18.02.2022 Aufrufe

ESG

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

1


Das Projekt Art up dankt den Kooperationspartner:innen der bezirklichen Wirtschaftsförderung, der Stiftung Berliner Mauer,

visitBerlin und der Anschutz Entertainment Group für die freundliche Unterstützung, ohne die diese Ausstellung nicht möglich

gewesen wäre und der Pizzeria ZOLA East Side für die kulinarische Zuwendung.


Permeable Place – Fair Transitions

Ignasi Blanch, Suzann El-abboud, Arthur Jongebloed,

Jeroen Goulooze, Regina Kelaita, Sabine Kunz,

Gabriele Nugara, Fulvio Pinna, Karina Villavicencio

East Side Gallery, 12.–15. August 2021

Leitung Ausstellungsprojekt: Michaela van den Driesch

Das Projekt Art up – Erfolg im Team wird gefördert aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds und der Senatsverwaltung

für Integration, Arbeit und Soziales im Rahmen der Bezirklichen Bündnisse für Wirtschaft und Arbeit.



6

8

9

10

12

14

16

18

20

22

24

26

28

Permeable Place ‒ Fair Transitions

far.kiez

East Side Gallery

Ignasi Blanch

Suzann El-abboud

Arthur Jongebloed

Jeroen Goulooze

Regina Kelaita

Sabine Kunz

Gabriele Nugara

Fulvio Pinna

Karina Villavicencio

Über die Künstler:innen


Permeable Place ‒ Fair Transitions

Seit ihrem Bau am 13. August 1961 trennte die Berliner Mauer nicht nur Ost- und West-Berlin;

sie galt auch als Symbol für die politische und wirtschaftliche Teilung Europas und der Welt.

Nach ihrem Fall am 9. November 1989 wurden Teile der Mauer durch künstlerische Auseinandersetzung

zur East Side Gallery (ESG) und damit zu einem organischen Bestandteil der Stadt

entwickelt. Dort findet vom 12. bis zum 15. August 2021 die Ausstellung PERMEABLE PLACE FAIR

TRANSITIONS statt. Sie wird im Rahmen des Projektes Art up – Erfolg im Team in Kooperation

mit der Stiftung Berliner Mauer und dem Projekt fair.kiez der bezirklichen Wirtschaftsförderung

durchgeführt. Neun Künstler:innen, darunter drei, die an der ursprünglichen Gestaltung

der ESG beteiligt waren, stellen ihre Werke vor. Sie setzen sich in ihnen nicht nur mit der

historischen, sondern auch mit der aktuellen Bedeutung der Berliner Mauer auseinander,

vor allem in Hinblick auf ein faires und verträgliches Zusammenleben in Kiez, Stadt und

Gesellschaft. Mit Parlo d´amor setzte der Zeichner Ignasi Blanch 1990 an der ESG ein Statement

für die verbindende Kraft der Liebe. Der katalanische Titel und die Farben von Blanchs

Berlin ziehen ein Band quer durch Europa. Blanchs aktuelles Video fordert heute in vielen

Sprachen und Farben, dass weltweit kein Mensch mehr aufgrund sexueller Orientierung oder

geschlechtlicher Identität verfolgt und diskriminiert werde. Die Hoffnung, mit echtem Gefühl

aktuelle Konflikte und Krisen ebenso zu überwinden wie den Kalten Krieg, spiegelt sich in

Suzann El-abbouds Skulptur Plinius des 21. Jahrhunderts. Plinius d. J. überlebte und bezeugte

den Vesuvausbruch im Jahr 79. El-abbouds Skulptur eines Kindes verkörpert die Hoffnung

auf eine erinnernde, friedvolle Zukunft. Mit dem Video Schatten erinnert Arthur Jongebloed

daran, dass Schatten- und Lichtprojektionen auf der weißen Grenzmauer ermöglichten,

Flüchtende zu erkennen und auf sie zu schießen. Seine abstrakten Bilder setzen sich mit der

Geschichte Berlins auseinander, um in eine Zukunft konstruktiver Koexistenz unterschiedlicher

Besucher:innen- und Bewohner:innengruppen der Stadt zu weisen. Die Gedenktafel für das

6


2289 errichtete Denkmal an der einstigen Gedenkstätte „Berliner Mauer und East Side Gallery“

von Jeroen Goulooze entstand in einer Zeit, die weltweit von Zusammenbrüchen aufgrund des

