30.03.2022 Aufrufe

Lebenskultur - Das Magazin - Ausgabe April 2022

Das Magazin „Lebenskultur“ wirft in jeder Ausgabe zu einem bestimmten, weit gefassten Thema einen tiefgehenden Blick auf bemerkenswerte Geschehnisse und Menschen mit Bezug zur Stadt, zur Region und darüber hinaus. Wechselnde lokale Autoren machen sich daran, unser Leben und unsere Kultur in allen ihren Ausprägungen in Form von Portraits, Berichten, literarischen Texten, Essays oder ähnlichem zu schildern. Selbstverständlich dürfen Fotos nicht fehlen. Derart entsteht eine ganz spezielle Chronik, in der sich die aktuelle Stadtgeschichte mit Wechselwirkungen bis zum Weltgeschehen hin wiederfindet.

Das Magazin „Lebenskultur“ wirft in jeder Ausgabe zu einem bestimmten, weit gefassten Thema einen tiefgehenden Blick auf bemerkenswerte Geschehnisse und Menschen mit Bezug zur Stadt, zur Region und darüber hinaus. Wechselnde lokale Autoren machen sich daran, unser Leben und unsere Kultur in allen ihren Ausprägungen in Form von Portraits, Berichten, literarischen Texten, Essays oder ähnlichem zu schildern. Selbstverständlich dürfen Fotos nicht fehlen. Derart entsteht eine ganz spezielle Chronik, in der sich die aktuelle Stadtgeschichte mit Wechselwirkungen bis zum Weltgeschehen hin wiederfindet.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Österreichische Post AG | RM 18A041471 K | 8330 Feldbach<br />

AUSGABE 35 | APRIL <strong>2022</strong><br />

MAGAZIN<br />

LEBENSKULTUR DER STADT FELDBACH<br />

Mitmenschen helfen<br />

Mustertitel Mustersatz<br />

von Michael Mehsner | S. 15<br />

Mitmenschen helfen<br />

Mustertitel Mustersatz<br />

von Michael Mehsner | S. 15<br />

Mitmenschen helfen<br />

Mustertitel Mustersatz<br />

von Michael Mehsner | S. 15


Werte Leserinnen und Leser!<br />

Herzlich willkommen bei einem neu gestalteten<br />

<strong>Magazin</strong> <strong>Lebenskultur</strong> der Stadtgemeinde<br />

Feldbach. Die allererste <strong>Ausgabe</strong><br />

ist vor 10 Jahren, im März 2012, erschienen.<br />

Eine Überarbeitung des Layouts und<br />

eine Erweiterung des Umfanges erfolgte mit<br />

der <strong>Ausgabe</strong> Nr. 15 anlässlich der Gemeindefusion<br />

2015. Bisher sind 34 <strong>Ausgabe</strong>n<br />

erschienen. Wieder einmal, was in der Medienlandschaft<br />

durchaus üblich ist, scheint<br />

die Zeit gekommen, das <strong>Magazin</strong> einem Relaunch<br />

zu unterziehen. Vielleicht ein wenig<br />

mitausgelöst durch den grandiosen Wes<br />

Anderson-Film „The French Dispatch“, der<br />

die Geschehnisse rund um eine schon sehr<br />

besondere Redaktion einer Zeitung in einer<br />

französischen Kleinstadt schildert.<br />

Nun, eine solche Redaktion kann ich Ihnen<br />

ab sofort auch für unsere Zeitschrift anbieten,<br />

vorerst einmal für das Jahr <strong>2022</strong>,<br />

Verlängerung nicht ausgeschlossen. Die<br />

Autorinnen und Autoren haben, wenn man<br />

EDITORIAL<br />

das so sagen darf, deren „Spezialgebiete“<br />

übernommen, welche den Ausgangspunkt<br />

für ihre Texte bilden werden, um von dort<br />

aus die Gedanken schweifen zu lassen. Wie<br />

weit, das ist nur ihnen selbst überlassen.<br />

Ein jeweils übergeordnetes Thema für die<br />

einzelnen <strong>Ausgabe</strong>n erübrigt sich damit.<br />

Gemeinsames Ziel bleibt, die <strong>Lebenskultur</strong><br />

unserer Stadt und der Region abzubilden,<br />

und darüber hinaus in Wechselwirkung zum<br />

Weltgeschehen zu treten, zumal sich die<br />

meisten Dinge heutzutage, in diesen globalen<br />

Zeiten, nicht mehr voneinander trennen<br />

lassen. Verpflichtet sehen wir uns, einen<br />

tieferen Blick auf Besonderheiten zu werfen,<br />

das, was die Menschen hier beschäftigt,<br />

aufzuzeichnen und damit eine spezielle<br />

südoststeirische Chronik zu verfassen.<br />

Wie sich nun die Redaktion zusammensetzt,<br />

entnehmen Sie bitte dem Inhaltsverzeichnis.<br />

Auch Gastautoren, wie dieses Mal<br />

Ernst Kleinschuster, werden immer wieder<br />

dazustoßen. Somit bleibt mir vorerst nur,<br />

Ihnen mit dem „neuen“ <strong>Magazin</strong> viel Freude<br />

zu wünschen. Uns war es ein Vergnügen und<br />

eine Ehre, dieses für Sie zu gestalten.<br />

Ihr Michael Mehsner<br />

PS: Da zwischen dem Redaktionsschluss<br />

und dem Erscheinen des <strong>Magazin</strong>s rund vier<br />

Wochen liegen, finden sich in diesem, mit<br />

Ausnahme einer Passage von Werner Kölldorfer,<br />

und ungeachtet einer diesbezüglichen<br />

Anregung aus unserem Kreis, keine<br />

Bezugnahmen zur Ukraine-Krise, die ein<br />

machtgieriger Aggressor ausgelöst hat, der<br />

damit den Weltfrieden gefährdet. Die Stadtgemeinde<br />

Feldbach bietet auf ihrer Website<br />

umfassende Informationen an, auf welche<br />

hiermit verwiesen wird, weitere Ansprechstelle<br />

ist das BürgerInnenservice.<br />

INHALT<br />

FOTO TITELSEITE: „FISCHLANDSCHAFT“...................................................................von Andres Stern<br />

