DER SAND MADE IN WICHLINGHAUSEN <strong>Ausgabe</strong> 3 Die Grafik stammt aus dem Zyklus Lebensakrobatik – Luftspuren (2021). „Mich interessiert an Kunst die Transgression; die Freiheit, die Grenzen traditioneller Sparten zu überschreiten, um die Inhalte und Botschaften in ein anderes Licht zu stellen und die Kommunikation durch Kunst zu verbessern.” Teresa Wojciechowska ist freischaffende Malerin, Grafi kerin, Installations- und Videokünstlerin. Sie hat ihr Atelier in den Königsberger Höfen in Wuppertal Wichlinghausen. Seite 8
<strong>Ausgabe</strong> 3 ESSAY DER SAND Eine besonders günstige Form von Abhängigkeit Ein Essay von Sina Dotzert über Freiheit und Privilegien Vor einiger Zeit bin ich mit meinem Freund nach Südfrankreich getrampt. Selten habe ich mich so frei und so abhängig zugleich gefühlt: frei von der Notwendigkeit, für eine Reise Geld ausgeben zu müssen, frei von festen Abfahrts- und Ankunftszeiten, frei von der Verantwortung für ein Fahrzeug, frei, überhaupt reisen zu können; abhängig hingegen vom Wohlwollen fremder Menschen, von ihren Fahrkünsten und von einem Quäntchen Glück. Als ich anfing darüber nachzudenken, wurde mir bewusst, dass es eigentlich immer so ist: Es gibt keinen Moment in meinem Leben, in dem ich komplett unabhängig wäre. Als Kind brauchen wir Bezugspersonen, die uns lieben und versorgen. Im Erwachsenenalter ist das nicht anders: Irgendjemand muss unser Haus bauen, unsere Kleidung anfertigen, und irgendwie müssen die Lebensmittel in den Supermarkt gelangen. Jemand muss sich mit komplizierten Dingen auskennen, Wissen weitergeben oder einfach schöne Geschichten erzählen. Selbst wenn ich völlig isoliert im Wald leben würde, wäre ich auf Trinkwasser, saubere Luft und eine intakte Pflanzenund Tierwelt angewiesen. Wir sind also nicht nur von sozialen, sondern auch von ökologischen Systemen abhängig. Freiheit lässt sich also nicht mit Unabhängigkeit gleichsetzen. Freiheit beschreibt vielmehr eine besonders günstige Form von Abhängigkeit. Das griechische Wort für Freiheit, „Eleutheria“, besagt, dass „Leute“ einer Gemeinschaft angehören. „Freiheit“ im Deutschen geht auf das gotische „frijon“ zurück, was freundschaftlich lieben bedeutet. Dass sich Freiheit nur im Kontext einer wohlwollenden Mitwelt konkretisiert, ist also keine neue Erkenntnis. Doch es gibt Menschen, die in der Praxis ein bisschen freier sind als andere. Wenn ein Mensch privilegiert ist, dann genießt er ein besonderes Vorrecht, das bestimmten Umständen geschuldet, durch Gesetze festgeschrieben oder einfach im Alltag etabliert ist. Beispielsweise darf ein:e deutsche:r Staatsbürger:in ab ihrem/seinem 18. Geburtstag Volksvertreter:innen der BRD wählen. Das ist gegenüber denjenigen, die hier leben, aber nicht wählen dürfen, ein Vorteil. Ein Mensch, der in Deutschland aufgrund seiner Herkunft oder seines Geschlechts nicht diskriminiert wird, erhält leichter Zugang zu Bildung oder zu einem angesehenen Job als ein Mensch, der von Diskriminierungen betroffen ist. Ein Mensch, der wohlhabend ist, kann sich mit seinem Geld allerlei ermöglichen, wovon er träumt. Ein Mensch mit zwei gesunden Beinen kann problemlos die vielen Treppen in Wuppertal auf- und absteigen. All diese Menschen haben es leichter als andere, ihre Freiheitsrechte in Anspruch zu nehmen, beziehungsweise ihr Leben oder ihre Gesellschaft zu gestalten. Es lohnt sich demnach zu prüfen, ob unsere Mitwelt im Gleichgewicht ist, weil eben sie es ist, die Freiheiten erst ermöglicht. Wäre unsere Mitwelt gefährdet, wären es auch unsere Freiheiten. Wenn wir zugleich bedenken, dass wir als biologische Wesen Teile von Ökosystemen sind und dass wir im Zeitalter der Globalisierung mit allen Menschen dieses Planeten in Gemeinschaft leben, dann müssen wir auch dies in unsere Überlegungen mit einbeziehen. Man kann beobachten, dass die medizinische Versorgung in wohlhabenden Ländern im Schnitt besser ist als in weniger wohlhabenden. Die Gestaltungsfreiheit der jetzigen und der folgenden Generationen ist durch unseren Umgang mit unserem Planeten gefährdet. Diese Tatsache hat neulich sogar das Bundesverfassungsgericht verurteilt. Wir verbrauchen natürliche Ressourcen, ohne dass jemand für die indirekten Kosten aufkäme. Die daraus entstehenden Profite sammeln sich zu großen Teilen im globalen Norden. In der Bundesrepublik selbst wird die Schere zwischen arm und reich größer. Und weil in all diesen beispielhaften Fällen Freiheiten im Sinne von Gestaltungsmöglichkeiten und Inanspruchnahme von Rechten ungleich verteilt sind, müssen wir unser globales, soziales und ökologisches Miteinander überdenken. Wir haben den konservativen Auftrag, Gesellschaften im Sinne ihrer Werte zu erhalten. Wir haben den liberalen Auftrag, Freiheiten auszuloten. Und wir haben den sozialen Auftrag, für Gerechtigkeit zu sorgen. Wenn Privilegierte – und dazu zähle ich selbst in vielerlei Hinsicht auch – nun anerkennen müssen, dass sie vor allem deshalb bevorzugt und ein bisschen freier als andere leben können, weil andere für sie die entsprechenden Umstände geschaffen haben, dann ist es an uns, im Sinne dieser drei großen Aufgaben Vorteile abzugeben. Sollte das einmal nicht möglich sein, können wir unseren Einfluss so nutzen, dass es den Menschen und den ökologischen Systemen, von denen wir alle abhängen, möglichst gutgeht. Diejenigen, die bedürftig sind oder die diskriminiert werden, dürfen laut und selbstbewusst fordern. Wer wiederum bevorteilt ist und sich de-privilegiert, dem öffnen sich neue, tiefgreifende Erfahrungen von Freiheit und Gemeinschaft. Wann sind Sie zuletzt getrampt? Foto: Daniela Camilla Raimund DIE AUTORIN: Sina Dotzert lebt seit 2020 in Wuppertal und arbeitet als freischaffende Dramaturgin. Zuvor war sie u. a. fest an der Oper Wuppertal und an der Komischen Oper Berlin engagiert. Die ehemalige Lehramtsstudentin wirkte zudem im Schuldienst und entwickelte Theaterstücke mit jungen Laien. Sina Dotzert engagiert sich im ensemble-netzwerk, das sich für die Rechte von Theaterschaffenden einsetzt. Seite 9