Erkenntnisse in Bezug auf Senfls Liedschaffen
bilden bis heute den weitgehend anerkannten Forschungsstand. Selbst
neueste Untersuchungen nehmen häufig ihren Ausgang bei Seidels Arbeit,
was bei einer Publikation dieses Alters deren außerordentliche Bedeutung und
Qualität ausweist. 2
Weshalb sollte man also versuchen wollen, einen Gegenentwurf zu einem
offensichtlich funktionierenden System zu entwerfen und zu diesem Zweck
genau das von Seidel analysierte Material erneut unter die Lupe nehmen? Man
könnte darauf antworten, dass gerade bei einem seit so langer Zeit etablierten
1 Johannes Tinctoris, Liber de natura et proprietate tonorum (B-Br II.4147), 1476 beendet. Heinrich
Glarean, Dodekachordon, Basel: Heinrich Petri 1547.
2 Vgl. beispielsweise Pfisterer, „Chanson combinative und Volksliedsatz“ (2012), S. 209 und
Hübner, „Stilregister deutschsprachiger Liebeslieder“ (2011).
9
Einleitung
System ein frischer Blick auf die Materialien notwendig ist, um eingeschliffene
Vorgehensweisen und unbelegte Annahmen zu hinterfragen, denn mit
dem schnellen Wandel der Gesellschaft und unseres Alltagslebens im Laufe der
letzten 50 Jahre dürfte sich auch dieser verändert haben, ganz zu schweigen
von der Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplin selbst. Tatsächlich sehe
ich aber diese Schrift nicht als einen Gegenentwurf, sondern vielmehr als eine
Alternative und Ergänzung zu Seidels Buch. In analytischen Fragestellungen
haben seine Forschungen Referenzschemata bezüglich Aufbau, Textgestaltung,
Melodik und Satzfaktur herausgearbeitet, auf die ich in meinen Studien Bezug
nehme und auch in anderen Aspekten kann ich – wie andere vor mir – auf den
von ihm geschaffenen Grundlagen aufbauen. Das Hauptgewicht lege ich dabei
auf die musikalische Ebene der komplexen Gattung Lied, während eine textbasierte
Klassifikation hier nur in Ansätzen erfolgen kann und hoffentlich in der
Zukunft von Seiten der Germanistik her eine umfassendere Ergänzung findet.
Einer der schwerwiegendsten Kritikpunkte an Seidels System scheint unter
heutigen Forschungsaspekten im Festhalten an den hergebrachten Termini
,Hofweise‘ und ,Volkslied‘ zu bestehen. Wie Seidel selbst anmerkte, 3 werden
sämtliche mit diesen Begriffen verbundenen sozialen oder kontextuellen Assoziationen
von der modernen Musikwissenschaft als nicht auf das Repertoire
des Liedsatzes in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zutreffend eingestuft.
Neben der Substitution dieser Begrifflichkeiten liegt die Neuartigkeit der von
mir vorgestellten Klassifikation darin, dass sie entgegen bisheriger Systeme von
der polyphonen Satzfaktur ausgeht und diese auch in das Zentrum der Betrachtung
rückt. Seidels bipolares Schema wird zu einer im Kern dreigliedrigen
Klassifikation erweitert und soll nicht nur auf Senfls Kompositionen, sondern
allgemein auf Liedsätze der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts anwendbar sein.
