MÄA-06-2022online
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TITELTHEMA
Münchner Ärztliche Anzeigen
Georg Sigl-Lehner
ist Präsident der Vereinigung der
Pflegenden in Bayern und Leiter des
Alten- und Pflegeheims St. Klara in
Altötting. Foto: VdPB / Birgid Allig
nicht ein. Schließlich ist kein Bewohner
zur Impfung verpflichtet, und
kein Patient im Krankenhaus, obwohl
diese Menschen die Intensivstationen
bis zur vierten Welle fast zum
Überlaufen gebracht haben.
Beim letzten Interview mussten
Sie Bewohner*innen voneinander
absondern. Ist das immer noch der
Fall?
Nein, während der dritten, spätestens
aber der vierten Welle konnten
wir vieles wieder zulassen. Auch hier
haben wir viel gelernt. Wir können
unsere Schutzkonzepte jetzt anders
zur Wirkung bringen – u.a. aufgrund
der hohen Impfquote unter Mitarbeiter*innen
wie Bewohner*innen und
der Testungen. In der Normalität
angekommen sind wir aber immer
noch nicht, und darunter leiden die
Bewohner*innen. Uns fehlt die
Offenheit, die wir in dieser Einrichtung
immer gelebt haben. In unserem
Haus ist die Alzheimer-Gesellschaft
genauso zu Hause wie der
Hospizverein und Mutter-Kind-Gruppen.
Das hat ein Alltagsleben in
unsere Einrichtung gebracht. Feste
und Feiern finden nach wie vor nicht
statt, viele Aktivitäten sind nur in
Kleingruppen möglich.
Wie geht es den Demenzkranken
heute?
Seit der ersten Welle wissen wir,
dass das veränderte Alltagsleben
eine Auswirkung auf demenziell veränderte
Menschen hat. Menschen
mit Demenz verstehen auch heute
noch nicht, warum sie eine Maske
tragen sollen. Außerdem brauchen
sie meist viel Nähe und Kontakt. Sie
spüren unbewusst, dass etwas
anders ist und dass sie etwas nicht
bekommen, was sie eigentlich brauchen
würden. Das wiederum führt zu
anderen Auswirkungen der Demenz.
Wie sieht die Lage bei den Besucher*innen
aus? Darf jede*r kommen?
Unter den Voraussetzungen von 3G
darf jede*r kommen, auch Ungeimpfte.
Alle werden getestet. Grundsätzlich
ist bei uns sieben Tage die
Woche ein Besuch möglich. In der
ersten Welle standen wir alle nackt
und hilflos vor dieser Pandemie und
hatten nichts – noch nicht einmal
das Richtige zum Anziehen. Das alles
hat sich zum Glück größtenteils
nach und nach geregelt, auch das
Besuchsverbot der ersten Welle ist
zum Glück verschwunden. Denn das
war für uns das Schlimmste, das wir
in der Pandemie erlebt haben. Man
hat uns zu einer Anstalt gemacht,
und das führte zu massiven Auswirkungen
bei allen – den Bewohner*innen,
aber auch den Mitarbeiter*innen,
die bewohnerorientiert arbeiten
und denken. Fensterbesuche und
Skype konnten persönliche Kontakte
nicht ersetzen. Das Besuchsverbot
wird hoffentlich nie wieder kommen.
Wir haben gelernt, dass Besuche
nicht eingeschränkt werden dürfen.
Aber muss man die alten Menschen
nicht durch Beschränkungen
und Kontrolle schützen?
Natürlich sind wir auch ein Stück weit
verpflichtet, Kontrolle auszuüben. Ich
stelle die Kontrolle aber nicht so in
den Vordergrund, sondern vertraue
auf die Besucher*innen. Auch sie
haben ein großes Interesse, niemanden
anzustecken – weder uns noch
ihre Angehörigen. Damit sind wir sehr
gut gefahren. Wenn wir alle zusammenarbeiten
und uns gegenseitig
unterstützen, kann und soll bei uns
jede*r kommen und gehen können,
wie er oder sie will. Zeitliche
„Besuchskorridore“ gab es bei uns
nie. Ich dachte mir immer: Damit
werden wir wirklich zum Gefängnis,
und das sind wir nicht. Besucher*innen
und auch Kinder durften nach
Ende des allgemeinen Besuchsverbots
zu jeder Zeit zu ihren Angehörigen
ins Zimmer. Die Menschen, die
bei uns leben, haben ein Recht auf
Privatheit und Zuhause.
Können Sie verstehen, dass es in
Kliniken noch immer Besuchsverbote
gibt, während in Bayern bis zu
10.000 Menschen in Fußballstadien
feiern dürfen?
Man sollte genauer hinschauen, und
die Verantwortlichen sollten sich die
Situation vergegenwärtigen. Natürlich
gibt es in Kliniken ein hohes
Schutzbedürfnis für die Patient*innen.
Aber diese Gruppe ist sehr
heterogen. Junge Patient*innen, die
über ihr Mobiltelefon mit der ganzen
Welt verbunden sind, leiden unter
dieser Situation weniger als ältere
auf einer geriatrischen Station. Wir
haben immer gesagt: Wir brauchen
diesen sozialen Bezug. Angehörige
sind keine Störfaktoren, sondern
wichtige Partner*innen in der Versorgung
der Menschen. Das Gleiche gilt
aus meiner Sicht für Kliniken. Stellen
Sie sich vor: Ein älterer, demenziell
veränderter Mensch wird über
Wochen von seinen engsten Bezugspersonen
getrennt. Die Verantwortlichen
sollten aus meiner Sicht sehr
selbstkritisch hinschauen, ob das in
dieser Form gerechtfertigt ist oder
ob es nicht doch Wege für einen
gesicherten Kontakt zu Angehörigen
gibt.
Das Gespräch führte Stephanie Hügler
Liebe Leserinnen
und Leser,
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ändert sich vieles täglich. Wir bitten
daher bei allen Beiträgen dazu um Verständnis,
falls manche Informationen
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Die MÄA-Redaktion
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