3 LEBEN IM GARTEN – MIT FRÜHLINGSGEDANKEN ....................................................von Andrea Bregar<br />

5 IN DER ZUKUNFT NICHTS NEUES ..............................................................................von Franz Jurecek<br />

6 WIE SCHÖN, EIN PROVINZLER ZU SEIN......................................................................von Josef Kirchengast<br />

(nach einer Idee von Helga Kirchengast)<br />

7 OHNE WORTE ..............................................................................................................von Werner Kölldorfer<br />

8 DIE HEXEN MEINER KINDHEIT (HEXEN – TEIL 1) ........................................................von Rainer Matthäus Parzmair<br />

9 ZWISCHEN DOLCE VITA UND UNDICHTEN DÄCHERN .............................................von Mariella Schauperl<br />

Mein Umzug an den „Caput Mundi“<br />

11 WAS IST – EIN AKTUELLES SITTENBILD ......................................................................von Stefan Preininger<br />

Eine Satire in drei Teilen – Teil 1: Mein Bekannter<br />

12 DIE VERLORENE ZEIT UND DIE MUSIK .......................................................................von Ernst J. Kleinschuster<br />

14 WAHRNEHMUNGSBLINDHEIT......................................................................................von Roswitha Dautermann<br />

Ein Plädoyer für die Reduktion optischer Reize im öffentlichen Raum.<br />

15 LIEBER BÜGELTISCH!...................................................................................................von Sandra Pfeifer<br />

16 LIFE IS BIGGER .............................................................................................................von Michael Mehsner<br />

18 FELDBACHS STARKE UND KREATIVE FRAUEN (TEIL 1)..............................................von Johann Schleich<br />

19 WANTED (TEIL 1)...........................................................................................................von Roman Wallner<br />

FOTO LETZTE SEITE.....................................................................................................von Mariella Schauperl<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgegeben von der NEUEN Stadt Feldbach, www.feldbach.gv.at; Cover: Andreas Stern; Rückseite: Mariella Schauperl;<br />

Fotos: Stadtgemeinde Feldbach, Autoren, Stock.Adobe.com; Layout: www.feldbach.gv.at; Druck: www.scharmer.at<br />

