Hinz&Kunzt 349 Maerz 2022
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Das Hamburger<br />
Straßenmagazin<br />
Seit 1993<br />
N O <strong>349</strong><br />
März.22<br />
2,20 Euro<br />
Davon 1,10 Euro für<br />
unsere Verkäufer:innen<br />
Die<br />
Geld-<br />
verbesserer
Editorial<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />
Auf den Spuren<br />
des Lithiums:<br />
Fotograf Mauricio<br />
Bustamante (links)<br />
und sein Lichtassistent<br />
Paco<br />
Tripodi sind für<br />
die Repor tage<br />
über das Metall<br />
3500 Kilometer<br />
mit dem Auto<br />
durch Argenti nien<br />
gefahren.<br />
Jode Dach,<br />
als gebürtiger Rheinländer begrüße ich Sie dieses Mal im besten Düsseldorfer<br />
Platt. Dat liejt an dem Enterjuh mit dä Norma von dä Ensel<br />
Föhr. Den Text finden Sie in dieser Ausgabe und er hat bei mir gleich<br />
die Lust auf Mundart geweckt.<br />
Sind Sie eher der planende Typ oder stolpern Sie durchs Leben?<br />
Egal zu welchem Lager Sie sich zählen: Irgendwann kommt der Tag,<br />
an dem man sich Gedanken über das liebe Geld machen muss.<br />
Sparbuch? Bausparvertrag? Ihnen ist schon klar, dass man keine Zinsen<br />
mehr bekommt? In unserem Schwerpunkt haben wir uns daher nach<br />
Alternativen umgesehen, die zudem fair sind. Und wir beschäftigen uns<br />
mit Menschen, die in Geldnot geraten sind, und anderen, die so reich<br />
sind, dass sie bereit wären, höhere Steuern zu zahlen.<br />
Darüber hinaus stellen wir Ihnen einen ungewöhnlichen Ex tremsport<br />
vor: Every-Single-Street. Läufer wie Michael Mankus und<br />
Karsten Schuldt haben es sich zum Ziel gesetzt, einmal durch jede<br />
Hamburger Straße zu joggen. Spitzenreiter Schuldt hat tatsächlich<br />
schon 87 von 104 Stadtteilen komplett abgelaufen, wie er meinem<br />
Kollegen Jochen Harberg erzählt hat.<br />
Ich wiederum habe den neuen Bezirksamtsleiter in Mitte<br />
kennen gelernt: Ralf Neubauer. Er ist kein Mann der großen Worte,<br />
sondern einer, der erst mal zuhört. Das hat mir gefallen, wie Sie meinem<br />
Artikel entnehmen können. Wir werden dem Neuen trotzdem genau<br />
auf die Finger schauen, ob er sich auch für Obdachlose engagiert.<br />
Ich wünsche Ihnen einen schönen März, weniger Coronasorgen und<br />
einen echten Frühling.<br />
<br />
Viel Spaß beim Lesen!<br />
Ihr Jonas Füllner<br />
Schreiben Sie uns an: briefe@hinzundkunzt.de<br />
FOTOS SEITE 2: MIGUEL FERRAZ (UNTEN), MAURICIO BUSTAMANTE (OBEN)<br />
TITELIDEE UND ILLUSTRATION: GRAFIKDEERNS.DE<br />
2
Inhalt März <strong>2022</strong><br />
06<br />
Ralf Neubauer<br />
ist der neue<br />
Chef in Mitte.<br />
14<br />
Lithiumabbau<br />
in Argentinien<br />
Stadtgespräch<br />
06 „Zäune lösen keine Probleme“<br />
Unterwegs mit dem neuen Chef des Bezirksamts Mitte<br />
12 Arme sterben öfter an Corona<br />
Interview: Philipp Dickel ist Arzt an der Poliklinik<br />
auf der Veddel.<br />
Auslandsreportage<br />
14 Heimat des Lithiums<br />
In Argentinien werden die Folgen des E-Auto-Booms sichtbar.<br />
44<br />
Straße für<br />
Straße durch<br />
Hamburg<br />
Faire Finanzen<br />
24 „Die Zeit ist überreif!“<br />
Millionär Peter Reese über die Initiative „taxmenow“<br />
28 Geld ist nicht alles<br />
Ein Blick in die Portemonnaies von Hinz&Künztler:innen<br />
30 „Man sollte unbedingt über Geld sprechen“<br />
Hilfreiche Tipps einer Schuldnerberaterin<br />
32 Von Zeitmillionären, Bankkarten und Flugreisen<br />
Geld teilen im Finanzkollektiv – kann das gut gehen?<br />
36 Wohin mit dem lieben Geld?<br />
Vier Vorschläge für eine sinnvolle Geldanlage<br />
Freunde<br />
38 Ein Praktikum im Pop-up-Store<br />
Bei Ladage & Oelke verkaufen<br />
Hinz&Künztler:innen Luxusmode.<br />
40 Richtig gemütlich<br />
Arno Schmidt spendet Bettwäsche für die Hinz&<strong>Kunzt</strong>-WGs.<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
44 Hamburg, wir laufen dich!<br />
Zwei Jogger wollen jede Hamburger Straße ablaufen.<br />
48 Norma macht Popmusik auf Platt<br />
50 Tipps für den März<br />
54 Kolumne: Auf ein Getränk mit Simone Buchholz<br />
56 Momentaufnahme: Ugis und Edgars<br />
Rubriken<br />
04 Gut&Schön<br />
10 Zahlen des Monats<br />
13, 22 Meldungen<br />
42 Buh&Beifall<br />
55 Rätsel, Impressum<br />
36<br />
Vorschläge<br />
für sinnvolle<br />
Geldanlagen<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk
Stars von der Straße<br />
Kunstprojekt mit sozialer<br />
Ambition: Für ihre Bachelorarbeit<br />
wählten die Berlinerin<br />
Ira Dorsch und ihr Team<br />
Obdachlose (hier: Erwin), um<br />
sie als Hochglanz-Cover im<br />
Stil großer Modemagazine in<br />
prominentes Licht zu setzen.<br />
Ziel von „Home.Less.Fashion“:<br />
Hingucker schaffen, wo viel<br />
zu viele weggucken! Endnote<br />
für Dorsch: 1,0! JOC<br />
•<br />
www.luraart.de/home-less-fashion
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Gut&Schön<br />
Partnerprojekt „Nachtbus“<br />
Russisches Jubiläum<br />
Mit einer Video-Grußbotschaft<br />
feierte das<br />
Team des Hamburger<br />
Sozialprojekts „Mitternachtsbus“<br />
seine<br />
Kolleg:innen in der<br />
Partnerstadt St. Petersburg.<br />
Dort kümmert<br />
sich seit genau 20 Jahren<br />
der „Nachtbus“ um<br />
obdachlose Menschen<br />
(siehe Foto). Immer<br />
wochentags von 19 bis<br />
23 Uhr werden warme<br />
Mahlzeiten und Kleidung<br />
gratis verteilt. JOC<br />
•<br />
Infos: www.huklink.de/<br />
nachtbus-st-petersburg<br />
FOTOS: LUIS LIMBERG & IRA DORSCH (S. 4), ALEXEY GOYAN (OBEN),<br />
PICTURE ALLIANCE/NEWSCOM/JOE ROBBINS (UNTEN LINKS), AMNESTY INTERNATIONAL<br />
Vom Auto-Schläfer zum Sport-Millionär<br />
Aus der Obdachlosigkeit in die NFL-Playoffs <strong>2022</strong>: Football-Runningback<br />
Joshua Jacobs von den Las Vegas Raiders hat eine märchenhafte Karriere hingelegt.<br />
Und das, obwohl er in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen ist und als<br />
Achtjähriger sogar zwei<br />
Wochen im Auto auf der<br />
Straße übernachten<br />
musste – weil sein Vater,<br />
der ihn dabei mit der<br />
Pistole bewachte, keine<br />
bezahlbare Wohnung<br />
gefunden hatte. Später,<br />
als Student in Alabama,<br />
schlief Jacobs zunächst<br />
auf dem Fußboden – ein<br />
eigenes Bett war er nicht<br />
gewohnt. Nach seiner<br />
dritten Profisaison ist der<br />
23-Jährige bereits mehrfacher<br />
Millionär, hat seinem<br />
Vater ein Haus gekauft<br />
und weiß dennoch,<br />
was wahrer Luxus ist:<br />
„Immer wenn ich in ein<br />
Bett gehe, denke ich mir:<br />
Wow, wie surreal, du hast<br />
es weit gebracht!“ JOC<br />
•<br />
Kinder, Menschen, Rechte<br />
Interesse wecken, Wissen schaffen,<br />
Bewusstsein bilden: Mit dem neuen<br />
Buch „Die Allgemeine Erklärung<br />
der Menschenrechte für junge<br />
Menschen“ will die Organisation<br />
Amnesty International Kindern in<br />
verständlicher Sprache ihre Rechte<br />
nahebringen. Dass das nötig ist,<br />
zeigt eine repräsentative Umfrage<br />
mit über 1000 deutschen 9- bis<br />
14-Jäh rigen: Fast 40 Prozent von<br />
ihnen denken nicht, dass sie die gleichen<br />
Rechte haben wie Erwachsene.<br />
Das Buch kostet 12 Euro, ein Teil<br />
des Erlöses kommt dem Schutz der<br />
Menschenrechte zugute. JOC<br />
•<br />
5
Ralf Neubauer war<br />
zum„Antrittsbesuch“<br />
bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
„Zäune lösen keine<br />
Probleme“<br />
Ralf Neubauer ist seit anderthalb Monaten neuer Leiter des<br />
Bezirksamts Mitte. Redakteur Jonas Füllner hat mit dem SPD-Mann<br />
eine Runde durch St. Georg und zum Hauptbahnhof gedreht.<br />
TEXT: JONAS FÜLLNER<br />
FOTOS: MIGUEL FERRAZ<br />
V<br />
on so einem Arbeitsweg<br />
können andere nur träumen:<br />
Unterwegs bester<br />
Blick auf Hafen und Hamburger<br />
Skyline. Nie im Stau, sondern<br />
schnell am Ziel. „Nur beim Hafengeburtstag<br />
steckte ich mal fest“, sagt Ralf<br />
Laut Neubauer<br />
steht einer<br />
Tagesöffnung der<br />
Notunterkünfte<br />
nichts entgegen.<br />
Neubauer und schmunzelt. Der 40-Jährige<br />
lebt in Finkenwerder und entert<br />
täglich die Hafenfähre 62, um zur<br />
Arbeit zu fahren. Denn Mitte Januar<br />
hat der Rechtsanwalt im Bezirksamt<br />
Mitte in der Caffamacherreihe die<br />
Nachfolge von Bezirksamtsleiter Falko<br />
Droßmann (SPD) angetreten.<br />
Neubauer ist in diesen Tagen<br />
auf Entdeckungstour. Heute: Thema<br />
Obdachlosigkeit. Startpunkt: das<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus. Neubauer zeigt<br />
sich begeistert vom neuen Arbeits- und<br />
Wohngebäude. Am Ausgang nicken<br />
ihm Verkäufer:innen freundlich zu. Der<br />
Bezirkschef grüßt höflich, dass ihn niemand<br />
erkennt, stört ihn scheinbar nicht.<br />
Wie sollte es auch anders sein? Selbst<br />
Expert:innen der Hamburger Lokalpolitik<br />
war der Sozialdemokrat bis vor<br />
Kurzem kein Begriff. Die „Mopo“ bezeichnete<br />
ihn gar als „Polit-Nobody“.<br />
Dabei engagiert sich der Familienvater<br />
bereits sein halbes Leben für die SPD,<br />
zuletzt als Abgeordneter in der Bürgerschaft.<br />
Im Jurastudium lernte Neubauer<br />
den heutigen Innensenator Andy Grote<br />
(SPD) kennen und zog in dessen Wohngemeinschaft<br />
auf St. Pauli. Später<br />
verschlug es ihn auf<br />
die andere Elb seite.<br />
„Ich komme vom<br />
Land. In Finkenwerder<br />
fühle ich mich mit<br />
meiner Familie wohl“,<br />
sagt Neubauer. Seine<br />
Projekte dort: eine bessere<br />
ÖPNV-Anbindung<br />
für die Rüschhalbinsel<br />
und der<br />
Umbau der ehemaligen<br />
Hafenbahntrasse<br />
zum Radweg.<br />
Dafür wird ihm<br />
künftig wohl die Zeit<br />
fehlen. „Ich bin jetzt<br />
immer weniger Herr<br />
über meine eigenen Termine“, sagt Neubauer,<br />
den für gewöhnlich der bezirkliche<br />
Fahrdienst von Termin zu Termin<br />
kutschiert. An diesem grauen Februarmorgen<br />
geht es aber zu Fuß durch den<br />
Bezirk: eine Runde mit Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
durch St. Georg und vorbei am Hauptbahnhof<br />
– dort, wo Armut und Obdachlosigkeit<br />
Tag und Nacht sichtbar sind.<br />
Am Hansaplatz treibt der Wind<br />
eine leere Bierflasche über den Boden.<br />
Sie bleibt an einem der Poller hängen,<br />
die vor einem Jahr für Empörung sorgten.<br />
Weil Trinker:innen sie als Sitzgelegenheit<br />
nutzen, setzte der Bezirk runde<br />
Kugeln auf die Pfosten. „Menschen-<br />
Ralf Neubauer im Gespräch mit Redakteur Jonas Füllner<br />
7
Was tun gegen die<br />
Verelendung auf Hamburgs<br />
Straßen? Ralf Neubauer will<br />
auf „Housing First“ setzen.<br />
verachtend“ nannte der Einwohnerverein<br />
St. Georg diese Art der Vertreibung.<br />
Dass sich hier einer der Brennpunkte<br />
des Bezirks befinden soll, lässt sich heute<br />
jedoch nicht erkennen. Es ist kalt und<br />
nass, der Platz wie leergefegt.<br />
Konflikte rund um den Hansaplatz<br />
gebe es ja schon lange, sagt Neubauer.<br />
Statt eine fertige Antwort zu präsentieren,<br />
zeigt er auf die Nordseite des Platzes.<br />
„Wenn wir schon mal hier sind.<br />
Dort drüben soll ein Leerstand sein.“<br />
Der Platz ist schnell überquert, das<br />
leere Geschäft entdeckt. Neubauer holt<br />
sein Smartphone raus und fotografiert.<br />
Dabei erläutert er, dass der Vermieter<br />
bislang nicht überzeugt werden konnte,<br />
die Fläche für eine soziale Beratungsstelle<br />
an die Stadt zu vermieten. „Alle<br />
reden immer davon, dass man etwas<br />
tun muss, und dann bekommt man<br />
nicht einmal die Räumlichkeiten<br />
dafür“, sagt Neubauer kopfschüttelnd.<br />
Sein Vorgänger Droßmann hätte<br />
jetzt vielleicht mit verschränkten Armen<br />
und ernstem Blick für die Kamera<br />
vor dem Laden posiert<br />
und markige Worte in<br />
Richtung der Vermieter:innen<br />
formuliert.<br />
Leerstands-Spekulant:in<br />
nen auf dem Kiez<br />
drohte er einst großspurig<br />
mit Zwangsenteignung.<br />
Ankündigungen,<br />
denen allerdings<br />
keine Taten folgten.<br />
Sein Nachfolger<br />
geht Konflikte anders<br />
an. Mit dem Eigentümer<br />
führe man Gespräche,<br />
sagt Neubauer.<br />
Es sei nun einmal<br />
nicht leicht, Flächen<br />
8<br />
im Stadtzentrum zu finden. Nicht nur<br />
in diesem Fall, allgemein habe er nur<br />
„eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten“.<br />
Schließlich sei der finanzielle<br />
Rahmen durch den Senat klar gesetzt.<br />
Im Unterschied zu Berlin hätte seine<br />
Verwaltung eben keine Hoheit über ein<br />
eigenes Budget. Spielraum gebe es aber,<br />
wenn es ums Wohnen geht. Unter anderem<br />
bei der Vergabe von Baugenehmigungen<br />
und bei Umbauten. „Aber<br />
als Bezirksamtsleiter ist man an Recht<br />
und Gesetz gebunden, auch wenn einem<br />
das in manchen Einzelfällen nicht immer<br />
gefällt“, stellt Neubauer klar.<br />
So hätten gerade einige von Verdrängung<br />
bedrohte Mieter:innen in<br />
Hamm von ihm erwartet, dass er eine<br />
Genehmigung zur Zweckentfremdung<br />
nicht erteile. Begründung: Der Hauseigentümer<br />
habe ihnen bei dem anstehenden<br />
Abriss zu teure Ersatzwohnungen<br />
angeboten.<br />
„Die Entscheidung wurde hoch und<br />
runter geprüft, ich habe es mir auch<br />
selbst noch einmal angeguckt“, sagt<br />
Neubauer. Aus rein politischen Gründen<br />
eine Genehmigung zu verweigern, sei<br />
nicht seine Art: „Unsere Entscheidungen<br />
müssen am Ende vor dem Verwaltungsgericht<br />
Bestand haben.“
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Aber wenn die Verdrängung von<br />
Mieter:innen so schwer zu stoppen ist<br />
und es nicht einmal gelingt, einen Beratungsraum<br />
für zwei Sozialarbeiter:innen<br />
am Hansaplatz anzumieten, sind dann<br />
nicht hehre Ziele wie die Abschaffung<br />
der Obdachlosigkeit bis 2030 völlig unrealistisch?<br />
Darauf hatten sich die<br />
Sozialminister:innen aller Bundesländer<br />
im vergangenen Jahr verständigt.<br />
„Ich finde das durchaus ehrgeizig“, sagt<br />
Neubauer. „In Hamburg haben sich die<br />
Obdachlosenzahlen in den vergangenen<br />
zehn Jahren verdoppelt.“<br />
Der Neue in Mitte setzt auf „Housing<br />
First“. Dieser vor allem in Finnland verbreitete<br />
Ansatz verfolgt diese Strategie:<br />
Erst die Wohnung, dann Stabilität im<br />
Leben. In Hamburg gelten eher die<br />
Grünen als die SPD-geführte Sozialbehörde<br />
als Befürworter:innen dieses<br />
Konzepts. „Ich habe bezüglich Housing<br />
First eine gewisse Zurückhaltung wahrgenommen“,<br />
bestätigt Neubauer und<br />
„Ich weiß nicht,<br />
ob unsere<br />
Hilfesysteme<br />
niedrigschwellig<br />
genug sind.“<br />
RALF NEUBAUER<br />
9<br />
lässt leise Kritik durchklingen. So verweise<br />
die Sozialbehörde auf das bestehende<br />
Hilfesystem, das gut aufgestellt<br />
sei. „Das fand ich eine interessante Antwort“,<br />
sagt Neubauer. „Ich hingegen<br />
weiß nicht, ob unsere Hilfesysteme<br />
niedrigschwellig genug sind.“<br />
Es wäre nicht das erste Mal, dass<br />
Neubauer auf Distanz zu Parteichefin<br />
und Sozialsenatorin Melanie Leonhard<br />
geht. Bereits im Streit zwischen der Behörde<br />
und Hinz&<strong>Kunzt</strong> um eine Tagesöffnung<br />