Weshalb dennoch Ludwig Senfls Liedrepertoire das Untersuchungsmaterial
und den zweiten Schwerpunkt meiner Studie bildet, ist verschiedenen Voraussetzungen
geschuldet. Wenngleich eine komponisten-bezogene Analyse eines
Repertoires, das noch zu einem großen Teil anonym überliefert ist, fragwürdig
erscheinen mag, bildet das von Senfl erhaltene Liedœuvre für das Vorhaben
nichtsdestotrotz eine ideale Ausgangsbasis, da es bei weitem das umfangreichste
eines Komponisten des 16. Jahrhunderts darstellt. Es ist damit ein in
sich geschlossenes Repertoire eines definierten Zeitraumes und zugleich ist die
Vielfalt der Liedsätze so enorm, dass ein Großteil der Gestaltungsvarianten der
3 Seidel, Die Lieder Ludwig Senfls (1969), S. 19: „Obwohl der Terminus Volkslied weder dem
artifiziellen noch dem soziologischen Sachverhalt gerecht wird, und obwohl er seit seiner
Geburt mit romantischen Gedanken belastet ist, behalten wir ihn bei. Wir müssen uns
aber seiner Grenzen bewußt sein. ›Volkslied‹ ist für uns nicht mehr als eine bekannte, aus
dem schriftlosen Usus in die res facta aufsteigende Weise“.
10
Einleitung
Zeit darin vertreten scheint. Diese Varianz und der Senfl häufig zugesprochene
Wille zum Experiment, sorgen allerdings auch dafür, dass sich Senfls Liedschaffen
jeglicher Klassifizierung geradezu entzieht. Positiv gesehen könnte
das wiederum bedeuten: Wenn ein System auf Senfls Liedsätze anwendbar ist,
dann lässt es sich auch auf Liedsätze anderer Komponisten und die große Zahl
der anonymen Sätze übertragen.
Ein weiterer Grund für die Festlegung auf Senfl ist praktischer Art, denn
im Jahr 2008 nahm ein von Birgit Lodes initiiertes und geleitetes Projekt zur
Erstellung eines Werkverzeichnisses für Ludwig Senfl seine Arbeit an der Universität
Wien auf. 4 Für die Projektarbeit wurde sowohl ein umfangsreiches
Archiv an Reproduktionen derjenigen Quellen angelegt, die Kompositionen
Senfls überliefern, als auch die Forschungsliteratur zu Senfl gezielt gesammelt.
Als Mitarbeiterin dieses Projekts stand mir daher einerseits ein uneingeschränkter
Zugang zu den Primär- und den Sekundärquellen offen und andererseits
bewegte ich mich im Zentrum des aktuellen Stands der Senfl- Forschung. Letztere
erhielt mit den vom Projekt organisierten Tagungen wichtige Impulse und
erwachte gerade in den letzten Jahren zu reger Aktivität. Das vorliegende Buch
ist auf der Basis dieses neuen Werkverzeichnisses (im Folgenden Senfl Catalogue)
entstanden, das die Einschätzung des Bestands an Kompositionen und
vor allem auch die Fülle der Überlieferung des Senfl’schen Œuvres im Vergleich
zu den Forschungen der 1960er Jahre maßgeblich veränderte. 5
Im Liedbereich blieb der Grundstock des Repertoires, wie er in der Gesamtausgabe
ediert vorliegt, zwar weitgehend unverändert, jedoch konnten zahlreiche
Zuweisungen von anonym überlieferten Kompositionen an Senfl durch
die Forschung berücksichtigt werden. 6 Darüber hinaus wirft auch die deutlich
veränderte Quellenlage der einzelnen Liedsätze neue Fragestellungen auf.
Gerade diese Aspekte – die Überlieferung, von der Forschung zugewiesene
4 Ludwig Senfl – Ein Verzeichnis sämtlicher Werke und Quellen / Ludwig Senfl – A Catalogue
Raisonné of the Works and Sources, FWF Einzelprojekt (P20820-G13 und P23707-G21), Institut
für Musikwissenschaft der Universität Wien/Kommission für Musikforschung der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2008–2014, Birgit Lodes, Stefan
Gasch und Sonja Tröster.
5 Basisinformationen sind auf der Webseite www.senflonline.com recherchierbar, für das
detaillierte Verzeichnis siehe Stefan Gasch und Sonja Tröster in Zusammenarbeit mit Birgit
Lodes, Ludwig Senfl (c. 1490–1543) – A Catalogue Raisonné of the Works and Sources, Bd. 1,
Turnhout 2019, Bd. 2 (im Druck).