2 MAGAZIN „LEBENSKULTUR“ - STADT FELDBACH


VON ANDREA BREGAR<br />

Wir sind angekommen im Frühling. Mitten<br />

drin sind wir schon. Zumindest hier in<br />

unserer Region, in der Südoststeiermark.<br />

Die Jahreszeit, die GärtnerInnen aufblühen<br />

lässt bevor es viele ihrer Blumen tun, die<br />

alles neu macht, die wieder Sonne in Gemüter<br />

bringt, denen der Winter ein bisschen<br />

zusetzt. Zu letzteren zähl ich mich selbst.<br />

Es ist schon spannend zu beobachten, wie<br />

schnell sich die Stimmung ändern kann,<br />

wenn es heller wird, die Sonne scheint und<br />

das frische Grün sprießt. Wenn es draußen<br />

nach Erde duftet, Bienen summen, Vögel<br />

zwitschern und die Haut wieder frische Luft<br />

spüren kann. Der Frühling macht so viel<br />

mit uns. Er bringt Neues, lässt alles wachsen<br />

und aufleben, und Samen und Knospen<br />

werden zum Leben erweckt. Die Landschaft<br />

wandelt sich vom südoststeirischen Winterbraun<br />

ins südoststeirische Frühlingsgrün.<br />

Leben im Garten –<br />

mit Frühlingsgedanken<br />

Samen sind übrigens wahre Kraftpakete und<br />

Überlebenskünstler. In ihnen steckt alles,<br />

was die Pflanze braucht, alles, was eine<br />

neue Pflanze wachsen lässt. Und sie besitzen<br />

manchmal unglaubliche Eigenschaften,<br />

die sie jahrelang in Trockenheit, Nässe oder<br />

Eis keimfähig halten. Manchmal keimen sie<br />

sogar erst nach einem Brand. Sogenannte<br />

Feuerkeimer behalten ihre Keimfähigkeit<br />

bis zu 100 Jahre lang. Es gibt also Lichtkeimer,<br />

Dunkelkeimer, Kaltkeimer, Warmkeimer,<br />

Feuerkeimer … Wie bei uns Menschen,<br />

oder? Jeder Mensch braucht etwas<br />

anderes, um wachsen, gedeihen, fußfassen<br />

und aufblühen zu können. Sonne und Wärme<br />

brauchen wir aber alle. Licht und Grün<br />

tun dem Menschen gut.<br />

Was macht nun die Farbe Grün mit uns?<br />

Fragt der Urlaubsgast den Bauern: „Sind das<br />

Blaubeeren?“<br />

„Na“, sagt der Bauer, „des san Schwoazbean.“<br />

„Aber die sind ja rot!“<br />

„Jo weils noch grea san.“<br />

Einer meiner Lieblingswitze. Er sagt einiges<br />

über unseren Umgang mit Farben im<br />

Sprachverhalten aus. Die Farbe Grün wird in<br />

so vielen sprachlichen Ausdrücken verwendet.<br />

„Der ist noch grün hinter den Ohren.“<br />

Hört man zwar nicht mehr so oft. Aber den<br />

Reiferen unter uns ist der Ausdruck noch<br />

geläufig. Oder „<strong>Das</strong>selbe in Grün“, der „grüne<br />

Daumen“, „auf einen grünen Zweig kommen“.<br />

Grün wird oft mit Positiven in Verbindung<br />

gebracht. Neuanfang, Wachstum,<br />

alles in Ordnung – „im grünen Bereich“,<br />

„grüne Ampel“, „grünes Licht“ auf sämtlichen<br />

elektronischen Geräten, wenn sie betriebsbereit<br />

sind. Aber: Der Zornige ärgert<br />

sich auch „grün und blau“, und der Neidige<br />

wird „grün vor Neid“. Grün zeigt uns oft<br />

„giftig“, und auch Monster werden häufig<br />

grün dargestellt.<br />

In der Kunst wird Grün für Frische, Freiheit,<br />

als beruhigende Farbe, als Symbol für<br />

Fruchtbarkeit, Erneuerung und Wachstum<br />

eingesetzt. Grün gilt als ausgleichende Farbe,<br />

die das Gleichgewicht herstellt. Grün<br />

entsteht aus Blau und Gelb. Man könnte<br />

sagen, Grün verbindet also die innere Ruhe<br />

von Blau mit der Inspiration von Gelb. Die<br />

3


Werbung greift genau diese Eigenschaften<br />

von Grün gerne auf. Verpackungen oder<br />

Werbungen mit viel hellem Grün, Weiß,<br />

Pflanzenbildern oder Ausdrücken wie „Die<br />

Grüne Linie“ sollen uns vermitteln, dass im<br />

Produkt „Natur pur“ enthalten ist. <strong>Das</strong> sogenannte<br />

„Greenwashing“ von Produkten,<br />

die einen besonderen Naturbezug zeigen<br />

oder umweltfreundlich dargestellt werden<br />

sollen, diese Eigenschaften aber nicht unbedingt<br />

erfüllen, funktioniert.<br />

Frisches, junges Grün: Grün wirkt also grundsätzlich<br />

positiv auf uns. Dieses frische Grün<br />

tut aber nicht nur unserer Seele und Psyche<br />

gut sondern auch dem Körper in Form von<br />

wichtigen Nährstoffen. Erwähnenswert ist,<br />

dass besonders das wilde Grün im Frühling<br />

einen sehr hohen Anteil an für den menschlichen<br />

Organismus gesunden Inhaltsstoffen<br />

besitzt. Es gibt Untersuchungsergebnisse,<br />

die uns zeigen, dass das sogenannte Wildgemüse<br />

und die Wildkräuter im Frühling<br />

neben dem grünen Farbstoff Chlorophyll ein<br />

Vielfaches an Mineralstoffen und Vitaminen<br />

von unserem kultivierten Gemüse besitzen.<br />

So enthalten zum Beispiel im Vergleich Kulturgemüse<br />

und Wildkraut Kalzium pro 100 g<br />

Pflanzenmasse: Kopfsalat 11 mg | Wiesenbärenklau<br />

320 mg; Eisen pro 100 g Pflanzenmasse:<br />

