EINE UNABHÄNGIGE KAMPAGNE VON MEDIAPLANET
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SELTENE Die Waisen der Medizin
ERKRANKUNGEN
„Ich war dem
Tod näher
als dem Leben“
Dimitra leidet bereits seit ihrer Kindheit
an eosinophiler Granulomatose
mit Polyangiitis (EGPA).
NICHT VERPASSEN:
Amyloidose Wie die
Multisystemerkrankung erkannt
und therapiert werden kann
Seite 8
Hämophilie Wie Therapietreue
bei Kindern und Jugendlichen
gelingen kann
Seite 12
Pulmonale arterielle
Hypertonie Prof. Hanno
Leuchte über Risikogruppen
und Behandlungsoptionen
Seite 16
2 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
VERANTWORTLICH FÜR DEN
INHALT IN DIESER AUSGABE
Miriam Hähnel
Die Forschung im
Bereich der seltenen
Erkrankungen
schreitet voran.
Trotzdem ist noch viel
zu tun: damit immer
mehr Betroffene von
einer individuellen
Behandlung profitieren
können.
IN DIESER AUSGABE
06
Beta-Thalassämie
Nicola De Nittis über sein langes
Doppelleben mit der Erkrankung und den
Mut, Klartext zu reden.
Online
Die Genmutation SCN8A
Eine unter 400 – Unser Kind leidet an
der seltenen Erkrankung de Novo. Eine
Mutter im Interview.
Industry Manager Health: Miriam Hähnel
Geschäftsführung: Richard Båge (CEO), Philipp Colaço
(Managing Director), Franziska Manske (Head of Editorial &
Production), Henriette Schröder (Sales Director) Designer:
Elias Karberg Mediaplanet-Kontakt: redaktion.de@
mediaplanet.com Coverbild: Privat
Artikel, die mit mit Unterstützung gekennzeichnet
sind,sind keine neutrale Mediaplanet-Redaktion.
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MediaplanetStories
@Mediaplanet_germany
Please recycle
Lisa Biehl
Leiterin der ACHSE
Selbsthilfegemeinschaft
Wenn Kinder mit
seltenen Erkrankungen
älter werden
Es gibt etwa 8.000 Seltene Erkrankungen. Darunter sind Autoimmunerkrankungen,
Knochen-, Augen- und Muskelerkrankungen oder neurologische
Erkrankungen. Mal fehlt ein Enzym oder ein Botenstoff, dann
werden Fette oder Zucker nicht abtransportiert, reichern sich in verschiedenen
Organen an und zerstören sie. Die Krankheitsbilder und Ausprägungen
sind so vielfältig und komplex wie die Ursachen.
80%
der Seltenen Erkrankungen sind genetisch
bedingt, treten oft schon früh auf und betreffen
somit vor allem Kinder, die zu Hause
umsorgt werden, oftmals mit umfassendem
pflegerischem Aufwand. Es wird Schleim
aus den Lungen gesaugt, Kanülen werden
gewechselt, Medikamente verabreicht, es
wird getragen, gelagert und gestützt. Um die
medizinische Versorgung kümmert sich die
Pädiatrie. Doch aus Kindern werden Jugendliche
und Erwachsene, die weiterhin
ihr Leben lang auf Unterstützung angewiesen
sind: Wie steht es aber um die medizinische
Versorgung chronisch kranker
Menschen, die mit dem 18. Lebensjahr aus
der pädiatrischen Versorgung herausfallen?
Wie können sie in einer Erwachsenenmedizin
behandelt werden, die auf sie nicht eingestellt
ist und weder Kapazitäten noch
Fachkenntnisse hat?
In der ACHSE sind über 130 Selbsthilfeorganisationen
vereint. Hier wird Wissen ausgetauscht
und gebündelt. Viele Themen
überschneiden sich krankheitsübergreifend.
Diese packen wir gemeinsam an. Der
Übergang von der Jugend- in die Erwachsenenmedizin
ist so ein Thema, das viele Eltern
und Betroffene in der ACHSE bewegt.
Deshalb haben wir eine Arbeitsgruppe
V
iele Menschen wissen nicht, was
es bedeutet, mit einer Seltenen
Erkrankung zu leben. Das möchte
die Allianz der Chronischen
Seltenen Erkrankungen (ACHSE) e.V. ändern.
Der Anstoß für die Aktion „Selten allein“ kam
von den universitären Zentren für Seltene
Erkrankungen. Verantwortlich für die Koordinierung
sind der Verband der Universitätsklinika
Deutschlands e.V. sowie die ACHSE e.V.
als Dachorganisation von rund 130 Patientenorganisationen.
Gastgeber und Unterstützer
vor Ort sind die Einkaufsbahnhöfe.
Die Kunstaktion "Selten allein"
...zeigt 20 Selbstporträts, die Menschen
mit Seltenen Erkrankungen in den letzten
Monaten gemalt, gezeichnet oder fotografiert
haben. Diese Bilder sind zusammen mit einer
kurzen Selbstauskunft zur Person und deren
Erkrankung in ausgewählten Einkaufsbahnhöfen
und Uniklinika in Deutschland zu
sehen. Auf diese Weise machen Betroffene
am 28. Februar 2022 auf den 15. weltweiten
Transition gebildet. Damit wollen wir nicht
nur den Finger in die Wunde legen, sondern
die Bedarfe analysieren und gemeinsam
Lösungen erarbeiten. Zugleich werden wir
das Thema an die Politik adressieren. Wir
wollen die allgemeine medizinische Versorgungssituation
betrachten. Dabei gibt es
eine ganze Reihe von Unzulänglichkeiten
und Mängeln aufzudecken, die schon auf
anderen Ebenen häufig adressiert wurden:
Es fehlt an gebündelter Expertise, qualifizierten
Fachkräften und Strukturen. Darunter
leiden nicht nur chronisch kranke Menschen,
diese jedoch besonders. Als Netzwerk
und Dachverband von und für die Waisen
der Medizin sind wir es gewohnt, dicke Bretter
zu bohren und steinige Wege zu beschreiten.
Wie können Sie helfen? Am 28. Februar ist
Rare Disease Day. Betroffene Menschen und
ihre Angehörigen machen weltweit auf Seltene
Erkrankungen aufmerksam. Sie rücken
ihre Anliegen in den Fokus der Öffentlichkeit.
Denn Menschen mit Seltenen Erkrankungen
benötigen Aufmerksamkeit, damit
ihre Bedarfe vernommen werden – in Politik,
Gesellschaft, Forschung, Medizin und
Wissenschaft. Unterstützen Sie die vielfältigen
Aktionen in den Sozialen Medien.
Schauen Sie sich um: Auch in diesem Jahr
erstrahlt die weltweite Lichterkette aus angeleuchteten
Gebäuden in Pink, Grün, Lila
und Blau. Vielleicht ja auch in Ihrer Nähe!
Eine interessante Lektüre wünscht Ihnen
Lisa Biehl
Kunstaktion „Selten allein“
– Ausstellung zum Tag der Seltenen
Erkrankungen 2022
Tag der Seltenen Erkrankungen aufmerksam.
Ausstellungsorte bundesweit
In folgenden Einkaufsbahnhöfen wird die
Ausstellung "Selten allein" ab 18. Februar 2022
zwei Wochen lang gezeigt:
Bahnhof Zoologischer Garten, Berlin
Bahnhof Friedrichstraße, Berlin
Hauptbahnhof Dresden
Bahnhof Neustadt, Dresden
Bahnhof Halle an der Saale
Bahnhof Freiburg
Bahnhof Heidelberg
Bahnhof Tübingen
Bahnhof Mainz
Bahnhof Mannheim
Vernetzung und Informationen online
Die Website www.seltenallein.de zeigt nicht
nur die Bilder der Ausstellung und weitere
Kunstwerke von Betroffenen, sondern bietet
Informationen zu Seltenen Erkrankungen
und eröffnet den direkt oder indirekt Betroffenen
die Gelegenheit, sich zu vernetzen.
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3
Wenn durch medizinischen
Fortschritt Licht ins
Dunkel kommt
Unter erblichen Netzhauterkrankungen
wird eine Vielzahl seltener Augenkrankheiten
zusammengefasst, bei denen
die Funktion der Sinneszellen in der
Netzhaut aufgrund genetischer Veränderungen
gestört ist. Die Schwestern
Vildana (V) und Emina (E) sind beide
betroffen von Retinitis pigmentosa. Sie
sprachen mit uns über ihren Weg bis zur
Diagnose und über neue Hoffnung durch
innovative Therapiemöglichkeiten.
Text Miriam Barbara Rauh
FOTO: SHUTTERSTOCK
Vildana und Emina, Sie haben beide die Diagnose
Retinitis pigmentosa erhalten.
Wann traten die ersten Beschwerden bei
Ihnen auf und wann wurde jeweils die Diagnose
gestellt?
V: Wir haben die Diagnosen ca. 2002 bekommen.
Da war ich sieben und meine Schwester
war vier oder fünf Jahre alt. Das erste Anzeichen,
das wir beide bemerkten, war Nachtblindheit.
Das trat auch etwa zu dieser Zeit auf.
Bei der Retinitis pigmentosa sterben
schrittweise Netzhautzellen ab, was die
Sehfähigkeit zunehmend beeinträchtigt.
Können Sie uns etwas mehr erzählen
über Ihren Alltag mit Ihrer
Erkrankung?
E: Zunächst habe ich nur nachts einen
Blindenstock gebraucht. Dass ich eine
zunehmende Verschlechterung der Sehfähigkeit
bemerkt habe, hat bei mir im Alter
von 13 Jahren angefangen.
V: Ich habe schon in der ersten Klasse
starke Vergrößerungen gebraucht, um
lesen zu können. Das hat sich im Laufe der
Schulzeit verschlechtert, 2019 wurde es
noch einmal deutlich schlimmer. Schrift
kann ich seitdem nicht mehr ohne Hilfsmittel
lesen. Die Nachtblindheit ist bei mir
konstant, da hat sich auch nichts verbessert.
Die Retinitis pigmentosa ist genetisch
bedingt. Gab es in Ihrer Familie bereits
vor Ihnen bestätigte Fälle oder Familienangehörige,
die entsprechende
Symptome gezeigt haben?
V: Unsere Mutter und unser Vater haben
beide den gleichen Gendefekt, und wir
Geschwister, also meine Schwester, unser
Bruder und ich, sind ebenfalls alle betroffen.
Unsere Eltern haben, seit ich denken
kann, sehr schlecht gesehen, wenn es dunkel
wurde. Sie gingen dann nicht aus dem
Haus. Im Laufe der Jahre hat sich das weiter
verschlechtert. Unser Vater, der jetzt
Anfang 50 ist, kann außer hell, dunkel
oder Umrissen fast nichts mehr sehen.
Davor konnte er sehr gut Fahrrad fahren
und auch lesen, das ist jetzt nicht mehr
möglich. Die Erkrankung ist sehr selten
und unsere Eltern sind nicht miteinander
verwandt. Es ist fast ein kosmischer
Scherz, dass die beiden sich getroffen
haben. Unsere Eltern wussten zwar, dass sie
beide eine Augenerkrankung haben, aber
nicht, welche es ist. Erst gegen 2002, als wir
nach Tübingen kamen und sie an der Augenklinik
untersucht wurden, wurde bei
ihnen die Diagnose gestellt. Daraufhin wurden
dann auch wir Kinder untersucht und
diagnostiziert.
Bis 2018 gab es keine zugelassene Therapie
gegen Ihre Erkrankung. Was waren
Ihre ersten Gedanken, als Sie erfuhren,
dass Ihnen nun vielleicht mittels einer
Gentherapie geholfen werden kann?
E: Das war sehr aufregend! Wir wussten
schon länger, dass an einer Therapie geforscht
wird, und mussten im Vorfeld viele
Tests machen, um zu sehen, ob wir geeignet
sind. Als wir dann im Herbst 2019 das
OK bekamen und die Therapie in Deutsch-
land zugelassen wurde, habe ich mich sehr
gefreut.
Wie sieht Ihr Alltag nun nach erfolgter
Behandlung aus?
E: Nach der Therapie habe ich viel besser
gesehen, auch nachts. Normalerweise brauche
ich jetzt keinen Blindenstock mehr.
Auch brauche ich nicht mehr so viel Licht,
zum Beispiel beim Lesen.
V: Bei mir war von vornherein klar, dass
es nicht so große Veränderungen geben
wird wie bei meiner Schwester. Die Grundvoraussetzung
der vorhandenen Zellen
ist unterschiedlich. Konkret verändert hat
sich, dass ich viel besser Lichter sehen kann
und Lichtquellen schneller identifizieren
kann. Es ist ein großer Fortschritt, dass es
diese Therapie gibt. Wer betroffen ist, sollte
jedenfalls keine Angst vor der Behandlung
haben und die Therapie in Anspruch nehmen.
Vor allem wenn man jünger ist, ist
sie wirklich eine gute Möglichkeit, die Lebensqualität
zu erhalten.
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit der Novartis Pharma GmbH entstanden.
Der Gentest:
Ein wichtiger Meilenstein bei der Diagnose
von erblichen Netzhauterkrankungen
In Deutschland sind Schätzungen zufolge insgesamt
rund 75.000 Menschen von einer erblichen
Netzhauterkrankung betroffen. [1] Sie
treten häufig bereits bei Säuglingen und
Kleinkindern auf, weshalb besonders (Groß-)Eltern
auf Symptome, wie z.B. Nachtblindheit oder
Verlust der Lichtempfindlichkeit bzw. Sehschärfe
achten sollten. Weil diese Symptome unterschiedliche
Ursachen haben können, ist eine genetische
Testung für die gesicherte Diagnose
einer erblichen Netzhauterkrankung unabdingbar.
Ein Gentest: Der Weg zur Diagnose
Mit einem Gentest kann mit hoher Wahrscheinlichkeit
festgestellt werden, ob es bei einem Patienten
genetische Veränderungen gibt. Ein
Gentest umfasst die Untersuchung der DNA mittels
Blut- oder Speichelprobe: So analysieren Humangenetiker
die Ergebnisse und suchen nach
Veränderungen (Mutationen). Liegt eine genetische
Veränderung vor, lassen sich Rückschlüsse
darauf ziehen, wie die Netzhauterkrankung in der
Familie vererbt wird und wie der Verlauf der Erkrankung
höchstwahrscheinlich verlaufen wird.
Mithilfe der Gentestung kann zudem herausgefunden
werden, ob der Patient gegebenenfalls für
eine Therapie infrage kommt oder an einer klinischen
Studie teilnehmen könnte. Sobald die Analyse
vorliegt, sollten Betroffene oder ihre Eltern
eine humangenetische Beratung zur Erläuterung
der Ergebnisse in Anspruch nehmen.
Wissenswertes rund um den Gentest
■ Bei Verdacht auf eine erbliche Netzhauterkrankung
wird in Abhängigkeit vom klinischen Erscheinungsbild
und dem aufgrund der Stammbaumanalyse anzunehmenden
Erbgang ein gewisses Panel (Gruppe)
infrage kommender Gene ausgewählt.
■ Gentestung bei Hinweis auf eine seltene Erkrankung
ist eine Kassenleistung und kann von jedem
Arzt bei jedem Patienten mit einem Überweisungsschein
nach Muster 10 veranlasst werden.
■ Während Privatpatienten eine Kostenübernahmebestätigung
benötigen, ist ein solcher Antrag bei gesetzlich
Versicherten nicht notwendig.
Weitere Informationen unter:
www.erbliche-netzhauterkrankungen.de
[1]
Hanany
M, Rivolta C,
Sharon D.
Worldwide carrier
frequency
and genetic
prevalence
of autosomal
recessive
inherited retinal
diseases.
PNAS 2020;
117(5) 2710-
2716.
4 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
„Was bleibt, ist die Hoffnung“
Die seltene erbliche Augenkrankheit Lebersche hereditäre Optikusneuropathie
(LHON) soll Studien zufolge erstmals ursächlich behandelt werden können.
Welche Hoffnungen damit geweckt werden und wie der Alltag mit LHON
ist, darüber spricht Ines.
B
ei der Krankheit LHON handelt es sich um eine
seltene Erbkrankheit, die immer von der Mutter
übertragen wird. Bei meinem Sohn Lars brach die
Krankheit aus und wir erfuhren durch die Diagnosestellung
zum erstem Mal davon, dass unsere Familie von
LHON betroffen ist. Ob vielleicht auch weitere Mitglieder
unserer Familie betroffen waren oder sind, wissen wir nicht.
Die Angst ist groß, dass auch noch sein Bruder und ich
erkranken.
Mein Sohn Lars (20) stand voll im Leben, absolvierte seine
Ausbildung, fuhr leidenschaftlich gern Auto und genoss
seine neue Freiheit als junger Erwachsener in vollen Zügen.
Im September 2020 kam er nach Hause und erzählte von
Sehproblemen. Auf dem einen Auge konnte er plötzlich
nicht mehr richtig sehen. Das Sichtfeld war zu diesem Zeitpunkt
bereits stark beeinträchtigt. Dieser Prozess geschah
vollkommen schmerzfrei. Wir dachten uns alle nichts
dabei, haben aber dennoch einen Termin beim Augenarzt
gemacht, der am 1. Oktober stattfand. Als Lars danach nach
Hause kam, war er ganz durcheinander, weil der Arzt ihm
nahegelegt hatte, sofort in die Uniklinik zu gehen. Das
haben wir dann auch getan. Ich bin immer noch davon ausgegangen,
dass Lars vielleicht eine Brille braucht, war voller
Optimismus. Als er dann auf der Neurologie aufgenommen
wurde, schwand dieser schon ein bisschen – Verdachtsdiagnosen
von MS bis hin zu Hirntumor standen im Raum.
Es wurden dann sehr viele Untersuchungen gemacht. Nach
einigen Tagen auf der Station verlor er sein Augenlicht fast
komplett und war quasi von heute auf morgen stark
auf Hilfe angewiesen, sein Sehvermögen hat sich stark
verschlechtert. Das war eine sehr schwierige Zeit für ihn.
Meinen Sohn so verzweifelt zu sehen, brach mir fast das
Herz. Am 12. Oktober wurde er fast blind entlassen. LHON
stand schon als Verdacht auf dem Arztbrief. Nach weiteren
ambulanten Untersuchungen wurde die Diagnose dann
auch gestellt, Lars bekam ein Medikament. Ich setzte mich
kurz darauf mit PRO RETINA und Experten aus dem Bereich
in Kontakt und baute mir ein Netzwerk aus Freunden
und Experten auf. So kam Lars auch zum LMU Klinikum
München (Friedrich-Baur-Institut an der Neurologischen
Klinik und Augenklinik), und als der humangenetische
Befund feststand, bekamen wir zeitnah einen Termin bei
der LMU. Dort, am 15.01.21, erfuhren wir auch das erste Mal
von der neuen Möglichkeit der Gentherapie. Lars entschied
Das Leben sehend
erleben dürfen.
sich sofort, an der Therapie teilzunehmen. Doch durch
Corona verzögert sich die Zulassung bis heute. Ich kämpfte
wie eine Löwin, um Lars diese Therapie zu ermöglichen. Ich
schrieb Krankenhäuser überall auf der Welt, in England, der
Schweiz, in den USA, Paris, und auch das Uniklinikum Bonn
an, um herauszufinden, ob die Therapie dort bereits zugelassen
ist. Leider ohne Erfolg. Lars hofft jeden Tag auf den
Anruf, dass es losgehen kann. Es ist seine größte Hoffnung
auf ein wieder sehendes uneingeschränktes Leben.