des Winternotprogramms erläuterte<br />
er der Senatorin seine Sicht der<br />
Dinge: Hinz&<strong>Kunzt</strong> hatte bei der Anwaltskanzlei<br />
Neubauers ein Gut achten<br />
beauftragt. Das Ergebnis war eindeutig:<br />
Einer Öffnung der Unterkünfte am<br />
Tage stehe nichts entgegen. „Dazu<br />
stehe ich weiterhin“, sagt der Bezirksamtschef.<br />
Aber: Die Entscheidung obliege<br />
der Sozialbehörde.<br />
Zwei von drei Unterkünften des<br />
Winternotprogramms liegen inzwischen<br />
nicht mehr im Stadtkern. Die<br />
meisten Obdachlosen, die auf der Straße<br />
schlafen, sieht man aber im Zentrum<br />
– und somit im Bezirk Mitte. Das führt<br />
nicht selten zu Konflikten. Zum Beispiel<br />
ließ ein Gymnasium in der Wohlwillstraße<br />
auf St. Pauli kürzlich einen<br />
überdachten Vorplatz einzäunen. Um<br />
Obdachlose zu vertreiben, die offen<br />
Drogen konsumierten und gewalttätig<br />
waren, wie der Schulleiter gegenüber<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> ausführte. Öffentlich forderte<br />
er Hilfe vom Bezirk ein. Derartige<br />
Politikschelte sei ihm zu billig, entgegnet<br />
Neubauer. Die Schule habe sich nicht<br />
an den Bezirk gewandt. Und dass man<br />
am Ende auf keine andere Idee kam,<br />
als einen Zaun aufzustellen, habe ihn<br />
gewundert. „Ich glaube, Zäune lösen<br />
keine Probleme“, sagt Neubauer.<br />
Deshalb versuche der Bezirk nun,<br />
Unterstützung für die Obdachlosen<br />
bereitzustellen. Man habe bereits Gespräche<br />
mit einem Träger, der vor Ort<br />
vermitteln kann und gute Kontakte zu<br />
Trägern der Wohnungslosenhilfe hat,<br />
aufgenommen. „Für diese Arbeit möchten<br />
wir auch die erforderlichen Mittel<br />
zur Verfügung stellen“, sagt Neubauer.<br />
Es wäre aber wohl eher eine Ausnahme.<br />
Grundsätzlich seien die Ressourcen im<br />
Bezirk begrenzt, stellt Neubauer klar.<br />
„Es ist wie mit einer zu kurzen Bettdecke.<br />
Egal, in welche Richtung man<br />
zieht, ein Bein liegt immer frei.“ •<br />
Jonas Füllner radelte im<br />
Herbst entlang der Hafenbahn<br />
in Finkenwerder und<br />
war begeistert von dem<br />
Projekt von Ralf Neubauer.<br />
Jetzt hofft er, dass sich der Neue in Mitte<br />
ebenso erfolgreich für Obdachlose einsetzt.<br />
jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />
Die<br />
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Zahlen des Monats<br />
EU-Zuwanderung<br />
Erfolgsgeschichte<br />
statt Problem<br />
5000<br />
Ärzt:innen aus Rumänien arbeiten in Deutschland – mehr als aus jedem anderen Land<br />
der Europäischen Union. Als die EU 2014 die Grenzen für Arbeitskräfte aus Rumänien<br />
und Bulgarien vollständig öffnete, warnten manche vor „Armutszuwanderung“ und<br />
„Hartz-IV-Betrug“. Heute zeigen die Statistiken: Die Menschen kommen vor allem,<br />
um hier Geld zu verdienen. Dabei arbeiten Zugewanderte aus den beiden südosteuropäischen<br />
Staaten häufig in Hotels und Gaststätten, in der Landwirtschaft oder auf<br />
dem Bau – und erledigen dort Jobs, die Einheimische gerne meiden.<br />
Insgesamt gehen 700.000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien einer sozialversicherungspflichtigen<br />
Arbeit in Deutschland nach, nur 67.000 sind arbeitslos. Damit ist die<br />
Arbeitslosenquote bei Zugewanderten aus diesen beiden EU-Staaten bei 9,0 Prozent –<br />
und liegt damit über der Quote bei der Gesamtbevölkerung (5,9 Prozent), jedoch unter<br />
der bei allen Menschen ohne deutschen Pass (12,4 Prozent). Das zeigen Daten des Instituts<br />
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Bemerkenswert auch: Seit Einführung<br />
der Freizügigkeit hat sich die Beschäftigungsquote bei Menschen aus Rumänien und<br />
Bulgarien fast verdoppelt. „Das ist ohne Zweifel ein großer Erfolg“, sagt der Arbeitsmarktforscher<br />
Herbert Brücker vom IAB.<br />
Die Entwicklung dürfte künftig noch an Fahrt gewinnen: Allein in der Pflege fehlen<br />
bereits heute 35.000 Fachkräfte, Hochrechnungen zufolge steigt der Bedarf infolge des<br />
demografischen Wandels bis 2030 auf 180.000. Der Deutsche Städtetag spricht sogar von<br />
300.000 Pflegekräften sowie 230.000 Erzieher:innen in Kindertagesstätten, die in den<br />
kommenden Jahren benötigt würden. Auch im Handwerk und in den MINT-Branchen<br />
(Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) mangelt es an Fachleuten.<br />
Laut einer Hochrechnung des IAB braucht Deutschland 400.000 Zuwanderer:innen pro<br />
Jahr, um den wachsenden Mangel an Expert:innen auf längere Sicht auszugleichen.<br />
Dafür sorgen soll das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das seit März 2020 gilt. Doch<br />
kommen weiterhin weniger Menschen nach Deutschland als nötig. Aus Sicht von Arbeitsmarktforscher<br />
Brücker sollte das Gesetz deshalb dringend nachgebessert werden: „Die<br />
Anerkennung der beruflichen Ausbildung muss vereinfacht werden“, sagt der<br />
IAB-Experte. „Sonst gehen qualifizierte Menschen in andere Länder als Deutschland.“ •<br />
TEXT: ULRICH JONAS<br />
ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />
Mehr Infos unter www.mediendienst-integration.de und www.iab.de<br />
11
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />
Philipp Dickel<br />
warnt vor<br />
den sozialen<br />
und gesundheit<br />
lichen<br />
Langzeitfolgen<br />
von<br />
Covid auf<br />
der Veddel.<br />
Arme sterben öfter an Corona<br />
Corona betrifft Arme stärker als Reiche. Das zeigen erneut<br />
aktuelle Zahlen aus dem Robert Koch-Institut.<br />
Der Arzt Philipp Dickel von der Poliklinik Veddel spricht über<br />
die Pandemie auf der Elbinsel und die Lehren daraus.<br />
INTERVIEW: BENJAMIN LAUFER<br />
FOTO: PRIVAT<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Das Robert Koch-Institut<br />
spricht etwas sperrig von „sozioökonomisch<br />
benachteiligten Bevölkerungsgruppen“,<br />
die ein hohes Risiko hätten,<br />
besonders oft an Corona zu erkranken.<br />
Wer sind die Menschen, die mit Covid in<br />
die Poliklinik kommen?<br />
Philipp Dickel: Hier auf der Veddel leben<br />
viele Leute mit geringem Einkommen,<br />
wenig Wohnfläche und teilweise<br />
geringer Bildung, die obendrein starker<br />
Luftverschmutzung ausgesetzt sind.<br />
Viele Patient:innen arbeiten im Kupferwerk<br />
Aurubis, in Lagerhallen oder in<br />
der Pflege.<br />
Die sozialen Unterschiede machen<br />
sich vor allem bei der Zahl schwerer<br />
und tödlicher Krankheitsverläufe<br />
bemerkbar. Man geht davon aus, dass<br />
arme Menschen mehr Vorerkrankungen<br />
und einen schlechteren Zugang zum<br />
Gesundheitssystem haben.<br />
Die Krankheitslast für chronische Krankheiten<br />
wie Diabetes oder die Lungenkrankheit<br />
COPD ist auf der Veddel<br />
wesentlich höher als in reicheren Vierteln,<br />
gerade bei jüngeren Menschen.<br />
Man kann sich hier nicht so gutes Essen<br />
leisten, hat vielleicht nicht so viel Zeit für<br />
Sport oder arbeitet unter Bedingungen,<br />
12<br />
die krank machen. Wir haben durchgehend<br />
mit Corona zu tun, haben einige<br />
schwere Verläufe gesehen, und Post-<br />
Covid ist ein Thema. Viele Menschen<br />
hier waren bereits zweimal infiziert.<br />
An Corona gestorben sind auf der<br />
Veddel im Gegensatz zum Bundestrend<br />
nur wenige Menschen, hat eine Anfrage<br />
der Linksfraktion ergeben: Seit 2021<br />
waren es laut Senat „weniger als vier“ …<br />
Die Veddel ist ein sehr junger Stadtteil,<br />
es gibt hier keine Altersheime und<br />
kaum barrierefreie Wohnungen. Das<br />
muss man bei der Bewertung dieser
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Zahlen beachten. Aber aus unserer<br />
Sicht ist nicht die hohe Sterblichkeit das<br />
Problem, sondern es sind die sozialen<br />
und gesundheitlichen Langzeitfolgen:<br />
Post-Covid, Kurzarbeit, psychologische<br />
Probleme. Die Inzidenzen auf der Veddel<br />
waren mit die höchsten in Hamburg,<br />
und ich hatte nicht das Gefühl,<br />
dass die Stadt darauf reagiert hätte.<br />
Da kam nicht viel.<br />
Im April 2021 hatten Sie angesichts der<br />
hohen Infektionszahlen auf der Veddel<br />
erfolglos eine „Impfstoffoffensive“ für<br />
den Stadtteil gefordert. Inzwischen gibt<br />
es ja mehr Impfstoff als Impfwillige,<br />
und laut Robert Koch-Institut lassen<br />
sich weniger gebildete Menschen unter<br />
60 seltener impfen. Mussten Sie viel<br />
Überzeugungs arbeit leisten?<br />
Wir haben schnell ein Impfzentrum aufgebaut.<br />
Und für die Aufklärung haben<br />
wir uns viel Zeit genommen und Schlüsselpersonen<br />
aus den Communities eingebunden.<br />
Das war sehr erfolgreich, Probleme<br />
mit Impfskeptiker:innen gab es<br />
kaum. Ich hatte den Eindruck, dass die<br />
Leute sich sehr früh impfen ließen, weil<br />
sie so gebeutelt von der Pandemie<br />
waren.<br />
Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft:<br />
Das Robert Koch-Institut wünscht<br />
sich „politikbereichsübergreifende<br />
Anstrengungen“, um gesundheitliche<br />
Ungleichheiten zu beseitigen. Haben<br />
Sie Vorschläge?<br />
Die Veddel ist das beste Beispiel: Es gibt<br />
hier ein multiprofessionelles Gesundheitszentrum,<br />
dem die Leute vertrauen.<br />
Da arbeiten nicht nur Ärztinnen und<br />
Ärzte, sondern auch Pflegekräfte und<br />
Sozialarbeiter:innen, die nicht so hochgestochen<br />
reden. Wenn es solche Zentren<br />
flächendeckend gäbe, wäre man<br />
für kommende Pandemien besser aufgestellt.<br />
Das löst aber nicht das Problem,<br />
dass ärmere Menschen öfter krank<br />
werden und früher sterben: Da geht es<br />
um Verteilungsfragen. •<br />
benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />
Infos: www.poliklinik1.org<br />
Armutspolitik<br />
Meldungen (1)<br />
Politik & Soziales<br />
Breites Bündnis fordert mehr Hilfen<br />
Ein Bündnis von Sozialverbänden und Jugendorganisationen hat die<br />
Bundesregierung zum Handeln gegen Armut aufgefordert. „Angesichts<br />
dauerhafter Preissteigerungsraten und pandemiebedingter Mehrausgaben<br />
appellieren wir dringend an Sie, zügig gezielte und substanzielle Hilfen<br />
für die Ärmsten in unserer Gesellschaft zu beschließen“, heißt es in einem<br />
offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz (SPD) und zuständige Minister:innen.<br />
Zwar habe die Regierung einen Heizkostenzuschuss für Wohngeldbeziehende<br />
beschlossen. Doch ließen weitere Maßnahmen auf sich warten,<br />
etwa der im Koalitionsvertrag angekündigte Sofortzuschlag für von Ar mut<br />
betroffene Kinder. Die Ampelparteien diskutierten zuletzt eine Höhe von<br />
25 Euro pro Monat. Dazu Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der<br />
Diakonie: „Kinder in der Grundsicherung erhalten monatlich rund<br />
78 Euro zu wenig. Der Betrag wäre ein Tropfen auf den heißen Stein.“ UJO<br />
•<br />
Strompreisexplosion<br />
Rot-Grün in Hamburg fühlt sich nicht zuständig<br />
Die Regierungsfraktionen von SPD und Grünen haben die Forderung<br />
zurückgewiesen, Hamburg müsse angesichts der massiv steigenden Strompreise<br />
tätig werden. Die Initiative „Hamburg traut sich was“ fordert von<br />
der Stadt eine Soforthilfe von 50 Euro monatlich für Geringverdienende.<br />
„Für jede Kommune eine Sonderregelung zu machen ist nicht sinnvoll“,<br />
erklärte dazu die SPD. Wie ihr Regierungspartner verwiesen auch die<br />
Grünen auf die Bundespolitik: „Was wir benötigen, ist das Bürgergeld<br />
und inflationssichere, armutsfeste, also höhere Regelsätze.“ UJO<br />
•<br />
Petition<br />
Schüler:innen fordern mehr Essensgeld vom Senat<br />
Statt bisher 3,50 Euro kostet das Mittagessen in Hamburgs Schulen<br />
künftig bis zu 4 Euro. „Diese und zukünftige Preiserhöhungen werden viele<br />
Hamburger Familien nicht mehr finanzieren können“, kritisiert Charlotte<br />
Schmiedel, Landesvorsitzende der Schüler:innenkammer. Ihre Organi sation<br />
hat eine Petition gestartet – und fordert einen Essenszuschuss für Familien<br />
mit geringen Einkommen. Derzeit dürfen nur Kinder aus Hartz-IV-Haushalten<br />
kostenlos in der Schule essen. Einen Zuschuss für Kinder von<br />
Geringverdienenden gibt es lediglich in Grundschulen. Für weiterführende<br />
Schulen sei dies nicht zu bezahlen, so die Schulbehörde: „Wer das fordert,<br />
soll bitte auch einen Vorschlag machen, wie das finanziert werden soll.“<br />
Caterer und Schulbehörde hatten sich 2020 auf eine stufenweise<br />
Erhöhung der Essenspreise geeinigt. Als Unterstützung in der Coronakrise<br />
sei diese zunächst durch<br />
einen Zuschuss ab ge federt<br />
worden, erklärte die Behörde.<br />
Dieser sei nun eingestellt<br />
worden. LG<br />
•<br />
Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />
www.hinzundkunzt.de<br />
13
Heimat<br />
des Lithiums<br />
Seit Elektroautos boomen, ist das Leichtmetall begehrter denn je.<br />
Längst haben sich Konzerne Abbaurechte gesichert.<br />
Was bedeutet das für die Einheimischen? Fotograf<br />
Mauricio Bustamante hat in Argentinien nachgeforscht.<br />
PROTOKOLL: ULRICH JONAS<br />
MITARBEIT: CEDRIC HORBACH
Blick auf einen Salzsee im<br />
Norden Argentiniens. Dessen<br />
Salz wird für die chemische<br />
Industrie aufbereitet.
Alberto Soriano vor den Ruinen der Häuser, in denen<br />
sein Vater und andere Minenarbeiter einst gelebt haben.<br />
Damals wurde hier Borax gewonnen, das beispielsweise<br />
für die Herstellung von Kosmetika wichtig ist.<br />
Fotograf Mauricio Bustamante<br />
bei der Arbeit, hier bei den<br />
Salinas Grandes, einem<br />
Salzsee mit einer Größe von<br />
212 Quadratkilometern.<br />
FOTO: PACO TRIPODI
Ich habe schon viele Gegenden<br />
Argentiniens fotografiert. Doch<br />
solche Landschaften hatte ich nie<br />
zuvor gesehen: riesige Salzseen<br />
und viel Stein, fast nur weiße Flächen<br />
und Himmel, auf 3000 Meter Höhe.<br />
Kein Baum, kein Strauch weit und<br />
breit. Wie eine Mondlandschaft.<br />
Eine kurze Nachricht hatte mich<br />
auf die Idee zu dieser Recherche gebracht:<br />
Der Autobauer BMW, so hieß<br />
es vergangenes Jahr, hat einen Liefervertrag<br />
über Lithium für 285 Millionen<br />
Euro abgeschlossen. Das Leichtmetall,<br />
das von einem US-amerikanischen Unternehmen<br />
gefördert wird, stammt aus<br />
dem Nordwesten meiner Heimat: dem<br />
sogenannten Lithium-Dreieck.<br />
Seitdem Elektroautos boomen, ist<br />
Lithium begehrter denn je. Ich will mir<br />
aus der Nähe ansehen, wie es gewonnen<br />
wird. Doch anders als in Bolivien,<br />
wo der Staat Bodenschätze abbaut, hat<br />
Argentinien viele seiner Salzseen Unternehmen<br />
überlassen, die die Abbaurechte<br />
gekauft haben. Und die geben<br />
mir nicht die Erlaubnis, auf ihrem<br />
Gelände zu fotografieren. Begründung:<br />
Bis zu 70 Prozent der globalen<br />
Vorkommen in Salzseen befinden sich<br />
im sogenannten Lithium-Dreieck.<br />
Lithium-Dreieck<br />
Chile<br />
Bolivien<br />
Argentinien<br />
17
18<br />
„So wie die Energiewende<br />
im globalen Norden grün<br />
sein kann, so fair ist sie<br />
auf lokaler Ebene nicht“,<br />
sagt die Ethnologin Melisa<br />
Escosteguy.
