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frauenhaus

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Christina Caprez<br />

Wann, wenn<br />

nicht jetzt<br />

Das Frauenhaus in Zürich<br />

Herausgegeben von der<br />

Stiftung Frauenhaus Zürich<br />

Limmat Verlag<br />

Zürich


9 Vorwort<br />

Geschichte 13<br />

Mitte der 1970er-Jahre<br />

14 Die Frauenbewegung entdeckt ein neues Thema<br />

1977–1979<br />

25 Misshandelte Frauen zu beraten reicht nicht<br />

1979–1983<br />

34 Die Herkulesarbeit des Aufbaus<br />

1983–1986<br />

49 Richtungskampf und erste Strukturdiskussionen<br />

1986–1992<br />

62 Das Frauenhaus als Seismograf<br />

1992–1995<br />

71 Rassismus – (k)ein Thema unter Feministinnen<br />

1995–2001<br />

80 Die Stadt wird aktiv<br />

2001–2007<br />

95 Identitätskrise, Schliessung und Neueröffnung<br />

2007–2013<br />

110 Öffentliche Anerkennung und ein Abschied<br />

2013–2019<br />

118 Ins Frauenhaus – und dann?<br />

Die 2020er-Jahre und darüber hinaus<br />

130 Das Frauenhaus der Zukunft


Erfahrungen 145<br />

146 «Für mich gibt es ein Leben vor und eines<br />

nach dem Frauenhaus»<br />

158 «Im Frauenhaus galten Oliven als Luxusprodukt»<br />

165 «Wenn ich mich getrennt hätte, wäre ich<br />

ausgeschafft worden»<br />

174 «Entweder ich gehe jetzt, oder ich bin in zwei<br />

Wochen eine Schlagzeile»<br />

184 «Im Frauenhaus zu sein, ist für mich und<br />

meine Kinder ein Segen»<br />

189 «Früher dachten viele: Im Frauenhaus arbeiten alles<br />

linke Weiber mit selbst gestrickten Socken»<br />

195 «Freisprüche sind leider häufig»<br />

202 «Das Problem häusliche Gewalt ist nicht gelöst,<br />

wenn man den Täter inhaftiert»<br />

211 «Die Männer streiten die Gewalttat oft ab»<br />

Suna Yamaner<br />

253 Gesellschaftlicher Diskurs über häusliche Gewalt<br />

Susan A. Peter<br />

262 Erinnern als gelebte politische Praxis<br />

Anhang 287<br />

288 Zeitzeuginnen und Fachleute<br />

292 Stiftungsrätinnen seit 1981<br />

293 Literatur- und Quellenverzeichnis<br />

298 Die Autorin<br />

298 Dank<br />

Hintergrund 221<br />

Regula Kägi-Diener<br />

222 Schutz vor Gewalt: Rechtliches<br />

Maritza Le Breton<br />

233 Migrantinnen im Spannungsfeld von Migration<br />

und Gewalt gegen Frauen<br />

Bea Rüegg / Erika Haltiner<br />

245 Fachliche Hilfe für gewalt betroffene Frauen und Kinder


Vorwort<br />

Rund zwei Jahre ist es her, dass wir uns im Stiftungsrat der Stiftung<br />

Frauenhaus Zürich die Frage stellten, wie wir das 40-Jahr-Jubiläum<br />

der Stiftung zu feiern gedenken. Zeitgleich musste der Keller des<br />

langjährigen Bürogebäudes wegen einer Totalsanierung geräumt<br />

werden. Wie so häufig führte das eine zum anderen, und den Stiftungsrätinnen<br />

war bald klar, dass jetzt der Moment war, die alten<br />

Archivschachteln zu sichten, zu sortieren und die Geschichte der<br />

Stiftung in einem Buch zu würdigen. Um das Verständnis für die<br />

eigene Geschichte zu schärfen und einen Beitrag zum Wissenstransfer<br />

zu leisten, aber auch, um das Geleistete einem breiteren Publikum<br />

zugänglich zu machen. Im Namen des gesamten Stiftungsrats<br />

bedanke ich mich herzlich, sowohl bei Nathalie Widmer, die das<br />

fast 45-jährige Material archivarisch aufgearbeitet hat, als auch bei<br />

der Projektgruppe für ihren grossen Einsatz für dieses Buch: Christina<br />

Caprez, Autorin, Liliane Studer, Lektorin und in den 1970er-<br />

Jahren beim Aufbau des Berner Frauenhauses mit dabei, sowie<br />

Susan A. Peter, die Geschäftsführerin unserer Stiftung – sowohl<br />

für die Geschichte der Stiftung als auch für dieses Buch unersetzbar.<br />

Das Resultat spricht für sich.<br />

Unser Dank gilt aber auch allen ehemaligen engagierten Gründungsfrauen<br />

bzw. Mitarbeiterinnen, allen Vorstandsfrauen sowie<br />

den ehemaligen wie den heutigen Stiftungsrätinnen. «Wann, wenn<br />

nicht jetzt?», fragten sich die Frauen des Vereins zum Schutz misshandelter<br />