Klimawandels und vom Wiedererstarken des Faschismus geprägt ist. Die Installation zeigt, was

passiert, wenn eine Gesellschaft versäumt, historische Erinnerung und Orte des Gedenkens zu

bewahren. Ausgehend von der Wanderung eines befreundeten Künstlers über 13 Grenzen von

Helsinki nach Thessaloniki verarbeitete Regina Kelaita für die Videoinstallation where the

grass is greener unzählige Fotos von Zäunen aller Art. Im schnellen Schnitt entstehen aus den

Bildern abstrakte Formen, die Eingrenzungen in ihrer ambivalenten Funktion transzendieren,

um sie zu neuen Horizonten hin zu öffnen. Die Videoinstallation Skulpturenpark-West–Side

von Sabine Kunz, die für die ESG 1990 das Bild Die Tanzenden schuf, simuliert eine Vervollständigung

der Open-Air-Galerie mit einem inklusiven, respektvollen Kunst- und Begegnungsort

auf der Westseite. Gabriele Nugara setzt sich mit dem Video Eine Saubere Geschichte mit

der Zerstörung und Wiederherstellung von Kunstwerken im öffentlichen Raum auseinander.

Er zeigt darin die Restaurierungen von Parlo d´amor in Roquetes (Spanien) und von Inno

alla gioia an der ESG. Die Haltung der Protagonist:innen und ihre Handhabung von Säuren,

Lösungsmitteln, Pinseln und Farben lassen die Denkmalpflege als liebevolle Behandlung des

verletzlichen Stadt-Körpers erscheinen. Als Protagonist in Eine Saubere Geschichte tritt Fulvio

Pinna, Schöpfer des ESG-Bildes Inno alla gioia, für das gemeinsame Bewahren der ESG-Kunst

und das mit ihr verbundene Gedenken ein. Die Performance und das Video Moving Together

von Karina Villavicencio zeigen einen Tanz der Gesten von Frauen mit Migrations- und

Fluchterfahrungen sowie mit ostdeutscher Vergangenheit. Die Choreographie schafft einen

Raum, in dem zwei Gruppen, die scheinbar nicht viel miteinander gemein haben, eine Allianz

für den Frieden bilden können. Die künstlerischen Positionen zeigen, dass ein wichtiger Teil

der Erinnerungspraxis nicht nur die Bewahrung ursprünglicher Bedeutungen historischer

Artefakte ist, sondern auch ihre dialogische Neuinterpretation. Diese Neuinterpretation hat

stets ihr Umfeld im Blick. An der ESG, leider häufiges Ziel zerstörerischer Akte, plädiert sie für

einen fairen, umsichtigen Umgang miteinander und für einen stadtverträglichen Tourismus.

7


fair.kiez

Andy Hehmke Bezirksstadtrat für Wirtschaft, Ordnung, Schule und Sport

Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ist ein

attraktives Ziel für viele Besucher:innen aus

dem In- und Ausland, Gästen aus Berlin und

der Umgebung. Durch die Coronakrise haben

sich besonders in der Tourismusbranche

Angebot und Nachfrage stark verändert.

Beim behutsamen Berlin reloaded möchten

wir gern unterstützen. Gemeinsam mit den

Akteur:innen setzt sich die Wirtschaftsförderung

weiter für einen stadtverträglichen und

nachhaltigen Tourismus im Bezirk unter dem

Label fair.kiez ein. Dabei soll die Erlebnisqualität

für die Besucher:innen als auch die

Lebensqualität der Berliner:innen berücksichtigt

werden. Besucher:innen sollen für

einen fairen, rücksichtsvollen Umgang mit

den Bewohner:innen wie z.B. Vermeidung

von Lärm, Müll oder Urinieren im öffentlichen

Raum sensibilisiert werden. Nachbarbezirke

wie Neukölln haben sich unter www.fairkiez.

berlin angeschlossen. Die East Side Gallery ist

eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten im

Bezirk. Der längste, erhaltene Abschnitt der

Berliner Mauer ist zugleich die längste Open

Air Galerie der Welt. Als "Eiserner Vorhang"

teilte sie die Stadt ganze 28 Jahre. Nach dem

Mauerfall am 9. November 1989 haben über

100 Künstler:innen aus der ganzen Welt ihre

Botschaften dort zum Ausdruck gebracht.

Seit 1991 steht sie unter Denkmalschutz

und wurde 2009 aufwendig saniert. Darum

freue ich mich besonders, dass genau 60

Jahre nach der Errichtung der Mauer die

Ausstellung PERMEABLE PLACE – FAIR TRANSI-

TIONS mit internationalen und nationalen

Künstler:innen möglich ist. Dank der Unterstützung

vieler Partner:innen war es möglich,

ein thematisches Miteinander zu gestalten.