Das Wasser in den Salzseen<br />
stammt aus den Tiefen des<br />
Bodens. Regen fällt im Norden<br />
Argentiniens nur selten.<br />
die Coronapandemie. So reise ich<br />
durch die Provinzen und führe viele<br />
Gespräche.<br />
Alberto Soriano hat als Kind seinen<br />
Vater in die Bergbauminen begleitet.<br />
Später hat er sieben Jahre lang die<br />
Anden durchstreift und für ein kanadisches<br />
Unternehmen nach Bodenschätzen<br />
gesucht. Der 46-Jährige ist in<br />
einfachsten Verhältnissen aufgewachsen,<br />
in Susques, einem 1800-Seelen-<br />
Dorf. „Ich wusste lange nicht, was<br />
eine Toilette ist. Ich wusste nicht, was<br />
Asphalt ist“, erzählt er mir.<br />
Erst als Elfjähriger lernt er die<br />
nächstgelegene Stadt kennen und<br />
Jagd nach dem „weißen Gold“<br />
Lithium spielt in Batterien etwa von Elektroautos eine Schlüsselrolle. Grund dafür ist<br />
seine hohe Energie- und Leistungsdichte. Jenseits Südamerikas, etwa in Australien,<br />
wird das Leichtmetall aus Gestein gewonnen. Kritiker:innen warnen vor Umweltverschmutzung<br />
und Wassermangel, Autohersteller versprechen „nachhaltigen Abbau“ und<br />
Begleitforschung. Auch hierzulande soll bald Lithium gefördert werden: Im Oberrheintal<br />
wurden die angeblich größten Vorkommen Europas entdeckt, auch im Erzgebirge will ein<br />
Unternehmen das Leichtmetall abbauen. Um Berge alter Autobatterien zu vermeiden,<br />
will die Ampel-Regierung „ein Anreizsystem etablieren, um gefährliche Lithium-Ionen-<br />
Batterien umweltgerecht zu entsorgen und der Kreislaufwirtschaft zuzuführen“. UJO<br />
darf im Haus einer Großfamilie übernachten:<br />
das Geschenk eines Patenonkels<br />
zur Firmung. Die Gastfreundschaft<br />
und das gemeinsame Essen mit vielen<br />
anderen begeistern ihn. Seit diesem Tag<br />
hat er davon geträumt, Hotelier zu wer<br />
19
Im Salzsee Olaroz-Ca chari<br />
will das Unternehmen „Lithium<br />
Americas“ bald 40.000 Tonnen<br />
Lithiumcarbonat pro Jahr<br />
gewinnen. Deshalb wird die<br />
Fabrik derzeit vergrößert.<br />
„In Argentinien wurde viel Geld<br />
investiert, um die Lithium-<br />
Vorkommen zu erkunden“, sagt<br />
Ignacio Cellorio, Geschäftsführer<br />
Lateinamerika des kanadischen<br />
Unternehmens Lithium Americas.<br />
20<br />
den. Heute gehört ihm die Pension „el<br />
cactus“ – und viele der Menschen, die<br />
dort übernachten, haben etwas mit dem<br />
Lithium zu tun, das 30 Kilometer entfernt<br />
von Albertos Dorf gewonnen wird.<br />
Prognosen zufolge wird sich die Nachfrage<br />
nach Lithium bis 2030 verzehnfachen.<br />
In Südamerika wird das Alkalimetall<br />
aus der Sole riesiger Salzseen<br />
gewonnen – was vergleichsweise einfach<br />
ist und damit kostengünstiger als<br />
die Lithiumgewinnung aus Gestein. Bis<br />
zu 70 Prozent der globalen Vorkommen<br />
in Salzseen, so Schätzungen, befinden<br />
sich in den Salinas Argentiniens, Chiles<br />
und Boliviens – eine Region von rund<br />
25.000 Quadratkilometer Größe, die<br />
der Fläche von 3,5 Millionen Fußballfeldern<br />
entspricht. Hier leben vor allem<br />
indigene Gemeinschaften.<br />
Melisa Escosteguy will herausfinden,<br />
wie der Lithiumabbau das Leben<br />
der Menschen und die Umwelt verändert.<br />
Die 27-jährige Ethnologin sagt<br />
mir: „Es gibt Menschen, die die Erwartung<br />
haben, dass Lithium Arbeitsplätze<br />
in der Region schaffen kann. Und es
Auslandsreportage<br />
gibt Menschen, die große Angst davor haben, was<br />
mit der Umwelt passieren könnte.“ Dazu muss man<br />
wissen: Um das Lithium zu gewinnen, braucht es<br />
enorme Mengen Wasser. Weil dafür auch unterirdische<br />
Süßwasserreservoire angezapft werden,<br />
droht Wassermangel.<br />
Für die Forscherin gibt es keinen Zweifel daran,<br />
dass wir im reichen Norden mitdenken müssen, welche<br />
Folgen unsere vermeintlich grüne Energiewende<br />
anderswo hat. „Wenn man ein Elektroauto kauft,<br />
das für euch sehr nützlich sein kann, erzeugt das<br />
anderswo eine ziemlich starke Umweltbelastung.“<br />
Und noch etwas treibt sie um: die ungleiche<br />
Verteilung der Macht. In Argentinien bestimmen vor<br />
allem die Regierungen der Provinzen darüber, ob<br />
und wie viel Lithium abgebaut wird. Interessierte<br />
Unternehmen müssen nur ein Gutachten vorlegen,<br />
dass ihr Projekt die Umwelt nicht gefährdet, und sich<br />
dann mit den betroffenen Gemeinden einigen.<br />
Doch wie sollen die die großzügigen Angebote der<br />
Unternehmen ablehnen können, wenn es bei ihnen<br />
mit unter nicht einmal Strom gibt?<br />
Alberto Soriano ist Chef seiner Dorfgemeinschaft<br />
gewesen und weiß, wie die Dinge laufen.<br />
Jede Gemeinde habe für sich mit den Bergbauunternehmen<br />
verhandelt, erzählt er mir. Manche hätten<br />
Geld für den Bau einer neuen Schule bekommen<br />
und den Firmen dafür die Genehmigung erteilt,<br />
die Natur auszubeuten. Anderen seien Jobs im<br />
Umfeld der Lithiumfabrik angeboten worden, etwa<br />
im Transport oder beim Catering. Und einige<br />
hätten auch ein Auto mit Vierradantrieb geschenkt<br />
bekommen – bei den Straßenverhältnissen in dieser<br />
Region ist das Gold wert.<br />
Albertos größte Sorge jedoch ist der Wassermangel.<br />
Wasser war in dieser Gegend immer knapp.<br />
Doch seit vier Jahren wird es stetig schlimmer, sagt<br />
er. Ob das eine Folge des Lithiumabbaus ist oder<br />
ein Ergebnis des Klimawandels, ist unklar: eindeutige,<br />
unabhängige Studien fehlen. Alberto Soriano blickt<br />
so oder so mit Sorgen in eine Zukunft, wenn<br />
die Unternehmen längst weitergezogen sind: „In<br />
20 Jahren werden wir mit nichts bleiben. Und es gibt<br />
niemanden, der uns verteidigt.“ •<br />
Mauricio Bustamante staunte, was es<br />
bedeutet, in 3000 Metern Höhe zu leben:<br />
„Der Himmel ist gestochen scharf.<br />
Das Licht blendet. Und das Atmen fällt<br />
unheimlich schwer.“<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
21<br />
© Julia Krojer<br />
ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />
Jetzt<br />
beteiligen:<br />
GUTESGELD.DE<br />
Wie klingt<br />
Hamburg?<br />
Schüler:innenwettbewerb von<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> und AUDIYOU<br />
Wie klingt für euch Hamburg?<br />
Welche Menschen und Orte gehören dazu?<br />
Wir sind gespannt darauf, was für Persönlichkeiten,<br />
Geschichten oder auch Klänge ihr findet.<br />
Macht unsere Stadt hörbar!<br />
Gestaltet aus den Ideen einen Hörbeitrag, egal<br />
in welcher Form. Das kann eine kleine Geschichte,<br />
eine Reportage, ein Hörspiel, ein Song, ein Interview<br />
oder etwas anderes sein. Hauptsache, es ist hörbar<br />
und nicht länger als vier Minuten.<br />
Wir sind gespannt darauf! Aus allen Einsendungen<br />
wählt eine Expert:innen-Jury ihre Favoriten und<br />
stellt diese bei einer großen Abschlussveranstaltung<br />
für alle Teilnehmer:innen im Juni <strong>2022</strong> vor.<br />
Dabei gibt es viele Preise zu gewinnen.<br />
Einsendeschluss:<br />
2. Juni <strong>2022</strong><br />
Mehr Informationen, Teilnahmebedingungen<br />
und das Anmeldeformular gibt es<br />
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bei Stephanie Landa, Tel. 040 – 46 07 15 38.<br />
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Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />
Meldungen (2)<br />
Politik & Soziales<br />
Hartz IV<br />
Stadt erhöht Mietobergrenzen<br />
Als Reaktion auf den neuen Mietenspiegel<br />
übernimmt die Stadt Hamburg<br />
ab sofort höhere Mieten von<br />
Grundsicherungs- und Hartz-IV-<br />
Empfänger:innen sowie Asylsuchenden.<br />
Eine Einzelperson kann nun<br />
bis zu 543 Euro monatlich vom Amt<br />
bekommen (bisher: 501,50 Euro).<br />
Für einen dreiköpfigen Haushalt<br />
steigt die sogenannte Angemessenheitsgrenze<br />
von bislang 755,25 Euro<br />
auf 780 Euro. In bestimmten Stadtteilen<br />
gibt es darüber hinaus Zuschläge<br />
für die besondere Wohn lage. Zum<br />
Jahreswechsel hatten zahlreiche Vermie<br />
ter:innen in Hamburg die Miete<br />
erhöht. Nach Behörden angaben<br />
übernimmt die Stadt derzeit für rund<br />
152.000 Haushalte die Miet- und<br />
Heizungskosten – 2021 in Höhe von<br />
insgesamt 911 Millionen Euro. BELA<br />
•<br />
Gewalt<br />
Obdachlose bedroht<br />
Mit einem Messer und einem Ziegelstein<br />
sollen vier Jugendliche Anfang<br />
Februar mehrere Obdachlose in einem<br />
Hinterhof in Harvestehude bedroht<br />
haben. Anwohner:innen hatten die<br />
Attacke beobachtet und die Polizei<br />
alarmiert. Die stellte kurz darauf drei<br />
16-Jährige und einen 17-Jährigen,<br />
der als Intensivtäter bekannt sein soll.<br />
Bei einem der 16-Jährigen wurde<br />
ein verbotenes Messer gefunden.<br />
Bei Redaktionsschluss Mitte Februar<br />
dauerten die Ermittlungen nach<br />
Angaben der Polizei an. BELA<br />
•<br />
Sozialbehörde<br />
Hilfen für junge Obdachlose verspätet<br />
Hamburgs Modellprojekt für junge Obdachlose lässt auf sich warten: Frühestens<br />
ab Oktober wird die Stadt 20 Notschlafplätze für 18- bis 27-Jährige anbieten,<br />
erklärte der Arbeitskreis Wohnraum für junge Menschen – zehn Monate später<br />
als geplant. Das habe die Sozial behörde mitgeteilt. Das Projekt soll Betroffene<br />
„voraussetzungslos“ von der Straße holen und sie innerhalb von sechs bis acht<br />
Wochen in weitergehende Hilfen vermitteln. So könnte sich eine Lücke schließen:<br />
Klassische Angebote der Wohnungslosenhilfe sind für Jung erwachsene „kaum<br />
nutzbar“, so der Arbeitskreis, ein Bündnis aus Sozialarbei ter:in nen. Durch die<br />
Coronapandemie habe sich der Bedarf nach einem niedrig schwel ligen Notübernachtungsangebot<br />
für junge Obdachlose noch erhöht. Ursprünglich sollte das<br />
Projekt, auf das sich SPD und Grüne verständigt hatten, im Januar starten. Der<br />
späte Beginn hängt offenbar mit Verzögerungen beim Neubau der Notunterkunft<br />
Pik As zusammen. In dem soll es ab 2024 auch bis zu 72 Übernachtungsplätze für<br />
Jung erwachsene geben – mit eigenem Eingang. Sozial arbeiter:in nen wünschen<br />
sich allerdings andere Standorte: Viele junge Obdachlose würden die Begegnung<br />
mit Menschen mit langen Straßenkarrieren fürchten. Die Sozialbehörde äußerte<br />
sich bis Redaktionsschluss auf Nachfrage nicht. JOF/UJO<br />
•<br />
Wohnungsbau<br />
Hamburg baut weniger Sozialwohnungen als geplant<br />
Der rot-grüne Senat hat sein selbst gestecktes Ziel beim Neubau von Sozialwohnungen<br />
deutlich verfehlt: Statt eines knappen Drittels wurde vergangenes Jahr<br />
nur ein knappes Fünftel der neuen Wohnungen mit Mietpreisbindung errichtet.<br />
Laut der Hamburgischen Investitions- und Förderbank wurden 2021 knapp<br />
1900 Sozialwohnungen fertiggestellt. 2020 waren es knapp 3500 gewesen, im<br />
Jahr 2019 sogar 3700. Die Stadtentwicklungsbehörde erklärte den Rückgang<br />
damit, dass vergangenes Jahr weniger große Projekte fertig geworden seien.<br />
Zudem seien die Bauvorhaben komplexer geworden. Dazu kämen die „sprunghaften<br />
Preissteigerungen“ für Baumaterial. Die Linksfraktion beklagte, die Zahl<br />
der Sozialwohnungen stagniere bei 77.700 – obwohl mittlerweile fast 340.000<br />
Haushalte in Hamburg Anspruch auf eine Sozialwohnung hätten. UJO<br />
•<br />
Vorkaufsrecht<br />
Mietervereine legen Modell für Neuregelung vor<br />
Die Mietervereine aus Hamburg, Berlin und München haben die Bundesregierung<br />
aufgefordert, das Vorkaufsrecht von Kommunen in Milieuschutzgebieten<br />
zügig neu zu regeln. „Da ist zu wenig Dampf dahinter“, sagte Rolf Bosse, Geschäftsführer<br />
des Mietervereins zu Hamburg. Mit einem Eckpunktepapier wollen<br />
die Mieterschützer:innen den Druck auf die Regierung erhöhen. „Das ist kein<br />
Hexenwerk. Das Gesetz könnte bereits im Mai in Kraft treten“, so Bosse. Die<br />
Reform ist nötig, weil ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die Kommunen<br />
derzeit hindert, ihr Vorkaufsrecht auszuüben.<br />
Das Instrument soll Spekulation<br />
und die Verdrängung einkommensschwacher<br />
Haushalte verhindern. UJO<br />
•<br />
Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />
www.hinzundkunzt.de<br />
FOTO: GETTY IMAGES/ISTOCKPHOTO/CARLOS GAWRONSKI<br />
22
Faire<br />
Finanzen<br />
Interview: Peter Reese ist Millionär<br />
und will höhere Steuern zahlen (S. 24).<br />
Schuldnerberatung: Catrin Sternberg<br />
hilft von Armut betroffenen Menschen<br />
(S. 30). Finanz kooperative: Hier unterstützt<br />
man sich gegenseitig und teilt<br />
sich ein Konto – trotz unterschied licher<br />
Einkommen (S. 32). Außerdem:<br />
Hinz&Künztler:innen öffnen ihre<br />
Portemonnaies (S. 28). Und: Vorschläge<br />
zur sinnvollen Geldanlage (S. 36).
Faire Finanzen<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />
„Die Reichen und<br />
Superreichen verabschieden<br />
sich zunehmend aus der Steuerlast<br />
und der Verantwortung für das<br />
Gemeinwesen“, kritisiert Peter Reese.<br />
Er selbst ist Millionär.<br />
24
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Faire Finanzen<br />
„Die Zeit ist<br />
überreif!“<br />
Steuern rauf für Reiche: Im Verein taxmenow haben sich<br />
Vermögende zusammengeschlossen, die genau das fordern.<br />
Ein Gespräch mit dem Vorstand Peter Reese über Motive,<br />
Ziele und das Hamburger Desinteresse …<br />
TEXT: JOCHEN HARBERG<br />
FOTO: MAKS RICHTER FOTOGRAFIE<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Herr Reese, können<br />
wir davon ausgehen, dass Sie bei<br />
der jüngsten Bundestagswahl nicht<br />
die FDP gewählt haben – die Steuererhöhungen<br />
ja von vornherein<br />
kategorisch ausgeschlossen hat?<br />
Peter Reese: Ja. Ich würde mich als sozialliberal<br />
bezeichnen – aber eine Partei,<br />
die für Freiheit ohne Verantwortung<br />
steht und der es nur um Besitzstandswahrung<br />
der ohnedies Privilegierten<br />
geht, ist nicht meine.<br />
Sie sind als Gründungsmitarbeiter<br />
durch den Verkauf des bekannten<br />
Vergleichsportals „Verivox“ im Jahr<br />
2015 selbst Millionär geworden. Wann<br />
und wie wurden Sie auf „taxmenow“<br />
aufmerksam?<br />
Durch ein Interview der erst 29-jährigen<br />
BASF-Erbin Marlene Engelhorn<br />
im Mai letzten Jahres, die sich schon<br />
„Starke<br />
Schultern sollen<br />
und müssen<br />
mehr tragen.“<br />
damals bei taxmenow engagiert hat<br />
und ebenfalls eine höhere Besteuerung<br />
großer Vermögen fordert. Viele ihrer<br />
Gedanken zum Thema soziale Ungerechtigkeit<br />
rund um großen Reichtum<br />
haben schon länger in mir gegärt. Sie<br />
sind auch bei uns in der Familie oft<br />
Gesprächsthema.<br />
Was sind die Kernforderungen<br />
von taxmenow?<br />
Vor allem mehr Steuergerechtigkeit. In<br />
unserem Land ist es so, dass gerade die<br />
25<br />
Reichen und Superreichen sich zunehmend<br />
aus der Steuerlast und der Verantwortung<br />
für das Gemeinwesen verabschieden.<br />
Aber starke Schultern<br />
sollen und müssen mehr tragen.<br />
Was genau kritisieren Sie?<br />
In der progressiven Einkommenssteuer<br />
gibt es für 99 Prozent aller Menschen eine<br />
zunehmende Steuerlast bei steigendem<br />
Einkommen. Aber ausgerechnet<br />
bei dem obersten einen Prozent fällt die<br />
Steuerlast dann plötzlich rapide nach<br />
unten ab. Und beim obersten Promille<br />
wie etwa den US-Tech-Milliardären<br />
landet sie, wenn man deren Verdienst<br />
durch steigende Aktienkurse und Sachwerte<br />
berücksichtigt, fast bei null. Diese<br />
Leute haben fast kein Einkommen aus<br />
Arbeit; und Vermögenszuwächse sowie<br />
Kapitalerträge werden nicht bzw. nur<br />
sehr gering besteuert. Wahnsinn!
Faire Finanzen<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />
In Deutschland besitzt aber genau<br />
dieses reichste eine Prozent laut<br />
Untersuchungen rund 35 Prozent des<br />
gesamten Vermögens …<br />
… während die Hälfte aller Deutschen<br />
zusammen gerade mal auf 3,4 Prozent<br />
Vermögen kommt. Von den angehäuften<br />
privaten Schulden mal gar nicht zu<br />
reden. Für viele Menschen ist es ja quasi<br />
schon eine Existenzfrage, wenn mal<br />
die Waschmaschine kaputtgeht. Und<br />
die Schulfreizeit für die Kinder zum finanziellen<br />
Offenbarungseid werden<br />
kann.<br />
Was wollen Sie erreichen?<br />
Mein Anliegen wäre, mit Mehreinnahmen<br />
von ganz oben die Mehrwertsteuer<br />
wieder zu senken, die die Ärmeren<br />
im Lande besonders hart trifft. Und<br />
auch den Eingangssteuersatz sollte<br />
man massiv verschieben – von den derzeit<br />
knapp 10.000 Euro Steuerfreibetrag<br />
gerne in Richtung 20.000 oder<br />
sogar 30.000 Euro. In den letzten<br />
20 Jahren hat Deutschland eine starke<br />
Umverteilung von unten nach oben<br />
gesehen – das müssen wir dringend<br />
korrigieren.<br />
taxmenow & Peter Reese:<br />
Die Initiative für mehr Steuergerechtigkeit<br />
von sehr vermögenden Menschen im<br />
deutschsprachigen Raum nahm Anfang<br />
2021 ihre Arbeit auf. Im Juni wandte sie<br />
sich mit einem öffentlichen Appell an<br />
die Politik. Bislang 53 Millionär:innen<br />
unterstützen den Appell, 24 von ihnen<br />
sind öffentlich bekannt. Im Vorstand des<br />
gerade neu gegründeten Vereins sitzt<br />
neben BASF-Millionenerbin Marlene<br />
Engelhorn auch der Heidelberger Digital-<br />
Unternehmer Peter Reese, 51. Reese ist<br />
verheiratet und hat zwei Kinder. JOC<br />
Mehr Infos: www.taxmenow.eu<br />
Woher rührt diese Umverteilung?<br />
Sie ist das Erbe der neoliberalen Finanzpolitik,<br />
die in den 1980er-Jahren<br />
von Ronald Reagan in den USA und<br />
Margaret Thatcher in England mit harter<br />
Hand etabliert worden ist. Diese<br />
Welle ist dann mit Verspätung nach<br />
Deutschland geschwappt und wurde<br />
unter der rot-grünen Regierung ab<br />
Ende der 1990er-Jahre sowie unter der<br />
folgenden ersten GroKo ab 2005 auch<br />
hier salonfähig. Fast niemand erinnert<br />
sich heute mehr daran, dass wir zu Zeiten<br />
von Helmut Kohl mal einen Spitzensteuersatz<br />
von 53 Prozent hatten.<br />
Wenn man das heute fordert, gibt es<br />
einen Aufstand.<br />
„Wir werden zu<br />
einem Volk von<br />
neo liberalen<br />
Egoisten erzogen.“<br />
Ihre Mitstreiterin Marlene Engelhorn<br />
hat neulich in einem Interview gesagt:<br />
„Es gibt Menschen, die mit unglaublichen<br />
Vermögen auch unglaubliche<br />
Lebenschancen und Macht vererbt<br />
bekommen haben und dafür, wie ich,<br />
überhaupt nichts geleistet haben.<br />
Das ist nicht gerecht.“<br />
Ist es natürlich auch nicht. Aber leider<br />
muss man feststellen, dass in unserem<br />
Land für das oberste Prozent generell<br />
andere gesellschaftliche Spielregeln gelten.<br />
Diese Eliten haben einen privilegierten<br />
Zugang zur Macht, bestimmen<br />
unsere Politik mit und über die ebenfalls<br />
schwerreichen privaten Medienbesitzer<br />
auch teilweise den Diskurs. Mir<br />
steht dabei etwa die „Bild“-Zeitung<br />
vor Augen und ihre tägliche Gehirnwäsche<br />
– sodass deren Leser:innen oft<br />
denken und wählen, als wären sie selbst<br />
26<br />
Millionäre. Ich nehme es jedenfalls so<br />
wahr, dass im Mainstream der öffentlichen<br />
Diskussion oft nur auf Besitzstandswahrung<br />
gesetzt wird, ohne die<br />
gesellschaftliche Verantwortung von<br />
Eigentum ins Verhältnis zu setzen. So<br />
werden wir zu einem Volk von neoliberalen<br />
Egoisten erzogen.<br />
Engelhorn hat auch gesagt, dass sie<br />
sich perspektivisch von 90 Prozent ihres<br />
Vermögens trennen und umverteilen<br />
will, zugunsten der Allgemeinheit ...<br />
Es wächst jetzt eine junge Erbengeneration<br />
heran, die sehr smart ist, sehr<br />
moralisch und mit klarem Schulterblick<br />
für ihre eigenen Privilegien. Die erlebt<br />
in ihrem persönlichen Umfeld Freunde,<br />
die sich während des Studiums keine<br />
Tasse Kaffee extra leisten können. Diese<br />
neuen, hellen Köpfe machen mir<br />
Hoffnung auf wirkliche Veränderung.<br />
Warum spenden Sie nicht einfach,<br />
so wie das viele Vermögende tun?<br />
Viele der bei taxmenow engagierten<br />
Menschen machen das eh, auch ich.<br />
Aber Philanthropie löst ja nicht das<br />
Problem der Finanzierung des Gemeinwohls.<br />
Wir brauchen demokratische<br />
Zuweisung von Ressourcen und nicht<br />
eine, die nur nach Lust und Laune einiger<br />
weniger Milliardäre stattfindet.<br />
Alle, auch und gerade Reiche, profitieren<br />
von einem funktionierenden<br />
Gemeinwesen und gut ausgebildeten<br />
Arbeitskräften. Da kann man sich nicht<br />
heraus reden mit dummen Floskeln wie<br />
„unfähiger Staat“ oder Ähnlichem.<br />
Es gibt auch internationale<br />
Bestrebungen in Ihre Richtung …<br />
Ja, die Vernetzung mit Gruppen wie<br />
„Millionaires for Humanity“ oder<br />
„Patriotic Millionaires“ nimmt langsam<br />
Fahrt auf. Ähnliche Bewegungen gibt es<br />
heute in immer mehr Ländern.