Ich kämpfe, wie auch oben bereits gesagt, wie eine
Löwin, um Hilfe für Lars zu erhalten. Erst jetzt weiß ich,
welche Stolpersteine Menschen mit Behinderung im Weg
liegen und dass man wenig langfristige Begleitung und
Hilfe erhält. Wir mussten uns tatsächlich jede Hilfe selbst
erbitten. Auf dem Weg sind uns viele helfende Menschen
begegnet, jedoch auch viel Ignoranz und Unverständnis.
Letztendlich ist Lars derjenige, der tagtäglich mit großen
Herausforderungen im Leben mit stark eingeschränktem
Sichtfeld zurechtkommen muss und dafür wirklich wie ein
Löwe kämpft, dass es auch bitte keiner sieht.
Mittlerweile sind so viele Monate vergangen, dass Lars
gelernt hat, mit seinem Handicap zu leben. Er macht
gerade sein Abitur auf der Carl-Strehl-Schule. Ob er danach
studiert oder wir einen Weg finden, dass er seine Ausbildung
fortsetzen kann, wissen wir noch nicht. Alles Step by
Step. Ich bin einfach unglaublich stolz auf meinen Sohn und
wünsche ihm so sehr, dass sein allergrößter Wunsch, die
Welt dank der Gentherapie wieder uneingeschränkt sehend
zu erleben, wahr wird.
5 Fakten zu LHON
#1
Die Lebersche hereditäre
Optikusneuropathie
ist eine erblich bedingte
Erkrankung, bei der es durch eine
mangelnde Energieversorgung in
der Netzhaut zu einer Schädigung
des Sehnervs kommt.
#2
In Deutschland sind ca.
3.000 Menschen davon
betroffen. Meistens sind dies junge
Männer im Alter von 15 bis 30
Jahren.
#3
Die ersten Symptome
bleiben oft unbemerkt:
ein plötzlicher einseitiger
Sehverlust, der schmerzlos
einhergeht. Das zweite Auge
folgt innerhalb einiger Wochen.
Betroffen ist hauptsächlich das
zentrale Sehen, das für das Lesen
und das Erkennen von Gesichtern
verantwortlich ist.
#4
Eine vollständige Heilung
der LHON ist
momentan nicht möglich. Für die
betroffenen Patienten bedeutet
der rapide Verlust ihrer Sehfähigkeit
eine hohe Beeinträchtigung
der Lebensqualität. Eine Behandlung
mit einem Medikament,
welches zu einer Verbesserung
der Sehschärfe führen kann, ist
möglich. Eine Gentherapie zu
LHON befindet sich momentan in
der Zulassung.
#5
Um die Erkrankung
besser zu verstehen,
hat die Selbsthilfeorganisation
PRO RETINA eine Verlaufsstudie
zu LHON ins Leben gerufen.
www.pro-retina.de
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GENOMISCHE MEDIZIN
BEI SELTENEN NETZHAUTERKRANKUNGEN
GenSight Biologics, ein Biopharma-Unternehmen aus Frankreich, hat sich auf die Forschungsarbeit an schweren neurodegenerativen Augenerkrankungen
und Erkrankungen des zentralen Nervensystems spezialisiert. Die innovativen Therapieansätze fokussieren sich dabei besonders auf
Patientinnen und Patienten mit Leberscher hereditärer Optikusneuropathie (LHON) und Retinitis Pigmentosa.
Am weitesten fortgeschritten ist eine Gentherapie, die aus der Forschung am Institut de la Vision in Paris hervorgeht und in einem klinischen
Studienprogramm bei mehr als 200 Patientinnen und Patienten mit Leberscher Hereditärer Optikusneuropathie (LHON) entwickelt wird. Der
gentherapiebasierte Ansatz ist so konzipiert, dass beide Augen mittels einer einzigen intravitrealen Injektion behandelt werden. Ziel ist es, den
Patientinnen und Patienten eine nachhaltige Wiederherstellung des Sehvermögens und eine weitgehende Verbesserung der Lebensqualität zu
ermöglichen. Damit wird ein großer medizinischer Bedarf in dieser sehr seltenen Erkrankung angegangen. Von der European Medicine Agency
wird derzeit der Antrag auf Marktzulassung überprüft. Diese wird für 2023 erwartet.
GenSight Biologics untersucht mit seinem zweiten Therapiekandidaten eine Behandlung zur Wiederherstellung des Sehvermögens bei Patienten,
die an Retinitis pigmentosa im Spätstadium leiden. Der optogenetische Ansatz ist unabhängig von den spezifischen genetischen Mutationen
und hat potenzielle Anwendungen bei anderen Erkrankungen der Netzhaut, wie der trockenen altersbedingten Makuladegeneration.
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5
CTX schon im Kindesalter erkennen!
Dr. med. Simone Stolz, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Carl-Thiem-Klinikum
Cottbus gGmbH, spricht im Interview über die cerebrotendinöse Xanthomatose, kurz CTX: eine
schwerwiegende Erkrankung, die sich meist schon im frühen Kindesalter bemerkbar macht.
Dr. med. Simone
Stolz
Chefärztin für
Kinder- und
Jugendmedizin
Carl-Thiem-Klinikum
Cottbus gGmbH
Text Benjamin Pank
Die cerebrotendinöse Xanthomatose,
kurz CTX, ist eine schwerwiegende Erkrankung,
die sich meist schon im frühen
Kindesalter bemerkbar macht. Wie
lange dauert es durchschnittlich bis zur
Diagnose und auf welche Symptome
sollte geachtet werden?
Leider dauert es immer noch viel zu
lange, bis die Diagnose gestellt wird.
Untersuchungen haben ergeben, dass
die Latenz zwischen Erstsymptom und
Diagnosesicherung bei durchschnittlich
20 Jahren liegt.
Also findet eine Diagnose häufig erst im
Erwachsenenalter statt. Woran liegt
das?
Das ist im Wesentlichen so, weil die
Symptome, die im Kindesalter auftreten,
relativ unspezifisch sind und bei
vielen Krankheitsbildern in dem Alter
auftreten. Das sind Dinge wie verlängerte
Gelbsucht in der Neugeborenenzeit,
chronischer Durchfall oder auch
eine spätere Entwicklungsabweichung.
Können Sie uns an einem konkreten
Fall erklären, was die Schwierigkeit bei
der Diagnose und Therapie ist?
Bei einem unserer CTX-Patienten, der
jetzt bereits 14 Jahre alt ist, bestanden
seit dem 8. Lebensmonat schwere
Durchfälle. Die Eltern haben mir berichtet,
wie schlimm das alles war. Es
sind Dutzende Untersuchungen erfolgt
wie Ultraschall, Stuhluntersuchungen,
Proben wurden aus dem Darm entnommen,
viele Diäten wurden versucht,
doch die Durchfälle blieben. Die Eltern
haben eine große Odyssee hinter sich
und sind von einem Arzt zum anderen
gereist – ohne Erfolg. Im Alter von fünf
Jahren kam bei dem Patienten eine Linsentrübung
(Katarakt) hinzu, was die
Ärzte auch nicht auf die richtige Spur
führte. Dann kam die Familie zu uns
und im Alter von neun Jahren konnten
wir die Diagnose stellen.
Wie wird die Diagnose dann genau gestellt?
Die Kombination von Durchfall, Katarakt
und Entwicklungsabweichung ist
sehr typisch für die CTX-Erkrankung im
Kindesalter. Hat ein kleiner Patient
diese Symptome, sollte jeder Arzt hellhörig
werden und an einen bestimmten
Laborwert denken: Cholestanol im Blut.
Im Rahmen der Kindergastroenterologie
versuchen wir, das so weit wie
möglich zu streuen, sodass die Diagnosesicherung
nicht 20 Jahre dauern
muss. Denn je früher eine Diagnose gestellt
werden kann, desto positiver ist
der Therapieverlauf im späteren Leben.
Bitte gehen Sie genau darauf ein.
Therapieeffekte können anhand von Familienuntersuchungen
herausgefunden
werden. CTX ist ja eine Erbkrankheit.
Gehen wir mal von unserem 14-jährigen
Jungen aus. Würde er ein Geschwisterkind
bekommen, könnte man bereits im
Säuglingsalter die Diagnose stellen.
Hier gibt es auch eine Reihe von Untersuchungen,
die belegen, dass durch
sehr frühe medikamentöse Therapiemaßnahmen
Symptome wie Katarakt,
Durchfälle, Entwicklungsverzögerungen
verhindert werden können.
Bringt eine Therapie im Erwachsenenalter
nichts mehr?
Eine Symptomverbesserung erreicht
man, egal in welchem Alter die Diagnose
erfolgt. Doch erfolgt die Diagnose
sehr früh, kann ein normales Leben gewährleistet
werden, was bei einer späten
Diagnose in dem Umfang nicht
mehr möglich ist. Aus diesem Grund
bin ich auch ein großer Verfechter
davon, dass man CTX ins Neugeborenenscreening
mit aufnimmt.
SPONSORED INFOGRAPHIC LEADIANT GMBH
Die Symptome der cerebrotendinösen Xanthomatose (CTX)
INFORMATION
Die CTX zeigt sich durch sehr
unspezifische Symptome.
Typische Symptome: chronischer
Durchfall, grauer Star; zudem können
Schwierigkeiten in der Schule
aufgrund verminderter Intelligenz oder
Aufmerksamkeitsstörungen auftreten.
ACHTUNG!
Oftmals wird eine CTX zunächst mit
einer multiplen Sklerose oder einer peripheren
Neuropathie verwechselt. Wenn
die Therapie keine Wirkung zeigt und
zusätzlich weitere der hier aufgeführten
Symptome auftreten, sollten unbedingt
ein Bluttest und eine genetische
Untersuchung stattfinden. So kann
die Mutation des krankheitsauslösenden
Gens nachgewiesen und die
Diagnose gestellt werden.
Allgemeine Symptome
Im Säuglingsund
Kindesalter:
• Verlängerte
Neugeborenengelbsucht
• Chronischer Durchfall
• Gallensteine
• Beidseitiger grauer Star
• Aktivitäts- und
Aufmerksamkeitsstörung
• Entwicklungsverzögerung
• Epilepsie
Im Erwachsenenalter:
• Frühzeitige Arterienverkalkung
• Xanthome (geschwulstartige
Verdickungen im Bereich der
Hände, Ellenbogen, Achillessehnen,
Knie oder des Halses)
• Osteoporose
• Kardiovaskuläre Probleme
• Neurologische und
psychiatrische Auffälligkeiten
• Bewegungsstörungen
Weitere Informationen unter elaev.de/cerebrotendinoese-xanthomatose
und auf www.se-atlas.de (Suchbegriff "Xanthomatose, zerebrotendinöse")
6 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
„Ein Wendepunkt kommt
immer als Schicksalsschlag“
Die Beta-Thalassämie ist eine seltene, genetisch bedingte Erkrankung, bei der
im Körper Betroffener zu geringe Mengen des roten Blutfarbstoffes Hämoglobin
produziert werden. Die Folge ist eine chronische Blutarmut, die dazu führt,
dass der Körper nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden kann. Bleibt
die Erkrankung unbehandelt, kann das lebensbedrohliche Folgen haben. Wir
sprachen mit Nicola De Nittis, der selbst mit Beta-Thalassämie major lebt und
Vorstandsvorsitzender der Patientenvereinigung DEGETHA e.V. ist.
Text Miriam Barbara Rauh
Nicola
De Nittis
Beta-Thalassämiemajor-Patient
Herr De Nittis, seit Ihrer Geburt leben Sie mit
Beta-Thalassämie major, Sie kennen also kein
Leben ohne die Erkrankung. Wie hat sich die
Erkrankung konkret bei Ihnen ausgewirkt?
Ich habe schon sehr früh Auswirkungen gespürt, in
allen Bereichen. Schon in der Grundschule. Wegen
der Beta-Thalassämie muss ich regelmäßig in eine
Klinik. Die anderen Kinder haben das mitbekommen,
dann hieß es „der ist ansteckend“, oder
„Vorsicht, der hat Aids“. Betroffene werden schnell
ausgegrenzt. Inklusion ist meist nur vorgeblich da,
sie wird nicht gelebt. Das ist fast noch schlimmer
als die Tatsache, dass man mit Nichtbetroffenen
nicht über seine Ängste reden kann. Es gibt noch
immer viele Tabus, und Einsamkeit ist ein großes
Problem.
Die Ausgrenzung ist ein Schock. Hinzu kommt
der Schock, wenn man gesagt bekommt, dass man
mit dem Gendefekt nicht alt wird. Ich bekam die
Prognose, dass ich vielleicht 18, 19 oder 20 werde.
Das muss man erst mal verarbeiten. Und man
muss raus aus der Isolation. Auf andere zu treffen,
auch in Netzwerken wie der DEGETHA, ist ein
wichtiger Schritt.
Sie sagen, Sie haben lange ein Doppelleben
geführt: Können Sie uns dazu mehr erzählen?
Das Doppelleben fing im Berufsleben an. Ich hatte
einen Fokus, ich wollte ein normales Leben und
einen Job. Sie müssen sich vorstellen, meine Eltern
bekamen gesagt, dass ich nicht alt werden würde.
Deswegen kam ich auf die Hauptschule und sollte
dann Frührente beantragen. Das wollte ich aber
nicht. Ich habe Karriere in der IT gemacht, bei
großen amerikanischen Firmen. So wie man sich
das wünscht, mit Reisen in die ganze Welt. Ich bin
Big-Data-Experte, Headhunter haben mich gejagt.
Aber wenn man in diesem Job von seinem Gendefekt
erzählt, ist es aus. Es heißt schnell „Der ist
nicht billable“, „Der kann nicht on-site sein“… Also
habe ich lieber nichts von meiner Erkrankung gesagt.
Diese Belastung hat zu einer tiefen Depression
und drei Hörstürzen geführt. Dennoch war
das Doppelleben eine Zeit lang richtig. Bis zum
Knall.
Eine schwerwiegende Erkrankung wie die
Ihre wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus.
Wie haben Sie Alltag und Erkrankung mit der
regelmäßig notwendigen Therapie unter einen
Hut gebracht?
Das war ein unglaublicher Stress. Ich muss alle
zwei Wochen zur Transfusion in eine Klinik,
musste aber auch arbeiten und auf Dienstreise
gehen. Einmal war ich mehrere Wochen beruflich
in den USA. Eine Transfusion hätte ich dort privat
bezahlen müssen, das ist sehr teuer. Also habe ich
mir zwei Tage freigenommen, bin an einem Tag
nach Deutschland geflogen – mit schlechten Blutwerten,
weil ich bis zum letzten Moment gewartet
hatte, entsprechend ging es mir – und am nächsten
Tag bin ich zurück in die USA.
Die regelmäßigen Krankenhaus- und Arzttermine
sind insgesamt ein Problem, wenn man ein
normales Leben führen möchte. Termine sind in
der Regel wochentags von 9 bis 15 Uhr. Ich habe
zusammen mit meiner Krankenkasse bundesweit
nach Praxen gesucht, die zu Randzeiten behandeln
– ohne Erfolg. Schließlich klappte es doch,
über Kontakte. Eine Ärztin hat mich samstags
behandelt. Bevor ich sie gefunden hatte, musste
ich immer Urlaubstage nehmen.
Was war Ihr persönlicher Wendepunkt, der Sie
dazu bewogen hat, offen mit Ihrer Erkrankung
umzugehen?
Ein Wendepunkt kommt nie in positiver Form,
sondern als Schicksalsschlag. Sonst ändert man
nichts. Meiner war der Hörsturz. Davor hatte ich
zwei Jahre eine schwere Depression gehabt, bin
aber danach wieder in das Doppelleben zurück.
Dann kam der Hörsturz und das hat mich aufgerüttelt.
Die Ärzte machten mir klar, so geht es
nicht weiter. Danach hatte ich mein „Outing“, habe
ein Buch geschrieben. Das war befreiend.
Damit es einem gut geht, braucht es Mut. Mut
heißt auf Italienisch „coraggio“, das kommt aus
dem Lateinischen, von „cor habeo“, ein Herz
haben. Mut hat mit dem Herzen zu tun – in
Kombination mit dem Verstand unbesiegbar.
Den Mut haben, sein Leben zu leben – das ist das
Wichtigste.
DEGETHA
FRIENDS
&
DEGETHA &
FRIENDS ist
eine Patientenorganisation
für
Thalassämie und
alle seltenen
Erkrankungen. Dabei liegt ein
besonderes Ziel darin, die psychische
Gesundheit Betroffener
zu stärken. Patientenkompetenz
steigern – Informationen bereitstellen
– Netzwerk fördern:
Der Verein unterstützt dabei
Betroffene, Familienmitglieder,
Mediziner, Kliniken, Vereine,
Organisationen und Forschungseinrichtungen.
www.degetha.org
Stella Pelteki
Thalassämikerin,
Brave Coach und
Dozentin
Dr. Mohamed El
Missiry
40-jähriger Thalassämie-Patient
Im Verein bin ich tätig
in der Patientenvertretung
und Mitglied des
Vorstands. Ich setze
mich nicht nur für die
Interessen der Patienten
ein, sondern unterstütze
sie und ihre Angehörigen
dabei, mental
gesund zu bleiben und
ihre persönlichen Ressourcen
zu mobilisieren.
Die Vereinsarbeit ist eine
Herzensangelegenheit
für mich. Sie erfüllt mich
und schenkt mir Hoffnung
für eine bessere
Zukunft. Meine Mission
ist es, die Lebensqualität
der Menschen mit
seltenen Erkrankungen
zu fördern.
Meine Aufgaben beim
DEGETHA e. V. als medizinische
Fachperson
sind die medizinische
Vertretung, Patientenberatung,
medizinische
Fragen zu beantworten
und die medizinischen
Inhalte unserer Website
zu überprüfen. Zudem
arbeiten wir daran, das
erste spezialisierte
Zentrum für Seltene
Erkrankungen (RADICE
| RAreDIseaseCEnter)
Deutschlands zu
gründen.
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– Der Patient im Fokus
FOTO: SHUTTERSTOCK
Wer wirksame Behandlungsoptionen für Menschen mit seltenen
Erkrankungen entwickeln will, muss die Bedürfnisse der
Betroffenen kennen und stets mit ihnen im Dialog bleiben.
Daher ist der Fokus auf den Patienten ein essenzieller Teil der
Unternehmensphilosophie des forschenden Pharma-Unternehmens
Chiesi, das sich unter anderem auf die Erforschung
seltener Erkrankungen spezialisiert hat. Um das zu bewerkstelligen,
hält Chiesi engen Kontakt zu den behandelnden Ärzten
und Fachzentren sowie zu Patientenorganisationen.
Dr. med. Raimund Hövelmann, Direktor der Business Unit Rare
Diseases bei Chiesi, bringt es folgendermaßen auf den Punkt:
„Patientenzentrierung bedeutet bei uns nicht zu schauen,
was wir haben und wie wir es verkaufen können, sondern im
Gegenteil zuerst zu schauen, was den Patienten fehlt und was
sie benötigen. Danach richten wir unser Handeln aus.“
Allein auf dieser Basis können in Zusammenarbeit mit Betroffenen,
den behandelnden Ärzten und spezialisierten Zentren
die Aufmerksamkeit für seltene Krankheitsbilder erhöht und
Forschungsaktivitäten vorangetrieben werden, um das Leben
von Menschen mit seltenen Erkrankungen nachhaltig zu verbessern.
