03.03.2022 Aufrufe

Der Sand Ausgabe 3

Zeitung für Oberbarmen/Wichlinghausen und den Rest der Stadt

Zeitung für Oberbarmen/Wichlinghausen und den Rest der Stadt

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Ausgabe 3

HAUTNAH

DER SAND

Der Herbst meldet sich. Der Morgen ist

damit die mir nicht wegkippen – was unge­

sind; der Landesverband Rheinland, der das

die vorübergehend bei mir eingezogen sind.“

nebelig, der Ahorn vor meinem Fenster

heure Schmerzen verursacht. So hilfreich das

persönliche Budget auszahlt.“

Sascha Bückemeyer gibt nicht auf. Trotz

leuchtet rot. Heute bin ich mit Sascha

Medikament auch ist, ich bin dankbar dafür,

Heidi von Schledorn, seine Pflegeassis­

aller Behinderungen, trotz allen Leidens hat er

Bückemeyer verabredet. Seit seiner

aber durch die Nebenwirkungen bezahle ich

tenz, mischt sich ein: „Es gibt keine Lobby

sein Selbstbewusstsein bewahrt: Er hat durch­

Kindheit leidet er an Rheuma. Mit ihm

einen hohen Preis“, beschreibt Bückemeyer

für Behinderte. Sie sind nicht wichtig. Sie

gesetzt, dass er das „persönliche Budget“ er­

will ich über Behinderung und Freiheit

seinen Zustand. Von seiner Rheumaklinik

werden kaserniert, behandelt und müssen

hält, eine Hilfeleistung die 2001 eingeführt

reden. Es ist feucht, es ist kalt. Ob es

im bayrischen Oberammergau, in der er sich

sich Regeln fügen, die sie nicht wollen, zum

wurde. Seitdem kann er seine Pflege assistenz

ihm wohl gut geht?

einmal pro Jahr aufhält, ist er gut eingestellt.

Beispiel täglich 20 unterschiedliche Pfleger

selbst managen. Mit 30 Jahren hat er den

Ich stehe in einer ruhigen Seitenstraße in

Inzwischen kommt er mit 2 mg des künstlich

aushalten, Menschen, die sie oftmals nicht

Führer schein bestanden. Gegen zu wenig aus­

Nächstebreck. Gegenüber ein verlassen wir­

hergestellten Hormons pro Tag aus. Damit

kennen. Immerhin sind die Dienstleistungen

gezahlte Gelder wehrt sich Bückemeyer auch

kendes Gebäude, vielleicht eine Schule, ansonsten

bürgerlich. Bückemeyer lebt in einem

schmucklosen Sechziger-Jahre-Mehrfamilienhaus.

Im Hausflur eine Rampe: Hier wohnt

jemand, der auf einen Rollstuhl angewiesen

ist. Die Wohnungstür öffnet sich. Ein Mops-

Mischling begrüßt mich schnaufend und mit

wedelndem Schwanz. Eine Frau versucht,

den Kleinen zurückzupfeifen. Ich betrete den

schmalen Flur. Sascha Bückemeyer kommt

mir in seinem Rollstuhl entgegen.

Er ist kleiner und zarter als erwartet;

zwei strahlend blaue Augen mustern mich

aufmerksam. Er wirkt etwas distanziert und

neugierig; er trägt einen roten Bart und eine

Kappe mit dem gestickten Logo seines Vereins

„Helfen durch Handeln“. Cool irgendwie.

Er führt mich in die Küche, bietet mir einen

Kaffee oder Tee an. Die Frau – offensichtlich

seine Assistenz – folgt, nachdem sie ihren

kleinen Hund beruhigt hat. Ich erkläre, was es

mit uns auf sich hat: dass wir eine hyperlokale

Zeitung herausgeben, dieses Mal zum Thema

Freiheit. Sascha Bückemeyer kennt uns: „Alle

Ausgaben im Netz gefunden.“ Ich: „Und?“ –

„Alles super, ich freue mich, dass Sie da sind.

Außerdem braucht mein Verein ja immer

wieder Aufmerksamkeit!“ Er grinst.

—————————————————

»Ich finde diese

ständigen verbalen

Fettnäpfchen nervig.«

—————————————————

kann er das Leben führen, das er sich vorstellt.

—————————————————

»Es gibt keine Lobby

für Behinderte.

Sie sind nicht wichtig.«

—————————————————

„Wie hält man es in einem solchen Körper

aus?“, will ich wissen, „besonders in der Jugend?

Sind die gesunden Kinder mit Ihnen gut

umgegangen?“ – „Damit hatte ich nie Probleme“,

sagt er. „Schon im Kindergarten habe ich

mir unbewusst ein Netzwerk geschaffen, war

schon immer ein Rebell, wenn es um meine

Behandlung ging. Die Krankheit hat meine

Freunde nie beeindruckt. Im Gegenteil, sie haben

mich überallhin mitgenommen, und heute

sind sie es, die mir helfen, wenn die Pflegedienste

an ihre Kapazitätsgrenzen kommen.“

Das Netzwerk ist so stabil, dass ihn Freunde

aus Kindergartenzeiten bis heute begleiten.