Faire Finanzen<br />
ANKER<br />
DES<br />
LEBENS<br />
Erst im Januar hat eine länderübergreifende<br />
Gruppe von mehr als<br />
100 Millionär:innen anlässlich des<br />
Welt wirtschaftsforums in Davos einen<br />
Appell veröffentlicht: zwei Prozent<br />
mehr Steuern für Vermögen von mehr<br />
als 5 Millionen Dollar, drei Prozent für<br />
mehr als 50 Millionen, fünf Prozent<br />
für Milliardär:innen.<br />
Den Brief haben auch viele von uns<br />
unterschrieben. Die großen Milliardäre<br />
der Welt zahlen, selbst wenn man es<br />
großzügig rechnet, gerade noch acht<br />
Prozent Steuern auf ihr Einkommen.<br />
Moderate Steuererhöhungen machen<br />
in diesen Kreisen niemanden ärmer –<br />
da sind ja allein die jährlichen Kursgewinne<br />
und ausgeschütteten Dividenden<br />
an der Börse höher.<br />
Man könne, heißt es in dem Appell,<br />
mit dem so eingenommenen Geld von<br />
2,5 Billionen Dollar jährlich weltweit<br />
ca. 2,3 Milliarden Menschen aus Armut<br />
und Hunger holen und die gesamte<br />
Weltbevölkerung ohne Extrakosten<br />
gegen Corona impfen …<br />
Viele reiche Menschen erkennen inzwischen,<br />
dass es so wie bisher nicht weitergehen<br />
kann. Die Zeit ist überreif für<br />
Veränderung. Man muss sich zudem<br />
klarmachen, dass wir auf Deutschland<br />
bezogen von gerade einmal ungefähr<br />
100.000 betroffenen reichen Menschen<br />
sprechen. In Umfragen sprechen sich<br />
ja auch immer Minimum 70 Prozent<br />
und mehr für solche oder ähnliche<br />
Besteuerungen von Spitzenver diener:in<br />
nen aus. Worauf also wartet die<br />
Politik da noch?<br />
Was würde Ihnen persönlich fehlen,<br />
wenn eine solche Steuer erhoben<br />
würde?<br />
Nichts. Absolut gar nichts. Im Gegenteil,<br />
mein Wohlbefinden würde sich erhöhen,<br />
weil ich zurzeit sehe, dass sehr viele<br />
Menschen in meinem Freundeskreis<br />
übel ins Trudeln gekommen sind. Und<br />
man kann ohnedies durch keine Stadt<br />
laufen, ohne die neue Obdachlosigkeit<br />
wahr zunehmen. Die ich persönlich für<br />
eine große Schande für uns alle halte.<br />
Ernten Sie in Ihren „Kreisen“ denn gar<br />
keine Kritik nach dem Motto: „Sag’ mal,<br />
bist du verrückt geworden?“<br />
Also das Kritischste, was ich gehört<br />
habe, war der augenzwinkernde Satz:<br />
„Du willst wohl dein gesamtes Vermögen<br />
loswerden?“ Viele wissen sehr<br />
genau, wenn man sie mit den Steuerfakten<br />
konfrontiert, dass das so alles<br />
nicht okay ist. Selbst Menschen, die ich<br />
als „Steuerflüchtlinge“ titulieren würde,<br />
haben mir in vertraulichen Gesprächen<br />
schon zugestimmt.<br />
Ist bei taxmenow auch jemand aus<br />
Hamburg dabei?<br />
Nein, bisher noch nicht.<br />
Das erstaunt uns aber – schließlich<br />
ist Hamburg laut Erhebungen die<br />
Stadt „mit der größten Reichen-Dichte<br />
Deutschlands“ und je nach Zählung mit<br />
zwischen 900 bis 1200 Einkommensmillionär:innen<br />
…<br />
Mein Vater kommt ja aus Hamburg,<br />
und als halber Hanseat nutze ich<br />
jetzt hier diese wunderbare Gelegenheit<br />
und sage: Liebe Hamburger:innen, wo<br />
bleibt eure viel beschworene hanseatische<br />
Kaufmannsehre? Vom Geldsäckescheffeln<br />
steht in der Bibel nix! •<br />
Jochen Harberg ist bei<br />
einer Feststellung Reeses<br />
erschrocken: dass schon<br />
ein Drittel aller Deutschen<br />
gegen den gesellschaftlichen<br />
Abstieg kämpfen müsse …<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
27<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> bietet obdachlosen<br />
Menschen Halt. Eine Art<br />
Anker für diejenigen, deren<br />
Leben aus dem Ruder<br />
gelaufen ist. Möchten Sie<br />
uns dabei unterstützen und<br />
gleichzeitig den Menschen,<br />
die bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> Heimat und<br />
Arbeit gefunden haben, helfen?<br />
Dann hinterlassen Sie etwas<br />
Bleibendes – berücksichtigen<br />
Sie uns in Ihrem Testament!<br />
Als Testamentsspender:in<br />
wird Ihr Name auf Wunsch<br />
auf unseren Gedenk-Anker<br />
in der Hafencity graviert.<br />
Ein maritimes Symbol für<br />
den Halt, den Sie den sozial<br />
Benachteiligten mit Ihrer<br />
Spende geben.<br />
Wünschen Sie ein<br />
persönliches Gespräch?<br />
Kontaktieren Sie unseren<br />
Geschäfts führer Jörn Sturm.<br />
Tel.: 040/32 10 84 03 oder<br />
E-Mail: joern.sturm@hinzundkunzt.de
Faire Finanzen<br />
Gabriela (51), Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Bewerberin:<br />
„Zwei Fotos habe ich im Portemonnaie: meinen Mann und meine<br />
Mutter. Sie ist Ende Dezember gestorben, hier in Hamburg<br />
im Krankenhaus. Mein Mann ist 2006 in Spanien bei einem<br />
Autounfall ums Leben gekommen. Wir waren 23 Jahre verheiratet<br />
und haben vier Kinder und vier Enkelkinder. In unserer<br />
Heimatstadt Bac u in Rumänien hat meine Familie nichts<br />
mehr. Ich habe 15 Jahre lang als Reinigungskraft in Spanien<br />
gearbeitet. Nach dem Tod<br />
meines Mannes bin ich mit<br />
meinen Söhnen nach Düsseldorf<br />
zu meiner Tochter<br />
gezogen und habe das<br />
Straßenmagazin fiftyfifty<br />
verkauft. Jetzt möchte<br />
ich bei Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
anfangen.“<br />
Geld ist nicht alles<br />
Was Menschen im Portemonnaie haben, ist nicht nur eine Frage von Reichtum oder<br />
Armut. Jede Geldbörse ist einzigartig, oft birgt sie Andenken, Artefakte des<br />
Alltags, Hilfsmittel zum Durchhalten. Vier Hinz&Künztler:innen gewähren Einblick.<br />
TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Dieter (71), verkauft vor<br />
Rewe im Center in Geesthacht:<br />
„Mein Personalausweis ist das Wichtigste in meinem<br />
Portemonnaie. Da staunen viele, dass ich darauf<br />
mit dunkler Sonnenbrille abgebildet bin. Haben die<br />
beim Amt auch zuerst gesagt: ‚Das geht nicht.‘<br />
Aber das war ne Spezialbrille, an den Seiten zu.<br />
Die brauchte ich als Schutz. Ich bin fast blind.<br />
Die Frau auf dem Amt hat dann telefoniert<br />
und ihr Chef hat gesagt: ‚Der Mann kriegt<br />
den Ausweis mit Brille.‘ Eigentlich<br />
bräuchte ich die auch immer noch,<br />
aber die Gläser müssen erneuert<br />
werden. Die Kasse zahlt nur<br />
einen Teil, ich müsste mehr<br />
als 1000 Euro dazuzahlen.<br />
Wo soll ich das hernehmen?“
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Faire Finanzen<br />
Hristo (61), verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
im EKZ Barmbek vor Aldi:<br />
„Die Ikone in meinem Portemonnaie zeigt die Heiligen<br />
Konstantin und Elena. Ich bin orthodox, an Weihnachten<br />
gehe ich auch in die bulgarische Kirche. In Bulgarien kennt<br />
jeder Konstantin und Elena, ihre Namenstage sind Feiertage.<br />
Ich wünschte, die Heiligen würden mir helfen, Geld zu<br />
verdienen. Aber wie man in meinem Portemonnaie sieht:<br />
kein Geld. Ansonsten habe ich noch meinen Führerschein<br />
bei mir. Den habe ich seit 1987.“<br />
Detlef (62), verkauft Hinz&<strong>Kunzt</strong> in Eimsbüttel<br />
bei Aldi und Karstadt in der Osterstraße:<br />
„In meinem Portemonnaie ist nur, was ich brauche: Personalausweis,<br />
Versichertenkarte, HVV-Ticket, Bankkarte. Und so’n kleener Zettel,<br />
da ist meine Handynummer drauf. Die muss ich immer dabeihaben,<br />
wenn ich zum Arzt muss, muss ich die ja angeben. Was soll ich mit<br />
anderen Sachen? Für Fotos oder Andenken hab ich ne Aktentasche,<br />
da kommt das alles rin und bleibt da drinne. Kassenzettel und so was<br />
schmeiß ich sofort weg. Ab und zu hab ich Scheine im Portemonnaie.<br />
Beim Verkaufen kommen immer mal wieder Leute:<br />
,Kannste mal wechseln?‘ ,Komm her‘, sag ich<br />
dann. Kleingeld hab ich ja.“
Faire Finanzen<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />
INTERVIEW: SIMONE DECKNER<br />
FOTO: ANDREAS HORNOFF<br />
Catrin Sternberg<br />
weiß: Wer zu ihr<br />
kommt, hat oft eine<br />
lange Leidenszeit<br />
hinter sich.<br />
„Man sollte unbedingt<br />
über Geld sprechen“<br />
Catrin Sternberg leitet die Schuldnerberatung des Diakonischen Werks Hamburg.<br />
Sie wünscht sich mehr Offenheit, wenn es ums Geld geht – grundsätzlich.<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>: Wie schwer fällt Menschen der Gang<br />
zur Schuldner beratung?<br />
Catrin Sternberg: Das Thema ist schambehaftet. Wer hier anruft,<br />
ist zunächst zurückhaltend. Wir sagen dann: „Es ist gut,<br />
dass Sie sich melden!“ Nach den ersten Gesprächen legt sich<br />
die Scham zumeist und weicht einer großen Erleichterung.<br />
Vorausgegangen ist ja oftmals eine lange Leidensgeschichte.<br />
Wer kommt zu Ihnen?<br />
Viele unserer Klient:innen sind armutsbetroffen. Seit<br />
der Pandemie haben wir aber auch verstärkt Anfragen von<br />
Menschen, die in Kurzarbeit oder selbstständig sind.<br />
Was sind die Hauptgründe für Schulden?<br />
Arbeitslosigkeit, Krankheit und Trennung.<br />
Früher hat Peter Zwegat im TV „Raus aus den Schulden“<br />
geholfen. Der Eindruck: Viele können nicht mit Geld umgehen!<br />
Es gibt Menschen, die über ihre Verhältnisse leben, aber das<br />
sind circa 8 Prozent. Laut einer neuen Studie ist bei 45 Prozent<br />
der Grund für die Überschuldung ein unvorhergesehenes<br />
Ereignis wie eine Erkrankung oder der Jobverlust.<br />
Was sind die ersten Schritte bei der Beratung?<br />
Wir gucken uns an: Wie hoch sind die Schulden genau? Alle<br />
Unterlagen kommen auf den Tisch. Dann prüfen wir<br />
gemeinsam, welche Perspektiven es gibt – ganz individuell.<br />
Es gibt nicht die eine Lösung für alle.<br />
Früher gab es das Haushaltsbuch, heute kann man mit<br />
Apps seine Ausgaben tracken – sinnvoll?<br />
30
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Faire Finanzen<br />
Beides ist schon sehr aufwendig.<br />
Aber es gibt oft Aha-Erlebnisse,<br />
wenn man sieht: Ich habe am Monatsende<br />
kaum noch Spielraum. Oft<br />
treffen Menschen Ratenvereinbarungen,<br />
die gar nicht zu leisten sind.<br />
Nach dem Motto: Es wird schon<br />
irgendwie gehen. Wichtig ist immer,<br />
Miete, Strom und Wasser zu zahlen.<br />
Wird das Girokonto gepfändet, sollte<br />
es in ein Pfändungsschutzkonto umgewandelt<br />
werden, so ist ein Freibetrag<br />
von 1260 Euro vor der Pfändung<br />
gesichert.<br />
Wie kann ich Schulden vermeiden?<br />
Es heißt ja immer „Über Geld<br />
spricht man nicht“. Ich finde, man<br />
sollte unbedingt über Geld sprechen.<br />
Damit man weiß, wie hoch<br />
Einkünfte und Ausgaben sind. Lehrbuchhaft<br />
wird geraten, drei Netto-<br />
Monatsgehälter als Rücklage zu<br />
haben. Meine Klient:innen sagen<br />
aber oft: „Ich weiß ab Mitte des Monats<br />
schon nicht, wie ich klarkommen<br />
soll!“ Das ist also eher ein Ideal.<br />
Wer zahlungsunfähig ist,<br />
kann Privat insolvenz anmelden.<br />
Das machen in Hamburg immer<br />
mehr Menschen. Ist das gut<br />
oder schlecht?<br />
Die Privat- oder Verbraucher insolvenz<br />
ist das letzte, aber auch ein<br />
gutes Mittel. Seit der Reform des<br />
Insolvenzrechts 2020 dauert das<br />
Verfahren nur noch drei statt sechs<br />
Jahre. Die Klient:innen haben nach<br />
erfolgreichem Abschluss den Rücken<br />
frei. •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Offene Telefonsprechstunde:<br />
Schuldnerberatung Altona,<br />
Di, 10–12 Uhr und Do, 10–12 Uhr,<br />
Telefon: 040/30 62 03 85,<br />
E-Mail: schuldnerberatung@<br />
diakonie-hamburg.de<br />
Mehr Infos unter<br />
www.huklink.de/schulden<br />
Mein Leben<br />
mit den Schulden<br />
Wie fühlt es sich an, eine<br />
Schuldenlast stemmen zu müssen?<br />
Zwei Betroffene erzählen.<br />
PROTOKOLLE: SIMONE DECKNER<br />
Marco (45), Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Vertriebsmitarbeiter<br />
Ich hatte eigentlich schon immer Geldprobleme, habe ständig über meine<br />
Verhältnisse gelebt. Als Lager- und Produktionshelfer habe ich zwar<br />
verdient, aber es war mir nie genug. Ich habe Sachen bestellt und eine Zeit<br />
lang auch Drogen genommen, was ja sehr teuer ist. Dass ich Schulden<br />
hatte, habe ich immer verdrängt. In die Briefe mit den Mahnungen habe ich<br />
gar nicht mehr reingeguckt, die sind direkt in der Schublade gelandet,<br />
der Klassiker! Die meisten Schulden hatte ich bei der Unterhalts- und<br />
Krankenkasse – ein ganzer Batzen, etwa 30.000 Euro.<br />
Mit meinem Schuldnerberater, der mir vom Arbeitsamt vermittelt wurde,<br />
schauen wir jetzt, wie ich das abbauen kann. Erst mal haben wir alles<br />
sortiert. Dadurch, dass ich auch obdachlos war, hatte ich kaum noch<br />
Unterlagen. Mein Berater hat viele Behörden angeschrieben und Kopien<br />
wieder beschafft. Es war ein gutes Gefühl, mit jemandem über die<br />
Schulden zu reden, wir waren auch gleich per Du. Mir ist da eine große Last<br />
genommen worden. Jetzt muss ich das Geld nach und nach abstottern.<br />
Mein Tipp, damit man erst gar keine Schulden macht: haushalten!<br />
Das klingt so einfach, ist aber das Schwerste überhaupt. Eigentlich<br />
lerne ich das erst, seitdem ich hier im Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus wohne.<br />
•<br />
Clara (35), Gesundheits- und Krankenpflegerin<br />
Mein Expartner ist arbeitslos geworden. Das Geld für unsere Familie<br />
mit drei Kindern wurde knapp. Er hat dann einen Tipp bekommen: Mit<br />
einem Taxi in Angola, unserer Heimat, könnten wir gutes Geld verdienen:<br />
zusätzlich 500 Euro in der Woche. Weil mein Partner schon negative<br />
Schufa-Einträge hatte, habe ich den Kredit für das Taxi aufgenommen.<br />
Ich hatte große Bedenken, aber der Tipp schien sicher zu sein. Der Kredit<br />
lief über 30.000 Euro, aber mit allen Gebühren und Zinsen waren es am<br />
Ende fast 40.000. Ich habe angefangen, den Kredit abzubezahlen, als sich<br />
herausstellte, dass wir mit dem Taxi betrogen wurden. Wir haben viel Geld<br />
für ein schrottreifes Auto ausgegeben. Ich habe viel geweint, bin darüber<br />
krank geworden. Ich hatte noch nie Schulden! Die Bank hat nur kurz die<br />
Raten gestundet, dann hieß es, es geht alles an ein Inkasso-Unternehmen.<br />
Zum Glück hat mir meine Chefin die Telefonnummer von der Schuldnerberatung<br />
rausgesucht. Da habe ich alles erzählt. Es war mir so peinlich!<br />
Aber nach den ersten Terminen ging es mir schon viel besser. Von Anfang<br />
an wurde gesagt: „Das wird schon!“ Ich sollte erst mal zahlen, was wichtig<br />
ist: Miete, Heizung, Strom und Wasser. Wir haben einen Antrag auf Privatinsolvenz<br />
gestellt, und das Verfahren ist mittlerweile eröffnet. Ich bin so<br />
erleichtert darüber!<br />
•<br />
31
Alle entscheiden<br />
gemeinsam: Die Illustration<br />
ziert den Titel des<br />
Buches „Finanzcoop oder<br />
Revolution in Zeit lupe“<br />
(siehe Infokasten S. 35).