Spinat 4 mg | Vogelmiere 8,4 mg;<br />

Vitamin C pro 100 g Pflanzenmasse: Brokkoli<br />

114 g | Brennnessel 333 mg. Es genügt<br />

also, jetzt im Frühling täglich eine kleine<br />

Hand voll Wildkräuter und Wildgemüse in<br />

die Schüssel mit Kopfsalat aus dem Garten<br />

zu mischen, oder kleingeschnitten die Suppe<br />

damit zu würzen, übers Butterbrot zu<br />

streuen oder in den Aufstrich zu rühren. Wir<br />

müssen gar nicht stundenlang Wildkräuter<br />

sammeln, um dem Körper etwas Gesundes<br />

zu tun. Es reicht eine wirklich kleine Menge.<br />

Manchmal finden wir sie sogar als Unkraut<br />

in unserem Gemüsebeet.<br />

Rezept „Frühlingswrap“: Frühlingswraps sind<br />

eine schnelle, einfache Jause und können<br />

kreativ mit viel Frühlingsgrün gefüllt werden.<br />

Kinder und Jugendliche lieben sie. Klassischer<br />

Schinken-Käse Wrap mit viel Grün:<br />

bester Schinken und Käse vom Bauern Ihres<br />

Vertrauens, kernweiches Ei, und dazu Grün<br />

und Bunt aus dem Garten und von der Wiese:<br />

Wintersalate, Gartenkresse, Sauerampfer,<br />

Wiesenbärenklau, frische Blattsalate, Veilchen,<br />

Taglilienblüten, Vogelmiere, Rote Gartenmelde<br />

… Den Wrap dick mit knackigem<br />

Grün befüllen und einrollen. Vegetarischer<br />

Wrap mit Frischkäse: Brennnesselspitzen<br />

blanchieren, abtropfen und abkühlen lassen.<br />

Zusammen mit gequetschtem Knoblauch,<br />

Zitronensaft, Salz, etwas Muskatnuss und<br />

Frischkäse verrühren. Die Wraps mit dem<br />

Brennnesselfrischkäse und knackigen frischen<br />

Salatblättern befüllen.<br />

Also, Frühlingserwachen, raus mit uns, und<br />

wer einen Garten hat ist jetzt wahrscheinlich<br />

so richtig motiviert, alles wieder in<br />

Form und zum Blühen zu bringen. Ich auf<br />

jeden Fall :-)! Darum hier noch ein kleiner<br />

Gartentipp: Wenn sich der Boden erwärmt<br />

hat und die Keimlinge im Garten sprießen,<br />

die mehrjährigen Stauden wieder austreiben<br />

und ein Großteil der Gemüsepflanzen<br />

gepflanzt sind, dann sollte der restliche<br />

offene Boden zwischen den Gemüsereihen,<br />

Blumen oder Sträuchern wieder gut bedeckt<br />

werden. Mulchen ist mittlerweile kein<br />

Fremdwort mehr und etwas sehr Wichtiges,<br />

gerade in unserer Region. <strong>Das</strong> wichtige Bodenleben,<br />

die Mikroorganismen, die unter<br />

anderem für Nährstoffe im Boden zuständig<br />

sind, leiden unter starken Witterungseinflüssen<br />

wie Frost, Trockenheit, Hitze und<br />

direkter Sonneneinstrahlung. Unsere Böden,<br />

die meist sehr lehmig und verdichtet<br />

sind, verschlämmen bei Starkregen, welcher<br />

immer häufiger vorkommt. Die ungeschützte<br />

Oberfläche des Bodens wird dabei sehr<br />

hart. Es entsteht eine Kruste, die kaum<br />

Sauerstoff durchlässt und im Frühling von<br />

manchen Sämlingen nicht durchdrungen<br />

werden kann. Schützen wir unsere Böden so<br />

gut wir können, damit sie fruchtbar bleiben<br />

– und im nächsten Frühling wieder ergrünen<br />

können!<br />

4 MAGAZIN „LEBENSKULTUR“ - STADT FELDBACH


In der Zukunft nichts Neues<br />

Wir schreiben das Jahr 2072. In gar<br />

nicht allzu ferner Zukunft kommt alles wieder<br />

ganz anders, oder genauso wie man<br />

denkt. Die Regierung besteht inzwischen<br />

aus fünf Parteien, die sich überhaupt nicht<br />

mögen, aber gerade solche Beziehungen<br />

halten länger. Diese Regierung macht das,<br />

was sie immer tut, wenn es Probleme gibt,<br />

sie tritt zusammen, beschließt eine Sonderkommission<br />

für Sonderfälle einzusetzen<br />

und geht wieder auseinander. Die Menschen<br />

merken irgendwie, dass das nicht ganz in<br />

Ordnung ist und schimpfen über die Regierung.<br />

Viel lieber reden sie aber über die<br />

gute alte Zeit, in der alles besser war.<br />

So wurden in den dreißiger Jahren alle benzinbetriebenen<br />

Autos eingezogen und durch<br />

Elektroautos ersetzt. In den vierziger Jahren<br />

wurde der afrikanische Kontinent mit Akkus<br />

von desolaten E-Autos überschwemmt,<br />

was Umweltkatastrophen und Vergiftungserscheinungen<br />

der dortigen Bevölkerung<br />

zur Folge hatte. Da sich in Afrika die Bewegung<br />

„Saturdays for Futures“ (am Freitag<br />

mussten sie arbeiten) heftig zur Wehr<br />

setzte, war die Autoindustrie gezwungen,<br />

die Produktion der E-Autos einzustellen.<br />

In den fünfziger Jahren tauchten plötzlich<br />

neue Autos auf, von denen keiner wusste,<br />

womit sie betrieben wurden, man munkelte,<br />

es sei wieder das gute alte Benzin. Großbritannien<br />

ist wieder der EU beigetreten, dafür<br />

sind Schottland, Wales und Nordirland aus<br />

Großbritannien ausgetreten. In den sechziger<br />

Jahren gab es endlich etwas Erfreuliches<br />