Ich wünsche Ihnen, dass diese Ausstellung

für Sie ein besonderes und nachhaltiges

Erlebnis wird.

8


East Side GallerY

Anna von Arnim-Rosenthal Stiftung Berliner Mauer

Die Stiftung Berliner Mauer ist seit November 2018 für die East Side Gallery verantwortlich.

Sie hat den Auftrag, das Denkmal zu erhalten, die zugehörigen Grünanlagen zu pflegen und

historisch-politische Bildungsarbeit zu etablieren. Ein wichtiges Anliegen ist es, einen lebendigen

Ort zu kuratieren, an dem Beteiligung und Begegnung möglich ist. Ein Ort, an dem die

Menschen miteinander ins Gespräch kommen über die Botschaften der Künstler:innen aus

dem Jahr 1990, über bestehende und überwundene Grenzen und über die Kraft von Kunst in

freien und unfreien Gesellschaften. Die Künstler:innen malten ihre Botschaften im Sommer

1990 auf Teile der Berliner Mauer und verwandelten sie damit in ein Symbol für die friedliche

Überwindung der Teilung. Heute wird das Durchlässigwerden der Berliner Mauer an keinem

anderen Ort so offenbar wie an der East Side Gallery. Die Künstler:innen setzten ein mächtiges

Zeichen, denn sie bemalten nicht nur erstmals die nach Ost-Berlin weisende Mauer; sondern

sie sendeten auch eine klare Botschaft: Mauern können überwunden werden. Ihre Bilder

sind Zeugen dieses euphorischen Moments des Herbsts 1989. Sie sind aber auch Träger von

Hoffnungen und Bedenken angesichts einer ungewissen Zukunft. Mehr als 30 Jahre später

sind viele dieser Botschaften und Gefühle aktueller denn je und ermahnen uns weiterhin,

engagiert für die Demokratie einzustehen. Die Künstler:innen von PERMEABLE PLACE – FAIR

TRANSITIONS haben sich mit Versöhnung und Verständigung sowie mit ihren eigenen Erfahrungen

mit überwundenen und unüberwindbaren Grenzen auseinandergesetzt und rufen auf

ihre Weise dazu auf, sie einzureißen.

9


IGnasi Blanch

„Als ich PARLO D'AMOR (katalanisch für „Ich spreche von Liebe“)

an der Berliner Mauer gemalt habe, war ich sehr jung, mit einer

ungewissen Zukunft, aber voller Energie und Enthusiasmus. Dreißig

Jahre später stehe ich aus ganzem Herzen und mit tiefster Aufrichtigkeit

zu dem, was ich damit ausdrücken wollte: In vielen Ländern, von

denen einige hier abgebildet sind, wird die freie Liebe mit Todesstrafe

oder Gefängnis bestraft. Das überarbeitete Wandbild repräsentiert die

Freiheit, auf der ganzen Welt zu lieben, wen Sie wollen.“ Nach dem

Studium der Bildenden Kunst in Barcelona spezialisierte sich Ignasi

Blanch in Berlin auf Gravur- und Drucktechniken. In dieser Zeit ereignete

sich der Mauerfall und Blanch wurde ein Jahr später als einziger

spanischer Künstler für das Projekt East Side Gallery ausgewählt. Inspiriert

von der progressiven Aufbruchsstimmung des damaligen West-

Berlins schuf er PARLO D´AMOR, ein Bekenntnis für die Freiheit der

Liebe und Zeichen seiner Verbundenheit mit der katalanischen Kultur

und mit Berlin – in drei Farben: „Weiß, die Farbe des Schnees; Grau

für die Kohle und die Schornsteine, mit denen wir uns warmhielten;

und die Farbe des Herbstes, wenn die Stadt wunderschön ist.“ Die drei

Pinsel, die er dafür verwendete, hat er aufbewahrt.