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Faire Finanzen<br />
Von Zeitmillionären,<br />
Bankkarten<br />
und Flugreisen<br />
Zwei Finanzkollektive teilen ihr Geld – eines tut das seit mehr<br />
als 20 Jahren, das andere hat sich nach zehn Jahren aufgelöst.<br />
TEXT: ANKE SCHWARZER<br />
ILLUSTRATIONEN: NINO BULLING (S.32),<br />
GRAFIKDEERNS.DE<br />
D<br />
ie Kinder wollen ein Eis.<br />
Beim Finanzcoop-Treffen<br />
fragen sie nach Geld und<br />
laufen zur Eisdiele. „Bei<br />
uns ist es praktisch“, erzählt eines der<br />
Kinder. Während ihre Freundin nur ihre<br />
Eltern anbetteln könne, habe sie viel<br />
mehr Menschen als nur ihre Mama, die<br />
sie ansprechen kann. Wenn sie etwas<br />
„Wichtig ist,<br />
ein ähnliches<br />
Konsumniveau<br />
zu haben.“ DIRK<br />
Teureres wolle, zum Beispiel eine supertolle<br />
Bettwäsche, dann werde das aber<br />
zunächst besprochen. „Und dann<br />
nimmt meine Mama das Geld, das allen<br />
in der Finanzcoop gehört.“ Ihre Mama<br />
heißt Branka*, arbeitet als Ärztin und<br />
betreibt mit sechs Erwachsenen und<br />
vier Kindern eine Solidargemeinschaft,<br />
die quer zu Familie und Staat liegt.<br />
Lange bevor die Share-Economy<br />
durch Airbnb, Carsharing und E-Roller-<br />
Verleihe zum Geschäftsmodell wurde,<br />
haben die Mitglieder ihrer Finanzcoop<br />
ausprobiert, wie es ist, ein Auto oder<br />
eine Wohnung zu teilen. Mittlerweile<br />
planen sie gar ein kollektives Rentenmodell.<br />
Nach mehr als 20 gemeinsamen<br />
Jahren ist das Geldteilen für sie<br />
zum Alltag geworden.<br />
Heute sind die Kollektivist:innen<br />
zwischen 45 und 53 Jahre alt. Sie haben<br />
fast alle studiert, wohnen in Berlin,<br />
Bremen, Hamburg und Göttingen, arbeiten<br />
im Krankenhaus, im Bioladen,<br />
bei einer Zeitung oder lehren an der<br />
Universität. Wie eine warme Jacke –<br />
eine Selbsthilfegruppe im Kapitalismus<br />
– ein Netzwerk in allen Lebenslagen –<br />
eine Wahlfamilie – der größte Kompensator<br />
misslicher sozialer Herkunft: So<br />
beschreiben sie ihre Fi nanz kooperative.<br />
Alle sechs Wochen kommen die<br />
Mitglieder zusammen. Sie leben nicht<br />
in einem Haushalt, nicht einmal in<br />
der gleichen Stadt und haben untereinander<br />
keine Liebesbeziehung.<br />
Ihre Themen: Was passiert im<br />
Leben, wie geht es im Job? Stehen<br />
größere Ausgaben an? Über Geld<br />
zu sprechen, ist in fast allen gesellschaftlichen<br />
Bereichen ein Tabu.<br />
Hier wird es mit Absicht gebrochen.<br />
Allerdings dauere die reine „Kohlerunde“<br />
meist nicht sehr lange.<br />
Es gehe viel stärker darum, über<br />
Bedürfnisse zu sprechen, erzählt<br />
Kerstin*, die in Berlin als Redakteurin<br />
arbeitet.<br />
33<br />
Löhne, Geldgeschenke, Honorare,<br />
Kindergeld – alles fließt auf ein gemeinsames<br />
Konto. Die Beträge, die<br />
die einzelnen Mitglieder pro Monat<br />
einbringen, sind unterschiedlich und<br />
liegen zwischen 700 und 3700 Euro.<br />
Alle zahlen das ein, was sie in ihren<br />
unterschied lichen Berufen verdienen.<br />
Außen vor bleiben Ersparnisse aus den<br />
Zeiten davor. Auch die Erbschaften<br />
einzelner Mitglieder stehen nicht frei<br />
zur Ver fügung, werden aber von allen
Faire Finanzen<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />
gemeinsam verwaltet. Die<br />
Finanzcoop verteilt diese<br />
in di viduellen und nichtkollektivierten<br />
Gelder als<br />
Darlehen auf viele kleine<br />
Projekte, alternative Wohnprojekte<br />
etwa, die sie dadurch<br />
unterstützen.<br />
Damit eine Finanzcoop<br />
überhaupt funktioniere, sei es wichtig,<br />
ein ähnliches Konsumniveau zu haben<br />
– neben der Tatsache, dass man<br />
sich mag und überhaupt Geld zur Verfügung<br />
hat. „Wenn ich ein Parfüm-<br />
Freak bin und dafür sehr viel Geld ausgeben<br />
möchte, sollte ich mich vielleicht<br />
auch eher mit Parfüm-Freaks zusammentun,<br />
ähnlich wie es auch bei einer<br />
WG wichtig ist, einen ähnlichen Ordnungslevel<br />
zu haben“, sagt Dirk*. Niemand<br />
habe eine Kreuzfahrt für 10.000<br />
Euro machen wollen, man habe sich<br />
aber zusammen ein hochwertiges Zelt<br />
gekauft und einen Gebrauchtwagen geteilt.<br />
„Die Finanzcoop ist keine Alternative<br />
zum Kapitalismus, sondern ein<br />
„Es funktioniert<br />
durch Learning<br />
by Doing!“<br />
KERSTIN<br />
Umgang darin, eine Überlebenstechnik“,<br />
sagt Dirk rückblickend.<br />
Für ihn ist das Modell vom geteilten<br />
Geld Vergangenheit. Er lebt in<br />
Hamburg und hat sein Einkommen<br />
lange mit sieben weiteren Mitgliedern<br />
in einen Topf geworfen. Nach zehn<br />
Jahren war Schluss. Ein Scheitern an<br />
Geldfragen sei es aber nicht gewesen,<br />
sagt Dirk. „Mein Fazit ist, dass wir viel<br />
gelernt haben und mich die Zeit sehr<br />
positiv geprägt hat“, pflichtet ihm<br />
Nina* bei. Aber die „Wahlverwandtschaft“<br />
habe sich einfach wieder auseinandergelebt,<br />
gibt Dirk als Grund für die<br />
Auflösung an.<br />
„Geld ist eine machtvolle Sache, es<br />
ist auch emotional sehr wirkmächtig, es<br />
geht um Neid, Stolz, Gerechtigkeit,<br />
Angst und Selbstwert“, sagt Tina*, die<br />
die inzwischen aufgelöste Coop mitgegründet<br />
hat und es wichtig findet, eigene<br />
Bedürfnisse rund um Geld, Arbeit<br />
und Rente sichtbar zu machen. „Manchen<br />
in der Coop bereitete das überzogene<br />
Gemeinschaftskonto Albträume,<br />
andere wiederum wollten trotzdem<br />
nicht auf das monatliche Abzwacken<br />
von 150 Euro für gemeinsame Rücklagen<br />
und Urlaube verzichten“, erinnert<br />
sich die Hamburgerin. Nina wiederum<br />
sagt, dass sie weniger als andere<br />
in ihrem Alter konsumiere. Sie habe<br />
kein Auto und lebe in einer WG. „Ich<br />
sehe das aber nicht als Einschränkung.<br />
Ich möchte lieber Zeitmillionärin als<br />
Geldmillionärin sein.“ Gegenüber den<br />
Eltern, Ämtern oder auch nur der Bank<br />
sei es nicht immer möglich gewesen,<br />
das System Finanzcoop offenzulegen.<br />
Vor allem bei der Bank schlug es<br />
Wellen. Acht Bevollmächtigte mit jeweils<br />
eigener Bankkarte, das sah erst<br />
mal kein Formular vor, so Tina.<br />
Wenn es ums Geld geht, endet die<br />
Freundschaft im Kollektiv nicht – doch<br />
Konflikte kommen vor. Berggorillas in<br />
Ruanda anschauen oder mit dem Zug<br />
nach Frankreich? Wer fliegt wie oft und<br />
wie weit? Warum du immer wieder,<br />
während ich es mir nicht erlaube?<br />
Das Thema Flugreisen war laut Kerstin<br />
über mehrere Jahre ein großer Konfliktpunkt<br />
in der Finanzcoop, bei dem<br />
es um Kosten und Klima ging. „Da<br />
* Die Namen sind der Redaktion<br />
bekannt, aber im Text verändert.<br />
34
Faire Finanzen<br />
Leichte Sprache:<br />
Es gibt den Text auch in Leichter<br />
Sprache. Scannen Sie den<br />
QR-Code mit dem Handy.<br />
Dann klicken Sie auf den Link.<br />
Der Text in Leichter Sprache öffnet<br />
sich. Oder Sie gehen auf unsere<br />
Webseite www.hinzundkunzt.de und suchen dort<br />
nach „Leichte Sprache“.<br />
www.huklink.de/<strong>349</strong>-leichte-sprache<br />
haben wir uns Hilfe geholt und eine Moderation angefragt“,<br />
sagt Kerstin. Am Ende fanden sie zumindest<br />
eine pragmatische Lösung: ein Flugpunktemodell.<br />
„Das klingt erst einmal technisch, funktioniert aber<br />
seit acht Jahren“, so Kerstin. Jede:r kann entscheiden,<br />
„Ich möchte<br />
lieber Zeit- als Geldmillio<br />
närin sein.“<br />
NINA<br />
ob oder wie viel von den Punkten man selbst für einen<br />
bestimmten Zeitraum einsetzt. Es hat sich nicht ergeben,<br />
dass jemand das völlig ausreizt und auch nicht,<br />
dass andere, die vorher nicht geflogen sind, plötzlich<br />
auch ein Flugticket kaufen, sagt Kerstin. Für manche,<br />
die sich Sorgen um das Monatsende machen, mag das<br />
sicher ein Luxusproblem sein. Sie hingegen sehe in<br />
dieser kleinen, aber gemeinschaftlichen Lösung eine<br />
„Revolution in Zeitlupe“. So lautet der Titel des<br />
Buchs, das einige von ihnen über die vielen Facetten<br />
des Geldteilens geschrieben haben. Manchen, die<br />
lange gesagt haben, das könnten sie nicht, habe es<br />
Anstoß gegeben, eine Coop in Betracht zu ziehen, sagt<br />
Kerstin. Die 45-Jährige ermutigt zu diesem Schritt,<br />
der gar nicht so schwierig sei: „Es funktioniert ganz<br />
einfach durch Learning by Doing!“ •<br />
Trauern<br />
ist<br />
heilsam.<br />
Unser Rat<br />
zählt.<br />
879 79-0<br />
Beim Strohhause 20<br />
trostwerk.de<br />
andere bestattungen<br />
040 43 27 44 11<br />
Mieterverein zu Hamburg<br />
im Deutschen Mieterbund<br />
20097 Hamburg<br />
Fan werden<br />
mieterverein-hamburg.de<br />
BARES IS NIX RARES<br />
(CASH – UND EWIG RAUSCHEN DIE GELDER)<br />
KOMÖDIE VON MICHAEL COONEY // 27.2. – 23.4.<strong>2022</strong><br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Buchtipp:<br />
„Finanzcoop oder Revolution in Zeitlupe. Von Menschen,<br />
die ihr Geld miteinander teilen“, FC-Kollektiv,<br />
Paula Bulling, Bini Adamczak, Büchner Verlag 2019,<br />
18 Euro (Print), 14 Euro (ePDF).<br />
35<br />
Foto: Sinje Hasheider
Faire Finanzen<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />
Wohin mit<br />
dem lieben Geld?<br />
Auf dem Sparbuch gibt es fürs Geld keine Zinsen, unter dem<br />
Kopfkissen liegt es aber auch nicht optimal. Vier Vorschläge für sinnvolle Anlagen –<br />
auch für Menschen mit weniger Geld im Portemonnaie.<br />
Das Mietshäuser<br />
Syndikat<br />
Häuser dem freien Markt entziehen und dadurch<br />
gemeinsamen und bezahlbaren Wohnraum schaffen:<br />
Das ist das Ziel des Mietshäuser Syndikats. Anfang der<br />
1990er-Jahre in Süddeutschland gegründet, ist das<br />
Syndikat heute an Wohnprojekten in ganz Deutschland<br />
beteiligt. Auch wer seine persönliche Zukunft nicht in<br />
einem Wohnprojekt sieht, kann die Idee unterstützen:<br />
durch Direktkredite, also Geld, das dem Projekt geliehen<br />
wird – ohne Umweg über eine Bank. Dafür gibt es Zinsen.<br />
Rund 170 Hausprojekte ge hören dem Mietshäuser<br />
Syndikat heute an, neun befinden sich in Hamburg – ein<br />
weiteres steht kurz vor der Realisierung: In Harburg<br />
will eine Initiative eine alte Likörfabrik zum selbstverwalteten<br />
Wohn-, Gewerbe-, und Kulturort umbauen und ist<br />
dafür auf der Suche nach Geldgeber:innen. Detaillierte<br />
Informationen zu Direktkrediten, deren Vorteilen und<br />
möglichen Risiken, finden sich auf der Homepage<br />
www.lifa-harburg.org. LG<br />
•<br />
Weitere Infos: www.syndikat.org<br />
Gemeinsam sparen<br />
Sparclubs sind ein echter Geldanlage-Klassiker. Schon Ende des 19. Jahrhunderts sammelten Seeleute<br />
und Hafenarbeiter:innen in Hamburg ihr Geld in metallenen Schränken hinter dem Kneipentresen.<br />
Wirt:innen legten das Geld bei der Bank an und zahlten regelmäßig die Zinsen aus. Oft waren<br />
und sind die Auszahlungen Anlass für gemeinsame Aktivitäten der Kneipengäste. In der Hochphase<br />
des Sparclubwesens in den 1960er-Jahren soll es in Hamburg Tausende Sparclubs gegeben haben.<br />
Zwischenzeitlich etwas aus der Mode gekommen, finden sich die Schränke heute auch in vielen<br />
Szenekneipen wieder, seit 20 Jahren ebenfalls bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Sparclubverwalter Stephan Karrenbauer<br />
erinnert sich an Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Verkäufer:innen, die mithilfe des Sparclubs einen Führerschein,<br />
Urlaube oder Geburtstagsgeschenke für die Kinder finanziert haben. „Gerade für Menschen, die<br />
etwa aufgrund von Suchterkrankungen schlecht mit Geld umgehen können, ist das eine tolle Sache“,<br />
sagt er. Im Gegensatz zu den meisten Sparclubs wird das Geld bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> aber nicht bei einer<br />
Bank angelegt – der Sparclub ist hier eher ein verwaltetes Sparschwein. LG<br />
•<br />
36
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Faire Finanzen<br />
Gewissenhaftes Banking<br />
Faire Banken wie GLS Bank (seit 1974), Triodos Bank, EthikBank oder Umweltbank<br />
wollen ihren Kund:innen vor allem ökologisch-nachhaltigen Mehrwert liefern und<br />
kommunizieren ihre Finanz-Transaktionen mit klaren Positiv- und Negativ kriterien<br />
auch öffentlich. Gegründet 2018, spielt auch die Hamburger Bank Tomorrow<br />
bereits erfolgreich in dieser Liga mit. Ihr Motto: Geld als Hebel für positiven<br />
Wandel. Das auf St. Pauli beheimatete Unternehmen mit nach eigenen<br />
Angaben mehr als 100.000 Kund:innen, bietet über eine App nur<br />
fürs Handy unter anderem sämtliche Leistungen eines Girokontos<br />
an (3 Euro pro Monat). Außerdem gibt es bei Tomorrow das<br />
klimaneutrale Konto „Zero“. Die Kontoführungsgebühren von<br />
15 Euro im Monat kompensieren den durchschnittlichen jährlichen<br />
CO 2<br />
-Ausstoß eines Menschen in Deutschland, indem Projekte im globalen<br />
Süden gefördert werden, die dafür CO 2<br />
-Zertifikate ausgeben. Jede Kartenzahlung<br />
beim Einkaufen generiert zudem Geld für ein Waldschutzprojekt in Brasilien, denn die<br />
anfallenden Gebühren gehen nicht an die Bank, sondern an das Projekt. So konnten<br />
bislang 232 Millionen Quadratmeter Regenwald geschützt werden. Die Kontoeinlagen<br />
sind wie bei herkömmlichen Banken bis 100.000 Euro gesetzlich abgesichert.<br />
Geplant für dieses Jahr: das erste nachhaltige Investmentprodukt „Tomorrow Fonds“. JOC<br />
•<br />
Weitere Infos: www.tomorrow.one<br />
FOTOS: MARTIN KUNZE (S. 36 OBEN), LG (S. 36 UNTEN),<br />
TOMORROW BANK (S. 37 OBEN), UTA GLEISER PHOTOGRAPHY<br />
Ökologische<br />
Landwirtschaft<br />
unterstützen<br />
Nicht dabei zusehen, wie ein regionaler Betrieb nach dem anderen<br />
von der Bildfläche verschwindet – das ist das Ziel von<br />
Genossenschaften und Bürgeraktiengesellschaften in ganz<br />
Deutschland. Die Idee: Bürger:innen legen ihr Geld in Form<br />
von Genossenschaftsanteilen oder Aktien an, um so Betriebe<br />
nachhaltig zu finanzieren. Eine Möglichkeit zu einer solchen<br />
Geldanlage ist die Regionalwert AG Hamburg. Interessierte<br />
können dort Aktien im Wert von 600 Euro erwerben. Dieses<br />
Geld investiert die Regionalwert AG in regionale Betriebe, die<br />
sich im Gegenzug zu sozialen und ökologischen Standards<br />
verpflichten. Statt jährlicher Dividenden ist die Rendite also<br />
zunächst ideeller Natur. Langfristig sollen aber auch Überschüsse<br />
erzielt werden – was mit denen passiert, entscheiden<br />
dann die Aktionär:innen. Bisher unterstützen auf diese<br />
Weise rund 1500 Aktionär:innen etwa 70 Betriebe in und<br />
um Hamburg. LG<br />
•<br />
Weitere Infos: www.regionalwert-hamburg.de<br />
37
Freunde<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />
Selma und Thomas Wegmann<br />
sind gespannt darauf, was<br />
sie von Hinz&Künztler:innen<br />
lernen können.<br />
Ein Praktikum<br />
im Pop-up-Store<br />
Luxuswaren und Hinz&<strong>Kunzt</strong> – wie geht das zusammen?<br />
Ziemlich gut, finden Selma und Thomas Wegmann<br />
vom Traditions-Herrenausstatter Ladage & Oelke.<br />
TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />
FOTO: IMKE LASS<br />
Es soll Hamburger Männer<br />
geben, die ihr ganzes Erwachsenenleben<br />
in Kleidung von<br />
„Ladage & Oelke“ verbringen.<br />
Zeitlos klassisch und beinahe unverwüstlich,<br />
eignen sich Tweedsakkos<br />
und Pullover, Dufflecoats und gewachste<br />
Jacken auch prima als Erbstücke für<br />