Frauen und deren Kinder, als sie in den 1970er-Jahren<br />

in Zürich eines der ersten Frauenhäuser der Schweiz eröffneten.<br />

Ihr Pionierinnengeist und ihr langjähriges Engagement für das<br />

Frauenhaus bleiben auch aus heutiger Perspektive beeindruckend.<br />

Die Stiftung bietet heute ein professionelles Kriseninterventionsangebot<br />

für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder und stellt<br />

sich regelmässig die Frage, wie der Opferschutz noch besser und<br />

9


nachhaltiger werden kann. So hat die Stiftung denn auch ab 2015<br />

ein erstes Postventionsangebot in der Schweiz für Klientinnen und<br />

deren Kinder nach ihrem Frauenhausaufenthalt konzipiert und<br />

umgesetzt, das VistaNova. Wie zu Pionierinnenzeiten – und doch<br />

im Heute – ist es der Stiftung ein grosses Anliegen, stets mit hörbarer<br />

Stimme das Thema parteilich, feministisch und mit wachem<br />

Auge zu vertreten und den von Gewalt betroffenen Frauen und<br />

Kindern damit Gehör zu verschaffen.<br />

Nach wie vor verstehen wir als Stiftung die konkrete Arbeit im<br />

Alltag auch als Auftrag, das Problem der Gewalt an Frauen in der<br />

Öffentlichkeit bewusster zu machen. Heute streitet zwar kaum jemand<br />

mehr ab, dass Gewalt gegen Frauen existiert. Und doch bleibt<br />

es unsere Kernaufgabe, betroffenen Frauen und ihren Kindern<br />

einen Ort anzubieten, der Zuflucht und Sicherheit garantiert – immer<br />

dann, wenn sie sich die Frage stellen müssen: Wann, wenn<br />

nicht jetzt, brauche ich Schutz? Auch wenn es immer noch Menschen<br />

gibt, die weiterhin meinen, dass es sich bei häuslicher Gewalt<br />

um individuelle Schicksale handelt. Der Stiftung ist es darum ein<br />

grosses Anliegen, die individuell erlebte Gewalt von Frauen auch<br />

im grösseren gesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen und zu<br />

den notwendigen politischen Debatten anzuregen, um strukturelle<br />

Veränderungen zu erreichen. Denn Gewalt gegen Frauen hat<br />

nicht nur viele Formen, sie hat System, gestern, heute und auch<br />

morgen noch.<br />

In diesem Sinne bedanken wir uns mit dem Buch bei allen an<br />

der Geschichte der Stiftung interessierten Leser:innen, allen Spender:innen,<br />