10


Ignasi Blanch, PARLO D´AMOR ALL OVER THE WORLD, Überarbeitung des Originalwerkes der ESG, das im Jahre 2000

auch für das Meteorologische Observatorium in Roquetes reproduziert wurde. Videostill (Ausschnitt), 2021

11


Suzann El-abboud

Suzann El-abbouds Motivation ist es, Gefühle und tiefe innere Prozesse in ihrer Kunst zum

Ausdruck zu bringen. Sie selbst sagt: „Ich denke nicht. Ich habe kein Konzept. Meine Arbeiten

entstehen nie über das Denken. Für mich ist die emotionale Ebene entscheidend.“ Die

in Zwickau geborene und in Syrien aufgewachsene Künstlerin ist auf der Suche nach einer

Wahrheit und Schönheit jenseits der Oberfläche. Sie vergleicht diese Suche mit der heilenden

Wirkung von Erlebnissen in der Natur auf Körper und Seele. In der direkten Auseinandersetzung

mit Materialien wie Stein, Polyester, Holz, Zement, Sand und verschiedenen Fundstücken

entstehen ihre Werke in einem oft spielerischen, intuitiven Prozess. Dabei verfolgt El-abboud

eine Idee so lange, bis sie ein starkes Gefühl wahrnimmt – ohne diese emotionale Resonanz

gibt es für sie keine künstlerische Wertschöpfung. Ein wiederkehrendes Thema in ihren Skulpturen

und Bildern sind Augen als Metapher für Schöpfung und Beobachtung, aber auch für

den ersten Eindruck, den wir von einem Menschen gewinnen: Augen als Spiegel des wahren

inneren Wesens. Für die Bildhauerin öffnet sich hier ein weites Feld, in dem sie immer wieder

neue Inspirationen und Möglichkeiten entdeckt. Auch Mythen der arabischen Kultur fließen

in ihre Arbeiten ein und werden von El-abboud, oft mit Bezügen zu historischen und aktuellen

Ereignissen, in zeitgenössische Skulpturen und Bilder transformiert.

12

Suzann El-abboud, PLINIUS des 21. Jahrhunderts,

Epoxidharz, 41 x 60 x 113 cm, 2021


13


arthur jongebloed

Arthur Jongebloed erfährt seinen Körper

früh als politisch. Er erlebt ihn als Ort, an

dem persönliche Geschichte und die Beziehung

zur Welt sich kreuzen und verbinden.

In seinen interaktiven Performances, öffentlichen

Interventionen, Fotografien, Bildern

und Filmen dient ihm der eigene Körper

als wichtigstes künstlerisches Werkzeug.

Inspiriert von der Idee der sozialen Plastik

greift Jongebloed als queerer Künstler gesellschaftliche

Konstrukte auf und verknüpft

sie mit seinen eigenen Fragen: „Wenn Kunst

alles sein kann, welche Rolle soll Kunst

spielen? Queere Sichtbarkeit ist Widerstand.“

Jongebloed möchte in seiner

Kunst diese Art von Widerstand leisten

und queere Themen sichtbar machen.

Er dekonstruiert als vereinbart geltende

Strukturen und ersetzt sie durch neue Spielvariationen.

Dabei überschreitet er – nur

scheinbar existierende – Grenzen und realisiert

verblüffend neue Realitäten. Radikale

Ehrlichkeit, verbunden mit der Fähigkeit,

Stimmungen und Atmosphären zu kreieren,

machen Jongebloeds Kunst zu einem

berührenden Erlebnis. Die Beziehungen, die

während des künstlerischen Prozesses und

zwischen ihm und dem Publikum entstehen,

sind für den Künstler das eigentliche Elixier

seiner Kunst. Trotz schmerzvoller Themen

wie mentale Gesundheit, Homophobie

und Missbrauch, ist die Lust in Jongebloeds

Spiel mit Farben und sinnlichen Materialien

deutlich spürbar.

Arthur Jongebloed, Schatten,

Videostill 2021

14


15


Jeroen Goulooze

Die Kunst von Jeroen Goulooze entsteht auf der Basis von eigenen

Fotos, die, digital bearbeitet, mit archaisch wirkenden, grob gezimmerten

Rahmen eine seltsame Liason eingehen. Mit den reliefartigen

Ornamenten wirken diese Objekte wie aus der Zeit gefallen. Zeit ist das

zentrale Thema von Goulooze. Science Fiction, Geschichte und Gegenwart

verdichten sich und werden vom Künstler als einzelne Werke,

Serien, Triptychen oder in Installationen mit sakralem Charakter arrangiert.

Die intensive, an italienische Renaissance-Malerei erinnernde

Farbigkeit der filigranen, symmetrisch angeordneten Pflanzen- und

Blumenelemente wirkt wie ein magischer Sog. Goulooze hat seine ganz

eigene künstlerische Sprache entwickelt, in der er sich sowohl poetisch

als auch reflektierend und experimentierend wie ein Herrscher in

seinem Königreich zum Ausdruck bringt. Er selbst sagt: „Meine Kunst

ist eine Lüge, meine Arbeiten sind Fälschungen von Kunstwerken, die

nie existiert haben“, und lädt uns damit ein, ihn auf seinen Streifzügen

in fiktive Möglichkeitsszenarien, in verborgene Gefilde, die auf anderen

Planeten oder tief in unserem Innersten zu finden sind, zu folgen. Auch

die Website des Künstlers ist eine Fundgrube für alle, die mit Jeroen

Goulooze auf die Reise gehen möchten: bezaubernd, verstörend und

faszinierend.