weitere Generationen.<br />
Viel zu schade für die Altkleidertonne<br />
ist die hochwertige Herrenkleidung<br />
allemal – das finden auch<br />
38<br />
die beiden Ladage & Oelke-Geschäftsführenden<br />
Selma und Thomas Wegmann.<br />
Immer mal wieder hatten sie<br />
Kleidung für die Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Kleiderkammer<br />
gespendet. Doch sie wollten<br />
mehr bewegen. So entstand die Idee für
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
eine ungewöhnliche Kooperation:<br />
einem Pop-up-Secondhand-Store im<br />
Levantehaus, in dem neue und gebrauchte<br />
Ladage & Oelke-Kleidung<br />
durch Hinz&Künztler:innen verkauft<br />
wird. Das Levantehaus stellt das Ladenlokal<br />
unentgeltlich zur Verfügung.<br />
„Hinz&<strong>Kunzt</strong> soll durch die Einnahmen<br />
profitieren. Und die beteiligten<br />
Verkäufer können durch ein Shop-<br />
Praktikum Erfahrungen sammeln, die<br />
vielleicht bei der Eingliederung ins Berufsleben<br />
helfen“, so Selma Wegmann.<br />
„Wir schließen,<br />
wenn nichts<br />
mehr da ist.“<br />
SELMA WEGMANN<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Sozialarbeiter Stephan<br />
Karrenbauer wird die Verkäufer:innen<br />
als Projektleiter betreuen. Ihm gefällt<br />
die neue Allianz zwischen Gewerbetreibenden<br />
und Hinz&<strong>Kunzt</strong>:<br />
„Von dem Geld, das wir einnehmen,<br />
können wir die Vertriebsarbeit von<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> mit finanzieren, davon<br />
profitieren alle Hinz&Künztler:innen.“<br />
Ladage & Oelke stellt den Praktikanten<br />
eigene Mitarbeiter:innen an die<br />
Seite. „Wir sind gespannt, welche<br />
Hinz&Künztler bei uns mitarbeiten<br />
werden und was wir von ihnen lernen<br />
können“, erklärt Selma Wegmann.<br />
Stephan Karrenbauer ergänzt: „Wir<br />
haben Verkäufer, die richtig Lust<br />
darauf haben, sich im anderen Zwirn<br />
zu präsentieren und die Spaß daran<br />
haben, sich auszuprobieren.“<br />
Zum Start des Pop-up-Stores sollen<br />
erst mal Restbestände zu guten<br />
Preisen an den Mann gebracht werden.<br />
„Wir gehen mit hohen Rabatten<br />
und mit einer übersichtlichen Menge<br />
neuwer tiger Ware an den Start, die<br />
sich während der coronabedingten<br />
Schließung angesammelt hat“, erklärt<br />
Freunde<br />
39<br />
die Geschäftsführerin. „Wir schließen,<br />
wenn nichts mehr da ist“ – und wenn<br />
sich die Idee bewährt, soll der Pop-up-<br />
Store zur regelmäßigen Kooperation<br />
werden. Für noch mehr Nachhaltigkeit<br />
sorgt der Secondhand- Gedanke, ab<br />
Herbst <strong>2022</strong> sammelt der Herrenausstatter<br />
dann für die nächste Ausgabe<br />
des „Benefit Preloved Stores“ 2023:<br />
Wer ein gut erhaltenes, gereinigtes Ladage<br />
& Oelke-Kleidungsstück abgibt,<br />
bekommt beim Kauf eines neuen Teils<br />
zehn Prozent Rabatt.<br />
Nachhaltigkeit ist Selma und<br />
Thomas Wegmann wichtig. Ladage &<br />
Oelke-Kleidung sei hochwertig, langlebig<br />
und könne repariert werden. Und<br />
die beiden wissen, wo Materialien und<br />
Kleidung produziert werden: „Wir<br />
bieten gute Produkte an.“ Das hat<br />
Tradition. Hochwertiges englisches<br />
Tuch war Grundlage für das Geschäftsmodell<br />
des 1845 gegründeten „Englischen<br />
Kleidermagazins“, mit den Wegmanns<br />
ist es in der fünften Generation<br />
familiengeführt. Selma ist die Urgroßnichte<br />
des Gründers Johann Oelke. „Ich<br />
bin im Geschäft groß geworden, habe<br />
als Kind die Inventur mitgemacht<br />
und als Schülerin in der Adventszeit<br />
Geschenke gepackt“, erinnert sich die<br />
Mode- und Designmanagerin.<br />
Selma Wegmann setzt auf die<br />
Offenheit und das soziale Engagement<br />
ihrer Kund:innen, viele hätten ihre<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Stammverkäufer:innen.<br />
Auf neue Begegnungen und Kontakte<br />
für die Verkäufer:innen freut sich auch<br />
Stephan Karrenbauer. „So können sie<br />
zeigen, dass sie viel mehr können<br />
als auf der Straße unser Magazin zu<br />
verkaufen.“ •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
The Benefit Preloved Store:<br />
Der Ladage & Oelke Pop-up-Store<br />
startet am 21. März im Levantehaus<br />
in der Mönckebergstr. 7.<br />
Öffnungszeiten: Mo–Sa, 12–18 Uhr<br />
JA,<br />
ICH WERDE MITGLIED<br />
IM HINZ&KUNZT-<br />
FREUNDESKREIS.<br />
Damit unterstütze ich die<br />
Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong>.<br />
Meine Jahresspende beträgt:<br />
60 Euro (Mindestbeitrag für<br />
Schüler:innen/Student:innen/<br />
Senior:innen)<br />
100 Euro<br />
Euro<br />
Datum, Unterschrift<br />
Ich möchte eine Bestätigung<br />
für meine Jahresspende erhalten.<br />
(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />
Meine Adresse:<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Nr.<br />
PLZ, Ort<br />
Telefon<br />
E-Mail<br />
Einzugsermächtigung:<br />
Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />
Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />
Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />
IBAN<br />
BIC<br />
Bankinstitut<br />
Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />
der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />
Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />
Ja<br />
Nein<br />
Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />
Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />
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Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />
genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />
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personenbezogenen Daten widersprechen.<br />
Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />
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Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Freundeskreis<br />
Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />
HK <strong>349</strong>
Haben jahrelang zusammengearbeitet:<br />
Susanne Schmidt-Haym und Arno Schmidt<br />
Richtig gemütlich<br />
Arno Schmidt vom ehemaligen Wäschehaus Möhring hat für<br />
Bettzeug und Handtücher in den Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Wohngemeinschaften gesorgt.<br />
TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />
FOTO: IMKE LASS<br />
Weiche Kissen, warme Decken,<br />
kuschelige Bettwäsche<br />
und Handtücher – für Arno<br />
Schmidt gehört all dies zum persönlichen<br />
Wohlgefühl. Das sollten auch die<br />
Bewohner der Wohngemeinschaften im<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Haus genießen können,<br />
fand der ehemalige Geschäftsführer<br />
des Traditions-Wäschehauses Möhring<br />
und spendete dafür Bettwaren und<br />
Frottierwäsche.<br />
Dabei hatte Arno Schmidt eigentlich<br />
anderes zu tun. Nach 218 Jahren<br />
des Bestehens schloss er Ende März<br />
2021 das Wäschehaus Möhring in der<br />
Hamburger City. Mit 80 Jahren ging<br />
er in den Ruhestand. Die Abwicklung<br />
hielt ihn auf Trab. Als dann die Anfrage<br />
von Hinz&<strong>Kunzt</strong> kam, ob uns<br />
Möhring bei der Ausstattung unserer<br />
neuen Verkäuferwohnungen unterstützen<br />
könnte, war der Geschäftsmann<br />
erst einmal etwas zögerlich. „Über<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong> wusste ich wenig“, sagt er.<br />
Also machte er sich erst mal schlau.<br />
„Was ich da über das Projekt erfahren<br />
habe, hat mir gefallen.“<br />
Mit viel Euphorie mobilisierte der<br />
Kaufmann seine Fabrikant:innen, um<br />
die Ware herbeizuschaffen. Finanziert<br />
wurde die Spende aus einem Fonds, zu<br />
dem viele Partner:innen und Kundschaft<br />
beigetragen hatten. Je 24 Bettdecken<br />
und Kissen, dazu 48 Garnituren<br />
Bettwäsche aus rauchblauem Halbleinen<br />
(Bett- und Kissenbezüge sowie<br />
40<br />
Spannlaken) und 98 Stücke weiße Frottierwäsche<br />
machen nun die Zimmer<br />
und Bäder richtig gemütlich.<br />
Ein bisschen hat Arno Schmidt sein<br />
Herz an Hinz&<strong>Kunzt</strong> verloren, obwohl<br />
der Hanseat es so wohl nicht formulieren<br />
würde. „Hinz&<strong>Kunzt</strong> mit seinen<br />
vielen Projekten fasziniert mich“,<br />
sagt er und räumt ein, dass er unsere<br />
Verkäufer:innen heute mit anderen<br />
Augen sieht. Mittlerweile war er in unserem<br />
neuen Haus zu Besuch und ist<br />
begeistert von der Möglichkeit des<br />
sozialen und bezahlbaren Wohnens<br />
dort. „Und die Bettwäsche passt ausgezeichnet<br />
zu den guten Betten!“ •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Freunde<br />
Freunde des<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Hauses<br />
Seit seiner Gründung ist Hinz&<strong>Kunzt</strong> ein Projekt des Miteinanders<br />
und der Solidarität! Menschen, die uns Geld spenden, die ihre<br />
Preise für uns niedrig halten oder uns mit ihrem Know-how zur<br />
Seite stehen, haben auch die Inbetriebnahme und die<br />
Ausstattung unseres neuen Hauses in der Minenstr. 9 ermöglicht.<br />
Wir sagen: Danke!<br />
• Christa und Jeremy Bird<br />
• Beiersdorf AG<br />
• BFGF: Gerrit Kuhn und Eric Pfromm<br />
• Blindenwerkstatt<br />
H. Sieben e.K. Loccum<br />
• Mara und Holger Cassens Stiftung<br />
• Konrad Ellegast<br />
• Hamburger Spendenparlament<br />
• HASPA Lotteriesparen<br />
• HFBK: Olivia Amon, Hannes von Coler, Karolina Kaiser,<br />
Elisa Kracht mit Prof. Jezko Fezer<br />
• Antje Kay<br />
• Dr. Friederike Kerner<br />
• Sven Jösting<br />
• Sebastian Mainusch<br />
• Tim Mälzer<br />
• Gisela und Manfred Mertens<br />
• Monika Metzner<br />
• Judith Rakers<br />
• Restaurant 100/200<br />
• Hildegard und Horst Roeder-Stiftung<br />
• Stop The Water While Using Me!<br />
• Studio 6277<br />
• Wäschehaus Möhring<br />
• Daniela Wömmel<br />
Tellerdank im<br />
Vertriebscafé,<br />
gestaltet<br />
vom Hamburger<br />
Label „Herr Fuchs“.<br />
Dankeschön<br />
Wir danken allen, die uns im Februar unterstützt haben, sowie allen Mitgliedern<br />
im Freundeskreis von Hinz&<strong>Kunzt</strong>! Wir freuen uns gleichermaßen über kleine und große Beträge!<br />
Auch unseren Unterstützer:innen auf Facebook: ein großes Dankeschön!<br />
DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />
• wk it services<br />
• die Hamburger Tafel<br />
• Obstmonster GmbH<br />
• Hanseatic Help<br />
• Axel Ruepp Rätselservice<br />
• die Hamburger Kunsthalle<br />
NEUE FREUNDE:<br />
• Jan Brumm • Heike Budschinski<br />
• Sabine Erbskorn • Yvonne Fritzsch und<br />
Alexander Gerd-Wiener-Stiftung<br />
• Wiebke Grünhagen • Katharina Höing<br />
• Susanne Jacobs • Martina Kroh<br />
• Volker Kühl • Tabea Künne<br />
• Constanze Lange<br />
• Edeltraut Lewitz<br />
• Louisa-Mareen Machner<br />
• Hans-Thomas Meinhold<br />
• Ingrid Schmidt<br />
• Hans-Joachim Schröder<br />
• Mathias Alfred Schulz<br />
• Moritz Vahldiek • Björn Völkel<br />
Wir unterstützen Hinz&<strong>Kunzt</strong>. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />
41
Buh&Beifall<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />
Was unsere Leser:innen meinen<br />
„Auch viele Obdachlose sind auf Leichte Sprache angewiesen“<br />
„Grobe Fehler“<br />
H&K 348: „Idylle entlang der Bille“<br />
Der Satz „Das Haus spielt in einer Liga<br />
mit den Kurt-Schuhmacher-Bauten<br />
wie dem Chilehaus“ hat mich wirklich<br />
geärgert. Gleich zwei grobe Fehler, die<br />
mit zwei Minuten Online-Recherche<br />
vermeidbar wären. Der Architekt vom<br />
Chilehaus ist Fritz Höger, und der<br />
Architekt und Hamburger Oberbaudirektor<br />
hieß Fritz Schumacher.<br />
<br />
HARALD BOVELAND<br />
Anmerkung der Redaktion: Wir bitten vielmals<br />
um Entschuldigung, diese Flüchtigkeitsfehler<br />
hätten uns nicht passieren dürfen.<br />
„Schieflagen allen näher bringen“<br />
H&K 348, zu unserem Text in Leichter Sprache<br />
Das Ziel von Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist doch, die<br />
soziale Schieflage in Hamburg allen<br />
Personengruppen näherzubringen. Das<br />
ist nur zu erreichen, wenn alle Texte in<br />
Leichter Sprache geschrieben werden.<br />
Schließlich sind auch viele obdachund<br />
woh nungslose Menschen auf<br />
Leichte Sprache angewiesen, weil ihre<br />
Muttersprache nicht deutsch ist.<br />
<br />
OLAF STAHR, PEOPLE FIRST<br />
<br />
HAMBURG – DIE STARKEN ENGEL E.V.<br />
Begeistert<br />
H&K Sondermagazin „Tierisch gute Freunde“<br />
Als Hundebesitzer bin ich begeistert<br />
von diesem Sonderheft. KLAUS STEHR<br />
„Wirklich wichtige Themen“<br />
H&K allgemein<br />
Kompliment, dass und wie ihr die<br />
wirklich wichtigen Themen aufnehmt,<br />
kritisiert, kommuniziert und anregt.<br />
<br />
UWE GUNDLACK<br />
Leser:innenbriefe geben die Meinung der<br />
Verfasser:innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />
Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen. Über Post<br />
an briefe@hinzundkunzt.de freuen wir uns.<br />
Wir trauern um<br />
Klaus Rohmeier<br />
7. Juni 1951– 11. Mai 2021<br />
Wir hatten ihn lange nicht gesehen und vermutet, was<br />
jetzt traurige Gewissheit ist: Klaus ist verstorben.<br />
Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />
Wir trauern um<br />
Petros Pedridis<br />
9. September 1968– 9. Dezember 2021<br />
Petros ist nach schwerer Krankheit verstorben. Zuletzt<br />
lebte er in einer Unterkunft und hatte einen Vollzeitjob.<br />
Die Verkäufer:innen und das Hinz&<strong>Kunzt</strong>-Team<br />
HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />
DER ETWAS ANDERE<br />
STADTRUNDGANG<br />
Wollen Sie<br />
Hamburgs City<br />
einmal mit<br />
anderen Augen<br />
sehen? Abseits<br />
der glänzenden<br />
Fassaden zeigen wir<br />
Orte, die in keinem<br />
Reiseführer stehen:<br />
Bahnhofsmission<br />
statt Rathaus und<br />
Tagesaufenthaltsstätte<br />
statt Alster.<br />
Sie können mit<br />
unserem Stadtführer<br />
Chris zu Fuß auf<br />
Tour gehen, einzeln<br />
oder als Gruppe<br />
bis 25 Personen.<br />
Auch ein digitaler<br />
Rundgang ist<br />
möglich. Das ist fast<br />
genauso spannend.<br />
Offener Rundgang am Sonntag, 13.3. und 27.3.22, jeweils 15 Uhr<br />
Reguläre Rundgänge bequem selbst buchen unter:<br />
www.hinzundkunzt.de/stadtrundgang<br />
Digitale Rundgänge bei friederike.steiffert@hinzundkunzt.de oder<br />
Telefon: 040/32 10 84 04<br />
Kostenbeitrag: 5 Euro/10 Euro<br />
pro Person<br />
100Jahre<br />
Wenn die Welt<br />
auf einmal<br />
stillsteht.<br />
Zuverlässige und<br />
persönliche Hilfe im<br />
Trauerfall – jederzeit.<br />
Immer für Sie da.<br />
040 - 24 84 00<br />
www.gbi-hamburg.de
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Ausdauernd: Michael Mankus und Karsten Schuldt erlaufen alle Straßen und Wege Hamburgs (S. 44).<br />
Traditionell: Musikerin Norma von der Insel Föhr singt auf Friesisch und Plattdeutsch (S. 48).<br />
Unzertrennlich: Die Hinz&Künztler Edgars und Ugis helfen einander in allen Lebenslagen (S. 56).<br />
Für Shobe Mehraz aus<br />
Bangladesch ist das Surfen mehr<br />
als nur ein Sport. Es ist ihr Ticket<br />
raus aus der Armut.<br />
Der Kurzfilm „Shobe Surfs“ über<br />
die 13-Jährige läuft bei der<br />
diesjährigen Ocean Film Tour.<br />
Cinemaxx Hamburg Dammtor,<br />
Dammtordamm 1, Di, 8.3.,<br />
19.30 Uhr, 24,80 Euro (Vvk),<br />
15., 16. und 30.3., jeweils 20 Uhr,<br />
18,90 Euro (Vvk)<br />
FOTO: SAIKAT MOJUMDAR
Rund 50 Kilometer pro Woche<br />
joggt Karsten Schuldt momentan<br />
durch Hamburg.