den Zusammenarbeitspartner:innen und all jenen, die<br />

das grosse Problem Gewalt gegen Frauen und Kinder und häusliche<br />

Gewalt ernst nehmen und zu einer Gesellschaft ohne Gewalt beitragen.<br />

Heute bieten sich sowohl für die Stiftung als auch für die<br />

Schweiz Gelegenheiten auf verschiedenen Ebenen, die Problematik<br />

umfassend anzugehen, sich weiterzuentwickeln und mutige nächste<br />

Veränderungsschritte aufzugleisen. Die Umsetzung des 2018 in<br />

Kraft getretenen Übereinkommens zur Verhütung und Bekämpfung<br />

von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention)<br />

hat gute Voraussetzungen dafür geschaffen, nun endlich<br />

eine Nulltoleranz gegenüber Gewalt einzufordern, auch gegenüber<br />

Frauen und Kindern.<br />

Zürich, Dezember 2021<br />

Gabriela Medici<br />

Präsidentin Stiftung Frauenhaus Zürich<br />

10


Christina Caprez<br />

Geschichte


Mitte der 1970er-Jahre<br />

Die Frauenbewegung entdeckt<br />

ein neues Thema<br />

Die 1970er-Jahre waren elektrisierende Zeiten für Frauen in Europa<br />

– in Paris und Berlin genauso wie in Zürich. In vielen Städten<br />

bildeten sich autonome Frauengruppen. Frauen erkannten, dass<br />

sie vermeintlich individuelle Alltagserfahrungen teilten, dass ihre<br />

Erfahrungen also gesellschaftliche Wurzeln haben mussten. «Das<br />

Private ist politisch» war eine zentrale Erkenntnis in der Bewegung.<br />

Es ging um den eigenen Körper, um Schwangerschaftsabbruch,<br />

Pornografie, Sexualität. Lesben organisierten sich. Die Feministinnen<br />

kritisierten nicht nur die patriarchalen Strukturen der Gesellschaft,<br />

sondern auch den Machismo der linken Genossen, die<br />

die Unterdrückung der Frauen nur als Nebenwiderspruch sahen.<br />

Gleichzeitig grenzten sie sich von der Generation der Mütter ab, die<br />

das Frauenstimmrecht mit – aus Sicht der Töchter – braven Methoden<br />

wie Petitionen erkämpft hatte.<br />

In der Deutschschweiz organisierten sich die autonomen Feministinnen<br />

in der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) und in der Organisation<br />

für die Sache der Frau (OFRA). Mit aufsehenerregenden<br />

Aktionen, mit Demonstrationen und Häuserbesetzungen machten<br />

sie auf ihre Anliegen aufmerksam. Im Kampf um das Recht auf<br />

Schwangerschaftsabbruch schmissen sie 1975 nasse Windeln auf<br />

Nationalräte. Und aus Protest gegen Pornografie und Prostitution<br />

bewarfen sie Besucher eines Stützlisex-Lokals an der Zürcher Langstrasse<br />

mit Mehl. An der Lavaterstrasse beim Bahnhof Enge eröffneten<br />

die Feministinnen 1974 ein Frauenzentrum, ein paar Strassen<br />

weiter kurze Zeit später einen Frauenbuchladen.<br />

Das Bewusstsein, Teil einer internationalen Bewegung zu sein,<br />

befeuerte die Feministinnen. Im März 1976 reiste eine Delegation<br />

aus Zürich nach Brüssel ans Internationale Frauentribunal, an<br />

dem über 2000 Frauen aus 40 Ländern teilnahmen. Inspiriert von<br />

Kriegsverbrechertribunalen sammelten sie Zeugnisse aller Formen<br />

von Gewalt, die sie im Alltag erlebten: von Vergewaltigung und<br />

Gewalt in der Ehe über Pornografie und Sexismus in der Werbung<br />

bis hin zu Diskriminierung in der Ausbildung und am Arbeitsplatz.<br />

Mit dabei war auch Jeanne DuBois, eine 25-jährige Juristin aus<br />

Zürich.<br />

Jeanne DuBois: Im Vorfeld des Tribunals sammelten wir an<br />

einer Kunstauktion im Volkshaus Geld für die Anreise mittelloser<br />

Frauen. Die Tagung war riesig, es gab unzählige Arbeitsgruppen,<br />

die Frauen halfen einander mit Ad-hoc-Übersetzungen.<br />

Die Stimmung war toll. Besonders beeindruckt hat mich<br />

ein Bericht der Gründerinnen des ersten Frauenhauses in<br />

London.<br />

In London gab es seit 1972 das erste Frauenhaus in Europa, 1976<br />

eröffneten Feministinnen in Berlin und Köln die ersten Frauenhäuser<br />

– Zufluchtsorte für Frauen, die in ihrer Ehe Gewalt erfuhren.<br />

Deren Erfahrungsberichte in Buchform lagen im Zürcher<br />

Frauenbuchladen auf, wo Annemarie Leiser, ebenfalls FBB-Mitglied<br />

und Sozialpädagogin in einem freien Kindergarten, darauf<br />

stiess. Die Lektüre erschütterte sie, und sie begann, mit Freundinnen<br />

über das Thema Gewalt gegen Frauen zu sprechen. An einem<br />

Abendessen im Frauenzentrum im November 1976 fragte Leiser<br />

in die Runde, wer sich mit dem Thema näher auseinandersetzen<br />

wolle, und stiess auf offene Ohren bei den Frauen am Tisch – unter<br />

ihnen die angehende Sozialarbeiterin Lisbeth Sippel und die Juristin<br />

Jeanne DuBois, die das Thema seit ihrer Reise nach Brüssel nicht<br />

mehr losliess.<br />

14 15


Annemarie Leiser: Am grossen Brett im Frauenzentrum,<br />

wo schon hundert andere Zettel hingen, machten wir dann<br />

einen Anschlag mit der Info, dass wir eine Arbeitsgruppe zum<br />

Thema Gewalt an Frauen gründen wollen. Beim ersten Treffen<br />

kamen auf Anhieb gegen 20 Frauen. Es war ein günstiger<br />

Moment innerhalb der FBB: Der Kampf für den Schwangerschaftsabbruch<br />

war vorbei, die Beratungsstelle INFRA gegründet,<br />

ein neues Thema willkommen.<br />

Die Jahre davor waren vom Engagement für den straflosen Schwangerschaftsabbruch<br />