zu berichten. Einhundert Jahre „The<br />

Beatles“ und „The Rolling Stones“ wurde<br />

gefeiert. Die großen Konzerthäuser rund um<br />

VON FRANZ JURECEK<br />

den Globus spielten die großen Klassiker<br />

dieser beiden Bands, und die inzwischen<br />

hochbetagten Kinder von Mick Jagger, John<br />

Lennon und Paul McCartney mussten immer<br />

wieder antanzen.<br />

Nur noch wenige erinnerten sich an die<br />

zwanziger Jahre, an die Pandemie und an die<br />

damit verbundenen Lebensumstellungen. Es<br />

sind allerdings sehr viele Gepflogenheiten<br />

aus dieser Zeit geblieben, wie Verhaltensforscher<br />

feststellten. Der Händedruck ist<br />

einer (japanischen) Verbeugung gewichen.<br />

Auf Dating-Portalen geben sehr viele Impfverweigerer<br />

„entwurmt“ als positive Eigenschaft<br />

an. Obwohl die Maskenpflicht längst<br />

aufgehoben wurde, erfolgt das erste Date<br />

meist mit Maske. Wenn diese nach einigen<br />

Wochen abgenommen wird, ist vom Gegenüber<br />

oft ein überraschter Gesichtsausdruck<br />

wahrzunehmen. Bei Rockkonzerten hat sich<br />

ein Abstand von zwei Metern im Publikum<br />

eingebürgert, dieser Abstand kann sich je<br />

nach Alkoholisierungsgrad entsprechend<br />

verringern. Und es gibt Leute, die sammeln<br />

Klopapier statt Briefmarken.<br />

Im Gesundheitsbereich wurde inzwischen<br />

eine Impfung entwickelt, die gegen alle bekannten<br />

Viren wirkt und unmittelbar nach<br />

der Geburt verabreicht wird. Inzwischen<br />

arbeitet man daran, diesen Impfstoff mit<br />

den Genen weiter zu geben, so dass künftig<br />

überhaupt keine Impfung mehr notwendig<br />

ist. Impfgegner wollen neuerdings für eine<br />

Impfung demonstrieren, da es diese nicht<br />

mehr gibt. Und da sich das nicht mehr ändern<br />

lässt, wird von einem Teil der Impfgegner<br />

überlegt, rückwirkend gegen diese<br />

Impfung zu demonstrieren. Bei diesen Demonstrationen<br />

werden neuerdings Masken<br />

getragen, weil sich die Menschen nichts<br />

vorschreiben lassen wollen. Es wurden mehrere<br />

Anzeigen getätigt, da seit der Aufhebung<br />

der Maskenpflicht wieder das Vermummungsverbot<br />

gilt. Die Regierung kündigt<br />

eine Maskenverbotspflicht für das ganze<br />

Jahr an und beruft sich dabei auf irgendeine<br />

Sonderkommission. Dieses Verbot kann<br />

in vereinzelten Regionen am 5. Dezember<br />

fallweise aufgehoben werden.<br />

In den Krankenhäusern hofft man hingegen<br />

auf Impfdurchbrüche, damit endlich wieder<br />

Patienten aufgenommen werden. Seit der<br />

neuen Impfung hat die Zahl der Patienten<br />

ständig abgenommen. Die Ärzte sitzen mit<br />

den verbliebenen Impfgegnern aus den<br />

zwanziger und dreißiger Jahren zusammen<br />

und spielen mit ihnen „Ich sehe was, was<br />

du nicht siehst“. Die Impfgegner nennen das<br />

Spiel hingegen „Ich sehe nichts, wo du was<br />

siehst“. Die Regierung beschließt daraufhin,<br />

solche Spiele zwischen Arzt und Patienten<br />

zu verbieten (Empfehlung SOKO LKH). Vorläufig<br />

sind allerdings keine Strafen vorgesehen.<br />

Die Opposition wirft der Regierung vor,<br />

das Land zu spalten. Die Opposition besteht<br />

aus vier Parteien und wächst hin und wieder<br />

durch Abspaltung einzelner Abgeordneter<br />

auf sechs bis acht Parteien an. Seit Jahrzehnten<br />

spricht man von einer Spaltung<br />

des Landes, doch es gibt einen Lichtblick.<br />

In sechs Jahren, am 21. Juni 2078, feiert<br />

ganz Österreich das hundertjährige Jubiläum<br />

des Sieges über Deutschland in Cordoba.<br />

Und das ganze Land ist wieder geeint, wenn<br />

auch nur für einen Tag.<br />

5


Wie schön, ein Provinzler zu sein<br />

„Sag‘, fällt dir da draußen nicht manchmal<br />

die Decke auf den Kopf?“, fragte mich ein<br />

lieber Freund, der in Graz lebt. Er spielte auf<br />

unseren Wohnsitz im hintersten Winkel eines<br />

Seitentales an. Dort sagen einander nicht nur<br />

Hase und Fuchs, sondern auch Waldkauz und<br />

Rehbock gute Nacht. Und Wildtauben gurren<br />

ihr charmantes Guten Morgen, begleitet vom<br />

Stakkato des Schwarzspechts und beendet<br />

von einem lapidaren einfachen „Dutt“ (im<br />

Gegensatz zum „Dutt-dutt“ der Haustaube).<br />

Welche Decke sollte einem da auf den Kopf<br />

fallen? In klaren, trockenen Nächten besteht<br />

sie aus einem prächtigen Sternenhimmel,<br />

den man in der Stadt mit ihrem permanenten<br />

Elektrosmog nur erahnen kann. Aber der<br />

Freund meinte es natürlich anders. Er spielte<br />

darauf an, dass bei uns halt nichts los ist,<br />

wie man so sagt. Wir leben ja in der tiefsten<br />

Provinz, sind also Provinzler, um nicht zu sagen<br />

Hinterwäldler.<br />

Dazu fallen mir spontan die Bewohner des<br />

Hinteren Bregenzerwaldes ein. Die sind nämlich<br />