Die Eltern Bückemeyer waren Inhaber

einer mittelständischen Druckerei. Selbstständig

zu sein scheint zu Bückemeyers DNA

zu gehören. Mit 15 Jahren kündigte er seinen

Eltern an, später in der eigenen Wohnung

leben zu wollen. „Manchmal wünschte ich mir,

zehn Jahre später geboren zu sein. Da war,

dank Internet, die Informationsbeschaffung

schon einfacher. Ich bin sicher, vieles wäre

anders gelaufen.“.

2004 wagte er den ersten Schritt und zog

aus. Das Wohnheim für behinderte Menschen

der „Evangelischen Stiftung Volmarstein“ bot

dicht am Körper und intim.“ Bückemeyer

weiter: „Behinderte werden über einen Kamm

geschoren. Das Pflegesystem in Deutschland

zwingt Menschen in völlig absurde Situationen.

Meine Betreuungsassistenz darf mir fünf

Mal täglich auf das Klo helfen. Beim sechsten

Mal muss ich fragen und bin dann auf das

Wohlwollen meines Assistenten angewiesen.

Ich habe auch schon gehört: ‚Mach‘ in deine

Hose, dann darf ich dir wieder eine große Waschung

anbieten‘“, erzählt Bückemeyer ruhig,

legt den Kopf schief und schaut mich an, um

herauszufinden, wie ich auf seine drastische

Geschichte reagiere.

—————————————————

»Schneller,

höher, weiter

ist nicht mein Ding.«

—————————————————

Kranken Menschen, die auf Hilfe angewiesen

sind, haftet das Stigma des Scheiterns an, und

das in einer Gesellschaft, die Leid ignoriert

und grenzenlose Freiheit aus eigener Kraft

nahezu kultisch verehrt. Heidi von Schledorn:

„Es gibt eine Parallelwelt, von der gesunde

Menschen nichts mitbekommen. Behinderte

kämpfen für sich allein. Sie organisieren sich

nicht, ihnen fehlen die Kraft und das Selbstbewusstsein.

Und wir, die Pflegenden, halten

die staatlich diktierten Kataloge kaum aus.

Mental nicht, und weil es eine körperlich

schwere Arbeit ist, auch physisch nicht. Wir

werden krank, wir werden schlecht bezahlt,

schon mal gerichtlich. Einen zwei Jahre andauernden

Prozess hat er soeben gewonnen.

—————————————————

»Ich würde gerne dort

leben, wo es warm

und trocken ist!«

—————————————————

Eine Mission gibt ihm Kraft: Er will sein

Wissen, seine gesammelten Erfahrungen

an die weitergeben, die sich allein gelassen

fühlen. Die in einer Welt leben, die sie in ein

unwürdiges Kontroll-System zwingt und behinderten

Menschen von vorneherein die

Fähigkeit zu selbstbestimmtem und freiem

Handeln abspricht: „Es spricht doch Bände,

dass ein volljähriger Mensch mit einer rechtlichen

Betreuung in diesem Jahr das erste Mal

wählen durfte. Das waren 85.000 neue Wähler.“.

Im Frühjahr 2019 gründete er gemeinsam

mit seinen Pflegeassistenzen und Freunden

‚Helfen durch Handeln e.V.‘. Mit seinem

Verein sorgt Bückemeyer für Aufmerksamkeit

und veranstaltet karitative Events. Anfang

2020 gründete er gemeinsam mit seinen

Freunden die HdH-Betreuung, mit der er behinderten

Menschen konkrete Hilfe für mehr

Teilhabe anbietet. Mehr Entfaltungsmöglichkeiten

und Freiheit gehören zu den Unternehmenszielen,

auch für Pflegeassistenzen. Jeder

Mensch soll in die Lage versetzt werden, einen

gesellschaftlich wertvollen Beitrag leisten zu

können, egal ob behindert oder nicht. Er selbst

jedenfalls ist auf dem besten Weg dorthin.

„Handicap oder Behinderung? Will ein

ihm Unterschlupf. Zwei lange Jahre harrte er

wir werden nicht gesehen. Das ist zermürbend.