geprägt gewesen. Die FBB-Frauen hatten sich<br />

sogar auf den parlamentarischen Weg eingelassen, um das Ziel zu<br />

erreichen, und 1971 – im Jahr, als die Schweizer Männer endlich<br />

Ja sagten zum Frauenstimmrecht – einen grossen Teil der Unterschriften<br />

für eine nationale Volksinitiative gesammelt. Doch im<br />

Rahmen von Parlamentsdebatte und Vernehmlassung wurde die<br />

Vorlage abgeschwächt: Im Januar 1976 zog das Initiativkomitee das<br />

Begehren zurück, um den Weg freizumachen für die moderatere<br />

Fristenlösung. In der Folge wandte sich die FBB, die für das volle<br />

Selbstbestimmungsrecht der Frauen ohne Frist eintrat, ernüchtert<br />

vom Abstimmungskampf ab.<br />

Das Engagement für das Thema Gewalt gegen Frauen gab der<br />

Be wegung frischen Schwung. Es war neu, es betraf ein gesellschaftliches<br />

Tabu, und es bot die Möglichkeit, fundamentale Gesellschaftskritik<br />

– an der Institution Ehe, an den Machtverhältnissen<br />

zwischen Männern und Frauen – mit einem ganz konkreten Projekt<br />

– der Gründung eines Frauenhauses – zu verbinden. Geschlagene<br />

Frauen, wie sie im Jargon der Zeit genannt wurden, galten als offensichtlichster<br />