16


Jeroen Goolouze, Gedenktafel für das 2289 errichtete Denkmal an der einstigen Gedenkstätte „Berliner Mauer

und East Side Gallery“, Tryptychon, mittleres Bild; Holz, rostiges Eisen, Alu-Dibond, Tintenstrahlprints, Acryl, Pigmente,

Fundstücke, selbstentwickelter Faserverbundwerkstoff, 180 x 250 x 100 cm, 2021

17


Regina Kelaita

Als Deutsch-Assyrerin, die in England und Deutschland aufgewachsen ist, hat

Regina Kelaita einen Blick entwickelt, der mit Neugier und Distanz auf unsere als

selbstverständlich hingenommenen Standards und Normen schaut. Für diese

Beobachtungsperspektive hat sie in den Medien Fotografie und Video eine

perfekte Entsprechung gefunden. Virtuos bewegt sie sich mit ihren Animationen an

den Schnittstellen beider Disziplinen und rüttelt spielerisch an unserer Wahrnehmung

des Alltags. Auf ihren Streifzügen sammelt die Künstlerin Zufälle und visuelle

Widersprüche für ein sich kontinuierlich erweiterndes künstlerisches Archiv.

Kelaita spielt mit Größenverhältnissen, mit den Grau- und Brauntönen von Städten

und Landschaften, mit Mustern und Rhythmen, und deckt dabei Beziehungen und

unsichtbare Verbindungslinien auf. Ihre Arbeiten vermitteln einen klaren, aber

nie wertenden, fast zärtlichen Blick auf die Absurdität, Poesie und Komik des

Alltags. Es ist ein Sehen, das die Oberfläche durchbricht und in scheinbar gewöhnlichen

Szenen gesellschaftliche Komplexität offenlegt. Während ihre Fotografien

die Ausnahme, oder, wie sie selbst sagt, den Fehler erkennen lassen, sind ihre

Animationen Sammlungen sich wiederholender Strukturen. Spuren, die das Leben

überall hinterlässt, werden von ihr gesampelt und mit Sound hinterlegt. Kelaitas

künstlerische Bandbreite reicht von tranceartig wirkenden Videoinstallationen mit

schnellen Schnitten und Beats bis hin zu fast meditativ wirkenden Arbeiten.

18

Regina Kelaita, where the grass is greener, Videostill, 2021


19


Sabine Kunz

Zum Zeitpunkt des Mauerfalls war Sabine

Kunz so sehr in ihre Diplomarbeit der

Bildenden Künste an der Kunsthochschule

Burg Giebichenstein vertieft, dass sie

zunächst nur wenig von diesem historischen

Ereignis mitbekommen hat. Später beteiligte

sie sich an der Bemalung der Berliner

Mauer. „Als ich unmittelbar vor den grauen

Mauersegmenten mit meinem kleinen

Entwurf stand, hinter mir die stark befahrene

Straße und mein Trabbi, vor mir seitlich ein

Wachturm – erst da kam mit dem Malen

meines Bildes für mich das tiefe freudige

Gefühl langsam hoch - frei zu sein.“ Dieses

Gefühl der Freiheit möchte Sabine Kunz für

Menschen jetzt auch auf der Spreeseite der

Mauer erfahrbar machen. Dafür entwarf sie

das Kunstprojekt Skulpturenpark West-Side-

Gallery und schlägt in der aktuellen Ausstellung

seine Umsetzung vor. Die Bronzeskulpturen

auf Mamorsockeln sollen einen Ort

der Kunst und Begegnung schaffen. „Mein

inhaltlicher Ausgangspunkt wurde optisch

durch die freie Sicht – dem weißen Band von

der Oberbaumbrücke mit dem Blick entlang

dieser ganzen Gallery – angeregt. Der freie

Himmel ist hinter den Bildern gewesen, als

diese aus Freude über den Mauerfall gemalt

wurden. Für mich gehört der freie Himmel

hinter den Bildern zu diesem Gesamtkunstwerk

inhaltlich dazu, und es wäre gut, diese

Gallery als Einheit im Spaziergang umrunden

zu können.“

Sabine Kunz, Idee Skulpturenpark West-Side-Gallery,

Fotomontage mit Modellen in Bronze, 2011‒2021

20


21


Gabriele Nugara

Gabriele Nugara dreht seit seinem 17. Lebensjahr Kurzfilme. Nach dem Studium der Kommunikationswissenschaften

an der Universität Turin beginnt er eine Laufbahn als Filmemacher.

