Der Sand Ausgabe 3
Zeitung für Oberbarmen/Wichlinghausen und den Rest der Stadt
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Ausgabe 3
ESSAY
DER SAND
Eine besonders
günstige Form
von Abhängigkeit
Ein Essay von Sina Dotzert über Freiheit und Privilegien
Vor einiger Zeit bin ich mit meinem Freund nach Südfrankreich
getrampt. Selten habe ich mich so frei und
so abhängig zugleich gefühlt: frei von der Notwendigkeit,
für eine Reise Geld ausgeben zu müssen, frei von
festen Abfahrts- und Ankunftszeiten, frei von der Verantwortung
für ein Fahrzeug, frei, überhaupt reisen zu
können; abhängig hingegen vom Wohlwollen fremder
Menschen, von ihren Fahrkünsten und von einem
Quäntchen Glück.
Als ich anfing darüber nachzudenken, wurde mir bewusst,
dass es eigentlich immer so ist: Es gibt keinen Moment in
meinem Leben, in dem ich komplett unabhängig wäre. Als
Kind brauchen wir Bezugspersonen, die uns lieben und versorgen.
Im Erwachsenenalter ist das nicht anders: Irgendjemand
muss unser Haus bauen, unsere Kleidung anfertigen,
und irgendwie müssen die Lebensmittel in den Supermarkt gelangen.
Jemand muss sich mit komplizierten Dingen auskennen,
Wissen weitergeben oder einfach schöne Geschichten erzählen.
Selbst wenn ich völlig isoliert im Wald leben würde, wäre
ich auf Trinkwasser, saubere Luft und eine intakte Pflanzenund
Tierwelt angewiesen. Wir sind also nicht nur von sozialen,
sondern auch von ökologischen Systemen abhängig.
Freiheit lässt sich also nicht mit Unabhängigkeit gleichsetzen.
Freiheit beschreibt vielmehr eine besonders günstige
Form von Abhängigkeit. Das griechische Wort für Freiheit,
„Eleutheria“, besagt, dass „Leute“ einer Gemeinschaft angehören.
„Freiheit“ im Deutschen geht auf das gotische „frijon“
zurück, was freundschaftlich lieben bedeutet. Dass sich Freiheit
nur im Kontext einer wohlwollenden Mitwelt konkretisiert,
ist also keine neue Erkenntnis. Doch es gibt Menschen,
die in der Praxis ein bisschen freier sind als andere.
Wenn ein Mensch privilegiert ist, dann genießt er ein besonderes
Vorrecht, das bestimmten Umständen geschuldet,
durch Gesetze festgeschrieben oder einfach im Alltag etabliert
ist. Beispielsweise darf ein:e deutsche:r Staatsbürger:in ab
ihrem/seinem 18. Geburtstag Volksvertreter:innen der BRD
wählen. Das ist gegenüber denjenigen, die hier leben, aber
nicht wählen dürfen, ein Vorteil. Ein Mensch, der in Deutschland
aufgrund seiner Herkunft oder seines Geschlechts nicht
diskriminiert wird, erhält leichter Zugang zu Bildung oder zu
einem angesehenen Job als ein Mensch, der von Diskriminierungen
betroffen ist. Ein Mensch, der wohlhabend ist, kann
sich mit seinem Geld allerlei ermöglichen, wovon er träumt.
Ein Mensch mit zwei gesunden Beinen kann problemlos die
vielen Treppen in Wuppertal auf- und absteigen. All diese
Menschen haben es leichter als andere, ihre Freiheitsrechte
in Anspruch zu nehmen, beziehungsweise ihr Leben oder ihre
Gesellschaft zu gestalten.
Es lohnt sich demnach zu prüfen, ob unsere Mitwelt
im Gleichgewicht ist, weil eben sie es ist, die Freiheiten erst
ermöglicht. Wäre unsere Mitwelt gefährdet, wären es auch
unsere Freiheiten. Wenn wir zugleich bedenken, dass wir als
biologische Wesen Teile von Ökosystemen sind und dass wir
im Zeitalter der Globalisierung mit allen Menschen dieses
Planeten in Gemeinschaft leben, dann müssen wir auch dies in
unsere Überlegungen mit einbeziehen. Man kann beobachten,
dass die medizinische Versorgung in wohlhabenden Ländern
im Schnitt besser ist als in weniger wohlhabenden. Die Gestaltungsfreiheit
der jetzigen und der folgenden Generationen
ist durch unseren Umgang mit unserem Planeten gefährdet.
Diese Tatsache hat neulich sogar das Bundesverfassungsgericht
verurteilt. Wir verbrauchen natürliche Ressourcen,
ohne dass jemand für die indirekten Kosten aufkäme. Die
daraus entstehenden Profite sammeln sich zu großen Teilen im
globalen Norden. In der Bundesrepublik selbst wird die Schere
zwischen arm und reich größer. Und weil in all diesen beispielhaften
Fällen Freiheiten im Sinne von Gestaltungsmöglichkeiten
und Inanspruchnahme von Rechten ungleich verteilt
sind, müssen wir unser globales, soziales und ökologisches
Miteinander überdenken.
Wir haben den konservativen Auftrag, Gesellschaften
im Sinne ihrer Werte zu erhalten. Wir haben den liberalen
Auftrag, Freiheiten auszuloten. Und wir haben den sozialen
Auftrag, für Gerechtigkeit zu sorgen. Wenn Privilegierte –
und dazu zähle ich selbst in vielerlei Hinsicht auch – nun
anerkennen müssen, dass sie vor allem deshalb bevorzugt
und ein bisschen freier als andere leben können, weil andere
für sie die entsprechenden Umstände geschaffen haben, dann
ist es an uns, im Sinne dieser drei großen Aufgaben Vorteile
abzugeben. Sollte das einmal nicht möglich sein, können
wir unseren Einfluss so nutzen, dass es den Menschen und
den ökologischen Systemen, von denen wir alle abhängen,
möglichst gutgeht.
Diejenigen, die bedürftig sind oder die diskriminiert
werden, dürfen laut und selbstbewusst fordern. Wer wiederum
bevorteilt ist und sich de-privilegiert, dem öffnen sich neue,
tiefgreifende Erfahrungen von Freiheit und Gemeinschaft.
Wann sind Sie zuletzt getrampt?
Foto: Daniela Camilla Raimund
DIE AUTORIN: Sina Dotzert lebt seit 2020 in Wuppertal und arbeitet als freischaffende
Dramaturgin. Zuvor war sie u. a. fest an der Oper Wuppertal und an der Komischen Oper
Berlin engagiert. Die ehemalige Lehramtsstudentin wirkte zudem im Schuldienst und entwickelte
Theaterstücke mit jungen Laien. Sina Dotzert engagiert sich im ensemble-netzwerk, das sich für
die Rechte von Theaterschaffenden einsetzt.
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