Beweis der patriarchalen Gewalt, die alle Frauen tagtäglich<br />

erlebten. Die Treffen der Arbeitsgruppe verliefen anfangs<br />

chaotisch. Es gab weder eine Traktandenliste noch eine Sitzungsleitung<br />

oder ein Protokoll. Frau trank viel Wein und rauchte. Die<br />

Journalistin Marianne Pletscher, die mit der Frauenbewegung sympathisierte<br />

und einen Fernsehfilm zum Thema plante, nahm an<br />

einer der ersten Sitzungen teil.<br />

Marianne Pletscher: Damals war das eine ziemliche Spontigruppe.<br />

Die Sitzungen waren endlos, da wurde nach meinem<br />

Gefühl viel im Kreis herumgeredet. Der Ausdruck «professionell»<br />

war schon fast ein Schimpfwort. Ich war nicht sicher,<br />

ob sie jemals ein Frauenhaus auf die Beine stellen würden.<br />

Doch da täuschte ich mich. Ausgerechnet jene Frauen brachten<br />

dann das effzienteste Projekt der Frauenbewegung zustande<br />

– und dies in kurzer Zeit …<br />

Dazu musste sich die Bewegung zuerst auf ein gemeinsames Ziel<br />

und vor allem eine Strategie verständigen, denn die Meinungen<br />

gingen stark auseinander. In der Arbeitsgruppe kristallisierten sich<br />

bald zwei Strömungen heraus: die Realos, die sich für die geschlagenen<br />

Frauen einsetzen, und die Radikalen, die lieber öffentlichkeitswirksame<br />

Aktionen organisieren und fundamentalen Widerstand<br />

leisten wollten.<br />

Lisbeth Sippel: An einem Wochenende kam es zum Clash<br />

zwischen den beiden Gruppen. Wir Realos mussten ziemlich<br />

einstecken.<br />

Annemarie Leiser: Nachts kicherten einige im Mehrbettzimmer<br />

zu mir herüber: «Hast du das Protokoll schon geschrieben?<br />

Ha ha!» Für die Radikalen war ein Protokoll etwas<br />

Bürgerliches. Sie fanden, wir seien langweilige Bürokratinnen,<br />

sie seien die eigentliche Frauenbewegung und führten<br />

ein freieres, lustigeres Leben. Anderntags hatten wir dann ein<br />

klärendes Gespräch und beschlossen, dass es besser war, wenn<br />

wir uns trennten.<br />

16 17


Lisbeth Sippel: Die Radikalen, darunter viele aus der Lesbenszene,<br />

traten aus der Arbeitsgruppe aus. Sie wollten das<br />

Thema breiter angehen, sie prangerten den Sexismus generell<br />

an. Allerdings kritisierten auch wir Realos strukturelle<br />

Gewalt und wollten nicht einfach nur ein Sozialprojekt machen.<br />

Annemarie Leiser: Wir hofften darum auch, dass wir einander<br />

ergänzen würden – unsere Arbeit für das Frauenhaus und<br />

ihre Aktionen in der Öffentlichkeit. Allerdings waren wir<br />

dann ziemlich absorbiert mit unserem Projekt. Wir, also die<br />

Ar beitsgruppe Gewalt an Frauen, bestanden weiter, die andere<br />

Gruppe löste sich bald auf.<br />

Im Frühling 1977 gründeten zehn Frauen aus der Arbeitsgruppe<br />

den Verein zum Schutz misshandelter Frauen und deren Kinder.<br />

Protokolle sahen sie als wichtiges Kommunikationsmittel, um Abwesende<br />

auf dem Laufenden zu halten. Eine Sitzungsleitung war<br />

aber weiterhin tabu. Die Gruppe orientierte sich am Ideal der Basisdemokratie,<br />