Derzeit liegt der Schwerpunkt auf lysosomalen Speicherkrankheiten,
seltenen Augenerkrankungen und seltenen hämatologischen
Erkrankungen (z.B. Thalassämien). Das erklärte Ziel ist
es dabei immer, die ungedeckten Bedürfnisse von Menschen
mit seltenen Erkrankungen besser zu verstehen und zu erfüllen
– im engen Austausch mit den Betroffenen selbst.
Weitere Informationen unter: www.chiesi.de
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
7
Farbe bekennen zum
Rare Disease Day 2022
Text Bianca Paslak-Leptien
ACHSE e. V. ruft auf:
Farbe bekennen und so
ein Zeichen für Menschen
mit Seltenen Erkrankungen
setzen – denn „Selten
sind Viele"; vielfältige
Aktionen rund um den
internationalen Aktionstag
Ende Februar laden
zum Mitmachen ein.
Am 28. Februar 2022 ist der 15. Rare Disease
Day, der internationale Tag der Seltenen
Erkrankungen. Sie sind selbst betroffen oder
möchten den Aktionstag unterstützen? Die
Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen
(ACHSE) e.V., Dachverband und Stimme der
4 Millionen betroffenen Menschen und deren
Angehörigen in Deutschland, ruft wie jedes
Jahr dazu auf: Machen Sie mit! Denn „Selten
sind Viele", und das wollen wir zeigen. Das
Motto 2022 lautet: Bekennen Sie Farbe. Ob
beleuchtete Gebäude in Pink, Blau, Grün, Lila,
die Ausstellung „Selten allein" in Bahnhöfen
bundesweit und online, Fachveranstaltungen
oder Social-Media-Kampagnen – die Beteiligungsmöglichkeiten
sind vielfältig. Unterstützt
wird der Aktionstag jedes Jahr von Eva
Luise Köhler, Schirmherrin der ACHSE, und
weiteren Persönlichkeiten aus Politik, Medizin
und Gesellschaft.
Beleuchtungsaktion
„Global Chain of Lights"
Über zwanzig Standorte in Deutschland haben
sich bisher angemeldet. Darunter die Bay-
Arena in Leverkusen, die Bahnhöfe in Stuttgart,
Mannheim, Dresden, die Neckarfront
Tübingen, das Marburger Schloss, das Rathaus
Dessau, die Marienkirche Neubrandenburg
uvm. Eine Liste der Gebäude bundesweit sowie
Fotos vom vergangenen Jahr finden Sie auf der
Website der ACHSE e. V.
Sie alle sind Teil der weltweiten Lichterkette,
bei der Sehenswürdigkeiten, Monumente, sonstige
Bauten in Blau, Grün, Pink und/oder lila,
den Farben des offiziellen Rare-Disease-
Day-Logos, von innen oder außen strahlen und
so ein sichtbares Zeichen in Zeiten von Corona
setzen werden. Viele Bauten werden schon
vor dem 28.02. leuchten und einige sogar bis
zu einem Monat angestrahlt bleiben. Außerdem
werden am 28.02.2022 auf der Weltkarte,
in der alle angemeldeten Orte markiert sind,
die Lämpchen der interaktiven Lichterkette
nach und nach angeknipst:
www.rarediseaseday.org
Hintergrund Rare Disease Day
Weltweit leben rund 300 Millionen Menschen
mit chronischen seltenen Erkrankungen.
Jedes Jahr am und um den letzten
Tag im Februar machen sie gemeinsam auf
ihre Anliegen aufmerksam. Sie wünschen
sich mehr Forschung, mehr Therapien und
Behandlungsmöglichkeiten sowie die Chance
auf ein besseres, längeres Leben. Zudem geht
es ihnen um gesellschaftliche Anerkennung
und Teilhabe. Denn viele der etwa 8.000 als
„selten" eingestuften Erkrankungen gehen
mit zum Teil schwerwiegenden körperlichen
und geistigen Einschränkungen einher. Als
deutsche Allianz im internationalen Verbund
koordiniert die ACHSE den Tag der Seltenen
Erkrankungen seit 2008 in Deutschland.
Weitere
Informationen:
www.achseonline.de
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Wissen verbinden,
Perspektiven schaffen
PATIENT – Selbstbestimmung versus
Fremdbestimmung bei der Versorgung
von Patienten mit seltenen Krankheiten
• Was wünschen sich Patientinnen und Patienten mit einer
seltenen Krankheit?
• Was brauchen sie, und wie stellen wir sicher, dass die
Lösungen, die wir entwickeln, auch tatsächlich einen Nutzen
für sie stiften?
Seien Sie live dabei, wenn wir am 30. März 2022 die Perspektiven
der Experten verbinden und das Thema „PATIENT –
Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung“ diskutieren.
RECHT
Prof. Dr. Dr. Christian Dierks
Rechtsanwalt, Managing Partner
Dierks+Company, Berlin
COMMUNITY +
DIGITALISIERUNG
Dr. Tobias Gantner
Gründer und Managing Partner
HealthCare Futurists
MEDIZINISCHE
WISSENSCHAFT
Prof. Dr. Andreas Meisel
Facharzt für Neurologie,
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Leiter Myasthenie-Ambulanz
PATIENTEN-
VERTRETUNG
Claas Röhl
PATIENTEN-
ORGANISATION
Mirjam Mann
Geschäftsführerin ACHSE e.V. –
Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen,
Berlin
EINLADUNG
ZUM VIRTUELLEN
ROUND TABLE
JAHRE
30.
März
16:30 - 18:00 Uhr
JETZT ANMELDEN
AN DER SEITE
DER PATIENTEN
change4rare.com/event
Eine Initiative der Alexion Pharma Germany GmbH
PATIENTEN-
PARTIZIPATION
PD Dr. Jens Ulrich Rüffer
Member of the IMI
Scientific Committee,
President NF Kinder
Geschäftsführer SHARE TO CARE,
TAKEPART Media + Science,
1. Vorsitzender der Deutschen
Fatigue Gesellschaft e.V.
POLITIK
Martina Stamm-Fibich
Mitglied des Bundestages,
Patientenbeauftragte der SPD,
Mitglied des Ausschusses für Gesundheit
des Deutschen Bundestages
8 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
Nicht so schnell zu fassen –
Die Multisystemerkrankung ATTR-Amyloidose
Text Doreen Brumme
Dr. Sarah Bernsen
Fachärztin für
Neurologie und
Intensivmedizin am
Universitätsklinikum
Bonn
Manuel F. da Silva
Amyloidose-Patient
und Mitbegründer
des Patientenverbandes
FAP e.V.
Die ATTR-Amyloidose hat
viele Gesichter. Bei der
seltenen Erbkrankheit
lagern sich Eiweiße als
Amyloid überall im Körper
ab. Je nach genetischer
Ausprägung werden dabei
unterschiedliche Organe nachhaltig geschädigt:
oft das Herz, das periphere Nervensystem,
also die Nerven außerhalb von Gehirn
und Rückenmark, und der Verdauungstrakt,
seltener die Augen. Unbehandelt ist die
ATTR-Amyloidose lebensbedrohlich. Im
Interview berichten Dr. Sarah Bernsen vom
Universitätsklinikum Bonn und ihr Patient
Manuel F. da Silva, Mitgründer des Amyloidose-Patientenverbandes,
von schwierigen
Diagnosen und hoffnungsstiftenden Behandlungen.
Herr da Silva, wie machte sich Ihre
ATTR-Amyloidose bemerkbar und wie
kam es zur Diagnose?
Ich war Anfang 30, als im Jahr 2004 erste
Taubheitsgefühle aufkamen. Zum Glück bin
ich an einen Arzt geraten, der die Erkrankung
kannte, da er ein Praktikum in Portugal
absolviert hatte. Ich habe portugiesische
Wurzeln, was insofern von Bedeutung ist, als
die ATTR-Amyloidose dort endemisch ist.
Das heißt, es gibt in Nordportugal deutlich
mehr Betroffene als hierzulande, wo die
Krankheit mit nur 300 bis 400 Fällen (bei
sicher hoher Dunkelziffer) sehr selten ist.
Dank meiner Aktivität im Patientenverband
weiß ich, dass die meisten Patient*innen drei
bis vier Jahre unterwegs sind, bis sie ihre
Diagnose bekommen. Was tragisch ist, da die
Organschäden irreparabel sind und einige
versterben, noch bevor sie eine Diagnose
bekommen.
Dr. Bernsen, was passiert genau im Körper
der Betroffenen und wie verläuft die
Erkrankung?
Die ATTR-Amyloidose entsteht infolge
vererbter Genveränderungen (Mutationen)
im TTR-Gen. Mehr als 130 Mutationen sind
bis heute bekannt. Bei allen kommt es zu
einer Destabilisierung des Transporteiweißes
Transthyretin, das zu 90 Prozent in der
Leber und zu zehn Prozent im Nervensystem
produziert wird. Es zerfällt und lagert sich an
verschiedenen Organen im Körper als Amyloid
ab. Deshalb wird die ATTR-Amyloidose
auch als Multisystemerkrankung bezeichnet.
Je nachdem welche Mutation vorliegt,
schädigen die Ablagerungen einzelne Organe
besonders stark. Am häufigsten sind das
periphere Nervensystem und das Herz betroffen.
Unbehandelt liegt die mittlere Überlebenszeit
der Betroffenen, die zum Zeitpunkt, an dem
die ersten Symptome auftreten, typischerweise
30 Jahre und älter sind, zwischen zwei
bis zehn Jahren. Wobei schon nach der Hälfte
der Zeit mit einem Verlust der Gehfähigkeit
und im weiteren Verlauf mit einer Rundum-
Pflegebedürftigkeit zu rechnen ist.
Herr da Silva, wie wurden Sie therapiert?
Zu der Zeit, in die meine Diagnose fiel, war
eine Lebertransplantation noch die Therapie
der ersten Wahl. Man entfernte die Leber,
die einen Defekt hatte. Ich entschied mich
aus Angst vor einem Leben im Rollstuhl und
einem frühen Tod dafür und ließ mir 2005 in
Münster eine gesunde Leber transplantieren.
Meine kranke habe ich einem Krebspatienten
gespendet, der damit noch sieben Lebensjahre
geschenkt bekam. Das nennt man
Domino-Transplantation, eine in Portugal
übliche Vorgehensweise, in Münster war ich
damit der erste Fall.
Dr. Bernsen, was macht die Diagnose so
schwierig?
Der unspezifische Symptombeginn und
die Seltenheit der Erkrankung erschweren
die Diagnose. Denn Herzprobleme, von
Rhythmusstörungen bis hin zur Insuffizienz,
Nervenprobleme wie Missempfinden,
Taubheitsgefühle und Lähmungen, Erektionsstörungen,
Magen-Darm-Probleme wie
Durchfall, Appetitlosigkeit und infolgedessen
Gewichtsverlust könnten für sich genommen
auch Zeichen einer anderen Erkrankung
sein. Erst die Kombination mehrerer dieser
Symptome bringt uns Ärzte auf die Spur
der ATTR-Amyloidose. Vorausgesetzt, wir
schauen über den Tellerrand hinaus und
sehen als Kardiologe nicht nur aufs Herz,
als Neurologe nicht nur auf die Nerven, als
Internist oder Gastroenterologe nicht nur
auf den Magen-Darm-Trakt. Die Diagnose
der ATTR-Amyloidose ist fachübergreifend –
ebenso wie ihre Therapie.
Herr da Silva, wie ging Ihr Leben nach der
Lebertransplantation weiter?
Mir ging es lange gut. Nach etwa sieben
Jahren jedoch zeigten sich wieder Symptome
der Erkrankung. Zum Beispiel litt ich an
einem unkontrollierbaren Durchfall, bekam
Probleme mit dem Wasserlassen. Heute
wache ich jeden Morgen mit Taubheitsgefühlen
im Gesicht auf.
Dr. Bernsen, ist das typisch, dass die
Krankheit trotz neuer Leber wiederkommt?
Ja, das kommt bei einem Teil der organtransplantierten
Patienten vor. Es spielen
offensichtlich weitere Faktoren eine Rolle.
Und auch die oben erwähnten Prozentanteile
Transthyretin, die nicht in der
Leber produziert werden, können zu einem
Fortschreiten der Erkrankung im zentralen
Nervensystem führen.
Herr da Silva, welche Therapie
bekommen Sie jetzt?
Ich erhalte derzeit Infusionen, die den
Krankheitsverlauf bremsen sollen.
Dr. Bernsen, wie bewerten Sie die
verfügbaren Therapien?
Die Lebertransplantation ist nicht mehr
Therapie der ersten Wahl. Seit 2011 gibt
es ein Medikament, das – oral verabreicht
– das Transthyretin stabilisiert. In den
letzten Jahren kamen – und das ist durchaus
ungewöhnlich für eine derart seltene
Erkrankung – zwei weitere Medikamente
hinzu, die teils als Infusion verabreicht,
die Produktion des Eiweißes in der Leber
mindern. Gentherapien, die nicht nur die
Erkrankung verlangsamen, sondern die
Krankheitsursache angehen, sind noch Zukunftsmusik.
Ich wünsche mir aufgeweckte Kolleg*innen,
die über ihren Fachbereich hinausschauen
und interdisziplinär denken. Hat jemand eine
unklare Kardiomyopathie und leidet zugleich an
einem Karpaltunnelsyndrom, dann sollten die
Alarmglocken klingeln. Ich erhoffe mir, dass die
ATTR-Amyloidose bekannter wird, da eine frühe
Diagnosestellung wichtig für eine erfolgreiche
Therapie ist.
Dr. Sarah Bernsen
Was wünschen Sie sich für die Versorgung
Betroffener?
Ganz klar: schnellere Diagnosen. Das
braucht auf beiden Seiten, der der
Betroffenen und der der Medizin, mehr
Achtsamkeit für die typischen Symptomkombis.
Außerdem wünsche ich mir, dass
die Therapien überall verfügbar sind. In
Portugal beispielsweise ist meine Art der
Infusiontherapie aus finanziellen Gründen
nicht erhältlich. Es kann nicht sein, dass
eine Therapiemöglichkeit abhängig von dem
Land ist, in dem man lebt. Hier gibt es noch
Handlungsbedarf.
Über den Patientenverband für ATTR-Amyloidose
Der Patientenverband für ATTR-Amyloidose, den Manuel F. da Silva mitgegründet hat, ist unter dieser
Internetadresse zu erreichen: http://patientenverband-fap.de. Dort finden insbesondere Betroffene
und Angehörige Informationen, Anlaufstellen zu Beratung, Behandlung und ganz wichtig: eine Plattform
zum Austausch.
Gen-Stilllegung mit RNA
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Die Ursache der meisten „Seltenen Erkrankungen“ liegt im Erbgut. Mit konventionellen Behandlungsmethoden
lassen sich häufig nur die Symptome lindern. Einen innovativen Ansatz
bietet eine neue Klasse von Arzneimitteln auf RNA-Basis. Das Prinzip der RNA-Interferenz
ermöglicht es, die Aktivität einzelner Gene gezielt zu regulieren. Genetisch bedingte Erkrankungen
können so ursächlich therapiert werden – ohne dabei das Erbgut zu verändern.
IMAGE: ALNYLAM PHARMACEUTICALS
Ein kurzer RNA-Strang (orange) führt einen speziellen Protein-Komplex (weiß) präzise zu jener mRNA (grün), die abgebaut werden soll. Sobald der Protein-
Komplex an die mRNA bindet, zerschneidet er diese. Das Protein, für das die mRNA den Bauplan trägt, wird dadurch nicht mehr bzw. in geringerem Maße
hergestellt.
Im vergangenen Jahr hat eine neue Klasse von Impfstoffen auf
Basis von Boten-Ribonukleinsäuren (messenger-RNA, mRNA)
ihren Durchbruch erlebt und die weltweite Aufmerksamkeit auf das
noch junge Gebiet der RNA-Medizin gelenkt. Durch das Einbringen
von mRNA erhalten die Zellen den Bauplan für ein bestimmtes
Virus-Protein, das sie dann selbstständig herstellen. Gegen diese
Proteine erzeugt das Immunsystem anschließend eine Immunantwort.
mRNA gibt es in nahezu allen Zellen in Hülle und Fülle. Ihre
biologische Funktion ist es, die in den Genen gespeicherten Protein-„Baupläne“
an die Protein-„Fabriken“, die Ribosomen, zu übermitteln.
Diese Transportfunktion macht die mRNA zu einem Ziel für
neue therapeutische Ansätze – weit über Impfstoffe hinaus.
Die Ursachen für die meisten der sogenannten „Seltenen Erkrankungen“
gehen zurück auf Mutationen im Erbgut. Dadurch können
etwa die Baupläne für wichtige Proteine fehlerhaft sein. Diese „defekten“
Proteine können zu schweren Komplikationen im Stoffwechsel
führen, zum Beispiel wenn sie toxisch wirken, wie bei der akuten
hepatischen Porphyrie, wo es zu Krampfanfällen bis hin zu Atemlähmungen
kommen kann. Andere Genmutationen verändern die
Struktur von Proteinen, wodurch die Proteine „verklumpen“ und
Ablagerungen (Amyloid) bilden, die wiederum die Funktionsfähigkeit
der Organe beeinträchtigen können, zum Beispiel bei der AT-
TRv-Amyloidose.
RNAi-Medizin: Eine neue Klasse von Arzneimitteln
Vor gut 20 Jahren entdeckten Forschende einen natürlichen biologischen
Mechanismus, mit dem Zellen die Aktivität einzelner Gene
steuern können. Dieser Mechanismus wird als RNA-Interferenz
(RNAi) bezeichnet und existiert seit Jahrmillionen in nahezu allen
Zellen von Pflanzen, Tieren und Menschen. Für ihre Entdeckung
erhielten die US-Wissenschaftler Andrew Z. Fire und Craig C. Mello
im Jahr 2006 den Medizin-Nobelpreis. Mit ihrer Forschung legten
sie den Grundstein für eine völlig neue Klasse von Arzneimitteln,
den RNAi-Therapeutika.
Die Grundidee ist simpel. Die Aktivität eines für eine Erkrankung
ursächlichen Gens lässt sich herunterregulieren, das Gen gewissermaßen
„stilllegen“. Im Ergebnis wird das entsprechende Protein
nicht mehr oder in einer deutlich geringeren Menge hergestellt.
Dies funktioniert, indem der Informationsträger des Protein-Bauplans
– die mRNA – auf dem Weg vom Zellkern zu den Ribosomen
„abgefangen“ und abgebaut wird, bevor das entsprechende Protein
gebildet wird. Mittels des zelleigenen Mechanismus der RNA-
Interferenz lässt sich präzise genau jene mRNA erkennen und
deaktivieren, die den fehlerhaften Bauplan überträgt. Um diesen
Prozess zu aktivieren, wird eine kurze RNA-Sequenz in die Zellen
eingebracht. Diese sogenannte siRNA (small interfering RNA) ist
spiegelbildlich zur Ziel-mRNA und lenkt einen speziellen Proteinkomplex
präzise zu jener mRNA, die abgebaut werden soll. Sobald
die Ziel-mRNA gefunden ist, wird sie zerschnitten und abgebaut
bevor sie das Ribosom erreicht und ein Protein hergestellt wird. Im
Ergebnis wird die Produktion der krankheitsverursachenden Proteine
erheblich reduziert. Ein Vorteil der RNA-Interferenz: Im Gegensatz
zu einer Gentherapie wird nicht in das Erbgut eingegriffen.