Hamburg,<br />
wir laufen dich!<br />
Mehr als 8000 Straßen hat Hamburg zu bieten –<br />
Michael Mankus und Karsten Schuldt wollen sie alle in<br />
voller Länge ablaufen. Wie es dazu kam, was sie unterwegs<br />
erleben und: die spannendste Straße der Stadt!<br />
TEXT: JOCHEN HARBERG<br />
FOTOS: DMITRIJ LELTSCHUK, LARSSCHNEIDER.COM
Eigentlich dachte Michael,<br />
er könne Hamburg in drei, vier<br />
Jahren ablaufen. Mittlerweile sieht<br />
er es eher als Lebensaufgabe.<br />
In den vergangenen Wochen mussten<br />
beide ungewollt die Füße<br />
hochlegen. Karsten machte die<br />
rechte Achillessehne zu schaffen,<br />
nachdem er Anfang des Jahres noch<br />
Bramfeld abgehakt hatte – als Nächstes<br />
steht Farmsen-Berne auf seinem Zettel.<br />
Und Michael hatte Anfang Februar einen<br />
positiven Coronatest. Das Ziel ist<br />
dennoch an visiert, zumindest für Karsten:<br />
„Ich denke, bis Ende nächsten Jahres<br />
müsste ich es schaffen.“ Sprich:<br />
wirklich jede der 8659 Straßen, Plätze<br />
und Brücken Hamburgs – so die offizielle<br />
Angabe der Stadt – persönlich und<br />
in voller Länge abgelaufen zu haben!<br />
Es ist ein wunderbar verrücktes<br />
Projekt, dem Karsten Schuldt (56) aus<br />
Wilhelmsburg und Michael Mankus (51)<br />
aus St. Pauli einen Gutteil ihrer letzten<br />
46<br />
Laufjahre gewidmet haben – und weiter<br />
widmen werden. #everysinglestreet – so<br />
hatte es Michael vor drei Jahren aus<br />
Kalifornien mitbekommen. Ein Läufer<br />
hatte dort Ende 2018 tatsächlich alle<br />
Straßen San Franciscos abgelaufen,<br />
mehr als 1300 Meilen in sagenhaften<br />
46 Tagen. Seitdem wird dieser Hashtag<br />
in der Runner-Community global gefeiert<br />
und nachgeahmt. Karsten wiederum<br />
hatte als Leiter der Wilhelmsburger<br />
Laufgruppe „Inselrunners“ (die vor ihm<br />
übrigens ein gewisser Michael Mankus<br />
leitete) schon etwas früher die Idee, mit<br />
seiner Gang alle Straßen ihres Heimatstadtteils<br />
abzugrasen. Da man als<br />
Dauerläufer eh ständig auf der Suche<br />
nach dem Kick fürs nächste Training<br />
ist, stellte er sich anschließend die<br />
Sinnfrage: Warum nicht die ganze<br />
Stadt?<br />
Denn, so sagt Michael augenzwinkernd:<br />
„Menschen wie Karsten und ich
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
laufen ja, weil es sein muss – und nicht<br />
wie andere aus Versehen!“<br />
So sind die zwei – und Michael hat<br />
noch von vier anderen Läufern mit<br />
ähnlichem Vorhaben gehört – nun unabhängig<br />
voneinander unterwegs, um<br />
rund 4000 Kilometer städtisches Straßennetz<br />
auf eigenen Füßen zu erleben.<br />
Nein, nicht mit einem täglichen Marathon<br />
wie damals in San Francisco jener<br />
besessene Rickey Gates. In Hamburg<br />
will gut Ding Weile haben. Also laufen<br />
beide bis heute so, wie es sich in das<br />
normale Leben eines Werktätigen integrieren<br />
lässt. Karsten, der bei einem<br />
Software-Hersteller in Barmbek beschäftigt<br />
ist, ist meist am Wochenende<br />
on the run. Und Michael, der nicht nur<br />
in einem Lauf- und Triathlon-Laden<br />
arbeitet, sondern auch als Lauftrainer<br />
sowie auf 450-Euro-Basis als Buchhalter<br />
für ein Plattengeschäft, nutzt gerne<br />
mal wochentags die Vormittage für seine<br />
Hamburg-Exkursionen. Die abgelaufenen<br />
Straßen protokollieren beide<br />
auf entsprechenden Portalen im Internet<br />
– Michael bei citystrides.com, das<br />
auch auf seinem Instagram-Account<br />
verlinkt ist („Da kann sich jeder alles<br />
an gucken.“), Karsten bei „uMap“ von<br />
„OpenStreetMap“.<br />
Neugierig tauschen sich die beiden<br />
aus, als wir sie zum Gespräch bitten.<br />
Denn der Hamburg-Lauf ist ja per se<br />
ein einsames Geschäft. „Manchmal ist<br />
es schon eine richtig dumme Idee“, antwortet<br />
Michael grinsend auf die Frage,<br />
ob man das Projekt denn auch schon<br />
mal heimlich verflucht habe: „Ich dachte,<br />
für ganz Hamburg brauche ich vielleicht<br />
drei, vier Jahre. Inzwischen betrachte<br />
ich es eher als Lebensaufgabe!“<br />
Er, der schon Ultra-Marathons in den<br />
USA gelaufen ist, schrubbt normal um<br />
die 100 Kilometer pro Woche, aber beileibe<br />
nicht nur fürs City-Projekt. Ebensowenig<br />
wie Karsten, der derzeit rund<br />
50 Kilometer pro Woche läuft und<br />
die Stadteroberung inzwischen „als<br />
Mischung aus Pflicht und Genuss“ empfindet.<br />
Beide treibt zwar durchaus der<br />
Ehrgeiz, als Erster über die Ganz-Hamburg-Ziellinie<br />
zu laufen – beide verfolgen<br />
das aber keineswegs manisch.<br />
„Waaaaas, so weit bist du schon?“, entfährt<br />
es Michael, als Karsten preisgibt,<br />
dass er „87 von 104 Stadtteilen komplett<br />
hat“ und damit bereits bei rund<br />
85 Prozent Planerfüllung angekommen<br />
ist. „Da kann ich ja gleich aufhören“,<br />
jammert Michael spontan im Scherz –<br />
wohl wissend, dass seine Läuferehre das<br />
niemals zulassen wird: Er steht derzeit<br />
bei etwa 43 Prozent.<br />
Denn, das betonen beide, man bekomme<br />
definitiv ein anderes Lebensgefühl<br />
beim Erobern der eigenen Heimat<br />
im Laufschritt: „Die Vielfalt der Stadt<br />
ist schon krass“, sagt Michael. Plötzlich<br />
ein tolles Reetdachhaus und altes<br />
Kopfsteinpflaster mitten in Fischbek<br />
(Karsten). Die Nase-hoch-Leute in Eppendorf,<br />
die nie Platz machen (Michael).<br />
Der Lauf frühmorgens durch die<br />
Herbertstraße (Karsten). Die fast immer<br />
grüßenden Obdachlosen (Michael).<br />
Die zwei Kilometer langen Sackgassen<br />
in den Marschlanden, die vielen<br />
SUVs in Lemsahl-Duvenstedt (Karsten).<br />
Ewig könnten sie erzählen – und<br />
sind sich doch in einem total einig:<br />
„Komplett anders als alles, was ich<br />
sonst in Hamburg gesehen habe“,<br />
staunt Michael, „das ganze Ambiente<br />
Das Ziel immer vor Augen:<br />
Auf einer Straßenkarte und digital auf<br />
umap.openstreetmap.fr vermerkt<br />
Karsten, welche der 8659 Hamburger<br />
Straßen er bereits abgelaufen hat.<br />
47<br />
da mit den afrikanischen Garküchen<br />
und dem arabischen Business!“ „Aber<br />
auch die riesigen Warenlager und<br />
Geschäfte sind echt abgefahren“, bestätigt<br />
Karsten. Die überraschendste und<br />
spannendste Straße der Stadt also für<br />
beide: die zweieinhalb Kilometer lange<br />
Billstraße in Rothenburgsort – hier hat<br />
Hamburg einen Lauf! •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de
Musikerin Norma bleibt<br />
ihrer friesischen Heimat<br />
auch in Hamburg treu.<br />
Mutmachlieder<br />
auf Platt<br />
Die Musikerin Norma ist auf der Insel Föhr aufgewachsen.<br />
Ihre Lieder singt sie auch auf Friesisch und Plattdeutsch –<br />
entgegen gut gemeinter Karrieretipps.<br />
A<br />
uf Föhr leben 8592 Menschen<br />
und 11.000 Kühe. Vor<br />
dem Rathaus des Hauptortes<br />
Wyk steht ein Brunnen<br />
mit versteinerten Seehunden, auf den<br />
Friedhöfen der Insel kann man auf<br />
Grabsteinen ganze Lebensgeschichten<br />
nachlesen. Hobby-Sängerin:innen haben<br />
die Auswahl zwischen drei Insel-<br />
TEXT: SIMONE DECKNER<br />
FOTO OBEN: ANDREAS HORNOFF<br />
Chören. Norma Schulz, geboren 1987,<br />
hat bei allen dreien mitgesungen. Es<br />
existieren Fotos von ihr als Vierjährige,<br />
wie sie bei der „Föhrer Mini Playback<br />
Show“ auftritt. Sie hat sowohl in Schüler-<br />
als auch in Lehrerbands gespielt, bei<br />
Auftritten wurde sie schon mal von dem<br />
Herrn Pastor an der Gitarre begleitet.<br />
Von ihrem Konfirmationsgeld kaufte<br />
48<br />
sich Norma ein E-Piano. Für ihren ersten<br />
Konzertbesuch musste sie lange bei<br />
den Eltern betteln: In Flensburg spielte<br />
die Kelly Family. Von Föhr aus ist das eine<br />
halbe Tagesreise.<br />
„Dadurch, dass ich als Kind nicht<br />
viele Konzerte besucht habe, war mein<br />
Bild von Popmusik sehr geprägt von<br />
den Medien. Ich hatte im Kopf: Ich
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
FOTOS: LORNZ LORENZEN/NDR 2<br />
singe irgendwann auch auf Englisch.<br />
Das macht man so“, erinnert sich Norma.<br />
Es ist die Zeit der weiblichen Popstars:<br />
Britney Spears und Christina<br />
Aguilera sind in den Charts, im Radio<br />
laufen Sarah Connor und die No<br />
Angels. Dass sie das Singen ernsthaft<br />
betreiben will, daran besteht für Norma<br />
kein Zweifel. 2005, mit 17 Jahren,<br />
bricht sie die Schule ab und geht nach<br />
Hamburg, wo sie die Aufnahmeprüfung<br />
an einer privaten Musikschule bestanden<br />
hat. Ihr Eltern sagen, wenn es mit<br />
der Musik nicht klappt, könne sie ja immer<br />
noch zurückkommen auf die Insel.<br />
Norma tut alles dafür, dass es klappt.<br />
Fast jeden Tag in der Woche singt sie<br />
auf einer anderen Open Stage, bei denen<br />
Musiker:innen spontan und ohne<br />
Gage auftreten können („Ich habe alles<br />
mitgenommen.“), tagsüber kellnert sie,<br />
um ihr Studium zu finanzieren.<br />
Sie schreibt und singt jetzt ihre eigenen<br />
Songs, nicht auf Englisch, sondern<br />
auf Deutsch, genauer: auf Hochdeutsch,<br />
Plattdeutsch und Friesisch, ihrer Muttersprache<br />
von der Insel. „Friesisch fühlt<br />
sich wie Zuhause an“, sagt sie – ob sie es<br />
nun bei Heimatbesuchen schnackt oder<br />
auf einem Konzert singt: „Im Publikum<br />
sitzen vielleicht ein oder zwei Personen,<br />
die das auch sprechen können, und<br />
freuen sich. Man fühlt sich irgendwie<br />
anders verbunden.“<br />
Aber: Erst kürzlich wurde Norma<br />
wieder gefragt, ob sie denn nicht ausschließlich<br />
auf Deutsch singen wolle,<br />
also auf Hochdeutsch. „Ich werde ständig<br />
davor gewarnt, auf Plattdeutsch zu<br />
singen“, sagt die 35-Jährige und lacht.<br />
Man erreiche doch zu wenige Menschen<br />
damit, es verstehe ja kaum jemand! Der<br />
Einwand überzeugt sie nicht: „Klar,<br />
man verringert das Publikum, aber das<br />
ist ja beim Deutschen ähnlich, im Vergleich<br />
zum Englischen.“ Und wenn die<br />
Kritik stimmen würde, wie erklärt sich<br />
dann der Erfolg von in Mundart singenden<br />
Musiker:innen wie BAP, La Brass<br />
Banda oder Sophie Hunger?<br />
Ende März veröffentlicht Norma<br />
ihre neue EP „Op bald“. Der Name ist<br />
Programm. „Es sind Popsongs, nur auf<br />
Plattdeutsch. Ich habe versucht, Mutmachlieder<br />
zu schreiben. Ich glaube, in<br />
solchen Zeiten kann man das irgendwie<br />
Mit Popsongs auf Platt<br />
und Friesisch hat sich<br />
Norma eine treue<br />
Fan gemeinde aufgebaut.<br />
gebrauchen“, findet sie. In einem Lied<br />
erinnert sie sich daran, wie alles anfing,<br />
damals auf Föhr: „Un ik weet noch genau<br />
weer dat Radio an / Wat heff ik<br />
dröömt ik loop dor Iigendwann / Mit<br />
de Hoorböst in’e Hand sung’n / Vor de<br />
Spiegel in mien lütte Ruum so fung dat<br />
an / Dat is mien Weg.“ •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Neues Album:<br />
„Op bald“ erscheint am Fr, 25.3.,<br />
auf Normamusik.<br />
Mehr Infos: www.normamusik.de
Kult<br />
Tipps für den<br />
Monat März:<br />
Mit neuen Erlebnissen<br />
die Sinne schärfen<br />
Diskussion und Kunst<br />
Wozu brauchen wir Zukunft?<br />
Wenn sich die Autorin Emma Braslavsky<br />
mit dem Filmkritiker Knut Elstermann<br />
unterhält, dann geht es um<br />
nicht weniger als die Zukunft. Und um<br />
eine kreative Annäherung an Fragen<br />
nach der Geschlechtlichkeit von intelligenten<br />
Maschinen oder dem Zeitem p<br />
Eishöhle 1963: Unsere Zukunft ist übermorgen schon Vergangenheit.<br />
finden von Künstlicher Intelligenz.<br />
Ein spannendes Gesprächspaar: Sie<br />
beschreibt in ihren Romanen Zukunftsszenarien,<br />
er ist Fachmann für Science-<br />
Fiction-Filme aus der DDR. Die beiden<br />
treffen sich zum Talk parallel zur Ausstellung<br />
„Futura. Vermessung der Zeit“,<br />
50<br />
die noch bis zum 10. April in der Kunsthalle<br />
zu sehen ist. Die Gelegenheit, sich<br />
die Ausstellung aktiv zu erschließen! •<br />
Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5,<br />
Sonderveranstaltung „Utopie Zukunft“ am<br />
Do, 3.3., 19 Uhr, Eintritt 14/8 Euro, bis<br />
25 Jahre frei, www.hamburger-kunsthalle.de
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Ein choreografierter<br />
Spaziergang<br />
durch den<br />
Alten Elbtunnel<br />
Ferienprogramm<br />
Let it be diversity<br />
Unter diesem Motto steht die Filmprojektwoche<br />
für Kinder ab elf Jahren:<br />
Ein praktischer Einblick in die<br />
Welt des Filmens und gleichzeitig<br />
eine Auseinandersetzung mit der Frage,<br />
was Vorurteile, Vielfalt und Menschenrechte<br />
mit Kino zu tun haben. •<br />
Altonaer Museum, Museumstraße 23,<br />
Mo, 7.3., bis Fr, 11.3., 11 bis 15 Uhr,<br />
kostenlos, Infos: www.shmh.de,<br />
Anmeldung: hallo@bettermakers.de<br />
FOTOS: FOTOARCHIV BOGOMIR ECKER (S. 50), DESPINA CHARITONIDI (S. 51 OBEN), MARCUS MAY (S. 51 UNTEN)<br />
Ausstellung<br />
Veränderte Wahrnehmung<br />
Was ist Realität? Wie wir unsere Umgebung wahrnehmen, hängt ganz davon<br />
ab, wie wir uns bewegen, schnell oder langsam, und wie viel Aufmerksamkeit wir<br />
ihr schenken. Wenn wir langsam im Gänsemarsch laufen, nehmen wir Details auf.<br />
Wenn wir auf dem Rad durch den Alten Elbtunnel rasen, rauschen die gekachelten<br />
Wände wie im Flug vorbei. Objektivität ist reinste Illusion. Im Rahmen des<br />
Art Off des Hamburger Kultursommers im vergangenen August lud Künstlerin<br />
Sabine Siegfried zum choreografierten Spaziergang ein, bei dem die Teilnehmer:innen<br />
diesen „Perspektivwechsel“ fotografisch festhielten. Die Bilder sind nun<br />
als Collage, Zeichnungen und Video im Galerie-Club der Neustadt zu sehen. •<br />
Westwerk e. V., Admiralitätsstraße 74, Do, 3.3., ab 15 Uhr bis Sa, 5.3.,<br />
Fr und Sa jeweils 14–19 Uhr, der Eintritt ist frei, www.westwerk.org<br />
Musikalischer Findungsprozess<br />
Bünger, Müller & Klinger<br />
Bünger ist mal mit, mal ohne seinen Vornamen Sven seit Jahrzehnten von Hamburg<br />
aus in der deutschen Musikszene unterwegs. Ob bei den wundervollen Cul tured<br />
Pearls, als Gründer und Gitarrist der Soulounge, als Produzent zahlloser Acts von<br />
Madsen über Ulrich Tukur bis<br />
Phil Siemers. Doch für jeden ist<br />
es mal an der Zeit, sich neu zu<br />
erfinden, befand Sven und setzte<br />
sich im Trio mit Nina Müller als<br />
Co-Texterin und Christoph<br />
Klinger als Pianist und minimalistischem<br />
Arrangeur an ein neues<br />
Album: „Angst ist nur ’ne Illusion“<br />
heißt es, ist meist reduziert<br />
auf Gesang und Klavier, und<br />
Büngers kräftig samtene Stimme<br />
nimmt unser Herz im Sturm.<br />
Ein berührend nahbares Album<br />
in feinster<br />
Singer-Songwriter-Tradition! •<br />
Angst ist nur ’ne Illusion erscheint am<br />
Fr, 4.3., auf www.buengermusik.de<br />
Bünger geht’s nicht darum,<br />
besonders gut auszusehen – sagt er.<br />
Tanz<br />
TanzHochDrei<br />
Ein Festival des zeitgenössischen<br />
Tanzes: die diesjährigen Residenzchoreograf:innen<br />
Gloria Höckner,<br />
Venetsiana Kalampaliki und Clarissa<br />
Sacchelli zeigen ihre Arbeiten. •<br />
Kampnagel, Jarrestraße 20,<br />
von Do, 24.3., bis So, 3.4., live,<br />
Eintritt 15 Euro, vom 20.4. bis 24.4.<br />
im Stream, www.k3-hamburg.de<br />
Lesung und Gespräch<br />
Ljudmila Ulitzkaja<br />
2020 wurde die russische Schriftstellerin<br />
mit dem Siegfried Lenz<br />
Preis ausgezeichnet. Wortgewaltige<br />
Romane über die Tragödie des<br />
20. Jahrhunderts, der Epoche der<br />
Gewaltherrschaft und des Genozids<br />
verbinden Religiöses und Poltitisches.<br />
Ihr jüngstes Werk: die Erzählungen<br />
„Alissa kauft ihren Tod“. •<br />
Freie Akademie der Künste, Klosterwall<br />
23, Di, 22.3., 19 Uhr, Eintritt 15/10 Euro,<br />
www.akademie-der-kuenste.de<br />
Familie<br />
Babykonzert<br />
Die Musikpädagogin Juliane Giese<br />
und das CANEA Quartett spielen<br />
eingängige Werke von Mozart, Bach<br />
und Haydn für Babys und Geschwisterchen<br />
bis 18 Monate, Eltern, Großeltern,<br />
Schwangere und werdende<br />
Väter. Live oder digital als Stream. •<br />
Sasel-Haus e. V., Saseler Parkweg 3,<br />
Fr, 25.3., 16 Uhr, Eintritt 7,50 Euro,<br />
www.sasel-haus.de<br />
51
Musik<br />
The boys are back<br />
Im Januar 2019 legten die Jeremy Days<br />
in den ausverkauften Docks ein Konzert<br />
hin, als wäre zuvor nicht ganze 24 Jahre<br />
Funkstille gewesen. Nicht nur für die<br />
Fans war dieser Abend ein hochemotionales<br />
Ereignis. Über zwei Jahrzehnte<br />
herrschte Schweigen zwischen Frontmann<br />
Dirk Darmstaedter, Jörn Heilbut,<br />
Louis C. Oberlander und Stefan Rager.<br />
Auf einmal aber war er wieder da, der<br />
positive Vibe, der ihnen einst Hits<br />
wie „Brand New Toy“ beschert hatte.<br />
Energien wie diese muss man nutzen:<br />
Am 25. März erscheint das erste gemeinsame<br />
Album seit 27 Jahren. „Beauty<br />
in Broken“ lautet der Titel. „There’s<br />
a sense. There’s a beauty in broken“<br />
heißt es in der ersten, gleichnamigen<br />
Singleauskopplung. Die perfekte Zeile<br />
für diese coronazerfurchten Zeiten.<br />
Coverfoto des neuen Albums der Jeremy Days<br />
Irgendwo muss sich doch ein Sinn,<br />
etwas Schönes in alldem verbergen.<br />
Musik könnte da ein guter Ansatz sein.<br />
Derzeit plant die Band fleißig Konzerttermine,<br />
heißt es. Freuen wir uns auf<br />
ein baldiges Wiedersehen live und in<br />
Farbe – mit neuen und alten Songs! •<br />
The Jeremy Days, Beauty in Broken, VÖ:<br />
Fr, 25.3, Vinyl, CD und digital, Circushead<br />
Records, www.thejeremydays.com<br />
52
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
Kinofilm des Monats<br />
Leid und<br />
Schönheit<br />
FOTOS: LOUIS C. OBERLANDER (S. 52), ARCHÄOLOGISCHES MUSEUM HAMBURG/<br />
ILLUSTRATION ROLAND WARZECHA (S. 53 OBEN), ERICH HEEDER (S. 53 UNTEN), PRIVAT<br />
Hamburgs Burgen-<br />
Filme in Bewegung<br />
Historie trifft „Macbeth“<br />
Mobiles Kino<br />
Das „Flexible Flimmern“ inszeniert Kino als Einheit von Filmsujet und Raum.<br />
Die unterschiedlichsten Hamburger Orte werden so zum Kinosaal. Zur Sonderausstellung<br />
„Burgen in Hamburg – Eine Spurensuche“ können Filmfans nicht<br />
nur in die Hamburger Stadtgeschichte eintauchen, sondern im Anschluss den<br />
Film „Macbeth“ (2015) mit Marion Cotillard und Michael Fassbender erleben.<br />
Archäologisches Museum Hamburg, Museumsplatz 2, Di, 15.3., Mi, 16.3., Filmbeginn<br />
•<br />
20 Uhr, Eintritt 12/10 Euro, Anmelden bei reservierungen@flexiblesflimmern.de<br />
Ausstellung<br />
Bewegt<br />
Stadtteilkünstler Erich Heeder bringt<br />
zum Ausdruck, was ihn bewegt, und<br />
er findet dafür immer wieder neue<br />
künstlerische Formen. Seine Werke<br />
sind vielseitig und spannungsgeladen,<br />
sind sozial, politisch, universell. Unter<br />
dem Titel „Was bewegt?“ präsentiert<br />
der Hinz&Künztler seine Bilder. •<br />
Auferstehungskirche Lohbrügge,<br />