Hierarchien waren verpönt. An der ersten Sitzung<br />

nahm Konstanze Pistor teil, eine Feministin aus Berlin, die zufällig<br />

gerade in Zürich war. Pistor und ihre Mitstreiterinnen hatten vor<br />

wenigen Monaten im Stadtteil Grunewald ein Frauenhaus eröffnet.<br />

Zuvor hatten die Feministinnen zwei Jahre lang in der Stadt für<br />

ihr Anliegen geweibelt, hatten die Öffentlichkeit sensibilisiert und<br />

erfolgreich Geld beantragt. So hörten die Zürcherinnen aufmerksam<br />

zu, als Pistor ihnen eine ganze Liste konkreter Ratschläge mitgab:<br />

Sie sollten eine Studie zur Problemlage erstellen, die Stadt um<br />

eine Liegenschaft ersuchen, Frauen in öffentlichen Positionen gezielt<br />

um Unterstützung anfragen («aber erst, nachdem das Projekt<br />

schon etwas gefestigt ist»), eine Kartei mit Pressekontakten erstellen<br />

und parallel zur ersten grossen Medienkonferenz ein Spendenkonto<br />

eröffnen.<br />

In den darauffolgenden Treffen gingen die Frauen zielstrebig an<br />

die Arbeit und liessen sich dabei von den Erfahrungen aus Berlin<br />

inspirieren. Um zu beweisen, dass auch in der Schweiz Frauen von<br />

ihren Männern misshandelt wurden, verschickten sie einen Fragebogen<br />

zu Art und Ausmass von Gewalt an mehrere Hundert Fachpersonen<br />

und Ämter, darunter Ärzte, Psychiaterinnen, Pfarrer und<br />

Eheberatungsstellen. Und sie traten in Kontakt mit Politiker:innen.<br />

Bei SP-Kantonsrat und Eheschutzrichter Armand Meyer stiessen<br />

sie auf offene Ohren. Meyer war in seinem Berufsalltag häufig mit<br />

Frauen konfrontiert, die von ihren Ehemännern misshandelt wurden.<br />

Er fühlte sich in diesen Situationen oft ohnmächtig, weil er den<br />

Frauen nicht die nötige Hilfe anbieten konnte – wenn sie den Weg<br />

zu ihm überhaupt fanden. Denn viele Frauen wagten den Schritt<br />

zum Arzt oder Richter schon gar nicht. Zu gross war ihre Angst vor<br />

noch grösseren Repressalien, sollte der Ehemann entdecken, dass<br />

die Frau die Gewalt nicht mehr einfach hinnahm.<br />

Zum einen fürchteten viele Frauen – zu Recht – das Gesetz: Gemäss<br />

Zivilgesetzbuch durfte der Mann als «Haupt der Familie» die<br />

eheliche Wohnung bestimmen. Zwar galt eine «ernsthafte Gefährdung<br />

der Gesundheit» eines Ehegatten als legitimer Grund, den<br />

Haushalt zu verlassen, jedoch nur für die Dauer der Gefährdung.<br />

Zum anderen mussten die Frauen Beweise vorlegen. Hatte eine Frau<br />

Mut gefasst und Meyers Amtsstube betreten, musste er sie nach<br />

Anhörung ihres Berichts wieder nach Hause schicken. Zwar konnte<br />

er mittels dringlicher superprovisorischer Massnahmen den<br />

Mann aus der Wohnung weisen. Doch zuvor musste er ihm rechtliches<br />

Gehör gewähren, was Zeit kostete.<br />

Am 18. April 1977 reichte Meyer im Kantonsrat eine Interpellation<br />

ein. Er forderte den Regierungsrat auf, Zahlen zum Problem<br />

«bedrängte Ehefrauen und ihre Kinder» zu erheben und Massnahmen<br />

in Form von Beratung und Notunterkünften zu ergreifen.<br />

Die Dringlichkeit seines Anliegens unterstrich er mit einer eigenen<br />

Zählung am Zürcher Bezirksgericht: Allein zwischen Januar und<br />

18 19


März 1977 hätten sich 153 Betroffene beim Gericht gemeldet. Bei<br />

27 von ihnen sei die «Brutalität der Ehemänner» derart massiv gewesen,<br />

dass eine sofortige Trennung und der Bezug einer Notunterkunft<br />

«dringendst» erforderlich gewesen wären. Neun dieser Frauen<br />

hätten jedoch keine Unterkunft gefunden.<br />