6 Senfls Liedsätze sind in den folgenden Bänden der Gesamtausgabe editert: Ludwig Senfl,
Sämtliche Werke (in der Folge: Senfl, SW), Bde. 2, 4, 5, 6 und 7, hrsg. von Arnold Geering
und Wilhelm Altwegg, Wolfenbüttel u. a. 1937–1960. Transkriptionen der Senfl von der
Forschung zugeschriebenen Liedsätze, von denen mindestens drei Stimmen überliefert
sind, finden sich in Tröster, Stilregister der mehrstimmigen Liedkomposition (2015), Bd. 2,
S. 165–257.
11
Einleitung
Liedsätze wie auch widersprüchliche Zuschreibungen – wurden von Seidel
gänzlich ausgespart und rücken daher in meiner Arbeit stärker in den Fokus des
Interesses. So ist der Komplex an widersprüchlichen Zuschreibungen und anonym
überlieferten Kompositionen, die in der Forschungsliteratur mit Senfl in
Verbindung gebracht wurden, im Anschluss an die Abhandlung der einzelnen
Stilregister im gesicherten Bestand von Senfls Liedsätzen separat analysiert.
Ebenso in Ergänzung der von Seidel ausgeklammerten Faktoren ist der Klassifikation
der volkssprachlichen Kompositionen ein Kapitel zur Seite gestellt,
in dem in Einzelbetrachtungen der Entstehungs- und Wirkungskontext ausgewählter
Liedsätze untersucht wird. Insbesondere gehe ich dabei auch auf
die geistlichen Sätze ein, da dieses Repertoire in der bisherigen Forschung
entweder neben der Hofweisen- und Volkslied-Diskussion wenig Beachtung
fand oder aber allein im Rahmen von Einzelstudien eines bestimmten Liedes
betrachtet wurde.
Ein Ausblick auf verschiedene Optionen, wie die von mir zur Diskussion
gestellte Klassifikation zur Untersuchung von unterschiedlichen Repertoirefeldern
in der Praxis eingesetzt werden kann, bildet den Abschluss des Buches.
Die Klassifikation ermöglicht es, Liedsätze eines Komponisten sowie eines Komponistenkollektivs
oder Sätze einer bestimmten Quelle eindeutig zu charakterisieren
und auf dieser Basis mit anderen Beständen in Beziehung zu setzen, was
beispielsweise Annahmen angesichts persönlicher Vorlieben eines Komponisten
oder des Sammlungsinteresses von Schreibern und Verlegern zulässt. Damit
den Lesern jedoch die Dringlichkeit einer auf soliden Definitionen beruhenden
Klassifikation mit festen Kriterien und Argumenten noch einmal vor Augen
geführt sei, steht am Beginn des Buches ein kurzer geschichtlicher Abriss über
die Entwicklung historischer Klassifikationsmodelle für Liedsätze des 15. und
16. Jahrhunderts mit einer besonderen Berücksichtigung der verwendeten
Benennungen.
Die terminologischen Unschärfen beginnen in der Liedforschung jedoch
nicht erst auf der Ebene der Klassifikation, sondern bereits bei dem untersuchten
Gegenstand selbst: Was bezeichnet der Begriff Lied? Er kann – insbesondere
im Hinblick auf das Lied des 16. Jahrhunderts – drei verschiedene Komponenten
ansprechen: In der Germanistik ist damit in erster Linie ein lyrischer Text
gemeint, der Begriff kann aber gleichfalls eine Liedmelodie bezeichnen und
schließlich werden auch mehrstimmige Liedsätze als Lied bezeichnet. Da diese
Mehrdeutigkeit gerade in der Literatur zu Lied- Klassifikationen Verwirrung
stiftete und damit oftmals die Basis der angelegten Kriterien verunklart wurde,
verwende ich jeweils die spezifischeren Termini Liedsatz und Liedtext, und setze
den Begriff Lied synonym zur Weise ausschließlich für Liedmelodien ein.
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