genau darauf mächtig stolz. Für sie ist<br />

der Hintere Bregenzerwald der echte Bregenzerwald.<br />

Und da der Bregenzerwald nicht nur<br />

in Vorarlberg, sondern im ganzen restlichen<br />

Österreich und darüber hinaus wegen seiner<br />

Landschaft, seiner Architektur und seiner kulinarischen<br />

Spezialitäten (Käse!) sehr positiv<br />

besetzt ist, kann man diese Haltung nachvollziehen.<br />

Man könnte sie freilich erst recht<br />

hinterwäldlerisch nennen. Aber vermutlich<br />

würden das die Hinterwälder (ohne hinteres<br />

„l“!) erst recht als Kompliment auffassen.<br />

Ohne den Hinterwäldern nahetreten zu wollen:<br />

Vielleicht wird der geografische Provinzler<br />

erst dadurch zum bespöttelten Provinzler,<br />

dass er entweder kein Provinzler sein will<br />

oder aber seinen Lebensraum zum Paradies<br />

hochstilisiert, auf das andere nur neidisch<br />

sein können. Und vielleicht hilft es, nach<br />

der Herkunft des Begriffes zu fragen. Provinz<br />

kommt vom lateinischen provincia (aus „pro“<br />

VON JOSEF KIRCHENGAST (nach einer Idee von Helga Kirchengast)<br />

– „für“, und „vincere“ – „siegen“). Im engeren<br />

Sinn bezeichnete Provinz ein außerhalb<br />

Italiens liegendes, erobertes, unter römischer<br />

Herrschaft stehendes Gebiet. Bewohner von<br />

Provinzen hatten erheblich geringere Rechte<br />

als „echte“ Römer. (Eindrucksvoll geschildert,<br />

unter anderem, in Robert Harris‘ Roman „Imperium“,<br />

dem ersten Teil einer mitreißenden<br />

Trilogie über Cicero.) Der Provinzler im Römischen<br />

Reich war also ein Bürger zweiter<br />

Klasse. Offensichtlich rührt daher auch der<br />

negative Beigeschmack des Wortes Provinz.<br />

Rom, damals (eingebildetes) Zentrum der<br />

Welt, dessen Aufgabe es ist, allen anderen<br />

Völkern Zivilisation und Kultur zu bringen:<br />

Wie dieser Hochmut endete, ist bekannt. Und<br />

trotzdem tragen wir, die Nachfahren der damaligen<br />

Provinzler, ein nicht so kleines Stück<br />

römischer Kultur in und mit uns.<br />

„Die Provinz des Menschen“ nannte Elias<br />

Canetti (1905-1994, Literaturnobelpreis<br />

1981) seine Aufzeichnungen aus 30 Jahren,<br />

von 1942 bis 1972. Diese Aufzeichnungen,<br />

oft nur einige Zeilen, selten mehrere Seiten,<br />

gehen weit über ein Tagebuch hinaus.<br />

Es sind Stationen eines fortlaufenden<br />

Denkprozesses, Zeugnisse eines Mensch-<br />

Seins, dessen Unvoreingenommenheit und<br />

Kreativität kaum Grenzen gesetzt sind. Die<br />

Provinz des Menschen – das ist für Canetti<br />

die Literatur. Der in Worte gefasste Prozess<br />

der Mensch-Werdung, wenn man so will. In<br />

Bulgarien geboren, erlernte Canetti erst mit<br />

zwölf Jahren die deutsche Sprache. Als Kind<br />

und später als junger Erwachsener lebte er<br />

viele Jahre in Wien. Deutsch wurde, wie er<br />

in der Provinz des Menschen bekennt, seine<br />

eigentliche Heimat: „Die Sprache meines<br />

Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar<br />

weil ich Jude bin.“ Es kennzeichnet die Tragik<br />

unzähliger Juden in der mittel- und osteuropäischen<br />

„Provinz“, dass Deutsch ihre<br />

Sprache der Kultur und zugleich die Sprache<br />

ihrer Mörder war. Im Sinne Canettis ist die<br />

Provinz also der Ort, wo der Mensch sein<br />

eigentliches Zuhause findet. Damit erhält<br />

auch der ursprüngliche Wortsinn eine andere<br />

Bedeutung: Provinz als Ort, den ich für mich<br />

„besiegt“, also bewusst als Lebens- und Entfaltungsraum<br />

gewählt habe. <strong>Das</strong> kann, muss<br />

aber nicht das Dorf, die Stadt, die Region<br />

sein, wo ich aufgewachsen bin. Entscheidend<br />

ist, dass ich mich bewusst für diesen Ort entschieden<br />

habe oder ihn bewusst akzeptiere.<br />

Ob an einem solchen<br />

Ort „etwas<br />

los“ ist, hängt somit<br />

zu einem Gutteil<br />

von mir selbst<br />

ab, von meinem<br />

Beitrag zum kulturellen<br />

und gesellschaftlichen<br />

Leben. Ganz abgesehen<br />

davon, dass Provinzler sowieso immer die<br />

anderen sind. Für die Wiener, beispielsweise,<br />

die Grazer; für die Grazer, beispielsweise, die<br />

Feldbacher; für die städtischen Feldbacher,<br />

beispielsweise, die Mühldorfer; für die Mühldorfer:<br />

die Petersdorfer. Ein solcher wurde<br />

ich zunächst eher zufällig. Ein solcher bin<br />

ich inzwischen bewusst. Und zugleich ein<br />

Feldbacher, ein Steirer, ein Österreicher, ein<br />

Europäer, ein Erdenbürger. Von hinten her<br />

betrachtet also immer ein Provinzler.<br />

Fairerweise muss ich bekennen, dass es mir<br />

das vielfältige kulturelle und gesellschaftliche<br />

Leben und das kulinarische Angebot in<br />

der Region leicht machen, mich als Provinzler<br />