Parallel werteten die Mitglieder des Vereins zum Schutz misshandelter<br />

Frauen und deren Kinder ihre eigene breiter angelegte<br />

Umfrage aus. Die Resultate waren erschütternd: 81 Prozent der<br />

antwortenden Fachleute waren regelmässig mit dem Problem Gewalt<br />

gegen Frauen konfrontiert (25 Prozent täglich, 28 Prozent<br />

wöchentlich, 28 Prozent monatlich). Die Gewaltformen reichten<br />

von «Schlagen» über «Geschlechtsverkehr unter Zwang» bis hin zu<br />

«Zigarette auf der Haut und im Gesicht der Frau ausdrücken». Auch<br />

psychische Gewalt wurde erwähnt: «die Frau unter finanziellem<br />

Druck halten, (…) Liebesentzug, Drohungen, Selbstmord zu verüben<br />

und / oder die ganze Familie zu erschiessen», ausserdem «Lächerlichmachen<br />

der Frau, Verlassen der Familie auf unbestimmte<br />

Zeit, Gesprächsverweigerung usw.».<br />

Im Juni 1977 präsentierten die Vereinsfrauen die Ergebnisse<br />

ihrer Umfrage an einer Pressekonferenz. Gemäss ihrem feministischen<br />

Anspruch war es ihnen wichtig, nicht nur Art und Ausmass,<br />

sondern auch die gesellschaftlichen Ursachen der Gewalt deutlich<br />

zu benennen.<br />

Aus der Pressemitteilung des Vereins<br />

zum Schutz misshandelter Frauen vom 15. 6. 1977<br />

Als Frauen leben wir in einer Welt von Verboten und Geboten<br />

mit dem Resultat, dass sehr viele von uns isoliert in ihren<br />

Wohnungen mit Haushalt und Kindern leben. Wir sprechen<br />

kaum miteinander und glauben, dass wir alle Einzelschicksale<br />

hätten ohne jede Gemeinsamkeit mit anderen Frauen. Psychische<br />

Gewalt, Diskriminierung in Erziehung und Ausbildung,<br />

Benachteiligung am Arbeitsplatz und auf Gesetzesebene sowie<br />

die Vermarktung der Frauen in Werbung und Film bestimmen<br />

unser alltägliches Leben und gehören genauso in den Bereich<br />

Gewalt gegen Frauen. Die körperliche Misshandlung ist wahrscheinlich<br />

die augenfälligste brutale Äusserung dieser Gewalt.<br />

Die Medien nahmen das neue Thema auf. Der Blick inszenierte<br />

einen Geschlechterkampf: «Jetzt schlagen geprügelte Schweizer<br />

Frauen zurück.» Das Badener Tagblatt wunderte sich: «Auch ‹brave›<br />

Eidgenossen prügeln.» Allerdings wies kaum eine Zeitung auf den<br />

Zusammenhang zwischen Gewalt und patriarchalen Gesellschaftsstrukturen<br />

hin. Nur einzelne Artikel im Brückenbauer und im Tages-<br />

Anzeiger, geschrieben von engagierten Journalistinnen, gingen<br />

näher auf die Hintergründe ein.<br />

Eheschutzrichter Meyer wandte sich ebenfalls an die Öffentlichkeit.<br />

In einem Artikel in der sozialdemokratischen Zeitung Volksrecht<br />

vom 21. Juni 1977 schilderte er eindringlich den Fall einer<br />

45-jährigen Hausfrau und Mutter dreier Kinder, die von ihrem Mann<br />

regelmässig so sehr misshandelt wurde, dass sie ärztlich versorgt<br />

werden musste. «Sie hat uns ziemlich scheussliche Fotos von solchen<br />

Verletzungen gezeigt», berichtete Meyer. «In der Nacht zuvor<br />

war sie wieder einmal sehr heftig malträtiert worden. Am liebsten<br />

wäre sie gar nicht mehr heimgegangen. Wir mussten ihr das aber<br />

zumuten, mindestens bis zur Verhandlung. Wir wussten ja auch<br />

nicht, wohin sie sonst hätte gehen sollen!» Nachdem die Frau zwei<br />

weitere Male beim Eheschutzrichteramt vorgesprochen habe und<br />

heimgeschickt worden sei, habe sie wenige Tage später ihr Begehren<br />

zurückgezogen.<br />

Auch ausserhalb von Zürich war das Thema Gewalt gegen Frauen<br />

immer virulenter geworden. In Genf existierte das älteste Frauenhausprojekt<br />

