Der Sand Ausgabe 3
Zeitung für Oberbarmen/Wichlinghausen und den Rest der Stadt
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DER SAND SOZIALE PLASTIK
Ausgabe 3
Schütze
die Flamme!
Ein Fackellauf durch Wuppertal
Von Hans Neubauer · Fotos: Max Höllwarth
Wuppertal – „Stadt der Performanz“
Beim Performance Festival „Die Unendlichkeit des Augenblicks“ im Juni 2021 drehte sich
alles um Joseph Beuys und seine Kunst. Im ehemaligen Blumenladen am Ev. Friedhof Hugostraße
in Wichlinghausen eröffneten Olaf Reitz und Andy Dino Iussa ihre HEILKÜNSTLEREI
mit „ICH BIN ALLE“, einem von Beuys’ Arbeit „Zeige deine Wunde“ inspirierten Projekt.
Online-Version: www.heilkuenstlerei.art
In Utopiastadt haben die Utopisten David Becher und Supaknut Heimann und ihr Team
ihre „Registrierungs stelle für handhabbare Freiheit“ eingerichtet. Was sich dahinter verbirgt,
steht online im Sandkasten: www.die-wueste-lebt.org/category/dersand
Weitere Infos zu dem von Bettina Paust, Barbara Gronau, Timo Skandries und Katharina
Weisheit kuratierten Beuys-Performance-Festival gibt es hier: www.wuppertal.de/beuysperformancefestival
Die große Fotogalerie zum Festival: www.picdrop.com/wppt/beuys
Sie steht im Grundgesetz, die Freiheit der Kunst: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und
Lehre sind frei.“ Ja, so soll es sein, und diese Freiheit ist viel wert. Wieviel? Zum einen geht es
auch um Zahlen: Ausgleichsgelder für von Corona betroffene Künstler, Rentenbescheide von
der Künstlersozialkasse, Tarifverträge an den Stadttheatern – und natürlich die phantastischen
Summen, die Jeff Koons oder Gerhard Richter für ihre Werke erzielen.
Ist die Freiheit der Kunst wirklich mehr als die Projektion der sozialen Marktwirtschaft
auf die Sphäre der Kreativen? „Die schöpferischen und gestaltenden Menschen sind die Basis
der Kultur- und Kreativwirtschaft“, informiert das Bundesministerium für Wirtschaft und
Klimaschutz auf seiner Homepage: Sie „schaffen künstlerische Qualität, kulturelle Vielfalt,
kreative Erneuerung und stehen zugleich für die wirtschaftliche Dynamik einer auf Wissen
und Innovation basierenden Ökonomie.“ Kunst ist allemal ein Wirtschaftsfaktor, soviel ist klar.
„Was würde wohl Joseph Beuys dazu sagen?“, fragten wir uns vor einem Jahr. Warum
Beuys? Zum einen, weil Beuys gerade im Fokus der „Kultur- und Kreativwirtschaft“ war: 2021
feierte die Kunstwelt den 100. Geburtstag des 1986 verstorbenen Künstlers. Das sollte nicht
ohne Oberbarmen und Wichlinghausen passieren, sagten wir uns und bewarben uns um einen
Platz im Beuys-Veranstaltungskalender. Wir tauchten ein in Beuys‘ Welt der Eichen, Hirsche,
Schlitten und Batterien. Für „I like America and America likes Me“ flog Beuys 1974 nach New
York, ließ sich, eingewickelt in Filzdecken, in die Galerie René Block fahren, um dort einige Tage
mit einem Kojoten in einem Raum zu leben. Eine Aktion als Rätsel, als mystische Provokation.
In seiner letzten Rede erzählte Beuys, wie er als junger Mann das Foto einer Skulptur
Wilhelm Lehmbrucks betrachtete: „Und in dem Bild sah ich eine Fackel, sah ich eine Flamme,
und ich hörte ‚Schütze die Flamme!‘“ Dieses Erlebnis wurde für ihn zum alles entscheidenden
Impuls, seine „soziale Plastik“ zu entwickeln – „zur Umgestaltung des sozialen Ganzen“.
Wir von der Mobilen OASE nahmen ihn beim Wort, den toten Jubilar. Und setzten, im Olympiajahr
und unter pandemischen Bedingungen, unseren besonderen Fackellauf von Wuppertal in
Gang: „Politische Demonstration/ Motto: Schütze die Flamme – Für Freiheit, Frieden und die
Umgestaltung des sozialen Ganzen“, trugen wir ein in das Polizei-Formular zur „Anmeldung
einer Versammlung unter freiem Himmel“. Kunst-Veranstaltungen waren untersagt, also
wurde es eine Manifestation. Abdulrahman Alasaad, ein Geflüchteter aus Syrien, ließ sich,
eingehüllt in Filz, auf den Rasen des leeren Wuppertaler Stadions tragen. Dort nahm er die
Fackel, reichte sie weiter und startete damit unseren Fackellauf. Zwanzig Läuferinnen und
Läufer schützten und trugen die Flamme zehn Kilometer weit durch die Talachse bis zum
Berliner Platz – Geflüchtete, Einheimische und Migranten, Junge und Alte aus Oberbarmen,
Menschen mit und ohne Behinderung, mit und ohne Prominenz; die einen liefen schnell, die
anderen spazierten langsam, jeder, wie er konnte, jede, wie sie wollte. Oberbürgermeister Uwe
Schneidewind, Operndirektor Berthold Schneider und andere Führungskräfte aus Kultur,
Politik und Wissenschaft reihten sich ein und demonstrierten mit für die „Umgestaltung
des sozialen Ganzen“. Begleitet wurden sie von Velotaxis, zahlreichen Zuschauerinnen und
Zuschauern, vielen Neugierigen und einer wachsamen Polizei-Eskorte.
Wer dabei war, weiß, wie viel hier erzählt, gelacht und diskutiert wurde, wie schön es sein
kann, Kunst einmal nicht als Werk und Wert, sondern als Ereignis zu sehen, als eine manchmal
irritierende, immer wieder inspirierende gemeinsame Erfahrung. Am Ende bestand sie darin,
Menschen aus den unterschiedlichsten Welten zusammenzubringen. Mit ihrem Lachen und
ihren Gesprächen, ihrer Freundlichkeit und ihrer guten Laune erinnerten sie an den Auftrag,
den Beuys für sich aus dem Werk des Wilhelm Lehmbruck ableitete: Schütze die Flamme, damit
die Welt einmal eine bessere werde. Dafür kann sich niemand was kaufen? Eben!
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