Setzt man die Behandlung aus, erreicht die mRNA wieder die Ribosomen
und das betreffende Protein wird wieder hergestellt.
Das Potenzial der RNAi zum Wohle von Patienten nutzbar machen
– mit dieser Vision wurde 2002 das biopharmazeutische Unternehmen
Alnylam Pharmaceuticals gegründet. Seither hat Alnylam
mehr als sechs Milliarden US-Dollar in die Entwicklung von RNAi-
Therapeutika investiert. Seit 2018 wurden bereits drei RNAi-Therapeutika
zur Behandlung seltener, genetisch bedingter Erkrankungen
in Europa zugelassen. Zahlreiche weitere sind in der Entwicklung
und Erprobung. Perspektivisch lassen sich mit RNAi-Therapeutika
nicht nur genetische Erkrankungen behandeln, sondern potenziell
auch Herz- und Stoffwechselkrankheiten, Infektionskrankheiten
und Erkrankungen des zentralen Nervensystems, zum Beispiel
auch die Alzheimer-Demenz. Erste klinische Studien hierzu sollen
noch in diesem Jahr starten. Dies ist ein gutes Beispiel, wie von der
Forschung an Therapien für seltene Erkrankungen mittelfristig auch
viele weitere Patienten profitieren können.
Erfahren Sie mehr über
RNAi-Therapeutika und die
Forschung von Alnylam
unter alnylam.de.
FREIGABENUMMER: RNAI-DEU-00001
10 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
Rheumatische Erkrankungen
– dabei denken viele
zunächst an entzündete
und geschwollene Gelenke,
an eine Volkskrankheit, die
eine Vielzahl an Menschen
betrifft. Dabei gibt es auch
eine beträchtliche Anzahl
an seltenen rheumatischen
Erkrankungen, zu denen
auch die sogenannten Vaskulitiden
gehören, die durch eine
Entzündung der Blutgefäße
charakterisiert sind. Zu diesen
gehört auch die eosinophile
Granulomatose mit Polyangiitis
(kurz EGPA), an der
Dimitra bereits seit ihrer Kindheit
leidet. Dass sie vor acht
Jahren fast gestorben wäre,
sieht heute niemand mehr. Im
Interview spricht sie über ihre
Erkrankung und den Kampf
zurück ins Leben.
Text Franziska Manske
„Ich war dem Tod
näher als dem
Leben“
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
11
Dimitra, du bist 21 Jahre alt und lebst
nun seit elf Jahren mit der seltenen
Erkrankung EGPA. Wie hat sich die Erkrankung
bei dir bemerkbar gemacht?
Als ich neun Jahre alt war, habe ich aus
dem Nichts heraus plötzlich schweres
Asthma bekommen und niemand konnte
sich erklären, woher das kam. Anfangs
wurde eine Allergie vermutet, aber auch
mit verschiedenen Therapien wurde es
nicht besser.
Wie ging es dann weiter?
Nach dem Asthma bekam ich 2011 meine
erste Perikarditis, also eine Entzündung
des Herzbeutels. Da ging dann gar nichts
mehr. Ich konnte weder laufen noch
richtig atmen und hatte am ganzen Körper
starke Schmerzen. Das wurde mit Kortison
behandelt. Dadurch wurde das besser,
dann kam jedoch 2012 eine Darmentzündung
hinzu und Anfang 2013 eine Lungenentzündung
und erneut eine Perikarditis
– da war ich dann gesundheitlich komplett
am Ende.
EGPA wirkt sich auf verschiedene
Organe aus. Wie sah bzw. sieht das bei
dir genau aus, welche Organsysteme
waren/sind bei dir speziell betroffen?
Betroffen waren Lunge, Herz, Darm und
die Nerven.
Du warst jahrelang kerngesund.
Plötzlich kommt ein gesundheitlicher
Tiefschlag nach dem anderen. Wie bist
du damit umgegangen?
Mir ging es krankheitsbedingt so schlecht,
dass ich nicht mehr viel davon weiß. Ich
habe diese Zeit wie im Delirium erlebt.
Meine Mutter musste damals sogar das
Als ich 2013 ins künstliche Koma versetzt wurde, hatten
mich die Ärzte abgeschrieben.
Sprechen für mich übernehmen und mich
füttern. Selbstständig konnte ich fast gar
nichts mehr. Was ich weiß, ist, dass ich
immer ängstlicher und unsicherer wurde.
... und verzweifelt?
Absolut. Besonders, wenn man die
Verzweiflung von den Eltern erlebt. Meine
Familie war teilweise am Ende. Als ich
dann im Koma lag, war es komplett vorbei.
Sie hatten einfach nur Angst, mich zu
verlieren.
Hattest du Angst zu sterben?
Ja, solche Momente gab es. Doch ich habe
sie dann immer wieder verdrängt, denn
zu sterben war keine Option – ich wollte
leben. Teilweise war ich dem Tod näher als
dem Leben.
Erzähle uns bitte mehr davon.
Als ich 2013 ins künstliche Koma versetzt
wurde, hatten mich die Ärzte abgeschrieben.
Sie sagten, dass sie nichts mehr
machen könnten. Zehn Tage verbrachte
ich in diesem Zustand, davon acht an der
Herz-Lungen-Maschine, bevor ich zurückkam.
Wie hast du dich zurück ins Leben
gekämpft?
Als ich aus dem Koma erwacht bin, war ich
blind, weil meine Sehnerven geschädigt
waren. Obwohl ich nichts sah, war ich total
positiv gestimmt. Es gab in dem Moment
nichts Negatives für mich. Ich habe die
ganze Zeit nur gegrinst. Ich habe gespürt,
wie überglücklich meine Familie in diesem
Moment war, sodass dies einfach auf mich
übergangen ist. Kurz darauf kam dann
auch die Diagnose und aus dem jahrelangen
Leid wurde endlich wieder Leben.
Wie wurdest du nach der Diagnose
behandelt?
Leider habe ich einiges nicht vertragen
und auf vieles habe ich allergisch reagiert.
Bis 2016 war es ein ständiges Auf und Ab.
Nun bekommst du seit geraumer Zeit
eine individuelle Therapie. Wie geht es
dir heute und wie sieht dein Alltag aus?
Ich bekomme ein Biologikum, das mein
Freund mir einmal im Monat spritzt. Das
hat mir mein Leben zurückgegeben. Ich
bin komplett beschwerdefrei und kann ein
völlig normales Leben führen – dafür bin
ich jeden Tag dankbar. Wenn man dem
Tod so nahe war wie ich, weiß man erst,
wie wertvoll Gesundheit und das Leben
sind.
Deine Erkrankung ist selten und daher
auch für erfahrene Mediziner nicht
leicht zu erkennen und demnach zu
behandeln. Gibt es etwas, was du dir
an Verbesserungen für Betroffene
wünschen würdest?
Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass
die Ärzte mehr auf meine Mutter gehört
hätten. Sie hat beispielsweise schon
relativ früh erkannt, dass ich auf Antibiotika
allergisch reagiere und dadurch die
Eosinophilen hochgehen, was meinen
Gesundheitszustand stark verschlechtert
hat. Erst als meine Neurologin gesehen
hat, dass ich nach Gabe eines Präparates
lila angelaufen bin, hat sie meiner Mutter
geglaubt. Grundsätzlich darf man Ärzten
aber nie einen Vorwurf machen. Alle wollen
helfen, manchmal sind die Erkrankungen
– wie meine – aber so selten, dass sie
es einfach nicht besser wissen.
Was möchtest du anderen Betroffenen
mit auf den Weg geben?
Durch das ganze Leid, das ich in den
Krankenhäusern gesehen habe, ist mir
bewusst geworden, dass es vielen noch
viel schlechter geht. Das Gute ist, dass
EGPA immer bekannter wird, es sehr gute
Therapien gibt und man ein normales
Leben mit der Erkrankung führen kann.
Mein Tipp: Gebt niemals auf, bleibt positiv
und hört niemals auf zu kämpfen – es
lohnt sich!
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Mit freundlicher Unterstützung der GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG
Eosinophile Granulomatose mit Polyangiitis (EGPA)
Selten gesehen, häufig übersehen
Eosinophile gehören zu den weißen Blutkörperchen, die eine wichtige Rolle in unserer Immunabwehr spielen. Bei Menschen
mit eosinophiler Granulomatose mit Polyangiitis (EGPA) steigt die Anzahl der Eosinophilen aus bisher ungeklärter Ursache
stark an. Dadurch kommt es zu entzündlichen Veränderungen an kleinen und mittelgroßen Blutgefäßen, einer Vaskulitis, was
zur Schädigung verschiedenster Organsysteme führt. Bei besonders schweren Verläufen kann die Erkrankung tödlich sein.
Pro Jahr treten nur etwa 11 bis 18 Fälle pro eine Million Menschen auf, was EGPA zu einer seltenen Erkrankung macht.
Prof. Dr. Jens
Dieter Thiel
Klinik für Rheumatologie
und
Klinische Immunologie
am
Universitätsklinikum
Freiburg,
Deutschland,
und Leiter der
Klinischen
Abteilung für
Rheumatologie
und Klinische
Immunologie am
medizinischen
Klinikum Graz,
Österreich.
Welche Behandlungsmöglichkeiten
gibt es heute für die Betroffenen?
Generell richtet sich die Behandlung nach der
individuellen Symptomatik, den Organbeteiligungen
sowie dem Schweregrad der Erkrankung.
In der Regel wird mit der Gabe von
Glukokortikoiden („Kortison“) gestartet, um die
Entzündung, die als Folge der überschießenden
Immunreaktion entsteht, rasch in den Griff zu
bekommen. Häufig werden zusätzlich Immunsuppressiva
notwendig. Diese Ansätze zielen
sehr breit auf die überschießende Immunreaktion
ab. Es können auch Biologika in der Therapie
der EGPA eingesetzt werden, die
zielgerichtet in den Krankheitsprozess eingreifen
und die Behandlungsoptionen des Arztes erweitern.
NP-DE-MPL-AD-
VR-220003; 02/2022
Prof. Thiel, Sie betreuen seit vielen
Jahren Patient*innen mit EGPA.
Worin besteht die besondere Herausforderung
bei dieser Erkrankung?
Bei vielen entzündlich-rheumatologischen Erkrankungen
liegt zwischen erstmaligem Auftreten
und der Diagnosestellung eine gewisse Zeit.
Aufgrund der Komplexität des Krankheitsbildes,
ist diese Latenzzeit bei EGPA besonders ausgeprägt.
Die Betroffenen haben häufig schon
einen langen Leidensweg hinter sich, bis sie zu
uns kommen. Oft ist es durch die Vaskulitis dann
schon zu irreparablen Organschäden beispielsweise
der Lunge, der Haut, des Herzens, der
Nieren oder des Nervensystems gekommen.
Wieso wird die EGPA häufig erst so
spät diagnostiziert? Und wie fällt sie
dann letztlich auf?
In der ersten Phase der Erkrankung, tritt meist
eine Asthma-Symptomatik auf, mit der die Patientinnen
und Patienten beim Lungenfacharzt
vorstellig werden. Dieser behandelt dann das
Asthma. Die klassische Asthmatherapie ist aber
nicht in der Lage, den Krankheitsverlauf der zugrunde
liegenden EGPA zu unterbrechen. Die
Entzündungsreaktion und eine Eosinophilie bleiben
oft bestehen und bereiten den Weg für den
Übergang in die zweite Phase, in der die Gefäßentzündungen
stärker werden und beginnen,
Die Betroffenen haben häufig schon einen langen
Leidensweg hinter sich, bis sie zu uns kommen.
Organe zu schädigen. Oft wird dann ein weiterer
Facharzt aufgesucht. Bis erkannt wird, dass
die unterschiedlichen Manifestationen miteinander
in Verbindung stehen, dauert es häufig einige
Zeit. Das ist der Grund, warum Zentren wie
unseres stark an einem engen interdisziplinären
Austausch mit den regionalen Arztpraxen interessiert
sind. Mit Pneumologen hätten wir als
Rheumatologen von Haus aus eher weniger
Kontakt, doch bei der EGPA ist Asthma ein Kardinalsyndrom,
das in Verbindung mit bestimmten
Biomarkern im Blutbild, ggf. auch
Beteiligung der oberen Atemwege z. B. in Form
von Nasenpolypen die Alarmglocken läuten lassen
sollte.
Wenn die Patienten zu uns kommen, sind sie
meist bereits in der zweiten oder dritten Phase
der Erkrankung, die geprägt ist von der Vaskulitis.
Je nach betroffenem Gewebe führt diese zu
vielfältigen Symptomen, die von entzündlichen
Hautveränderungen, kardio-vaskulären Symptomen,
bis hin zu neurologischen Auffälligkeiten
mit Muskelschmerzen und Taubheitsgefühlen
in Armen und Beinen reicht. Begleitend
bestehen häufig eine deutliche Abgeschlagenheit
und Leistungsminderung.
12 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
Hämophilie-
Betroffene werden
von Beginn an ihrem
Alter entsprechend
in die Therapie einbezogen.
Je älter
die Patienten
werden, umso
mehr Verantwortung
können sie
für den eigenen
Therapieerfolg
übernehmen.
FOTO: SHUTTERSTOCK
Hämophilie-Therapie im Kindes- und Jugendalter –
Motivation zur Eigenverantwortung
Hämophilie, in ihren verschiedenen Ausprägungen, zählt zu den seltenen hämatologischen
Erkrankungen und ist bisher nicht heilbar. Allerdings ist die Erkrankung, bei der Betroffenen
Gerinnungsfaktoren im Blut fehlen, mittlerweile gut behandelbar, sodass ein weitgehend normales Leben
möglich ist. Dabei ist es natürlich wichtig, dass die Therapie regelmäßig und gewissenhaft durchgeführt
wird. Und genau das kann im jugendlichen Alter manchmal schwierig werden. Ein Gespräch mit Tobias
Becker, Hämophilie-A-Patient und Vorstandsmitglied der IGH e.V., und Dr. Dr. med. Christoph Königs,
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Hämostaseologe am Universitätsklinikum Frankfurt am
Main, über mögliche Stolpersteine und die Motivation jugendlicher Patienten zur Eigenverantwortung.
Text Hanna Sinnecker
Tobias Becker
Hämophilie-A-
Patient und Mitglied
des Vorstandes der
IGH e. V.
Herr Becker, Sie leben mit einer schweren
Hämophilie A. Wann wurden Sie diagnostiziert
und wie ging es Ihren Eltern damit?
Die Hämophilie wurde innerhalb meines ersten
Lebenshalbjahres festgestellt. Wie viele andere
Hämophilie-Betroffene hatte ich viele blaue
Flecken am Körper, direkt nach der Geburt
hatte ich einen größeren Bluterguss am Kopf,
der nicht ganz leicht zu behandeln war. Bei mir
kam es aber nie zum Worst-Case-Szenario, das
viele Eltern betroffener Kinder erleben: dass bei
den blauen Flecken fälschlicherweise zunächst
an Kindesmisshandlungen gedacht wird. Meine
Eltern wurden direkt zu einem Hämophilie-
Zentrum geschickt, da die Ärzte bereits die
richtige Vermutung hatten. Dort wurde die
Diagnose gestellt. Für meine Eltern, die beide
Ärzte sind, war das ein Schock. Denn damals,
wie heute, war auch unter Ärzten das Wissen
über die Hämophilie noch nicht sehr verbreitet.
Die Hämophilie ist Ihr lebenslanger Begleiter.
Wie war das für Sie als Jugendlicher?
Mit welchen Herausforderungen sahen Sie
sich konfrontiert?
TB: Ich kam mit der Hämophilie grundsätzlich
immer recht gut klar. Ich bin sehr behütet aufgewachsen,
meine Eltern haben mich immer
optimal unterstützt. Aber es gab natürlich
Einschränkungen. Ich wusste, dass ich mich
regelmäßig spritzen muss, daher hieß es an
drei Tagen der Woche, früher aufzustehen,
damit das vor der Schule noch erledigt werden
konnte. Und es gab manche Dinge, die ich eher
nicht tun sollte. Ich wollte zum Beispiel immer
gern mit meinen Freunden im Verein Fußball
spielen, aber das Verletzungsrisiko und somit
die Gefahr von Blutungen ist da recht hoch.
Ich habe dann angefangen, im gleichen Verein
Tennis zu spielen. So konnte ich wenigstens das
gleiche Trikot wie meine Freunde tragen und
mich dort aufhalten, wo meine Freunde waren.
Für meine Freunde war meine Hämophilie aber
nie ein Problem, im Gegenteil: Sie waren eher
interessiert und haben sich schützend vor mich
gestellt, wenn es nötig war.
Ich glaube, meine Eltern hatten damals die
größeren Herausforderungen zu bewältigen.
Zusätzlich zur ständig präsenten Sorge um
mich mussten sie sich mit Erzieher*innen,
Lehrer*innen und Rektor*innen verständigen.
Vor jeder Klassenfahrt mussten sie alles regeln,
damit die verantwortlichen Personen Bescheid
wussten, dass ich mit Hämophilie A lebe, was
bezüglich der Medikamente zu tun ist und wie
man sich im Ernstfall verhalten muss.
Herr Dr. Dr. Königs, Sie behandeln Kinder
und Jugendliche mit Hämophilie: Deckt
sich das mit Ihren Erfahrungen, dass sowohl
Kinder als auch Eltern verschiedene
Herausforderungen haben?
Natürlich spielt beides eine Rolle. Ein kleines
Kind, das erst ein paar Monate alt ist, findet es
sicher nicht schön, regelmäßig im Rahmen der
Therapie gestochen zu werden. Aber natürlich
liegt die Belastung hier erst mal eher bei den
Eltern. Das verlagert sich mit zunehmendem
Alter immer mehr auf den Betroffenen selbst.
Bei uns im Zentrum bemühen wir uns daher
aktiv darum, bereits die kleineren Kinder ihrem
Alter entsprechend mit einzubeziehen. Sie
können mithelfen, das Spritzen erlernen, bis sie
es irgendwann selbst übernehmen können. Mit
zunehmendem Alter der Betroffenen versuche
ich auch, die Eltern öfter einmal auszuklammern,
damit meinen Patienten klar wird: Das
ist deine Hämophilie, nicht die deiner Mutter
oder deines Vaters.
Man kann mit einer Hämophilie heute gut
leben, aber der Preis ist hoch. Allein, dass
morgens, bevor es zur Schule geht, gespritzt
werden muss oder dass bei sportlichen Aktivitäten
berücksichtigt werden muss, dass der
Faktorspiegel dafür passen sollte: Das sind alles
Dinge, die zum Leben eines Hämophilie-Betroffenen
dazugehören. Wir sehen unsere Aufgabe
im Hämophilie-Zentrum daher besonders dort,
die Kinder und ihre Eltern dabei zu unterstützen,
damit zurechtzukommen.
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
13
Warum ist Therapietreue denn so wichtig,
gerade mit Blick auf die Zukunft?
CK: In erster Linie damit Betroffene gesund bleiben.