Wann sein Unternehmen wirtschaftlich arbei-

Mensch, der unter körperlichen Beeinträch­

dort aus, fühlte sich aber als Behinderter un­

Wir beugen uns einem System, das wir völlig

ten wird, lässt sich noch nicht sagen: „Das alles

tigungen leidet, als Mensch mit Behinderung

ter Behinderten deplatziert, wollte ein selbst­

falsch finden, können uns aber nicht wehren,

muss Spaß machen und darf nicht in Stress

angesprochen werden?“, möchte ich zunächst

bestimmtes, kein betreutes Leben führen. Der

weil auch uns die Kraft fehlt. Wir wollen

ausarten. Schneller, höher, weiter ist nicht

wissen. „Ja gut, ‚du bist behindert‘ ist meist als

Zufall kam ihm zur Hilfe. Im Radio hörte seine

helfen, nicht kämpfen und Steine in den Weg

mein Ding. Wir nehmen uns die Zeit, die wir

Beschimpfung gemeint, aber es gibt so viele

Mutter von der Kokobe, einer Organisation,

gelegt bekommen.“ Und Bückemeyer weiter:

brauchen.“

Dinge, die wir heute falsch sagen können. Ich

die Jugendlichen mit Behinderung dabei hilft,

„Weshalb muss ich jedes zweite Jahr den so

Und welche Träume hat er für seine Zu­

habe eine Behinderung und damit basta. Ich

ein in ihrem Rahmen eigenständiges Leben zu

genannten Hilfeplan erneuern lassen? Bei mir

kunft? „Ich würde gerne dort leben, wo es

kann einfach nicht alles, was andere können.

führen. Die Mutter nahm Kontakt auf, und es

ist doch klar, dass ich weder in 5 noch in 10

warm und trocken ist! Der Winter ist für mich

Ich finde diese ständigen verbalen Fettnäpf­

gelang. Die Kokobe verhalf Bückemeyer zur

Jahren laufen kann! Gut, es könnte schlechter

die schlimmste Jahreszeit, feucht und kalt, und

chen nervig“, seufzt Bückemeyer. Das wäre

ersten eigenen Wohnung: „Damals konnte ich

geworden sein! Ich sitze alle zwei Jahre in Ge­

führt zu Rheumaschüben. Manchmal sind die

also schon mal geklärt.

mit der Hilfe der Mitarbeiter nach und nach

genwart von mehreren Beisitzern und muss

so schlimm, dass ich mich selbst nicht berüh­

Sascha Bückemeyer ist 37 Jahre alt und

alle mir zur Verfügung stehenden Leistungen

Listen abarbeiten, in der jede menschliche

ren kann, weil alles so weh tut. Ein Traum von

etwa so groß wie ein sechsjähriger Junge.

so zusammenstellen, dass ich ein selbststän­

Verrichtung mit einem Zeitkontingent verse­

mir wäre, einen Ort zu schaffen, wo Pflege­

Seine Hände, klein und verformt, haben nur

diges Leben in der eigenen Wohnung führen

hen wird: Wie oft und wie lange gehe ich auf

kräfte, alte Menschen, junge Menschen, be­

wenig mit der Anatomie einer erwachsenen,

konnte. Ich wollte keinesfalls mehr von meinen

die Toilette, jeweils 10 Minuten? Wie viel Zeit

hinderte und gesunde zusammenleben und

gesunden Hand zu tun. Sie lassen ahnen, was

Eltern versorgt werden. Sie haben sich keine

brauche ich für das Zähneputzen, wie viel für

alle Aufgaben gemeinsam bewältigen. Und ich

die Krankheit mit den Knochen seines Kör­

Hilfe geholt, sind wahrscheinlich nicht mal

das Anziehen, das Essen. Am Ende steht dann

wünsche mir, dass mein Verein wächst und

pers angestellt hat. Er sitzt im Rollstuhl, kann

auf die Idee gekommen. Heute möchte ich

eine Stundenzahl, sagen wir mal 13. Dann

ich das alles noch erlebe.“

nicht gehen, wird es nie können, und er ist in

nicht mehr von meiner Mutter auf die Toilet­

kommt eine Beisitzerin und behauptet, dass

allen seinen Bewegungen auf ein Minimum

te gehoben werden. Ich möchte die Freiheit

ich nur 11 Stunden benötigen würde, weil sie

eingeschränkt. Seit seiner Geburt leidet er unter

haben, selbst zu entscheiden, wer mich pflegt,

selbst eine behinderte Tochter habe und be­

Rheuma, hat Schmerzen und Entzündungen;

wer menschlich zu mir passt“, sagt Bücke­

urteilen könne, wieviel Zeit für die täglichen

seit seinem ersten Lebensjahr bekommt er

meyer. „Und selbst heute ist die Informations­

Verrichtungen notwendig sei. Also bekomme

Kortison. Das Medikament hat seine Knochen

beschaffung noch schwierig. Die öffentlichen

ich nur für 11 Stunden eine persönliche Assis­

porös gemacht. Drei Rückenwirbel sind inzwi­

Stellen sehen alle nur den eigenen Bereich und

tenz genehmigt.“ Ich bin entsetzt: „Und was

schen gebrochen: „Ich habe mehrere Titan-

verwalten: die Krankenkassen, die die Gelder

geschieht, wenn es mal schlecht läuft?“ Bücke­

Schrauben in meiner Wirbelsäule, zwei künst­

der Pflegeversicherung auszahlen; die Kom­

meyer sagt trocken: „Das war im vergangenen

liche Kniegelenke und versteifte Fußgelenke,

munen, die für die Grundsicherung zuständig

Jahr so. Aber da hatte ich ein paar Freunde,

Seite 17

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!