der Schweiz: Die Feministin Geneviève Piret öffnete<br />

ihre eigene Wohnung für misshandelte Frauen. In Bern gründeten<br />

autonome Feministinnen 1977 ebenfalls eine Arbeitsgruppe.<br />

20 21


Wie die Zürcherinnen orientierten sie sich am Beispiel deutscher<br />

Frauengruppen, die die Selbstorganisation und Selbstbestimmung<br />

der Betroffenen ins Zentrum rückten. Doch die autonomen Feministinnen<br />

erhielten Konkurrenz von bürgerlicher Seite: In Basel<br />

boten christliche Heime misshandelten Frauen Schutz. In Bern war<br />

eine private Stiftung, das Mütter- und Pflegekinderhilfswerk, dabei,<br />

Wohnungen für Betroffene einzurichten, lehnte das Modell Frauenhaus<br />

jedoch ab, da sich dort «die Probleme der Frauen geradezu<br />

bal len». Die autonomen Feministinnen sahen es genau umgekehrt:<br />

Erst durch das Zusammenleben und den Austausch mit anderen<br />

Betroffenen würden misshandelte Frauen erkennen, dass ihre Situation<br />

kein individuelles Verschulden war. Christliche Heime und<br />

Hilfswerke waren für die Feministinnen nichts anderes als patriarchale<br />

Institutionen, die den Frauen helfen wollten, dabei aber nicht<br />

deren Autonomie im Blick hatten, sondern die Rückkehr zum geläuterten<br />

Ehemann ins traute Heim.<br />

Als am 22. August 1977 der Zürcher Kantonsrat die Interpellation<br />

von Armand Meyer behandelte, zogen die Feministinnen zum<br />

Rathaus am Limmatquai und verteilten Flugblätter an die eintrudelnden<br />

Kantonsräte – fast ausschliesslich Männer. Seit der Einführung<br />

des Frauenstimmrechts waren sechs Jahre vergangen, im<br />

180-köpfigen Kantonsparlament sassen gerade mal acht Frauen. Ein<br />

Kolumnist der Basler Zeitung hielt die Szene später in einer Glosse<br />

fest. Ein «schon leicht ergrauter Volksvertreter» habe beim Anblick<br />

der Feministinnen geflachst: «Die sehen ja noch ganz gesund aus!»<br />

Auch später im Ratssaal sei die Debatte von Heiterkeit geprägt gewesen.<br />

Die Antwort von Justizminister Arthur Bachmann auf die Interpellation<br />

Meyer war eine herbe Enttäuschung für die Vereinsfrauen,<br />

die die Diskussion auf der Tribüne verfolgten. Der Regierungsrat<br />

hatte die Fürsorge-, Erziehungs- und Polizeidirektion nach ihren<br />

Erfahrungen mit dem Problem gefragt. Ihre Antwort: In den meisten<br />

Fällen hätten Frauen wie Männer ihren Anteil an den Konflikten.<br />

Dabei seien es oft die Frauen, deren «ständige und peinigende<br />

Sticheleien, wortreiche Klagen und Beschuldigungen zu aggressiven<br />

Entladungen führen, mit denen der ‹Brutale› die erhaltenen Schmerzen<br />

und Erniedrigungen zu kompensieren sucht». Mit anderen Worten:<br />

Die Frauen waren selber schuld, sie hatten die Gewalt provoziert,<br />

eigentliche Opfer waren die Männer.<br />

Vor diesem Hintergrund sei zu befürchten, dass die Schaffung<br />

von Unterkünften eine «Sogwirkung» zur Folge hätte, «welche<br />

Frauen erlaubt, der Konfliktbewältigung auszuweichen, und brutale<br />

Männer in ihrer Haltung, Frauen und Kinder aus dem Hause zu<br />

jagen, bestätigt, weil der Staat ja hierfür vorgesorgt habe». Wichtiger<br />

als das Leid, das gewalttätige Ehemänner ihren Frauen zufügten,<br />

war in den Augen des Regierungsrats eine andere Tatsache: «Solche<br />

Akte der Brutalität (…) zerstören die Ehe als Urzelle des Staates (…).»<br />

Und – so konnte man zwischen den Zeilen lesen – indem man den<br />

Frauen die Möglichkeit gab, den gemeinsamen Haushalt zu verlassen,<br />

vernichte man die Ehe endgültig, anstatt sie zu kitten.<br />

Bei den Feministinnen auf der Zuschauertribüne rumorte es.<br />

Aufgewühlt hörten sie zu, als Armand Meyer entgegnete: «Dass<br />

damit die Familien zerstört werden, kann nicht behauptet werden,<br />

denn sie sind es längst.» Ratsmitglied Verena Grendelmeier von der<br />

LdU wies auf die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Männern<br />

und Frauen hin und kritisierte die Regierung: «Mit der bisherigen<br />

1.-August-Mentalität kommen wir nicht weiter!» Prompt konterte<br />

SVP-Kollege Carl Bertschinger, ob es die Angst vor Schlägen gewesen<br />

sei, die Grendelmeier bisher daran gehindert habe zu heiraten.<br />

Die Ratsherren hielten sich die Bäuche. Niemand verteidigte Grendelmeier.<br />

Jahre später erinnerte sich die Politikerin: «In der Pause<br />

kam ein anderer von der SVP und wollte sich entschuldigen. Ich<br />

sagte ihm, dass ich für eine öffentliche Beleidigung keine privaten<br />

Entschuldigungen entgegennehme.»<br />

Justizminister Bachmann von der SP, der zu Beginn die Antwort<br />

der Regierung vertreten hatte, dürfte es immer unwohler geworden<br />

22 23


sein, je länger die Debatte dauerte. Denn zum Schluss vollzog er<br />

eine eigentliche Kehrtwende: Er gestand ein, die Antwort seines<br />

Gremiums habe ihn «gefühlsmässig auch nicht ganz befriedigt».<br />

Er kündigte an, Gesuche von Organisationen, die sich in diesem<br />

Bereich engagierten, «wohlwollend zu prüfen». Ob dieser unerwarteten<br />

Ankündigung jubelten die Frauen auf der Tribüne. Trotzdem<br />

hatte die Debatte ihnen noch einmal unmissverständlich vor Augen<br />

geführt, welche Hürden sie zu überwinden hatten.<br />

1977–1979<br />

Misshandelte Frauen zu beraten<br />

reicht nicht<br />

In den darauffolgenden Wochen konzentrierten sich die Vereinsfrauen<br />

auf die Beratungsstelle, die sie als Erstes eröffnen wollten.<br />

Sie einigten sich auf ein «seriöses» Logo, eine Kombination aus<br />

Frauenzeichen und einem Haus. Die Faust liessen sie weg, angesichts<br />

der politischen Grosswetterlage wollten sie nicht zu radikal<br />

erscheinen. Im November 1977 war es dann so weit: Im Frauenzentrum<br />

an der Lavaterstrasse eröffneten die Vereinsfrauen ihre<br />

Beratungsstelle. Am Mittwoch von 15 bis 21 Uhr waren jeweils zwei<br />

von ihnen anwesend und berieten Betroffene ehrenamtlich.<br />

Annemarie Leiser: Wir hatten ein Flugblatt kreiert, das wir<br />

an Sozialdienste und Arztpraxen zum Auflegen sendeten. In<br />

einer Kartei sammelten wir Adressen von Anwältinnen, Ärztinnen,<br />

Psychologinnen, zu denen wir die Frauen schicken<br />

konnten. Wir dachten, wir seien gut vorbereitet. Aber dann<br />

kam schon am allerersten Nachmittag, als wir die Beratungsstelle<br />

eröffneten, eine Frau mit gepackten Koffern. Wir waren<br />

völlig überfordert! Wir riefen dann in einem der Foyers an,<br />

die damals ledigen Frauen Unterkünfte anboten.<br />

Dieses Erlebnis zeigte den Vereinsfrauen gleich zu Beginn, dass<br />

die Beratungsstelle nur ein erster Schritt sein konnte. Sie erkannten,<br />

wie dringend ein Frauenhaus war, und starteten eine inten sive<br />

Geldsuche. Dabei kam ihnen die Journalistin Marianne Pletscher<br />

zuhilfe: Sie hatte monatelang zu dem Thema recherchiert und<br />

schon einen Fernsehbeitrag über misshandelte Frauen gedreht.<br />

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