Er veröffentlicht auch zwei Gedichtbände: La cura del vampiro (2016) und Addio Paroxetina

(2018). Seine Kurzfilme, Videogedichte und Dokumentationen kreisen um das Thema des

Individuums, der Freiheit und Nonkonformität sowie der Beharrlichkeit, mit der die von ihm

porträtierten Künstler (u. a. Peter Unsicker und Fulvio Pinna) trotz aller Widrigkeiten ihre

Visionen verwirklichen und ihren selbstbestimmten Weg gehen. Seine Filmsprache ist ein Mix

aus verschiedenen Genres: Schwarzweiße Sequenzen wechseln sich häufig mit Farbaufnahmen

ab, auf realistische Szenen folgen symbolische, Ernst mischt sich mit Humor, Heiterkeit mit

Melancholie. Er digitalisiert und bearbeitet auch das private VHS und Mini-DV-Archivmaterial

und integriert es in seine Filme, um die Vergangenheit seiner Protagonisten vor dem Vergessen

zu bewahren und ihren Habitus als Künstler besser zu verstehen. Sein filmisches Werk zeichnet

sich durch ruhige Kameraführung und einen harmonischen Soundtrack aus. "Eine Saubere

Geschichte offenbart, wie die künstlerische Wiedergeburt durch Restaurierung und Reinigung

möglich ist, weil Kunstwerke lebende und verletzliche Organismen sind. Ich zeige die Vitalität

der Malerei, der Kunst im Allgemeinen, und rege dazu an, den Künstlerinnen und Künstlern und

ihren Werken respektvoll zu begegnen“, sagt Gabriele Nugara.

22

Gabriele Nugara, Eine Saubere Geschichte,

Videostill, 2021


23


fulvio Pinna

Für Fulvio Pinna, der als einziger italienischer Künstler 1990 für das Projekt East

Side Gallery ausgewählt wurde, bedeutete die Schöpfung des Inno alla gioia (it.

für Ode an die Freude) ein künstlerisches und persönliches Ankommen nach einem

Prozess, der für ihn in der Kindheit mit dem Einmarsch der Sowjetarmee in Ungarn

zur Niederschlagung der „Revolution von ´56“ begann. Die damit verbundene

politische und menschliche Tragödie bewegte ihn zu einer andauernden künstlerischen

Auseinandersetzung mit politischen Themen und einem Eintreten für

Gerechtigkeit und persönliche Freiheit. Inno alla gioia feiert die Perspektive, die

sich für ihn mit dem Fall der Mauer eröffnete: Nach den Jahres des Nazi-Regimes

und des geteilten Deutschlands eine Überwindung jeglicher totalitärer Herrschaft

seitens der Deutschen, die Pinna auch als das „Volk Kants“ bezeichnet. Die Sirene

des Inno alla gioia mahnt aber auch, denn auf dem Weg zum Licht der Vernunft

zieht sie die Insignien der Geschichte an ihren Wurzeln hinter sich her. Wo Erinnerungskultur

fehlt, öffnen sich die Pforten zur Hölle. Konsequenterweise engagiert

sich Fulvio Pinna auch für den Erhalt der Werke der East Side Gallery. Als Protagonist

in Gabriele Nugaras Kurzfilm Eine Saubere Geschichte sieht man ihn, beharrlich

sein Gemälde ein weiteres Mal nach unzähligen Beschädigungen wiederherstellen.

24

Fulvio Pinna bei der Restaurierung von Inno alla gioia,

Filmstill aus Eine Saubere Geschichte von Gabriele Nugara, 2021


Ich habe sie bemalt

die Mauer der Schande

damit man sich der Freiheit

nicht mehr schämen müsse.

Dieses Volk hat für das Licht entschieden

nach Jahren dantesker Hölle

Nimm meine Farben, Berlin

und das Vertrauen

eines freien Menschen!

Ho dipinto

il muro della vergogna

affinchè la libertà

non sia più vergogna.

Questo popolo ha scelto la luce

dopo anni di inferno dantesco.

Tieni Berlino i miei colori

e la mia fede

di uomo libero!