Denn der Schaden, der heute gesetzt wird,
zum Beispiel durch eine Gelenkblutung, wird
sich später bemerkbar machen. Die Gelenke
sind das Gedächtnis der Hämophilie-Therapie.
Heißt: Die Blutung, die im Kindesalter entsteht,
sorgt für einen Schaden, der auch dauerhaft
bestehen bleiben kann. Das sehen wir
heute deutlich bei jungen Erwachsenen, die
erst spät mit einer Prophylaxetherapie angefangen
haben, da sie einen deutlich schlechteren
Gelenkstatus aufweisen als Betroffene,
die bereits früh und suffizient prophylaktisch
behandelt wurden und gute Medikamentenspiegel
erreichen.
TB: Das ist tatsächlich auch etwas, was mich
beunruhigt: Es gibt Studien, die darauf hindeuten,
dass es z.B. Mikroblutungen geben kann,
die man gar nicht bemerkt, die aber trotzdem
Schaden anrichten und den Gelenkstatus
langfristig negativ beeinflussen. Wenn ich
daran denke, mit welchen Faktor-Leveln ich
manchmal auf dem Tennisplatz aktiv war, sind
diese im Vergleich zu dem, was heute in der
Prophylaxe angestrebt wird, grauenvoll gewesen.
Das zeigt aber umso mehr, dass man die
heute verfügbaren Möglichkeiten ausschöpfen
sollte, um später keine böse Überraschung zu
erleben.
Aus Ihrer Erfahrung: Wie können Eltern betroffener
Kinder/Jugendlicher und Behandler
optimal zusammenarbeiten?
CK: Wichtig ist erst einmal zu betonen, dass
wir in einem umfassenden Behandlungsteam
arbeiten, das aus Hämophilieassistent*innen,
Sozialarbeiter*innen, Physiotherapeut*innen,
Ärzt*innen etc. besteht. Das Wichtigste ist
dann für alle Beteiligten, offen und ehrlich zu
kommunizieren. Man muss Probleme benennen
und darüber sprechen, was nicht funktioniert,
Scham ist hier absolut fehl am Platz. Man muss
den graduellen Übergang in die Eigenverantwortlichkeit
der Betroffenen schaffen. Das ist
Teamwork. Es ist ja heutzutage nicht mehr so,
dass das Behandlungsteam sagt, was gemacht
wird und die Eltern das dann durchsetzen. Der
Patient wird altersentsprechend und früh mit
eingebunden im Hinblick auf seine Ideen, Ziele,
Therapieplanung und -durchführung.
Wie kann man jugendliche Patienten motivieren,
Eigenverantwortung für den Erfolg
ihrer Therapie zu übernehmen, ohne als
Arzt oder Eltern zu viel Druck auszuüben?
CK: Hier gehen zwei Dinge Hand in Hand:
Der Betroffene muss irgendwann “aus dem
Nest hüpfen” und selbst Verantwortung
übernehmen. Wenn die Mutter eines 22 Jahre
alten Patienten anruft, um sein Faktorpräparat
zu bestellen, dann ist dieser Sprung aus dem
Nest deutlich überfällig. Auf der anderen
Seite müssen die Eltern die Verantwortung
irgendwann auch abgeben, heißt: Selbstständigkeit
unterstützen und loslassen, wo es nötig
ist. Und hier kommt Motivation durch positive
Erfahrung ins Spiel: Wenn die Betroffenen
selbst merken, dass sie durch Therapietreue
mehr Möglichkeiten und Freiheiten und
keine Blutungen und Schmerzen bekommen,
dann ist das die ideale Motivation, um
weiterzumachen und selbst Verantwortung zu
übernehmen.
Ein Beispiel: Einer meiner Patienten, etwa zehn
Jahre alt, bisher lief alles unkompliziert, dann
haderte er sehr mit seiner Hämophilie, da seine
Eltern ihn stets zur Vorsicht mahnten und
gewisse Dinge nicht erlaubten, zum Beispiel
Übernachtungen bei Freunden. Wir haben
dann gemeinsam besprochen, dass er weiß,
wie er Eltern und das Hämophilie-Zentrum
im Notfall erreicht. Und er kann auch schon
selbst sein Medikament spritzen. Wir haben
also gemeinsam den Weg frei gemacht für den
Übernachtungsbesuch. Das hat ihm einen
unheimlichen Motivationsschub verpasst und
gleichzeitig die Eltern aufgefangen.
Was hätten Sie sich als Jugendlicher an
Hilfe und Unterstützung gewünscht und
was möchten Sie anderen Betroffenen mit
auf den Weg geben?
TB: Ich habe mich tatsächlich immer sehr
gut versorgt gefühlt. Sicher hätten die Dinge
komfortabler sein können, aber manchmal
brauchen die Dinge eben einfach Zeit,
besonders wenn es um die Entwicklung besserer
Medikamente geht, die nicht mehr so häufig
gespritzt werden müssen. Auch die Herangehensweise
an den Alltag hat sich verändert. Bei
mir hieß es noch oft: Das geht nicht, das darfst
du nicht. Das sieht heute aber schon anders
aus: Hier wird jetzt eher geschaut, was individuell
für Betroffene möglich ist, ohne direkt
nur mit Verboten zu arbeiten.
Beim Übergang in die Erwachsenenmedizin
wäre es sicher gut gewesen, wenn ich etwas
strukturierter herangegangen wäre, in der
Hinsicht, dass ich Termine vor- und nachbereite
und Themen konkret anspreche, die für
mich in der jeweiligen Lebensphase relevant
gewesen sind.
CK: Hier haben wir in der Medizin noch einiges
zu lernen. Das Feld der Transitionsmedizin,
also des Übergangs von der Kinder- in die
Erwachsenenmedizin, ist in Deutschland noch
relativ jung. Und dann muss man auch dazu
wissen, dass es bei chronischen Erkrankungen
immer eine Herausforderung ist, das Behandlungsteam
zu wechseln. Hier können strukturierte
Programme und integrierte Zentren
helfen.
Dr. Dr. med.
Christoph Königs
Facharzt für Kinderund
Jugendmedizin
und Hämostaseologe
am Universitätsklinikum
Frankfurt
am Main
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Das Portal rund ums Thema Hämophilie
haemcare.de ist ein umfassendes Portal für
Menschen mit Hämophilie und ihre Angehörigen.
Hier findet man alles Wichtige über
Blutgerinnungsstörungen und wie ein möglichst
normaler Alltag mit der Erkrankung gelingen
kann.
Umfassendes Wissen ist der Schlüssel
Die eigene Erkrankung zu verstehen ist der
Schlüssel, um eine optimistische Einstellung
zu behalten und die Therapie so in den Alltag
zu integrieren, dass sie die bestmöglichen
individuellen Ergebnisse erzielen kann.
Daher finden Hämophilie-Betroffene auf
haemcare.de umfassende Informationen zur
Erkrankung, zur Therapie und zu begleitenden
Behandlungsoptionen. Aber auch zu
Themen wie Fitness, Ernährung, Alternativmedizin
oder ganz aktuell zu Hämophilie
und Covid-Schutzimpfung oder zum GSAV
finden sich hier fundierte Informationen. Die
HaemExperten updaten in Form von kurzen
Videos zu verschiedensten Themen!
Digitale Helfer
Damit die Integration der verschiedenen Aspekte
der Hämophilie in den Alltag ganz einfach
gelingt, können sich Betroffene die
Erinnerungs-App HaemMemo, das Therapie-
Tagebuch smart medication und die Fitness-
App HaemActive herunterladen. So wird das
eigene Smartphone zum Therapiebegleiter
und Patienten können einen wichtigen Teil
ihrer Behandlung selbst in die Hand nehmen!
Unterwegs mit Hämophilie
Speziell für die Reisezeit können sich Betroffene
die App HaemTravel herunterladen:
so weiß man Bescheid, welche Dokumente
im Urlaub mit dabei sein müssen, ob man
den Faktor ungekühlt mitnehmen kann, oder
wo sich im Zielland das nächste Hämophiliezentrum
befindet.
Im Dialog bleiben
Zudem bietet haemcare.de verschiedene Angebote,
um miteinander ins Gespräch zu kommen,
zum Beispiel durch den „Talk am
Mittwoch“ in Zusammenarbeit mit der IGH
e.V.. Das Portal informiert außerdem über die
verschiedenen Patientenorganisationen, an die
sich Betroffene und ihre Eltern wenden können.
Das Patientenunterstützungsprogramm
myHaemCare bietet zusätzlich umfassende
Hilfestellungen für Betroffene und ihre Eltern.
Aber auch Physiotherapeuten, die eine tragende
Rolle in der Behandlung von Hämophiliepatienten
spielen, finden in Form der
HaemAcademy professionelle Unterstützung
durch das HaemAcademy-Team, bestehend
aus einem interdisziplinären Team von Hämostaseologen,
Orthopäden und Physiotherapeuten:
Dr. Günter Auerswald, Martina
Bürhlen, Susan Halimeh, Björn Habermann
und Marc Rosenthal und Bianca Wiese. Physiotherapeuten
können hier direkt zu spannenden
Weiterbildungen angemeldet
werden.
Über Novo Nordisk
Deutschland
Novo Nordisk ist ein weltweit führendes
Unternehmen im Gesundheitswesen, das
1923 gegründet wurde und seinen Hauptsitz
in Dänemark hat. Unser Anspruch ist es,
Veränderungen voranzutreiben, um Diabetes
und andere schwerwiegende chronische
Krankheiten wie Adipositas und seltene
Blut- und Stoffwechselerkrankungen zu besiegen.
Dafür arbeiten wir an wissenschaftlichen
Innovationen bis hin zur Heilung von
Krankheiten. Wir fördern den Zugang zu unseren
Produkten für Patientinnen und Patienten
weltweit und engagieren uns aktiv für
Prävention. Novo Nordisk beschäftigt circa
47.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
80 Ländern und vermarktet seine Produkte
in rund 170 Ländern. Am deutschen Hauptsitz
in Mainz sind rund 480 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter tätig.
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14 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
FOTO: SHUTTERSTOCK
„Junge Betroffene brauchen persönliche
Ziele, für die sich die Anstrengung lohnt“
Die Mukoviszidose ist eine seltene, erblich bedingte Stoffwechselerkrankung, bei welcher der
Wasser-Salz-Haushalt der Zellen gestört ist. In der Folge produzieren die innersekretorischen Drüsen
des Körpers z.B. in der Lunge oder in der Bauchspeicheldrüse nur zähflüssige Sekrete, wodurch
fortschreitend die Funktion verschiedener Organe einschränkt wird. Die Ursache ist ein defektes
oder fehlendes CFTR-Protein als Folge bestimmter Mutationen im CFTR-Gen 1 . Die Erkrankung ist bis
heute nicht heilbar, die mediane Lebenserwartung Betroffener liegt aber weltweit mittlerweile bei über
50 Jahren 2 . Seit 2012 stehen zusätzlich zur rein symptomatischen Therapie zunehmend moderne
medikamentöse Therapieoptionen zur Verfügung, die näher an der Krankheitsursache angreifen und mit
der rund 80% der Betroffenen behandelt werden können. Diese Medikamente können das Fortschreiten
der Erkrankung verlangsamen, was die Lebensqualität und Lebenserwartung deutlich verbessern kann.
Wir sprachen mit der Diplom-Psychologin Christine Lehmann, die am Mukoviszidose-Zentrum der
Charité Berlin Mukoviszidose-Patient*innen betreut.
Text Hanna Sinnecker
Christine
Lehmann
Diplom-Psychologin
am Mukoviszidose-Zentrum
der
Charité Berlin
Frau Lehmann, Sie sind spezialisiert auf die
psychosoziale Betreuung von Mukoviszidose-Patient*innen.
Warum ist ein früher Therapiebeginn,
möglichst direkt nach Diagnosestellung,
so wichtig?
Das Mukoviszidosescreening ist seit 2016
Bestandteil des Neugeborenenscreenings. Vor
diesem Zeitpunkt hatten die betroffenen Kinder
und Eltern sehr häufig einen langen Leidensweg
hinter sich, bis die Diagnose Mukoviszidose gestellt
und die richtige Therapie eingeleitet wurde.
Demgegenüber bietet die frühe Diagnosestellung
den Vorteil, von Anfang an zu wissen, womit man
es zu tun hat, um frühzeitig in das Krankheitsgeschehen
eingreifen und es medizinisch-therapeutisch
positiv beeinflussen zu können.
Wie geht es aber den Eltern mit der frühen
Diagnosestellung?
Die durch das Neugeborenenscreening diagnostizierten
Kinder haben in den meisten Fällen
noch keine für die Eltern wahrnehmbaren
Krankheitssymptome, d.h. es ist für die Eltern
nicht gleich erkennbar, dass ihrem Kind „etwas
fehlt“. Sie empfinden ihr neugeborenes Kind als
„gefühlt gesund“ und erleben die Diagnosestellung
daher oft mit Fassungslosigkeit und Irritation,
manche auch mit einer vorübergehenden
Verunsicherung in der Bindung zum Kind.
Diese emotionalen Erschütterungen auszuhalten
und zu überwinden, die Diagnose nach
und nach zu akzeptieren, ist eine besondere
Anpassungsleistung, die in den Mukoviszidose-
Ambulanzen durch die Behandler der verschiedenen
Berufsgruppen kompetent begleitet
werden kann.
Mit welchen Herausforderungen sehen sich
besonders Eltern betroffener Kinder konfrontiert?
Besonders bedeutsam auf der Elternseite sind
zwei Bereiche: die Bewältigung von eigener
emotionaler Belastung sowie die besonderen
Erziehungsaufgaben, die sich durch die chronische
Erkrankung des Kindes ergeben.
Eine besondere emotionale Belastung für Eltern
liegt darin, sich mit der drohenden Progredienz
und der immer noch eingeschränkten
Lebenserwartung bei Mukoviszidose auseinanderzusetzen.
Schuldgefühle, Befürchtungen,
Verlustängste – wie ein Damoklesschwert
schwebt die ständige Sorge um das Kind über
der Familie. Es liegt ja in der Verantwortung
der Eltern als „Co-Therapeuten“, die komplexe
und zeitaufwendige Therapie täglich im Alltag
umzusetzen. Auf der einen Seite ist es ganz
zentral, dass Eltern durch ihr Therapiehandeln
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
15
Einfluss auf den Krankheitsverlauf nehmen können,
auf der anderen Seite entstehen nicht selten
Therapiestress und Versagensängste, dies alles
zu schaffen. Trotz verbesserter Therapiemöglichkeiten
und positiverer Zukunftsperspektiven
bleibt in den meisten Fällen die Progredienzangst
bestehen, die aktivieren, aber auch lähmen kann.
Gleichzeitig ist es den Eltern wichtig, ihr Kind
mit Mukoviszidose in seiner psychosozialen
Entwicklung zu unterstützen und für sein Leben
mit Besonderheiten und Einschränkungen zu
stärken. Mit ihren Bemühungen, ein möglichst
„normales“ Leben zu ermöglichen, sind die
meisten Familien erfolgreich. Auch haben sich
die Bedingungen für Inklusion und Nachteilsausgleiche
in Kita, Schule und Ausbildung sehr
verbessert, sodass auch dem Kind die Gestaltung
seiner„besonderen Normalität“ meist gut gelingt.
Das Vorgehen in den Mukoviszidose-Ambulanzen, in der
Sprechstunde die Jugendlichen als Hauptansprechpartner
zunehmend selbst zu Wort kommen zu lassen, soll den
Transitionsprozess unterstützen.
Aufgrund der neuen Therapieoptionen ist
die Lebenserwartung von Mukoviszidose-Patient*innen
in den letzten Jahren kontinuierlich
gestiegen, wenn Patient*innen
die Therapie gewissenhaft durchführen.
Welche Herausforderungen sehen Sie
speziell beim Übergang vom Kindes- zum
Erwachsenenalter?
Der Prozess der Transition, also des
Hineinwachsens in die zunehmende Selbstverantwortung
für die Therapie, begleitet die
Pubertät. Wie auch in anderen Bereichen des
Lebens eines Jugendlichen gibt es Phasen des
„Verpeilt-Seins“, des "Null-Bock-Habens" und
der Opposition gegenüber (Therapie-)Regeln,
die von Erwachsenen gemacht scheinen.
Nicht wenige Jugendliche benötigen für die
Einsicht in die Therapienotwendigkeit auch
einmal die Erfahrung am eigenen Körper, dass
das Weglassen von Therapie tatsächlich zur
Verschlechterung führt, z.B. zu mehr Husten,
unangenehmen Bauchschmerzen oder reduzierten
Lungenfunktionswerten. Zusätzlich
ist wichtig, dass Eltern loslassen lernen und
den Jugendlichen die Verantwortung nach
und nach zutrauen. Dies sollte im Idealfall
schrittweise und angepasst an die Reife des/der
Jugendlichen und seiner/ihrer Motiviertheit
und Selbstkompetenz geschehen. Im Alltag
ergeben sich erfahrungsgemäß hieraus jedoch
häufig Konflikte in der Familie.
Das Vorgehen in den Mukoviszidose-Ambulanzen,
in der Sprechstunde die Jugendlichen
als Hauptansprechpartner zunehmend selbst
zu Wort kommen zu lassen, soll den Transitionsprozess
unterstützen.
Welche Hilfs- und Unterstützungsangebote
brauchen Jugendliche und junge Erwachsene
aus Ihrer Sicht, um an der Therapie
dranzubleiben?
Wenn Eltern mehr und mehr in die Rolle eines
„Coaches“ rücken, braucht es für Jugendliche
und junge Erwachsene relevante Rollenmodelle
aus der Gleichaltrigengruppe. Zu hören,
wie andere ihr Leben mit Mukoviszidose
gestalten oder die Therapieumsetzung in
den Alltag schaffen, sich auszutauschen, wie
man krankheitsassoziierte Schwierigkeiten
erlebt, und gemeinsam Problemlösungen zu
diskutieren– dies sind hilfreiche Schritte auf
dem Weg in das Erwachsenwerden. Wesentlich
aus psychologischer Sicht ist ebenso für diese
Altersgruppe, kurzfristige wie langfristige
persönliche Ziele zu entwickeln, für deren
Erreichen sich Einsatz und Anstrengung
lohnen – und eben auch der tägliche Therapieaufwand.
Digitale Möglichkeiten wie soziale Netzwerke
oder Online-Veranstaltungen und virtuelle
Treffen sind heutzutage gute Möglichkeiten,
die genannten Bewältigungsstrategien
umsetzen zu können.
1
Cystic Fibrosis Foundation.
Basics of The
CFTR Protein. Online
verfügbar unter: www.
cff.org/Research/
Research-Into-the-
Disease/Restore-
CFTR-Function/
Basics-of-the-CFTR-
Protein/" www.cff.org/
Research/Research-
Into-the-Disease/
Restore-CFTR-
Function/Basics-ofthe-CFTR-Protein/.
Letzter Zugriff: Oktober
2021.
2
Cystic Fibrosis Foundation.