zu bekennen. Konsumieren allein aber<br />

kann – buchstäblich – nicht abendfüllend<br />

sein. Wer in einer Großstadt das Angebot der<br />

sogenannten Hochkultur nutzt und regelmäßig<br />

ins Theater, in die Oper, in den Konzertsaal<br />

geht, selbst aber nicht das Geringste<br />

zum Gemeinschaftsleben beiträgt, hat kein<br />

Recht, über vermeintliche Provinzler die<br />

Nase zu rümpfen. <strong>Das</strong> macht ihm übrigens<br />

schon ein kurzer Trip auf der südoststeirischen<br />

Route 66 klar.<br />

Mehr lesen von<br />

Josef Kirchengast im Blog:<br />

www.joekirchengast.wordpress.com<br />

6 MAGAZIN „LEBENSKULTUR“ - STADT FELDBACH


Ohne Worte – wie soll da ein Text entstehen?<br />

Hm, schwierig. „Da bin ich sprachlos“:<br />

<strong>Das</strong> kann positive Anerkennung sein,<br />

dass jemand die Grenzen meiner sprachlichen<br />

Ausdrucksfähigkeit übersteigt, ist<br />

aber gleichzeitig das Eingeständnis, dass<br />

meine Sprache nicht ausreicht und ich<br />

nichts (mehr) zu sagen habe. Wir sind auf<br />

Worte, auf Wort-Sprache angewiesen, um<br />

uns mitzuteilen, verständlich zu machen<br />

(und stoßen dabei immer wieder an Grenzen).<br />

Sprache/Sprechen bedeutet „Macht“<br />

haben, „gewaltig“ sein (sprachmächtig,<br />

Sprachgewalt).<br />

Warum also „Ohne Worte“? Anlässe: Unlängst<br />

feierte R(einhard) P(eter) Gruber<br />

(*1947, Fohnsdorf), der den Ur-Steirer<br />

„Hödlmoser“ 1973 in diese Welt entließ,<br />

seinen 75. Geburtstag. Gruber war mehrmals<br />

in Feldbach zu Gast, u.a. auch mit<br />

seinen kongenialen „Asterix auf Steirisch“<br />

– Übertragungen. Sein Hödlmoser ist in<br />

seiner Sprach-„Gewalt“, besser: „Sprach-<br />

Un-Kunst“ oder Sprach-Losigkeit reduziert<br />

(er verfügt in der Sprache der Kommunikationstheorie<br />

nur über einen Restricted Code<br />

[RC], also einen sehr geringen Wortschatz.<br />

Und dort, wo die Worte fehlen, dort tritt als<br />

„Ersatz“ oft die pure Gewalt der Fäuste an<br />

ihre Stelle):<br />

gesprochen wird in einem wirtshaus in köflach,<br />

im tiefen westen der steiermark.<br />

köflacher bauer: „wouhea beistn tou?“<br />

obersteirischer bauer: „neit fa to.“<br />

k.b.: „sou schaust a aus, tou bleita troutl!“<br />

o.b.: „hoiti papm, du westschtairische oaschsau!“<br />

10 köflacher springen von ihren tischen auf.<br />

die steirischen krankenkassen bleiben weiterhin<br />

defizitär.<br />

Noch tiefer reichen Erinnerungen an Franz<br />

Innerhofer, (*1944, Krimml, Salzburg,<br />

+ 2002, Graz), dessen 20. Todestag Bilder<br />

an einen kurz vor dem Ende seiner Verzweiflung<br />

Stehenden wiedererwecken; auch er<br />

war in Feldbach – damals bereits in ziemlich<br />

desolatem Zustand – zu Gast.<br />

VON WERNER KÖLLDORFER<br />

Ohne Worte<br />

Warum also diese Überschrift? Weil es einer<br />

geschafft hat, mit seiner („Helden“)-Figur,<br />

einem spracharmen, redefaulen Steirer, einen<br />

kultisch verehrten „Typen“ zu erschaffen<br />

– der Autor selbst, er studierte in Wien,<br />

sich in der Welt der Wörter, der Sprache,<br />

sehr gut zu bewegen wusste/weiß ... Er<br />

verfügt(e) über einen sehr „elaborierten<br />

Code“ (EC), einen hoch entwickelten Wortschatz,<br />

der ihm seine Sprach-Gewalt, sein<br />

Spiel mit Sprache ermöglichte.<br />

Sprache und Sprechen stehen für Macht/<br />

Ohnmacht im realen Leben/im Beruf/in<br />

den Beziehungen. Wer nicht über (ausreichend)<br />

Sprache verfügt, ist macht-los, der<br />

hat nichts zu sagen (aus Mangel an Worten<br />

und Bildern im Kopf) und wenig zu<br />

reden (was seinen Einfluss, seine „Macht“<br />

betrifft). Sprache und Sprechen als Eintrittskarten<br />

in eine Welt der Vielfalt, der<br />

Möglichkeiten, wenig Sprache als Hindernis<br />

für ein abwechslungsreiches Leben, als Reduktion<br />

auf ein Leben in Unfreiheit. „Eine<br />

Sprache mehr, ein Leben mehr.“ (Benjamin<br />

L. Whorf) Was bedeutet da demgemäß erst<br />

das Können/Kaum-Können nur seiner eigenen<br />

(Mutter-)Sprache? „Die Grenzen meiner<br />

Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ (L.<br />

Wittgenstein) Wer wenig Sprache hat, hat<br />

auch nur einen kleinen (Denk-)Horizont,<br />

was sich meist auch in seinem (sozialen)<br />

Umfeld/Umgang auswirkt.<br />

Wer mehr Sprache(n) (Wörter) hat, der<br />

wird (geistig) flexibler, der hat mehr „Bilder“/Ideen/Verstand/Verständnis<br />

im Kopf,<br />

der kann sich nicht nur „etwas“ Diffuses,<br />

sondern „vieles“ (Reales, Mögliches) vorstellen,<br />

denn: „Worüber du nicht reden<br />

kannst, da musst du schweigen“ (wieder<br />

Wittgenstein), wo du kein Bild (=Wort) im<br />

Kopf hast, darüber kannst du logischerweise<br />

auch nicht sprechen, das gibt es für dich<br />