Fulvio Pinna

25


Karina Villavicencio

In ihrer künstlerischen Arbeit, die Performance,

Fotografie, Design, Zeichnung und

das Kuratieren umfasst, konzentriert sich

Karina Villavicencio auf zwei Konzepte: die

Vielfalt der menschlichen Erfahrung und

die Besonderheiten eines jeden Subjekts.

Dabei geht sie den Fragen nach: Was macht

jede oder jeden von uns auf dieser Welt

besonders und wie können wir mit unseren

Besonderheiten in Kontakt treten? Ihre

künstlerische Praxis beruht darauf, sich auf

solche Objekte, Gesten und Geschichten zu

fokussieren, die ignoriert oder nicht wahrgenommen

werden, weil sie in die aktuellen

oder tradierten Wertvorstellungen nicht

passen. Die Bedeutung, die Villavicencio

dem Begriff der Präsenz und der menschlichen

Erfahrung beimisst, drückt sich darin

aus, dass sie reale oder symbolische Objekte

als Spuren einer Erfahrung oder eines

gemeinsamen Moments betrachtet und sie

als Abbild der Welt sammelt und sublimiert.

Dadurch, dass sie die Details einer Sache oder

Geste ins Erhabene steigert, gewinnen sie

an Bedeutung und offenbaren ihre Unendlichkeit.

Für Karina Villavicencio ist Kunst ein

Prozess, der auf Interaktion, Partizipation

und Transformation beruht. Indem sie das

Publikum auffordert, an ihren Performances

teilzunehmen, bietet sie passiven Beobachterinnen

und Beobachtern die Möglichkeit,

sich in aktive Mitwirkende zu verwandeln.

Sie möchte, dass sich jede an ihren Kunstaktionen

beteiligte Person als Teil eines Ganzen

fühlt und diese Momente der Nähe und des

Zusammenseins lange in Erinnerung behält.

26


Karina Villavicencio, Moving Together, Videostills, 2021

27


Über die Künstler:innen

Ignasi Blanch

*1964 in Roquetes, Tarragona (Spanien),

lebt in Barcelona und arbeitet weltweit in

sozialen Kunstprojekten. Seine Buchillustrationen

wurden mehrfach ausgezeichnet:

2006 Premio Crítica Serra d'Or, 2008

Premio Llibreter de Àlbum Ilustrado; 2009,

2013 und 2014 war er für die Biennale der

Illustration Bratislava nominiert. Koordiniert

das Projekt Humanize Hospitals, um

Kindern den Aufenthalt in Krankenhäusern

angenehmer zu gestalten. 2018 publizierte

er mit Olivia Newton-John, Beth Nielsen

Chapman und Amy Sky das Buch Liv on.

Instagram @blanchignasi

Suzann El-abboud

*in Zwickau, lebt und arbeitet in Berlin.

Studium der Bildhauerei und Skulptur an der

Universität der Künste Damaskus (Syrien), an

der sie von 2000 bis 2002 Bildhauerei und

Malerei unterrichtete. Anschließend Meisterschülerin

der Bildhauerei und Malerei an der

UdK Berlin. Seit 1998 zahlreiche Einzel- und

Gruppenausstellungen weltweit. American

Art Awards 2019 und ´20 Platz 6 und 5.

El-abbouds Werk Das Meer ist Teil der

Sammlung des Nationalmuseums Damaskus.

www.suzann-elabboud.com

Arthur Jongebloed

*1994 in Palo Alto, Kalifornien (USA), lebt und

arbeitet in Berlin. Studierte Kunst und Performance

am Bennington College (BC) in Vermont

(USA) und im Rahmen des Arts and Society

Program am Bard College Berlin. Arbeitete mit

Meredith Monk, Cora Cohen und John v. Bergen

zusammen. 2016 Sänger und Tänzer in M.

Monks A Celebration Service am BC. Performte

in Berlin auf einer Vielzahl von Festivals und

Kunstevents. Instagram @frida_nau

Jeroen Goulooze

*1963 in Hilversum (NL), lebt und arbeitet in

Berlin. Nach dem Studium der Geschichte,

Literatur- und Theaterwissenschaften begann

sich Goulooze der Kunst zu widmen. Sein

Alter Ego: Jerome Goldnose, der sich nicht als

Künstler, sondern als Sammler seiner Werke

und Artefakte vorstellt – „in der Hoffnung, von

künftigen Menschen gefunden und gesammelt

zu werden“. www.jeromegoldnose.com

28


Regina Kelaita

*1979 in Bonn, lebt und arbeitet in Berlin.