CFF Patient
Registry, Annual Data
Report 2020
Der Mukoviszidose e. V. – Bundesverband Cystische Fibrose (CF)
Der Mukoviszidose e.V. setzt sich seit über 50 Jahren für die Belange von Menschen mit Mukoviszidose und ihren Angehörigen
ein und vernetzt seither die Patienten, ihre Angehörigen, Ärzte, Therapeuten und Forscher. Er leistet mit seinen vielfältigen Angeboten
Hilfe zur Selbsthilfe, bietet Unterstützung in Notsituationen und ist ein kompetenter Ansprechpartner für Betroffene
und ihre Familien. Das Ziel: jedem Betroffenen ein möglichst selbstbestimmtes Leben mit Mukoviszidose zu ermöglichen. Mit
seiner Forschungsförderung leistet der Verein einen wichtigen Beitrag, um die Krankheit eines Tages heilen zu können. Auch
die Aus- und Fortbildung von in der Mukoviszidose-Behandlung Tätigen ist ein wichtiges Anliegen des Mukoviszidose e.V. Darüber
hinaus setzt er sich für die Belange der Betroffenen gegenüber Entscheidungsträgern in Politik, dem Gesundheitswesen
und der Wirtschaft ein. Der Verein finanziert sich fast ausschließlich aus Spenden.
www.muko.info
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Die digitale Plattform
mit Informationen und
Services rund um CF.
www.CFSource.de
AT-32-2200005
16 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
Pulmonale Arterielle
Hypertonie (PAH) –
Wenn (zu) hoher Blutdruck in der
Lunge den Atem nimmt
Text Doreen Brumme
Prof. Dr. med.
Hanno Leuchte
Chefarzt für Innere
Medizin II und
Ärztlicher Direktor
am Krankenhaus
Neuwittelsbach,
Klinik der Barmherzigen
Schwestern
München
D
ie Pulmonale Arterielle Hypertonie
(PAH) ist eine seltene Erkrankung,
die den Blutdruck in den Lungenadern
erhöht, was kurzatmig
macht und das Herz belastet. Unbehandelt
ist die PAH lebensbedrohlich. Prof. Dr. med.
Hanno Leuchte, Chefarzt für Innere Medizin
II und Ärztlicher Direktor am Krankenhaus
Neuwittelsbach, zeigt im Interview Warnsignale
und Risikogruppen für eine PAH auf
und erklärt bewährte Behandlungen.
Womit bekommen es Patienten zu tun, die
an PAH leiden?
Die sich meist auf leisen Sohlen einschleichende
Blutdruckerhöhung in den
Lungenadern beeinträchtigt den Blutfluss
in den Lungengefäßen. Das führt zu einer
Mehrbelastung des rechten Herzens. Es gilt:
Je weiter die Erkrankung an den Lungenadern
fortschreitet, desto mehr leidet das
Herz. Unbehandelt führt die PAHinnerhalb
weniger Jahre zu erheblichen körperlichen
Beeinträchtigungen und letztlich zum Tod.
Erfreulicherweise gibt es mittlerweile gute
Behandlungsoptionen.
Wie zeigt sich die PAH?
PAH-Patienten berichten von eingeschränkter
Leistungsfähigkeit und Kurzatmigkeit.
Das sind beides Beschwerden, die sich in
Ruhemomenten oft noch gut ausgleichen
lassen. Eine körperliche Belastung jedoch,
zum Beispiel das Treppensteigen, wird der
Lunge im Zusammenspiel mit dem Herzen
schnell zu viel. Typisch ist, dass die Kurzatmigkeit
nicht trainierbar ist und sich in der
Regel verstärkt, wenn auch langsam. Zunehmende
Wassereinlagerungen in den Beinen
(Ödeme) und/oder starkes Herzklopfen unter
Belastung, oft gefolgt von einer größeren
Erschöpfung, gehören ebenfalls zu den
Symptomen. Bei manchen Patienten färben
sich auch die Lippen oder Fingerspitzen blau
(Zyanose).
Wie viele Betroffene gibt es in
Deutschland?
Man geht hierzulande von zwei- bis fünftausend
Fällen aus, wobei eine Dunkelziffer
zu befürchten ist. Dazu muss man wissen,
dass auch in Deutschland nicht selten
mehrere Jahre vom Auftreten klassischer
Symptome bis zur sicheren Diagnose vergehen.
Wen trifft die PAH?
Während die PAH früher im Wesentlichen als
eine Erkrankung junger Frauen galt, wissen
wir heute, dass sie Menschen jeden Alters
trifft. Das mittlere Erkrankungsalter liegt in
Deutschland bei etwa 65 Jahren.
Gibt es Risikogruppen?
Ein Risiko besteht für Patienten
mit Bindegewebserkrankungen, insbesondere
der Systemsklerose und der Sonderform
CREST-Syndrom,
mit angeborenem Herzfehler, auch wenn
dieser bereits korrigiert wurde,
mit Lebererkrankungen,
mit diversen Infektionskrankheiten.
Zudem können verschiedene Medikamente
und Stimulanzien die Entwicklung einer
PAH fördern, falls eine Anfälligkeit vorliegt.
Wie wird die PAH diagnostiziert?
Auch wenn die PAH eine Lungenerkrankung
ist, lässt sie sich nicht so herkömmlich wie
eine solche diagnostizieren. Der Grund: Die
PAH spielt sich an den Lungengefäßen ab.
Mit verschiedenen Messungen, sowohl der
Funktion der Lunge samt Gasaustausch als
auch des Herzens, beispielsweise per Herzultraschall,
lässt sich die PAH diagnostizieren.
Ergänzend stützen Blutwerte und bestimmte
bildgebende Verfahren wie Computertomografie
die Diagnose. Mitunter ist zudem eine
spezielle Belastungsuntersuchung nötig.
Wichtig: Eine Katheteruntersuchung der
rechten Herzkammer ist zwingend erforderlich
– entweder für die sichere Diagnose
der Lungenhochdruckerkrankung oder um
sie auszuschließen. Diese Untersuchungen
machen darauf spezialisierte Zentren gemäß
den Empfehlungen der europäischen und
deutschen Leitlinien, in der Regel während
eines kurzen stationären Aufenthaltes. Die
Herzkatheteruntersuchung bestätigt einerseits
die Diagnose. In bestimmten Konstellationen
lassen sich währenddessen auch Tests
machen, die andererseits erste Rückschlüsse
auf die mögliche individuelle Behandlung
erlauben.
Wie lässt sich die PAH behandeln?
Erfreulicherweise gibt es inzwischen eine
ganze Reihe medikamentöser Therapien für
die PAH. Die Medikamente sind allerdings
nicht leicht einzusetzen, der behandelnde
Spezialist braucht dafür sehr viel Erfahrung.
Und weil diese Therapien nur zum Behandeln
der seltenen PAH oder CTEPH (Chronisch
thromboembolische pulmonale
Hypertonie, eine weitere Form der Lungenhochdruckerkrankung)
zugelassen sind, ist
die Behandlung in den schon erwähnten
Spezialzentren dringend ratsam.
Auch wenn die PAH eine Lungenerkrankung ist,
lässt sie sich nicht so herkömmlich wie eine solche
diagnostizieren.
Was erschwert die Medikation?
In der Regel müssen mehrere Medikamente
miteinander kombiniert werden. Welche und
wie viel davon jeweils zum Einsatz kommen,
das hängt auch davon ab, welche Therapieziele
für die Patienten definiert werden.
Oftmals erfolgt dann eine Risikoanalyse.
Und da insbesondere ältere Patienten oft
Begleiterkrankungen haben, ist es entscheidend,
die einzelnen Therapien richtig
zu balancieren.
Wie steht es um die Behandlungsaussichten?
Beim Behandeln der PAH – und auch der
erwähnten CTEPH – sind wir mittlerweile
sehr erfolgreich. Wobei der Behandlungserfolg
auch immer davon abhängt, inwieweit
Begleiterkrankungen zu Belastungseinschränkungen
und mehr führen.
Mit den aktuellen Behandlungen können wir
heute in der Regel nicht nur die Krankheitsverläufe
stabilisieren, sondern auch die
Lebensqualität der Betroffenen nachhaltig
verbessern. Das zeigt sich insbesondere mit
einer (wieder) zunehmenden Leistungsfähigkeit
und abnehmenden Kurzatmigkeit im
Alltag. Vor allem junge Menschen mit dieser
seltenen Diagnose können dank dessen ein
Leben mit nur geringen Einschränkungen
führen. Was nicht darüber hinwegtäuschen
soll, dass es auch schwere Verläufe gibt, die
letztendlich nur mit einer Lungentransplantation
zu behandeln sind.
pulmonale hypertonie e.v.
Der pulmonale hypertonie e. v. (ph e.v.) unterhält einen Informationsdienst zum Krankheitsbild Lungenhochdruck. Er gibt Informationen
über Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie weiter und vermittelt Kontakte zu spezialisierten Ärzten und Kliniken. Er
bietet Unterstützung bei Fragen zur medizinischen und sozialen Versorgung und veranstaltet bundesweite Patiententreffen mit
Angehörigen.
www.phev.de
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17
„Es ging um Leben und Tod“
Als wir Carolin Thurmann kennenlernen, erleben wir eine lebenslustige,
starke Frau. Dass sie schwer krank ist, sieht man ihr
auf den ersten Blick nicht an. Im Interview spricht sie über ihr
Leben mit PAH (Pulmonaler Arterieller Hypertonie).
Text Paul Howe
Frau Thurmann, Sie leiden an der Erkrankung
PAH. Können Sie uns erzählen, wie sich die
Erkrankung bei Ihnen geäußert hat und wie die
Diagnose gestellt wurde?
Es fing in der Grippewelle 2015 an, auch ich wurde
krank, habe es aber erst einmal ignoriert und bin
weiter arbeiten gegangen. Doch es wurde immer
schlimmer. Ich war schon nach ein paar Treppenstufen
aus der Puste, meine Belastungsgrenze sank
von Tag zu Tag. Plötzlich traten starke Wassereinlagerungen
in den Beinen auf, die Untersuchungen an
Herz, Lunge und das Blutbild ergaben jedoch keinen
Befund. Allerdings wurde eine Schilddrüsenunterfunktion
festgestellt. Schilddrüsenhormone sowie
vorübergehend Entwässerungstabletten wurden verordnet.
Die Wassereinlagerungen blieben, zusätzlich
löste die Schilddrüsenmedikation Migräneanfälle
aus. Neue Symptome wie blaue Lippen, Atemnot und
Husten kamen hinzu. Da ich etwas übergewichtig
bin, hörte ich von den Ärzten immer wieder, dass ich
abnehmen solle und es mir dann besser gehe – das
war schrecklich für mich, und meine Selbstzweifel
stiegen. Ich versuchte abzunehmen, doch die Probleme
blieben, verschlechterten sich sogar, Übelkeit
und Erbrechen kamen hinzu.
Warum sind Sie nicht zum Arzt gegangen?
Meine Hochzeit stand kurz bevor. Darauf hatte ich mich so
lange gefreut und alles sollte perfekt sein. Ich hatte Angst,
dass ich sie absagen muss. Also zog ich das durch und vereinbarte
danach einen Arzttermin, um hoffentlich endlich den
Grund für meinen schlechten Gesundheitszustand herauszufinden.
Doch dazu kam es gar nicht mehr. In der Nacht vor
dem Termin wachte ich mit Schmerzen in den Beinen und
akuter Luftnot auf. Der erste Gedanke, ein schlechter Traum,
war jedoch nicht die Ursache. Mein Mann fuhr mich zum
ärztlichen Notdienst. Der Notarzt nahm mich überhaupt
nicht ernst, sagte nur, dass ich Sport machen solle und es
dann schon besser werde. Dennoch wollte er eine Zweitmeinung
und zog die Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses
hinzu. Die stellten eine Sauerstoffsättigung von 62%
fest – dass ich überhaupt noch bei Bewusstsein war, war ein
Wunder. Sie gaben mir Sauerstoff, doch der Wert stieg nicht
an. Zudem wurde eine Herzschädigung festgestellt, die
Ursache kannte aber niemand. 24 Stunden später wurde ich
in die Lungenklinik Löwenstein verlegt. Ich war ein absoluter
Notfall – es ging um Leben und Tod. In derselben Nacht
kam dann auch die Diagnose: pulmonale Hypertonie. Eine
medikamentöse Therapie wurde eingeleitet und mir ging
es schnell besser. Meine Behandlung beinhaltet heute eine
Kombinationstherapie plus Langzeit-Sauerstofftherapie.
Wie sieht Ihr Alltag nun aus, da Sie in Behandlung
sind?
Ich bin froh, dass ich weiß, was ich habe. Dennoch ist
mein Leben nicht mehr das, was es mal war. Vieles, was
ich mir für mein Leben gewünscht habe, ist einfach nicht
mehr möglich. Den Kinderwunsch loszulassen, war besonders
schwer und schmerzt bis heute. Lange habe ich
versucht, mich ins Arbeitsleben zurückzukämpfen, bis
ich einsehen musste, dass ich damit meiner Gesundheit
eher schade – somit bin ich heute berentet. Was mich
lange sehr belastet hat, waren die Blicke der anderen
Menschen. Eine junge Frau mit Sauerstoffgerät, dafür
scheinen viele kein Verständnis zu haben. Auch viele
Freunde und Bekannte haben sich von uns abgewandt.
Ich habe lange gebraucht, um das zu akzeptieren. 2016
habe ich angefangen, einen Blog im Internet zu schreiben.
Ich habe mir dabei all die vielen Fragen, auf die ich
keine Antworten erhalten habe, alles, was mich bedrückte,
richtiggehend von der Seele geschrieben. Ich erfahre
durch den Austausch mit anderen Betroffenen, dass ich
mit meinem Blog genau das zum Ausdruck bringe, was
andere gleichermaßen empfinden, selbst aber nicht wagen,
auszusprechen. Durch den Blog hat sich eine neue
Aufgabe entwickelt, ein neuer Sinn ist entstanden, der
mich glücklich macht.
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„Die Diagnose dauert oft sehr lange“
Weltweit gibt es schätzungsweise 8.000 seltene Krankheiten und für viele existieren noch keine Behandlungsoptionen.
Das forschende Pharmaunternehmen Janssen Deutschland engagiert sich bei mehreren seltenen Krankheitsbildern
und wir sprachen darüber mit der Medizinischen Direktorin im Bereich PAH, Dr. Ursula Kleine-Voßbeck.
Dr. Ursula
Kleine-Voßbeck
Medizinische
Direktorin
im Bereich
PAH, Janssen
Deutschland
Mit freundlicher
Unterstützung der
Janssen-Cilag
GmbH
Welche Besonderheiten birgt die Forschung
an Therapien gegen seltene
Krankheiten?
Um neue Medikamente zu entwickeln,
sind umfassende klinische Studien notwendig.
Diese sind bei der limitierten
Zahl der Patient:innen sowie wenigen
spezialisierten Behandlungszentren häufig
sehr schwer durchzuführen und dauern
entsprechend lange. Auf der anderen
Seite haben die betroffenen Menschen
oft eine unglaublich hohe Bereitschaft,
an den Studien mitzuwirken. Sie möchten
helfen, dass die eigene Erkrankung besser
erforscht wird.
Vor welchen Schwierigkeiten stehen
Patient:innen mit seltenen Krankheiten?
Die Diagnose dauert oft sehr lange, weil
in der Regel zunächst häufigere Krankheiten
vermutet werden. Dadurch kann kostbare
Zeit für die Patienten verloren
gehen und sie werden in einem „kränkeren“
Zustand diagnostiziert. Bei Atemnot
denken z.B. viele zuerst an Asthma und
nicht an Lungenhochdruck. Dann kann es
sein, dass die Behandlungszentren
schwer zu finden sind oder dort Wartezeiten
bestehen. Die Odyssee durch das
Gesundheitssystem bis zur Diagnose
kann bei Betroffenen das Vertrauen in die
Medizin erschüttern und im Extremfall zur
Depression führen. Manchmal finden
Patient:innen in Selbsthilfegruppen Unterstützung,
aber auch diese sind natürlich
seltener als bei häufigeren
Erkrankungen.
In welchen seltenen Krankheitsgebieten
forscht Janssen beispielsweise?
Wir engagieren uns zum Beispiel im
Bereich Lungenhochdruck und seltenen
hämatologischen Erkrankungen wie Amyloidose
und Morbus Waldenström.
Außerdem forschen wir an Behandlungsmöglichkeiten
für einige seltene Lungenkrebsarten,
der seltenen Muskelschwäche
Myasthenia gravis sowie weiteren
Autoimmunkrankheiten. Auch die bisher
unheilbare Netzhauterkrankung Retinitis
pigmentosa sowie die Farbenblindheit
Achromatopsie stehen bei uns im Fokus.
Der medizinische Bedarf ist bei den
seltenen Krankheiten sehr groß und wir
wollen für die Betroffenen einen echten
Unterschied machen.
Wie will Janssen dazu beitragen, die
Versorgung bei seltenen Krankheiten
zu verbessern?
Neben der Forschung liegt ein wichtiger
Schwerpunkt in der Aufklärung – sowohl
in der Öffentlichkeit als auch gezielt bei
Ärzt:innen, der Selbsthilfe sowie in der
Lehre. Außerdem wollen wir die Diagnostik
beschleunigen und setzen zusammen
mit Partnern auf neue Technologien, die
zum Beispiel Biomarker und künstliche
Intelligenz nutzen.
Lungenhochdruck:
Manchmal gar nicht selten
Die pulmonale arterielle Hypertonie (PAH), eine spezielle
Form des Lungenhochdrucks, kommt selten vor. Allerdings
tritt bei manchen Menschen die Krankheit gar
nicht so selten auf – wer sind die Risikogruppen?
Ein erhöhtes PAH-Risiko haben beispielsweise Menschen
mit einem angeborenen Herzfehler. Schätzungsweise
entwickeln bis zu zehn Prozent der Betroffenen
eine PAH – selbst Jahrzehnte nach erfolgreicher Korrektur
des Herzfehlers. Außerdem sind chronische Bindegewebserkrankungen
wie die systemische Sklerose
mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko verbunden. Für
diese Risikogruppen ist daher ein regelmäßiger Check
in spezialisierten Zentren zu empfehlen.
PAH ist behandelbar
Die PAH lässt sich heute häufig langfristig gut behandeln.
Je frühzeitiger im Verlauf die Krankheit
erkannt wird, desto besser. „Bei fast der Hälfte
der Menschen mit PAH wird die Erkrankung nicht
richtig diagnostiziert. Deshalb ist es uns so wichtig,
über Lungenhochdruck aufzuklären“, erläutert
Dr. med. Stefanie Walther, Commercial Director Rare and
Infectious Diseases bei Janssen Deutschland.
Weitere Informationen zur Krankheit, Anlaufstellen und
Erfahrungsberichte bietet das Portal
JanssenWithMe.de
EM-87932
18 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
Morbus Fabry –
Das Chamäleon unter den seltenen Krankheiten
Bei der Erkrankung Morbus Fabry kommt es zur übermäßigen Speicherung von
Stoffwechselprodukten. Im Interview erklärt Dr. med. Jessica Kaufeld, Nierenexpertin
aus dem Fabry-Zentrum der Medizinischen Hochschule Hannover, warum das dazu
führt, dass sich die Krankheit vielfältig wie ein Chamäleon zeigt.
Text Doreen Brumme
Dr. med.
Jessica Kaufeld
Nierenexpertin aus
dem Fabry-Zentrum
der Medizinischen
Hochschule
Hannover
Warum gilt Morbus Fabry als das
Chamäleon unter den seltenen Erkrankungen?
