Heft 2, Jahrgang 140 - Canisianum
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haupt nicht „machen“, sondern nur weitergeben.<br />
Selbst wenn – in dem häßlich-verqueren<br />
Ausdruck – die Eltern ein Kind „machen“, geht<br />
der Vorgang des Zeugens und Empfangens<br />
weit über ein biologisches Verfertigen hinaus:<br />
Auch Eltern müssen das Kind in seiner ihm<br />
eigenen Lebendigkeit erst (unabschließbar)<br />
kennenlernen; es ist gerade nicht ihr gezieltes<br />
„Produkt“. Selbst In-vitro-Fertilisation, selbst<br />
Klonen bedient sich schon vorhandener<br />
lebendiger Materialien. Die Kette des Lebens<br />
reicht durch die Generationen hindurch, wird<br />
nicht jeweils von ihnen aus neu installiert.<br />
Leben ist Vor-Gabe, selbst unbegriffen, uneingeholt.<br />
Andererseits ist Leben als gegebenes dennoch<br />
selbständig: Es ist autonome, absolute<br />
Gabe. Woher immer es kommt (die Frage<br />
nach dem Geber ist damit noch nicht beantwortet),<br />
handelt es sich um eine Gabe des<br />
Selbstseins; anders: eine Gabe der<br />
Autonomie. In einem (nicht von Henry gewählten)<br />
Bild: Wenn eine Kerze eine zweite entzündet,<br />
brennt die zweite Flamme aus sich<br />
heraus, obwohl sie sich der ersten verdankt.<br />
Ebenso ist verliehenes Leben dennoch selbstunmittelbares<br />
Leben, in einer Bewegung, die<br />
sich selbst erhält und ständig neu bei sich<br />
„ankünftig“ wird. Es gehört offenbar zur Größe<br />
der Gabe „Leben“, daß sie die eigene<br />
Mitwirkung von vornherein freisetzt. Sich-<br />
Gegebensein und Autonomie schließen sich<br />
nicht aus: Gerade Selbstand ist verdankt.<br />
Was hier nachvollzogen wird, öffnet sich freilich<br />
nur dem phänomenologischen Blick und<br />
liegt gerade nicht zutage. Denn Leben veräußerlicht<br />
sich im Lebensvollzug, entfaltet<br />
sich in Welt und muß dies auch tun. In der<br />
Regel vergißt man aber dabei die<br />
Rückbindung an die ursprüngliche Ipseität (ich<br />
beziehe mich auf mich selbst) und an die<br />
„pathische Unmittelbarkeit“ (ich besitze mich<br />
selbst). Eben dieses Selbstverhältnis wird verborgen,<br />
auch vor sich selbst, wenn das Ich<br />
sich dem Raum der Welt öffnet: Vom Ich als<br />
„Mich“ wandelt es sich zum Ich als „Ego“, zum<br />
Bezugspunkt von Welt-Dingen, zum „Außer-<br />
Sich“, in der Bewegung der „Sorge“ 17 . Das<br />
darf nicht als Bewegung eines „Abfalls“ verstanden<br />
werden (etwa wie bei Heidegger als<br />
„Uneigentlichkeit“), vielmehr gehört diese<br />
8<br />
PHILOSOPHIE<br />
Bewegung zur Realisierung des Lebendigen.<br />
Allerdings verstellt das Leben im Außen intentional<br />
seinen eigenen Ursprung, seinen Bezug<br />
zum Urleben, an den immer wieder rückbindend<br />
erinnert werden muß.<br />
2.4Wahrheit und Leben als absolute Gabe<br />
In vielen zeitgenössischen Diskursen führt die<br />
Frage nach Wahrheit für Henry in einen unvermeidlichen<br />
Skeptizismus. Entweder wird sie<br />
positivistisch festgemacht an der Wahrheit<br />
von Tatsachen (wie in der Geschichtswissenschaft)<br />
oder eher naiv an der Wahrheit von<br />
empirischen Fakten (wie in den Naturwissenschaften)<br />
oder formal am logischen<br />
Wahrheitsbegriff (Wahrheit als Widerspruchsfreiheit)<br />
oder, alle Ebenen zusammenfassend:<br />
an der Wahrheit der Semantik. Diese wird<br />
jedoch nicht mehr korrespondenztheoretisch<br />
aufgefaßt (wie oben entwickelt: am Widerlager<br />
einer Wirklichkeit), sondern als Konstrukt des<br />
jeweiligen Sprachspiels, anders: der Selbstreferenz<br />
von Zeichen. Außerhalb der Festlegung<br />
von „Zeichen für Zeichen für Zeichen“<br />
könne Wahrheit nicht mehr kommuniziert werden,<br />
insbesondere nicht als Wahrheit in bezug<br />
auf vorgegebene Wirklichkeit. Postmodernes<br />
Denken habe Wahrheit und Wirklichkeit nurmehr<br />
auf den Bereich mentaler Zuschreibung<br />
verschoben, auf Weltentwurf, genauer noch<br />
auf Weltenentwürfe, die ausschließlich im<br />
Radius des Subjekts oder subjekthaft aufgefaßter<br />
Kulturen und deren „Kommunikation“<br />
bleiben.<br />
Für Henry können diese Versuche, Phänomene<br />
auf Zeichen antwortloser Wirklichkeit<br />
zurückzuführen, ein letztes Phänomen nicht<br />
auflösen: das Phänomen des Lebens selbst.<br />
Leben zeigt sich selbst immer als lebendig, ist<br />
seine eigene Offenbarung, Selbst-Offenbarung.<br />
Über Leben zu sprechen meint nicht,<br />
über etwas zu sprechen, denn Leben ist kein<br />
distanziertes Etwas, es ist eben es selbst.<br />
Dieser Kontext eröffnet den elementaren<br />
Charakter von Wahrheit: Wahrheit ist Selbstoffenbarung<br />
des Lebens. Sie zeigt sich<br />
selbst, erleuchtet sich selbst, spricht von sich<br />
selbst, kann nicht von außen „bewiesen“ werden.<br />
Wahrheit teilt die Selbstevidenz des<br />
Lebens; vielmehr: sie ist diese Selbstevidenz.