Studium der Bildenden Kunst am Chelsea

College of Art and Design in London und an

der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam.

Die Foto- und Videokünstlerin ist seit 2014

Mitorganisatorin des Kunstprojektes If Paradise

Is Half As Nice, das jährlich in Industrie-

Ruinen stattfindet, und Mitbetreiberin des

Raums für drastische Maßnahmen in Berlin-

Friedrichshain. www.reginakelaita.com

Sabine Kunz

*1962 in Zwickau, lebt und arbeitet in Halle.

Studium der Tapisserie und Malerei an der

Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle.

Schuf 1990 Die Tanzenden für die East Side

Gallery. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen

seit 1991 und vielfach ausgezeichnet

mit Arbeitsstipendien im In- und

Ausland. www.sabinekunz.eu

Gabriele Nugara

*1984 in Moncalieri, Turin (Italien), lebt und

arbeitet in Berlin. Studierte Kommunikationswissenschaften

an der Universität von

Turin und Medienerziehung und Geschichte

am Institut der Italienischen Widerstandsbewegung

in Mailand. Seit 2000 ist er künstlerisch

tätig an der Schnittstelle von Poesie

und Bewegtbild und realisierte zahlreiche

Kurzfilme zu politischen und pädagogischen

Themen. www.gabrielenugara.com

Fulvio Pinna

*1948 in Furtei, Sardinien (Italien), lebt und

arbeitet in Berlin. Studierte Philosophie,

Psychologie, Pädagogik und Kunstgeschichte

an der Universität von Cagliari. Zieht 1974

als freischaffender Künstler nach Rom. 1985

Brunnenskulptur Cigno bronzeo für die Piazza

Resistenza in Furtei. Seit 1987 in Berlin, wo

er 1995 die Galerie Fulvio Pinna eröffnet.

Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen

in Deutschland und Italien seit 1971.

www.fulvio-pinna.com

Karina Villavicencio

*1975 in Córdoba (Argentinien), lebt und

arbeitet in Berlin. Studierte Kunstwissenschaften

und bildende Kunst an der Université

de Provence Aix-Marseille I. France

und Malerei in Córdoba (Argentinen). Die

Arbeiten der transdisziplinär arbeitenden

Künstlerin, die sich v.a. feministischen und

postkolonialen Themen widmet, werden seit

2012 in Frankreich und Deutschland gezeigt.

In Argentinien und Deutschland kuratierte

sie feministische Kunstevents und -Festivals.

www.karinavillavicencio.com

29


Bildnachweise

Titelgestaltung ©Regina Kelaita 2021; S. 11 Parlo d´Amor All over the World©Ignasi Blanch 2021; S. 13 PLINIUS des

21. Jahrhunderts ©Suzann El-abboud 2021; S.15 Schatten ©Arthur Jongebloed 2021; S. 17 Gedenktafel für das 2289

errichtete Denkmal an der einstigen Gedenkstätte „Berliner Mauer und East Side Gallery“ ©Jeroen Goolouze 2021;

S.19 where the grass is greener ©Regina Kelaita 2021; S. 21 Sabine Kunz, Idee Skulpturenpark West-Side-Gallery

2011‒2021 ©VG Bild-Kunst, Bonn 2021; S. 23 Eine Saubere Geschichte ©Gabriele Nugara 2021; S. 25 Fulvio Pinna

in Eine Saubere Geschichte ©Gabriele Nugara 2021; S. 27 Moving Together ©Karina Villavicencio 2021

Text

S. 6f. Djordje Cetovic und Carola Großmann, S. 8 Andy Hehmke, Bezirksstadtrat für Wirtschaft, Ordnung, Schule und

Sport, S. 9 Anna von Arnim-Rosenthal, Stiftung Berliner Mauer, S. 10 Ignasi Blanch/Carola Großmann, S. 12, 14, 16,

18 Nina Mücke, S. 20 Sabine Kunz/Djordje Cetovic, S. 24, 28f. Carola Großmann, S. 22, 26 Urszula Usakowska-Wolff

Layout

Carola Großmann


Herausgeber

LOK.a.Motion Gesellschaft zur Förderung lokaler Entwicklungspotentiale mbH

Marchlewskistr. 101, 10234 Berlin

www.lok-berlin.de, info@lok-berlin.de

Druckerei

Pinguin Druck GmbH,

Marienburger Straße 16, 10405 Berlin

Der Herausgeber übernimmt keine Haftung für inhaltliche Angaben. Nachdruck oder

sonstige Vervielfältigung sind nur mit Genehmigung des Herausgebers gestattet.


Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!