Die erblich bedingte Speichererkrankung
Morbus Fabry führt zu Störungen beim
Abbau bestimmter Fette (Lipide). Insbesondere
das Globotriaosylceramid (kurz
Gb 3
) lagert sich übermäßig stark in einer
Vielzahl von Organen ab. Das beeinträchtigt
nach und nach deren Funktion.
Je nachdem welches Organ betroffen
ist, ergeben sich andere Symptome. Die
Erkrankung erscheint daher so vielfältig
wie ein Chamäleon.
Was passiert bei der Erkrankung im
Körper?
Die Stoffwechselstörung beruht auf einem
Mangel am Enzym Alpha-Galaktosidase A.
Dieses sorgt normalerweise dafür, dass
Fettstoffe aufgespalten und verarbeitet
werden können. Morbus-Fabry-Patient*innen
stellen das Enzym kaum bis
gar nicht her. Dies führt unter anderem
zu Herz-, Nieren- und Nervenproblemen.
Daher spricht man im weiteren Verlauf
auch von einer Multiorganerkrankung.
Was sind erste Anzeichen für einen
Morbus Fabry?
Klassische Anzeichen sind beispielsweise
Brennschmerzen in Händen und
Füßen und ein spezieller Hautausschlag
(stecknadelkopfgroße dunkelrot-violette
Papeln). Häufig berichten Patienten von
Herzproblemen wie Herzrasen, Magenproblemen,
Müdigkeit und Erschöpfung.
Findet man keine gute Erklärung, sollte
man an Morbus Fabry denken.
Viele Morbus-Fabry-Patient*innen
leiden Jahre, bis sie endlich ihre Diagnose
bekommen. Woran liegt das?
Die Vielfalt möglicher Symptome ist immens
und viele davon könnten durchaus
auch andere Ursachen haben. Meist
kommt es erst zur Diagnose, wenn sich
mit Fortschreiten der Erkrankung immer
mehr Beschwerden zeigen und diese
ganzheitlich und von Mediziner*innen
verschiedener Disziplinen gemeinsam
betrachtet werden. Bei unseren Patient*innen
kann der Leidensweg bis dahin
im Schnitt bis zu zwölf Jahre dauern.
Wie lässt sich der Leidensweg
abkürzen?
Mit Aufklärung. Denn ein früher Verdacht
könnte schneller zur sicheren
Diagnose und damit zur Behandlung
führen. Wir wissen längst, dass der Morbus
Fabry von einem Gendefekt verursacht
wird und dass das veränderte Gen
auf dem X-Chromosom der Geschlechtschromosomen
sitzt. Deshalb könnte
auch der Hinweis eines Familienmitgliedes
mit Symptomen dienlich sein. Oder
das Wissen einer Ärztin oder eines Arztes
darüber, dass zum Beispiel der Nachweis
von Eiweiß im Urin nicht nur unnormal
ist, sondern ein Anzeichen für Morbus
Fabry sein kann. Wer mit einem solchen
Befund bei uns im Zentrum nachfragt,
sei es der*die behandelnde Arzt*Ärztin
oder der*die Betroffene selbst, kann
sofort mit der Hilfe und Expertise eines
multidisziplinären Teams rechnen.
Wie behandeln Sie Morbus Fabry?
Morbus Fabry lässt sich mit einer
lebenslangen Enzymersatztherapie als
Infusion behandeln. Eine alternative
Therapie besteht in einer Kapsel zum
Einnehmen, die die Enzymaktivität
unterstützt, aber nur für spezielle Fabry-Patienten
geeignet ist (sog. Chaperontherapie).
Über die Indikation und
die Art der Behandlung entscheidet das
Fabry-Zentrum. Die Therapien haben
möglicherweise auch Nebenwirkungen,
die ebenfalls durch die Spezialisten
überwacht werden müssen.
Was wünschen Sie Morbus-Fabry-Patient*innen
für die Zukunft?
Ich wünsche mir schnellere Diagnosen
und damit kürzere Leidenswege für die
Patient*innen. Ganz weit oben auf meiner
Wunschliste stehen zudem Therapieformen,
die leichter oder seltener
anzuwenden sind. Weniger Nebenwirkungen
sind ebenso wünschenswert.
Voller Hoffnung schaue ich derzeit
auf die Arbeit der Kolleg*innen in der
Forschung, denn neue Methoden in der
Diagnostik und den Therapien für Morbus
Fabry sind schon in der klinischen
Erprobung.
Morbus Fabry Selbsthilfegruppe e. V. – Zusammen stärker!
An Morbus Fabry sind in ganz Deutschland etwa 1.200 Menschen erkrankt, mit einer hohen Dunkelziffer. Es ist eine Erbkrankheit, die zu Beginn sehr unspezifische
Auswirkungen hat: Schmerzen in den Gelenken, Flecken auf der Haut oder extreme Müdigkeit. So wird die Krankheit häufig erst festgestellt,
wenn sie schon große Schäden angerichtet hat: starke Nierenschädigung, Schlaganfall in jungen Jahren oder extreme Vergrößerung des Herzmuskels.
Unbehandelt sterben Patienten rund 25 Jahre früher.
Seit 20 Jahren gibt es für Patienten mit Morbus Fabry wirkungsvolle Therapien, die die Erkrankung stoppen oder verlangsamen. Je früher sie erkannt
wird, umso geringer sind die bleibenden Schäden. Doch gibt es nur wenige gute Behandlungszentren für diese seltene Erkrankung. Es ist wichtig, dass
wir als Gruppe von betroffenen Patienten sichtbarer werden, uns gegenseitig mit Informationen über Kliniken und neue Therapieansätze versorgen –
auch im persönlichen Austausch. Mit 120 Mitgliedern versucht die Morbus Fabry Selbsthilfegruppe (MFSH) unter anderem, in der Politik und in der Forschung
auf dieses Krankheitsbild aufmerksam zu machen. Informieren Sie sich weiter unter:
www.fabry-shg.org
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
19
Wenn die Diagnose 18 Jahre dauert
Ein Gespräch mit Conny Rudolph, Morbus-Fabry-Patientin, über die jahrelange Odyssee
bis zur Diagnose ihrer seltenen Erkrankung und ein neues Leben mit der Therapie.
Text Hanna Sinnecker
Sie sind Morbus-Fabry-Patientin und haben einen langen Weg
gehen müssen, bis Sie die Diagnose erhalten haben. Wann sind
die ersten Beschwerden aufgetreten und wann wurde letztlich die
Diagnose gestellt?
Ich habe die Krankheit wohl seit meiner Kindheit. Die Diagnose habe
ich allerdings erst im Dezember 2017 erhalten. Als Kind litt ich unter
Schmerzen, bei Hitze konnte ich nicht am Sport teilnehmen. Ärzte und
Eltern haben es auf das Wachstum geschoben. Mit Anfang 20 kamen Migräne
und Schmerzkrisen an Händen und Füßen hinzu. 2003 hatte ich
einen Schlaganfall, der zu spät erkannt wurde. Man diagnostizierte eine
psychogene Lähmung, mit der aber niemand etwas anfangen konnte.
Dann wurden die Schmerzen immer schlimmer. Schmerzmittel halfen
nicht.
Die Odyssee ging weiter: Man diagnostizierte eine Ablösung der Netzhaut
an meinem Auge, korrigierte den Befund aber wieder. 2015 war der
berufliche und private Stress so groß, dass ich wegen meiner Depression
mit Medikamenten behandelt wurde. Allerdings merkte ich, dass die
Antidepressiva meine Schmerzen minderten. An dieser Stelle wurde
meine Neurologin hellhörig. Daraufhin diagnostizierten Ärzte jedoch
bei den folgenden Untersuchungen fälschlicherweise erst MS und dann
vaskuläre Demenz. Meine Erkrankung war für keinen Arzt greifbar.
Irgendwann entschied sich meine Neurologin für eine Genomuntersuchung.
Eines Tages, an einem Donnerstagnachmittag rief sie mich an
und fragte, ob ich sitze. Sie teilte mir nach 18 Jahren meine Diagnose
mit. Ich habe Morbus Fabry.
Wie ging es nach der Diagnose weiter und wo haben Sie Hilfe
gefunden?
Leider hörte die Odyssee nicht auf: Ich musste ein halbes Jahr auf einen
Termin in einem medizinischen Zentrum warten. Dort teilten die Ärzte
mir mit, dass mein Morbus Fabry angeblich nicht krankheitsrelevant
sei. Das war für mich völlig absurd, denn meine sehr zahlreichen Symptome
waren ja offensichtlich. Bei einem MRT hatte sich inzwischen
herausgestellt, dass ich wohl in der Vergangenheit mehrere Schlaganfälle
und damit Zellschädigungen im Gehirn gehabt hatte, ohne dies zu
bemerken. Dennoch gab man mir keine Behandlung. An diesem Punkt
war ich komplett verzweifelt.
Ich wollte nichts mehr mit Ärzten zu tun haben. Hinzu kam die für mich
anstrengende Anfahrt und Wartezeit vor Ort. 2019 schlug mir meine
Neurologin einen zweiten Versuch in einem Zentrum in Dresden vor.
Anfang 2020 untersuchte man dort gefühlt jede meiner Zellen. Die Ärzte
nahmen auch meine Hautauffälligkeiten ernst, genauso wie meine
inzwischen verdickte Herzwand. Aufgrund der Corona-Pandemie konnte
jedoch meine Infusionstherapie nicht starten. Im Juli 2020 wurde ich
dann endlich behandelt, sechsmal in der Klinik alle 14 Tage. Seit Oktober
2020 therapieren mich Krankenschwestern bei mir zu Hause. Das
lässt sich natürlich leichter in meinen Alltag integrieren. Diese Therapie
mit Medikamenten erhalte ich nun ein Leben lang.
Wie sieht Ihr Leben nun aus und welche Rolle spielt Ihre
Erkrankung im Alltag?
Ich bin äußerst zufrieden. Der Umgang mit meinen Schmerzen ist um
Welten besser. Seit vielen Jahren kann ich endlich richtig schlafen. Das
bisherige Schlafdefizit hatte Unausgeglichenheit, Unkonzentriertheit
und Vergesslichkeit zur Folge. Jeder Stress im Beruf war vorher ein weiterer
Trigger für Schmerzen. Jetzt kann ich auch bei meiner Tätigkeit
als Sachbearbeiterin mehr Ruhe ausstrahlen.
Was würden Sie anderen Betroffenen gern mit auf den Weg geben?
Typische Tipps wie Arztwechsel oder mehr Informationen waren
in Ihrem Fall ja nicht hilfreich.
Man sollte sich unbedingt einen Anker suchen, der einen aufrichtet.
Man muss sich trauen, den Arzt zu wechseln, wenn der einen nicht
versteht. Es ist heute natürlich schwer, weil Ärzte terminlich überlastet
sind. Auch bei undefinierten Symptomen sollte man nicht die Hoffnung
aufgeben. Zentren für seltene Erkrankungen sind sehr interessiert und
hilfreich. Leider sind sie vor allem in großen Städten zu finden. Es lohnt
sich dennoch, einen langen Anfahrweg für den richtigen Ansprechpartner
in Kauf zu nehmen.
Conny
Rudolph
Morbus-
Fabry-
Patientin
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Morbus Fabry in der Familie?
Informationen für Betroffene und deren Angehörige
NP/GAL/001/190/DE02-22
Morbus Fabry ist eine genetische Erkrankung,
die über mehrere Generationen
einer Familie vererbt werden
kann. Das heißt: Wenn eine Person in
einer Familie die Diagnose Morbus
Fabry hat, können andere Familienangehörige
ebenfalls betroffen sein. [1]
Eine ausführliche Analyse des Familienstammbaums
ist daher sehr wichtig
für Betroffene und deren Angehörige.
Ich bin betroffen – Was nun?
Ist die Diagnose Morbus Fabry gestellt,
dann ist es für Betroffene wichtig zu
wissen, was die eigene Diagnose für
Familienangehörige bedeuten kann
und wer aufgrund des Vererbungsmusters
ein erhöhtes Risiko für Morbus
Fabry hat. Hier kommt die neue
Website www.fabryfamilytree.de
ins Spiel, die Betroffenen umfassende
Informationen und Hilfestellungen
an die Hand geben möchte. Dazu gehören
grundlegenden Informationen,
wie die Erkrankung vererbt wird und
wer in der Familie ein erhöhtes Risiko
hat. Über ein Online Stammbaumtool
kann man zusammen mit seinem behandelnden
Arzt seinen individuellen
Fabry-Stammbaum erstellen und für
die persönliche Nutzung herunterladen,
um Angehörige mit erhöhtem
Fabry-Risiko gezielt informieren zu
können. Die Daten werden streng vertraulich
behandelt. Die Website gibt
professionelle Hilfestellung, wie man
Angehörige mit erhöhtem Risiko dann
darauf ansprechen und sie aufklären
kann. Dazu gehört auch eine Briefvorlage,
die man nutzen kann, wenn eine
direkte Ansprache sich schwierig gestalten
sollte.
Informationen für Familienangehörige
mit erhöhtem Fabry Risiko
Auf der Website gibt es aber auch für
Angehörige von Morbus Fabry-Patienten
detaillierte Informationen, die
dabei helfen sollen, die Erkrankung
zu verstehen und warum sie selbst ein
erhöhtes Risiko haben. Dabei ist eines
sehr wichtig: ein erhöhtes Risiko bedeutet
nicht zwangsläufig, dass man
tatsächlich auch betroffen ist. Daher
sollten Angehörige, die laut Stammbaum
ein erhöhtes Risiko haben, unbedingt
einen Arzt ansprechen und
eine genetische Analyse durchführen
lassen. Das kann der eigene Hausarzt
oder aber der Fabry-Spezialist des
betroffenen Angehörigen sein.
Informationen für das Fachpersonal
Aber auch medizinisches Fachpersonal
findet auf der Website Materialien
und Hilfestellungen, wenn es darum
geht, Fabry-Patienten oder deren Angehörige
zu beraten und aufzuklären.
Dazu gehört ebenfalls die Nutzung
des Online Stammbaum-Tools in Zusammenarbeit
mit dem Patienten, sowie
weitere Broschüren, die beim Familienscreening
unterstützen sollen.
Informieren Sie sich unter
www.fabryfamilytree.de
[1] GERMAIN DP. ORPHANET J RARE DIS. 2010; 5:30
20 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
FOTO: SHUTTERSTOCK
Nicht-dystrophe Myotonien –
Wenn Muskelentspannung
ein Problem ist
Die Nicht-dystrophen Myotonien (NDM) sind seltene Erkrankungen. Von der
Erbkrankheit Betroffene, in Deutschland sind rund 2.000 Fälle diagnostiziert, können
ihre Muskeln nicht sofort wieder entspannen, wenn sie sie zum Bewegen angespannt
hatten. Vielmehr blockiert die Muskulatur – je nach Ausprägung der NDM mal mehr,
mal weniger stark, sodass die Beweglichkeit und damit auch die Lebensqualität leidet.
Dr. Rudolf Andre Kley hat sich unter anderem auf neuromuskuläre Erkrankungen
wie NDM spezialisiert. Im Interview erklärt er die Krankheitsursache, ihren typischen
Verlauf und bewährte Therapien.
Text Doreen Brumme
Dr. Rudolf
Andre Kley
Chefarzt der Klinik
für Neurologie und
Klinische Neurophysiologie
mit
Stroke Unit am St.
Marien-Hospital
Borken
Dr. Kley, Sie behandeln unter anderem
NDM-Patient*innen. Was ist
die Herausforderung für Ärzt*innen
beim Diagnostizieren von NDM-Erkrankungen?
Das ist ganz klar ihre Seltenheit. Die
meisten Ärzt*innen haben noch nie
eine Patientin oder einen Patienten
mit NDM gesehen und wissen leider
noch zu wenig darüber, sodass sich
die Diagnosestellung verzögern kann.
Zudem gibt es hinsichtlich der Beschwerden
Überschneidungen mit
anderen, viel häufiger vorkommenden
Erkrankungen. Die Herausforderung
ist also, trotzdem daran zu denken.
Besteht erst einmal ein Verdacht auf
NDM, lässt sich dieser meist schnell
und sicher bestätigen oder widerlegen.
Zum Beispiel mit klinischen Tests,
mit der Elektromyografie (EMG) oder
mit genetischen Untersuchungen. Am
einfachsten ist es, die Patient*innen
hierfür an einem Neuromuskulären
Zentrum vorzustellen.
Mit welchen Beschwerden kommen
NDM-Patient*innen zu Ihnen?
Die meisten klagen über eine muskuläre
Steifigkeit, die sie im Alltag beeinträchtigt.
Sie können zum Beispiel
bei einem Händedruck eine Hand und
beim Türöffnen die Klinke nicht sofort
wieder loslassen oder erklimmen die
Stufen einer Leiter nur verzögert. Häufig
wird die Muskelsteifigkeit
durch Kälte deutlich verschlimmert
und geht mit Schmerzen einher.
Manchmal kommt es auch zu einer
zeitweisen (bis zu mehreren Stunden
andauernden) Muskelschwäche.
Mitunter leiden die Betroffenen zudem
an einem Erschöpfungssyndrom,
dieses steht jedoch ebenso wie die
Schmerzen nur selten im Vordergrund.
Erste Beschwerden setzen in der Regel
schon in der Kindheit ein. Sie fallen
zum Beispiel beim Schulsport auf, wo
Betroffene, die Eltern oder Lehrkräfte
erkennen, dass Bewegungen nicht so
klappen, wie sie sollten.
Was passiert im Körper Betroffener,
wie wirkt die Erkrankung dort
konkret?
Bei Betroffenen sind spannungsabhängige
Ionenkanäle in den Zellmembranen
der Skelettmuskulatur mutiert,
sodass es zu Fehlfunktionen oder
gar einem Funktionsausfall kommt.
Infolgedessen kommt es zu Erregungsstörungen
der Muskeln. Man
unterscheidet dabei Erkrankungen
mit Störung eines Chloridkanals, die
häufiger bei Männern als bei Frauen
zu Symptomen führen, von den seltener
vorkommenden Störungen eines
Natriumkanals.
Wie behandeln Sie NDM?
Es gibt ein zugelassenes Medikament
in Tablettenform, das sich zur symptomatischen
Behandlung von NDM gut
bewährt hat. Es bringt den Patient*innen
zumeist eine schnell spürbare
Linderung ihrer Beschwerden. Manche
merken erst unter der Therapie, wie
eingeschränkt sie vorher durch die Muskelsteifigkeit
waren. Auch der Begriff
Jungbrunnen fiel schon mal im Hinblick
auf die medikamentöse Behandlung.
Welche begleitenden Maßnahmen
können Betroffenen zusätzlich zur
medikamentösen Therapie helfen?
Die Patient*innen sollten nach Möglichkeit
plötzliche starke Muskelanspannungen
vermeiden. In leichter
Bewegung zu bleiben, kann hingegen
helfen. Denn viele Patient*innen kennen
den Warm-up-Effekt: Die Muskeln
zeigen sich weniger steif, wenn sie in
Bewegung und damit „warm“ bleiben.
Bei Patient*innen mit einer kaliumsensitiven
Myotonie (PAM) erweist sich
auch eine kaliumarme Ernährungsweise
mitunter als hilfreich.
Wichtig: Stark ausgeprägte NDM können
psychisch belasten, insbesondere dann,
wenn die gestörte Mobilität den Alltag
funktional oder sozial beeinträchtigt. In
diesem Fall sollten sich die Betroffenen
bei Therapeut*innen Hilfe holen.