Kurt-Adams-Platz 9, Vernissage:<br />
So, 27.3., 18 Uhr, bis Fr, 20.5.,<br />
Öffnungszeiten: Mo, 16–19 Uhr,<br />
Mi, 9–11 Uhr, Fr, 12–14 Uhr,<br />
Eintritt frei, www.kap-kirche.de<br />
Hörsalon<br />
Die dunkle Seite<br />
Woher kommt das Böse, das wir<br />
scheinbar alle in uns tragen? Alexander<br />
Solloch, NDR Kultur, spricht<br />
darüber mit Diplom-Psychologin<br />
und Autorin Lydia Benecke und den<br />
Schriftstellern Michael Köhlmeier<br />
und Volker Kutscher. Das Gespräch<br />
wird aufgezeichnet und am 24. April<br />
in der Sendung „Sonntagsstudio“<br />
ausgestrahlt. Wer schneller lauschen<br />
will, kann die Veranstaltung beim<br />
Hörsalon im Bucerius Kunst Forum<br />
live mitverfolgen. •<br />
Bucerius Kunst Forum, Alter Wall 12,<br />
Di, 29.3., 19 Uhr, Eintritt frei, Anmeldung<br />
unter www.buceriuskunstforum.de<br />
Über Tipps für April freuen sich<br />
Simone Rickert und Regine Marxen.<br />
Bitte bis zum 10.3. schicken an:<br />
kult@hinzundkunzt.de<br />
Frühling! Gute Laune! Vogelgezwitscher,<br />
Lust auf Seichtes<br />
statt Wintergrau! Da will<br />
uns diese Kolumne ausgerechnet<br />
zu einem Film über<br />
Machtmissbrauch, Leid und<br />
Zwangsprostitution ins Kino<br />
locken? Geht’s noch? Klar!<br />
Denn die Doku „Was tun“ ist<br />
ein 73-minütiges erzählerisches<br />
Meisterwerk über die<br />
Kraft der Selbstwirksamkeit.<br />
Am Anfang steht ein Videoschnipsel.<br />
In einer Dokumentation<br />
fragt eine Kinderprostituierte<br />
aus Bangladesch,<br />
ob es für Frauen einen anderen<br />
Weg als den des Leidens<br />
gäbe. Diese Szene sieht der<br />
Dokumentarfilmstudent Michael<br />
Kranz. Sie wirkt lange<br />
in ihm nach, und er fragt sich,<br />
ob er helfen kann. Und sei es<br />
nur dieser einen 15-Jährigen.<br />
Er fliegt nach Bangladesch,<br />
trifft dort Frauen und<br />
Mädchen, die wie Eigentum<br />
behandelt werden. Er spricht<br />
mit Opfern und Tätern und<br />
hält bei allem Leid und der<br />
vermeintlichen Ausweglosigkeit<br />
herzliche und glückliche<br />
Momente in farbenfrohen<br />
Filmbildern fest, die ganz anders<br />
wirken, als man es zu<br />
diesem Thema erwartet hat.<br />
Und er schafft es, durch<br />
einen Spendenaufruf genug<br />
Geld für die Gründung eines<br />
Heims für die Kinder aus den<br />
Bordellen zu sammeln.<br />
Es bleibt eine Erkenntnis:<br />
Ein Einzelner kann die Welt<br />
nicht retten. Wenn wir sie<br />
aber für einige Menschen weniger<br />
grau machen, ist das<br />
wie ein kleiner Frühling. •<br />
André Schmidt<br />
geht seit<br />
Jahren für uns<br />
ins Kino.<br />
Er arbeitet in der<br />
PR-Branche.<br />
53
Leselounge<br />
#5<br />
<strong>Kunzt</strong>&Kult<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>349</strong>/MÄRZ <strong>2022</strong><br />
Auf ein Getränk mit …<br />
Simone Buchholz<br />
Die Autorin erzählt unserer<br />
Kolumnistin Nefeli Kavouras vom<br />
Amt des Parlamentarischen Poeten.<br />
Wir stolpern aus der Walrus Bar, Simone<br />
Buchholz und ich verabschieden<br />
uns voneinander. Mir klebt Zigarettennebel<br />
im Haar, ich schmecke die Bittersüße<br />
des Gins und die fruchtige<br />
Orangennote auf der Zunge. Ich laufe<br />
auf die hellen Lichter der Reeperbahn<br />
zu, in mir pocht das Gefühl, nicht nur<br />
etwas Großes machen zu wollen, sondern<br />
es auch zu können.<br />
Vielleicht hat sich die Krimiautorin<br />
Simone Buchholz so gefühlt, als sie die<br />
Idee entworfen hat, dass im Bundestag<br />
ein:e Poet:in arbeiten solle.<br />
Ich treffe also Stunden zuvor Simone<br />
Buchholz auf einen Gin Tonic – das<br />
Getränk, das schon von vielen großen<br />
Frauen als perfekt deklariert wurde<br />
(Queen Elisabeth II., Amy Winehouse –<br />
FOTOS: IMKE LASS<br />
und jetzt auch Simone Buchholz). Sie<br />
erzählt mir, wie sie von dem Gedanken<br />
angetan war, dass ein:e Autor:in im<br />
Bundestag sitzt, alles mitbekommt, und<br />
darüber für die Öffentlichkeit schreibt.<br />
Wobei sie sich das Amt des Parlamentarischen<br />
Poeten nicht selbst ausgedacht<br />
hat. Auf der Frankfurter Buchmesse<br />
2021 lernte sie die amtierende Parlamentarische<br />
Poetin Kanadas kennen,<br />
und Simone fand: So was brauchen wir<br />
auch! Sie teilt diese Idee mit den<br />
Autor:innen Mithu Sanyal und Dmitrij<br />
Kapitelman. Gemeinsam verfassen sie<br />
einen Artikel, der Anfang des Jahres in<br />
der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht<br />
wurde.<br />
„Wenn man was bewegen will,<br />
muss man auch sein Gesicht zeigen und<br />
sich in den Stachel der Öffentlichkeit<br />
werfen. Und das war ganz schön krass“,<br />
erzählt mir Simone. Es gibt keine größere<br />
Zeitung, die nicht auf den Vorschlag<br />
eines Parlamentspoeten reagiert,<br />
häufig schreiben sie, es gäbe Wichtigeres,<br />
in das der Bundestag zu investieren<br />
hat. Simone entgegnet: „Warum können<br />
wir nicht inmitten von Krisen sein<br />
und uns trotzdem gleichzeitig darum<br />
kümmern, dass diese Krisen in lebendiger<br />
Sprache bewältigt werden? Seit<br />
Beginn der Menschheit erzählen wir<br />
einan der am Feuer Geschichten, das<br />
gehört doch dazu.“<br />
Wenn Simone erzählt, wirkt es, als<br />
säße man mit ihr am Lagerfeuer. Es ist<br />
unmöglich, sich nicht begeistern zu lassen<br />
von den Funken, die sie in die Welt<br />
werfen möchte. Ich kühle mich mit einem<br />
Schluck ab und frage, wen sie sich<br />
in diesem Amt vorstellen kann. Ihre<br />
Antwort überrascht mich: „Haftbefehl.<br />
Denn er ist ein trauriger Rapper und<br />
traurige Rapper sind kluge Rapper.“<br />
Simone erklärt, wie Literatur eine<br />
Intervention gegenüber der Politik sein<br />
kann: „Wir Autoren können dort hingehen,<br />
wo es wehtut. Das kann die<br />
Politik nicht leisten, weil sie auf Konsens<br />
angelegt ist. Aber wir haben die<br />
Fähigkeit, nicht den Kompromiss, sondern<br />
die Ränder zu erzählen.“<br />
Die Geräusche um uns herum werden<br />
lauter, unsere Gläser leeren sich.<br />
Wir verlassen die Bar, die frische Luft<br />
tut gut und ich frage mich, welchen<br />
Coup Simone wohl als Nächstes in die<br />
Welt werfen wird. •<br />
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Literaturtipp:<br />
„Abteilung für irre<br />
Theorien“ von Tom<br />
Gauld. Seit Beginn<br />
der Pandemie<br />
kann sich Simone<br />
nicht mehr so gut<br />
auf Romane konzentrieren, aber diese<br />
Cartoons gehen wirklich immer.<br />
54
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rätsel<br />
Hafen auf<br />
Honshu<br />
(Japan)<br />
Modetanz<br />
anders,<br />
sonst<br />
auch<br />
genannt<br />
US-Schauspieler<br />
(Will)<br />
Stadt in<br />
Niedersachsen<br />
Fragewort<br />
(4. Fall)<br />
spanischer<br />
Frauenname<br />
Party im<br />
Freien<br />
Luftgeist<br />
bei<br />
Shakespeare<br />
Halbton<br />
über C<br />
Bewohner<br />
eines dt.<br />
Bundeslandes<br />
4<br />
1<br />
1<br />
1<br />
7<br />
8<br />
5<br />
4<br />
Stadt<br />
an der<br />
Schlei<br />
hinter,<br />
folgend<br />
2<br />
2<br />
1<br />
5<br />
9<br />
3<br />
Seemannsruf<br />
Rockaufschlag<br />
Tierschau<br />
3<br />
3<br />
2<br />
5<br />
6<br />
8<br />
7<br />
kurzes<br />
Gewehr<br />
6<br />
englisch:<br />
Kuss<br />
9<br />
8<br />
6<br />
3<br />
7<br />
4<br />
3<br />
5<br />
6<br />
1<br />
8<br />
anrüchig,<br />
verdächtig<br />
süßer<br />
Schnaps<br />
5<br />
8<br />
6<br />
7<br />
2<br />
1<br />
Handelsbrauch,<br />
Gewohnheit<br />
Wurfpfeilspiel<br />
(engl.)<br />
Kindertagesheim<br />
umgangssprachlich:<br />
Kuss<br />
Stadt<br />
in Westfalen<br />
griechischer<br />
Buchstabe<br />
umgangssprachlich:<br />
Alte<br />
AR0909-1219_1sudoku<br />
Erste,<br />
Führende<br />
(Sport)<br />
Futterpflanze<br />
hebräisch:<br />
Sohn<br />
griech.<br />
Göttin<br />
der Morgenröte<br />
verlockende<br />
Wirkung<br />
süddt.<br />
Kurzform<br />
von:<br />
Josef<br />
Hauptstadt<br />
in<br />
Nordeuropa<br />
altgriechische<br />
Grabsäule<br />
voller<br />
kleiner<br />
Unebenheiten<br />
Bildungsinstitut<br />
(Abk.)<br />
umgangssprachl.:<br />
Einfaltspinsel<br />
Wandmalerei<br />
internationales<br />
Notsignal<br />
kleine,<br />
strichartige<br />
Vertiefung<br />
pointierte<br />
Kurzgeschichte<br />
lateinisch:<br />
innen,<br />
inwendig<br />
Gegenteil<br />
von:<br />
Kontra<br />
Füllen Sie das Gitter<br />
so aus, dass die Zahlen<br />
von 1 bis 9 nur je einmal<br />
in jeder Reihe, in jeder<br />
Spalte und in jedem<br />
Neun-Kästchen-Block<br />
vorkommen.<br />
Als Lösung schicken<br />
Sie uns bitte die farbig<br />
gerahmte, unterste<br />
Zahlenreihe.<br />
Lösungen an: Hinz&<strong>Kunzt</strong>, Minenstraße 9, 20099 Hamburg,<br />
per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />
Einsendeschluss: 28. März <strong>2022</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />
Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet,<br />
kann zwei Karten für die Hamburger Kunsthalle gewinnen oder<br />
einen von drei Hamburg-Krimis „Als die Flut kam“ von Kathrin Hanke<br />
(Gmeiner-Verlag).<br />
Das Lösungswort des Februar-Kreuzwort rätsels war: Raumfaehre.<br />
Die Sudoku-Zahlenreihe lautete: 936 852 741.<br />
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12191 – raetselservice.de<br />
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Impressum<br />
Redaktion und Verlag<br />
Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />
Minenstraße 9, 20099 Hamburg<br />
Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />
Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />
E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />
Herausgeber<br />
Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />
Externer Beirat<br />
Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />
Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />
Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />
Karin Schmalriede (ehemals Lawaetz-Stiftung, i.R.),<br />
Dr. Bernd-Georg Spies (Spies PPP),<br />
Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />
Geschäftsführung Jörn Sturm<br />
Redaktion Annette Woywode (abi, CvD; V.i.S.d.P. für den Titel,<br />
Gut&Schön, den Finanzschwerpunkt, Freunde, Buh&Beifall, <strong>Kunzt</strong>&Kult)<br />
Jonas Füllner (jof, V.i.S.d.P. für das Stadtgespräch)<br />
Lukas Gilbert (lg, V.i.S.d.P. für die Momentaufnahme),<br />
Ulrich Jonas (ujo, V.i.S.d.P. für die Zahlen des Monats und<br />
die Auslandsreportage), Benjamin Laufer (bela),<br />
Simone Deckner (sim), Kirsten Haake (haa), Jochen Harberg (joc),<br />
Nefeli Kavouras (mnk), Misha Leuschen (leu),<br />
Regine Marxen (rem), Simone Rickert (sr)<br />
Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />
Korrektorat Christine Mildner, Kerstin Weber<br />
Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />
Sonja Conrad, Anja Steinfurth<br />
Artdirektion grafikdeerns.de<br />
Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />
Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />
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Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Gabor Domokos,<br />
Meike Lehmann, Sergej Machov, Frank Nawatzki,<br />
Sigi Pachan, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />
Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />
Spendenmarketing Gabriele Koch<br />
Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />
Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel,<br />
Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />
Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Chris Schlapp<br />
Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Stefan Calin, Fred Houschka, Mandy Schulz<br />
Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />
Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger,<br />
Klaus Peterstorfer, Herbert Kosecki<br />
Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />
Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />
Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />
Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />
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Leichte Sprache capito Hamburg, www.capito-hamburg.de<br />
Spendenkonto Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />
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Die Hinz&<strong>Kunzt</strong> gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />
Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />
des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797,<br />
vom 15.3.2021 für das Jahr 2019 nach § 5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftssteuergesetzes<br />
von der Körperschaftssteuer und nach<br />
§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />
Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist als<br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />
Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />
Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />
weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />
www.hinzundkunzt.de. Hinz&<strong>Kunzt</strong> ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />
obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />
Das Magazin wird von Journalist:innen geschrieben, Wohnungslose und<br />
ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter*innen<br />
unterstützen die Verkäufer:innen.<br />
Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />
Gesellschafter<br />
Durchschnittliche monatliche<br />
Druckauflage 4. 1. Quartal 2021: <strong>2022</strong>:<br />
72.333 55.333 Exemplare<br />
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Zu zweit durchs Leben<br />
Die beiden Exil-Letten Ugis und Edgars lernten sich bei Hinz&<strong>Kunzt</strong> kennen<br />
und schätzen. Heute unterstützen sich die Freunde, wo immer es geht.<br />
TEXT: LUKAS GILBERT<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE
Momentaufnahme<br />
L<br />
angsam schiebt Edgars seinen<br />
Freund Ugis im Rollstuhl<br />
an tristen Industrieflächen<br />
im Freihafen vorbei. Mit ausgestrecktem<br />
Arm zeigt er auf ein in die<br />
Jahre gekommenes Klinkergebäude<br />
hinter einer grauen Flutschutzmauer.<br />
Edgars erklärt auf Lettisch: „Da ist das<br />
Hotel. Da ganz oben rechts, hinter den<br />
grünen Vorhängen, hat er gewohnt“,<br />
dolmetscht Ugis in gebrochenem<br />
Deutsch. Mehrere Jahre verbrachte<br />
Edgars in der Absteige. Zuvor war er<br />
obdachlos.<br />
Edgars und Ugis stammen aus Lettland.<br />
Kennen und schätzen gelernt<br />
haben sich die beiden bei Hinz&<strong>Kunzt</strong>:<br />
„Wir sind super Freunde. Wir helfen uns!<br />
Edgars hofft auf<br />
gute Gesundheit<br />
für sich und<br />
seinen Freund.<br />
Ugis (links) und Edgars auf dem<br />
Hof vor Edgars ehemaligem Zuhause<br />
im Hamburger Freihafen<br />
Wir verbringen die Tage zusammen“,<br />
sagt Ugis. Er ist seit einiger Zeit auf<br />
Hilfe angewiesen: „Meine Gesundheit<br />
ist richtig kaputt“, sagt er. Bauchspeicheldrüse,<br />
Diabetes, vier OPs am Magen,<br />
zuletzt an der Bandscheibe. Schuld<br />
sei neben harter körperlicher Arbeit vor<br />
allem der Alkohol: „Auf der Straße habe<br />
ich jeden Tag zwei Flaschen Wodka<br />
getrunken. Allein.“ Zumindest allein ist<br />
der 53-Jährige nicht mehr, seit er Edgars<br />
gefunden hat.<br />
Der kam während des Wehrdienstes<br />
zum Alkohol. Dennoch hatte er sein<br />
Leben damals in Lettland im Griff und<br />
fand einen Job als Fassadenmaler. Er<br />
heiratete, das junge Ehepaar bekam<br />
Kinder. Doch wegen der Trinkerei<br />
trennte sich seine Frau von ihm. Nach<br />
dem Zusammenbruch der Sowjetunion<br />
sei dann die Auftragslage immer<br />
57
Edgars (links) und Ugis sind auf dem Weg zum „Hotel“, in dem Edgars in den vergangenen Jahren seine Nächte verbracht hat.<br />
Neuerdings muss er nicht mehr in dem Backsteinbau (im Hintergrund zu sehen) schlafen. Er hat eine Wohnung gefunden.<br />
schlechter geworden, erzählt der heute<br />
54-Jährige. Edgars Arbeitswege wurden<br />
länger, die Auftraggeber dubioser. Der<br />
Alkohol immer mehr.<br />
Vor elf Jahren nahm er einen Auftrag<br />
in Hamburg an. Zwei Monate habe<br />
er gearbeitet, das Geld dafür aber nicht<br />
bekommen: „Ich wurde verarscht.“<br />
Ohne Geld und ohne Perspektive in der<br />
Heimat fand Edgars sich so auf der<br />
Straße und schließlich bei Hinz&<strong>Kunzt</strong><br />
wieder.<br />
„Sowjetunion war auf einmal weg,<br />
dann ging Scheiße los“, so erinnert sich<br />
auch Ugis. Weil er keinen Job fand, baute<br />
er sich einen kleinen Hof auf und<br />
verkaufte Holz: „Ich war fast ein reicher<br />
Mann.“ Doch dann sei er von Kriminellen<br />
vertrieben worden, die auch noch<br />
regelmäßig Geld forderten. „Mafia“,<br />
sagt Ugis nur. Er verließ das<br />
Land und landete in Hamburg,<br />
wo er sich mit Gelegenheitsjobs<br />
über Wasser hielt. Was ihm fehlte:<br />
eine Wohnung. Erst schlief er bei<br />
Bekannten, doch irgendwann<br />
landete er auf der Straße, wo er<br />
schließlich von Hinz&<strong>Kunzt</strong> hörte.<br />
„Ohne Hinz&<strong>Kunzt</strong> weiß ich nicht,<br />
was ich machen würde heute“,<br />
sagt er: „Mit Becher stehen an der<br />
S traße wahrscheinlich.“<br />
Ugis war es auch, der damals vom<br />
Zimmer im Freihafen erfuhr. Er selbst<br />
hatte kurz zuvor eine kleine Wohnung in<br />
Harburg gefunden, dachte aber sofort<br />
an seinen Freund Edgars. Wenige Meter<br />
neben dem „Hotel“, das eigentlich ein<br />
Bürogebäude ist, donnern Güterzüge<br />
vorbei. Auf dem Hof stapeln sich Seecontainer,<br />
Lastwagen rangieren über<br />
den Parkplatz. „Richtig laut, Katastrophe<br />
ist das, du kannst die ganze Nacht<br />
nicht schlafen“, ruft Ugis durch den<br />
Lärm. Seit einigen Monaten muss sein<br />
Freund das hier nicht mehr versuchen.<br />
Er hat eine Wohnung gefunden. „Richtig,<br />
richtig Glück“, sei das gewesen, sagt<br />
Edgars, Ugis und alle anderen Hinz&Künztler:innen erkennt man am Verkaufsausweis.<br />
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Edgars. „Jetzt endlich eine Wohnung zu<br />
haben – das ist ein Traum.“<br />
In seiner freien Zeit besucht er seinen<br />
Freund Ugis. Kocht ihm Essen<br />
und hilft im Haushalt. Große Wünsche<br />
haben die beiden nicht. Edgars hofft<br />
vor allem auf gute Gesundheit für sich<br />
und für seinen Freund. „Ich glaube<br />
nicht, dass es mir körperlich noch mal<br />
besser gehen wird“, sagt Ugis. „Aber<br />
ich hoffe zumindest, dass es nicht<br />
schlimmer wird.“ In einigen Tagen<br />
steht mal wieder eine OP für den<br />
53-Jährigen an. Sein Freund Edgars<br />
klopft ihm auf die Schulter und grinst<br />
ermutigend: „Wird gut!“ •<br />
lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />
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