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
21
„Ich versuche,
so normal wie
möglich zu leben“
FOTO: PFRIVAT
Bei den nicht-dystrophen Myotonien handelt
es sich um seltene, genetisch bedingte
Erkrankungen mit Funktionsbeeinträchtigungen
von muskulären Ionenkanälen.
Das charakteristische Symptom ist die
Muskelsteifheit, verursacht durch eine
Störung der Muskelrelaxation, was die
Lebensqualität der Betroffenen negativ
beeinflussen kann. Im Interview spricht
NDM-Patientin Lilly Stenkamp über ihr
Leben mit der Erkrankung.
Lilly Stenkamp versucht,
ihren Alltag so
normal wie möglich
zu gestalten.
Frau Stenkamp, Sie sind von einer nicht-dystrophen
Myotonie betroffen. Wann traten bei Ihnen
erste Beschwerden auf und wie sahen diese aus?
Von Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass es
schon Auffälligkeiten gab, als ich noch ein kleines
Kind war. Ich bin öfters beim Laufen oder Rollerfahren
gestürzt. Anfangs wurde vermutet, dass ein
Bein kürzer sei als das andere. Doch die Beschwerden
begleiteten mich weiterhin. In der weiterführenden
Schule bin ich zum Beispiel im Sportunterricht einfach
hingefallen – mein Bein ließ sich nicht so schnell
nachziehen, um den nächsten Schritt zu machen. Dass
es sich dabei um eine Muskelsteifheit handelt, verursacht
durch eine Störung der Muskelrelaxation, wusste
damals niemand.
Wie lange hat es vom Auftreten der ersten Symptome
bis zur Diagnose gedauert und wer hat letztendlich
die Diagnose gestellt?
Da die Muskelerkrankung vererbt wird, habe ich sie
seit dem Kindesalter. Nur damals wusste das eben niemand.
Ende 2018 war ich wegen meiner Migräne bei
einem Neurologen in Behandlung. Nebenbei habe ich
ihm das mit den Verkrampfungen erzählt. Er hat mich
aufgeklärt, was es sein könnte, und hat anschließend
eine Untersuchung durchgeführt. Diese war positiv
und ich wurde in die Neurologie ins Krankenhaus zu
Prof. Dr. Kley geschickt. Seitdem bin ich bei ihm in
Behandlung. Im Oktober 2019 hatten wir den genauen
Befund und wussten auch, welches Gen betroffen ist.
Wie sieht Ihr Alltag mit der Erkrankung aus?
Eigentlich habe ich einen normalen Alltag. Kritisch
wird es, wenn mir kalt ist oder ich Stress habe. Beanspruche
ich meine Muskeln durch schwere Arbeit
oder Sport, dann merke ich, wie ich bei jeder nachfolgenden
Bewegung verkrampfe. Ich bin dann schon
sehr eingeschränkt, meine Bewegungen werden sehr
langsam. Die Anspannung eines Muskels klappt dann
zwar problemlos, die Entspannung jedoch nicht. Um
meine Faust zu öffnen, brauche ich einige Sekunden
länger – auch wenn ich dagegen ankämpfe. Zwei
Faktoren, die mich bei meinen Bewegungen stark einschränken,
sind Kälte und Adrenalin. Es lässt sich aber
natürlich nicht immer vermeiden, in solche Situationen
zu kommen.
Wie wird Ihre Erkrankung behandelt?
Ich habe ein Medikament bekommen, das sich positiv
auf NDM-Patienten ausgewirkt hat. Andere Behandlungsmethoden
gibt es zu dieser Krankheit nicht. Man
lebt einfach damit, lernt, sich selbst einzuschätzen,
und versucht, Dinge zu vermeiden, die sich negativ auf
die Muskeln auswirken.
Welche zusätzlichen Maßnahmen oder Hilfsmittel
helfen Ihnen dabei, die NDM in Schach zu halten?
Ich versuche, Kälte zu meiden, heize meine Wohnung
im Winter stark auf und ziehe mich warm an. Auch
versuche ich, Stress zu umgehen, was nicht immer
leicht ist. Mein emotionaler Zustand wirkt sich ebenfalls
auf die Muskeln aus. Manchmal reicht schon ein
Gedanke, der mir Angst macht, und schon merke ich,
dass ich verkrampfter in den Muskeln geworden bin.
Zudem versuche ich, schwere körperliche Arbeit zu
meiden, und gehe Dinge langsamer an, um eine Verkrampfung
des beanspruchten Muskels zu vermeiden.
Text Paul Howe
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22 Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de
„Ein unbehandeltes Cushing-
Syndrom verläuft sehr häufig tödlich“
Das Cushing-Syndrom gehört zu den seltenen endokrinologischen Erkrankungen und wird im Schnitt erst drei
Jahre nach Auftreten der ersten Symptome diagnostiziert. Das Warten auf die richtige Diagnose, verbunden
mit den durch die Erkrankung ausgelösten Beschwerden, kann eine große Belastung für Betroffene sein. Wir
sprachen mit Dr. med. Leah Braun, die unter anderem Cushing-Patient*innen behandelt.
Text Franziska Manske
Dr. med.
Leah Braun
Assistenzärztin
der Medizinischen
Klinik und Poliklinik
IV am Universitätsklinikum
München
Frau Dr. Braun, was sind die Schwierigkeiten
bei der Diagnosefindung und wo
liegen die Verwechslungsgefahren mit
anderen Erkrankungen?
Es gibt verschiedene Schwierigkeiten bei der
Diagnosestellung. Einerseits ist die Erkrankung
so ungewöhnlich, dass selten an ihr
Vorliegen gedacht wird. Im Schnitt werden
in Deutschland nur ungefähr 100 Patienten
pro Jahr neu diagnostiziert. Zudem beginnt
die Erkrankung oft schleichend mit wenigen
Symptomen und das typische klinische Vollbild
der Erkrankung entwickelt sich häufig
erst sehr spät im Krankheitsverlauf. Sehr
viele Symptome überschneiden sich mit anderen
Erkrankungen wie dem metabolischen
Syndrom, einer Depression oder einem polyzystischen
Ovar-Syndrom. Dadurch kommt
es leicht zu Fehldiagnosen oder verspäteten
Diagnosen. Auch die Labordiagnostik ist
herausfordernd, da die Erkrankung durch
erhöhte Cortisolwerte definiert ist. Nun gibt
es aber auch viele andere Erkrankungen oder
Situationen, die zu hohen Cortisolwerten
führen können. Daher sollten Patienten zur
Abklärung hoher Cortisolwerte in ein hierauf
spezialisiertes Zentrum gehen.
Welche Symptome belasten Betroffene
bis zur Diagnose und dem Start der Therapie
am meisten?
Dies kann ganz unterschiedlich sein. Belastend
sind natürlich einerseits die vielen körperlichen
Stigmata, die mit der Erkrankung
einhergehen können. Dazu zählen beispielsweise
eine Gewichtszunahme im Bereich des
Bauches, Akne, verstärktes Haarwachstum
an ungewöhnlichen Stellen – der sogenannte
Hirsutismus –, Hämatome, eine Rötung des
Gesichts, was als Plethora bezeichnet wird,
und die klassischen lividen Striae, welche
an Bauch und Beinen auftreten. Daneben
entwickeln viele Patienten aber auch eine
Myopathie, also eine Muskelschwäche,
die Betroffene im Alltag einschränkt, oder
eine Osteoporose, die zu schmerzhaften
Wirbelkörperfrakturen führen kann. Die
allermeisten Patienten leiden zudem unter
Depressionen und Schlafstörungen, aber
auch Angststörungen und eine verminderte
kognitive Leistungsfähigkeit treten vermehrt
auf. Neben all diesen sowieso schon belastenden
Symptomen führt der häufig lange
Krankheitsweg – im Schnitt konsultieren die
Patienten mehr als vier Ärzte, bevor die Diagnose
gestellt wird – zu einer zusätzlichen
Belastung.
Das Cushing-Syndrom ist glücklicherweise
gut behandelbar. Wie können sich die
verfügbaren Therapien positiv auf das
Leben Betroffener auswirken?
Ein unbehandeltes Cushing-Syndrom
verläuft sehr häufig tödlich, Patienten mit
unbehandeltem Cushing-Syndrom versterben
meist an kardiovaskulären Ereignissen
wie Schlaganfällen oder Herzinfarkten oder
an Infektionen. Die Langzeitprognose der
Patienten bessert sich durch eine effektive
Therapie enorm. Deshalb ist eine rasche
und effektive Behandlung essenziell. Es gibt
verschiedene Unterformen des Cushing-Syndroms,
aber alle werden in erster Linie operativ
behandelt. Nach der Operation kommt
es häufig zu einem schnellen Gewichtsverlust
und zu einer raschen Besserung von
metabolischen Komplikationen. Dies bedeutet,
wenn die Patienten unter einem Bluthochdruck
oder einem Diabetes leiden, dann
bessern sich beide Krankheitsbilder häufig
sehr schnell. Viele Patienten benötigen nach
einer Therapie zum Beispiel deutlich weniger
Blutdruckmedikamente.
Gibt es auch belastende Aspekte der
Therapie?
Ja, denn bei der häufigsten Form des Cushing-Syndroms,
dem sogenannten Morbus
Cushing, wird eine Operation an der Hypophyse
(Hirnanhangsdrüse) durchgeführt. Die
Hypophyse produziert zahlreiche Hormone,
die für das tägliche Leben wichtig sind.
Durch die Operation kann es zu Schäden an
der Hypophyse kommen. Falls eine Operation
nicht möglich ist oder nicht erfolgreich war, kann
das Cushing-Syndrom auch medikamentös
behandelt werden. Die verschiedenen
Medikamente führen zu einer Senkung des
Cortisolspiegels, wodurch sich die körperlichen
Begleiterscheinungen bessern. Natürlich
haben diese Medikamente aber auch Nebenwirkungen.
Diese unterscheiden sich von
Präparat zu Präparat. Einige Nebenwirkungen
vergehen nach einer Gewöhnungsphase,
während andere persistieren können. Für
einige Patienten, welche einen Morbus Cushing
haben, kann auch eine Strahlentherapie
infrage kommen. Hierbei ist allerdings zu
beachten, dass der Effekt der Strahlentherapie
oft erst ein bis zwei Jahre nach Behandlung
eintritt. Diese Wartezeit kann belastend
sein. In der Regel wird die Strahlentherapie
daher nur in Kombination mit einer medikamentösen
Therapie durchgeführt.
Wenn die Diagnose gestellt ist, kann
schnell mit einer Behandlung begonnen
werden, um Betroffene in Remission zu
führen. Gibt es auch in dieser Remissionsphase
belastende Aspekte?
Auch hier gibt es viele belastende Aspekte,
die häufig aber wenig im Fokus stehen.
Das eigentliche Problem der Therapie ist
der sogenannte Glukokortikoidentzug:
Das Cushing-Syndrom führt ja, wie gesagt,
zu sehr hohen Cortisolwerten. Nach der
Therapie leiden die Patienten unter dem
Gegenteil, einem Cortisolmangel. Dies
bezeichnet man als Nebenniereninsuffizienz.
Dieser rasche Wechsel von erst sehr
hohen Cortisolwerten zu sehr niedrigen
Cortisolwerten kann mit einer Reihe von
Patienten mit unbehandeltem Cushing-Syndrom
versterben meist an kardiovaskulären Ereignissen
wie Schlaganfällen oder Herzinfarkten oder an
Infektionen. Die Langzeitprognose der Patienten
bessert sich durch eine effektive Therapie enorm.
Problemen einhergehen: vermehrtem
Schlafbedürfnis, Gelenk- und Muskelschmerzen
und einer depressiven Stimmungslage.
Häufig geht es den Patienten
also in den ersten Monaten nach der Operation
erst mal subjektiv schlechter, bevor sie
sich langsam erholen. Dies ist insofern problematisch,
als das Glukokortikoidentzugssyndrom
nicht sehr bekannt ist und Patienten
daher häufig nicht darauf vorbereitet
werden. Viele Betroffene profitieren von
Schulungsprogrammen zum Umgang mit
der Nebenniereninsuffizienz, von einer
engmaschigen Betreuung, gegebenenfalls
auch von einer Rehabilitation und leichtem
körperlichem Training.
Zudem gibt es bei einigen Formen des
Cushing-Syndroms ein Rückfallrisiko. Alle
Patienten mit Cushing-Syndrom sollten daher
lebenslang in ein Nachsorgeprogramm
aufgenommen werden und einmal jährlich
untersucht werden. Hierbei werden dann
regelmäßig die Cortisolwerte gemessen,
um einen Rückfall, ein Rezidiv, frühzeitig
zu diagnostizieren.
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„Wenn Sie Cushing hätten, würden
Sie auch wie ein Cushing aussehen!“
Lars Rößler war vom Cushing-Syndrom betroffen und musste einige Hürden nehmen, bevor er
die richtige Diagnose erhalten hat. Warum seine Erkrankung ihn trotz der notwendigen OP ein
Leben lang begleiten wird, erzählt er uns im Interview.
Lars Rößler
Cushing-Patient
Text Hanna Sinnecker
Aspekte – sie war von vorne bis hinten ein Horror!
Der Schock, knapp an einer Querschnittslähmung
vorbeigeschrammt zu sein und gleichzeitig zu erfahren, dass
man möglicherweise eine schwere Krankheit hatte, von der
man nichts ahnte, war erheblich.
Herr Rößler, Sie waren betroffen vom Cushing-Syndrom.
Wie lange hat es bei Ihnen vom
ersten Auftreten der Beschwerden bis zur Diagnose
gedauert? Gab es Fehldiagnosen und, wenn ja,
welche?
Ab einem Alter von ziemlich genau 40 Jahren zeigten
sich bei mir einige Auffälligkeiten, die ich allenfalls
registrierte, ohne mir große Sorgen zu machen:
leichter Muskelschwund, Neigung zu Blutergüssen,
Atemaussetzer im Schlaf, später dann Bluthochdruck
und eine erhöhte Infektanfälligkeit. Äußerliche
Veränderungen vor allem im Gesicht fielen mir selbst
und anderen erst sehr viel später beim Betrachten
alter Fotos auf. Manches sprach ich durchaus auch
mal bei meinem Hausarzt an, der dazu nachsichtig
lächelnd meinte: „Ja, ja, wir werden alle älter …“ Der
Ernst der Lage wurde mir und allen anderen schlagartig
und recht dramatisch bewusst, als mir mit 47
infolge eines Hebetraumas ein Lendenwirbel brach
und in der Klinik Osteoporose diagnostiziert wurde.
Bei der Ursachensuche konnte auch der Endokrinologe
nicht gleich eine mögliche Primärerkrankung
feststellen, allerdings machte ich selbst mich gleich
mit den erhaltenen Blutwerten an die Internetrecherche.
Obwohl längst nicht alle Symptome bei mir
zutrafen, hatte ich gleich ein mulmiges Gefühl, als ich
auf eine mir bis dahin unbekannte Erkrankung namens
Morbus Cushing stieß. Als ich meinen Hausarzt
darauf ansprach, schien dieser amüsiert und meinte:
„Wenn Sie Cushing hätten, würden Sie auch wie ein
Cushing aussehen.“ In der Tat konnte von der meist
zu beobachtenden Stammfettsucht keine Rede sein,
trotzdem wiesen weitere Tests des Endokrinologen
darauf hin. Eine erste Bildgebung des Kopfes war zwar
unauffällig, sodass die Diagnosefindung erst einmal
weiterging, aber ein zweites MRT machte dann doch ein
vier Millimeter großes Hypophysenadenom sichtbar.
Was war für Sie auf dem Weg zur Diagnose am
belastendsten?
Der Schock, knapp an einer Querschnittslähmung
vorbeigeschrammt zu sein und gleichzeitig zu erfahren,
dass man möglicherweise eine schwere Krankheit
hatte, von der man nichts ahnte, war erheblich.
In den Wochen danach rauchte mir zeitweise der Kopf
vor lauter Recherchen und Grübeleien. Und dann zog
sich die Diagnose nach dem Bruch ja über zehn Monate
hin, bis wir Klarheit hatten. In dieser Zeit standen
durchaus auch mal andere Möglichkeiten im Raum.
So wurde mir recht mulmig, als ich in meinem Laborblatt
sah, dass auch Tumormarker getestet wurden.
Was hat sich nach Diagnosestellung und Therapiebeginn
verbessert? Gab es auch belastende
Aspekte der Therapie für Sie?
Auf der einen Seite war ich froh, nun endlich Klarheit
zu haben. Jedoch besteht die Therapie bei dieser Art
Erkrankung ja nun mal aus einer nicht ungefährlichen
Operation im Kopf. Leider war ich schlecht beraten,
was die Wahl der Neurochirurgie betraf. Und auf den
OP-Termin musste ich infolge dauernder Verschiebungen
nochmals ein halbes Jahr warten. Da war ich
dann mit den Nerven am Ende und wollte nur noch,
dass das Ding endlich rauskam. Leider gab es gleich
mehrere erhebliche Komplikationen in den Tagen
und Wochen nach der OP. Fehler bei der Nachsorge
bescherten mir eine schwere Nebennierenkrise, vor
allem aber kam ich wenige Tage nach Entlassung mit
einer schweren Meningitis in die Klinik zurück. Insofern
hatte die Therapie für mich nicht nur belastende
Sie befinden sich in Remission, d.h. die Symptome
der Erkrankung sind abgeschwächt bzw.
zurückgedrängt. Gibt es für Sie auch in Remission
belastende Aspekte, oder überwiegen die
positiven Faktoren?
In den Veröffentlichungen, die es zu dieser Krankheit
gibt, wie auch in den Erläuterungen der meisten
Ärzte wird oft der Eindruck erweckt, mit der Operation
sei nach jahrelangem Leiden dann alles gut.
In meinem Fall waren die Symptome ja nicht sehr
belastend, deswegen habe ich den Einschnitt infolge
des Bruchs und dann infolge der Operation natürlich
als regelrechten Absturz erlebt. Zwar hatte die OP
den erwünschten Erfolg: Mein Blutdruck war sofort
danach optimal, die Knochendichte verbesserte sich
allmählich, Atemaussetzer im Schlaf gab es auch
keine mehr. Aber alleine die hormonelle Umstellung
war eine Tortur – acht Monate höllische Gelenkschmerzen,
morgendliche Übelkeit, anfallartige
Schwächezustände, um nur einige Beispiele
zu nennen. Und da meine Nebennieren, die viele
Jahre viel zu viel Cortisol produziert haben, nach der
Operation zwei Jahre so gut wie gar nicht und heute,
nach fünfeinhalb Jahren, nur unzureichend arbeiten,
muss ich weiterhin Hydrocortison einnehmen,
mein Stresslevel im Auge behalten und bin
insgesamt sehr viel weniger belastbar geworden. Die
Macht der Hormone habe ich in den letzten Jahren
jedenfalls zur Genüge kennengelernt – so haben
auch meine kognitiven Fähigkeiten (z.B. Kurzzeitgedächtnis
und Multitasking) deutlich nachgelassen.
Zur Operation gab es trotzdem keine Alternative, nur
wüsste ich heute besser als damals, wohin ich mich
wenden müsste.
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0-22-02-1 Stand Feb. 2022