auch gar nicht. Alle unsere „Bilder“ im Kopf<br />

(Ideen, Wünsche, Ausdrucksmöglichkeiten<br />

…) sind sprachgebunden: Wo kein Wort,<br />

da auch kein Bild, d.h. da bleibt gar nichts.<br />

Als Mädchen/Frau (Mädchen/Frauen haben<br />

in unserer Welt in der Regel mehr Sprachkompetenzen<br />

als Burschen/Männer, werden<br />

aber anders kurz/kürzer gehalten als durch<br />

die Sprache) gehst du „ohne Worte“ „den<br />

Weg in die Heirat oder sonst irgendwie zugrunde.“<br />

(Elfriede Jelinek, „Die Liebhaberinnen“)<br />

Wer die Sprache hat, über sie verfügen kann,<br />

der hat auch die Macht (wie man das derzeit<br />

im Krieg gegen das freie Wort, die Pressefreiheit<br />

in Russland so abstoßend deutlich<br />

vorgeführt bekommt!). Wer die Sprache hat,<br />

bestimmt die Worte, die Meinungen, die<br />

„Wahrheit“ (schlag nach bei George Orwell,<br />

„1984“). Wortmonopol bedeutet Macht, und<br />

Macht „be-recht-igt“ (welches Recht?) zur<br />

Anwendung von realer Gewalt (Erniedrigen,<br />

Ausgrenzen, Verprügeln, Vergewaltigen,<br />

Wegsperren, Ermorden). Karl Kraus nannte<br />

eine „verluderte Sprache“ verantwortlich<br />

für eine verluderte Politik. Wer die Hoheit<br />

über die Sprache hat, der dominiert, hat das<br />

Gewaltmonopol. <strong>Das</strong> heißt, es gibt „die da<br />

oben“ und „die da unten“ – und Unebenbürtigkeit<br />

führt immer zu ausgeübter/erlittener<br />

Gewalt, das sind Allmachtsfantasien<br />

auf der einen Seite, Hilf- und Machtlosigkeit,<br />

Ohnmachtsgefühle auf der anderen<br />

Seite. Wer auch „nur“ sprachliche Ohnmacht<br />

erlebt, der sucht sich/braucht (nach Alfred<br />

Adler) auf der „sozialen Hühnerleiter“ zu<br />

seiner eigenen Psychohygiene jemanden,<br />

der noch weiter unten steht, und wenn die<br />

Wörter nicht ausreichen, weil man sie nicht<br />

hat, dann bleibt nur die körperliche Gewalt<br />

anstelle der verbalen: „Und willst/kannst<br />

du nicht (freiwillig) mein ‚Bruder‘ sein, so<br />

schlag ich dir den Schädel ein!“<br />

Dieses Scheitern zwischen einer Welt der<br />

Nicht-Sprache und einer Welt voller Sprache<br />

ist es, die den Wert/die Notwendigkeit<br />

von Schule und Bildung aufzeigen.<br />

Sprach-Können ist Voraussetzung für ein<br />

Leben zumindest in der Möglichkeit des<br />

Glücklich-Seins. Innerhofer besuchte kaum<br />

die Grund-/Pflichtschule (er durfte dies<br />

nicht!), Wolfgruber verließ die Hauptschule<br />

mit der Meinung, dass er neun Jahre vollkommen<br />

umsonst die Schule „vergeudet“<br />

habe. (Wolfgruber, „Auf freiem Fuß“) Beide<br />

erkannten den Wert von Bildung, von Lesen<br />

(!) als Voraussetzung für Denken und Sichausdrücken-Können,<br />

machten als berufstätige<br />

Erwachsene die Abendmatura. Auch<br />

andere Altersgenossen Innerhofers, alle aus<br />

dem deutschen Raum, schmissen ebenfalls<br />

früh die Schule, kamen aber darauf, dass<br />

ohne Schule, ohne Bildung das Leben schon<br />

gar/erst recht nicht das war, was sie gern<br />

gehabt hätten (Beispiel: G. Wolfgruber,<br />

„Niemandsland“), und die deshalb Abendmatura<br />

nachmachten und sich mit Verspätung,<br />

aber großer Willenskraft ihren Weg<br />

ans „Licht der Bildung“ freikämpften, auch<br />

wenn die anschließenden „Herrenjahre“<br />

(wieder Wolfgruber) auch desillusionierend<br />

sein konnten. Bildung ist nicht automatisch<br />

das Himmelreich, aber gibt zumindest die<br />

Möglichkeit der Himmelsleiter in die Hand.<br />

7


Die Hexen meiner Kindheit<br />

„Morgens früh um sechs<br />

kommt die kleine Hex‘.<br />

Morgens früh um sieb‘n<br />

schabt sie gelbe Rüb‘n.<br />

Morgens früh um acht<br />

wird Kaffee gemacht.<br />

Morgens früh um neun<br />

geht sie in die Scheun‘.<br />

Morgens früh um zehn<br />

holt sie Holz und Spän‘.<br />

Feuert an um elf,<br />

kocht dann bis um zwölf.<br />

Fröschebein und Krebs und Fisch,<br />

hurtig Kinder, kommt zu Tisch!“<br />

Sie zu fragen, ob Sie dieses Gedicht kennen,<br />

ist gewiss überflüssig. Ein Blick ins Internet<br />

zeigt, dass es sich bis heute bei vielen<br />

Kindern großer Beliebtheit erfreut. Ich<br />

lernte „Die kleine Hexe“ in der ersten Klasse<br />

Volksschule kennen und lieben und sie blieb<br />

mir in bester Erinnerung. Doch schon vorher<br />

begegneten mir andere, nämlich böse<br />

Hexen in den Märchen. Meine Mutter erzählte<br />

mir diese in einer einfühlsamen Art und<br />

Weise, sodass bei mir nicht die Angst vor<br />

dem Bösen im Vordergrund stand sondern<br />

der Sieg des Guten.<br />

Dank der Brüder Jacob (1785-1883) und<br />

Wilhelm (1786-1859) Grimm sind uns über<br />

200 Märchen und Legenden in ihrer berühmten<br />

Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“<br />

erhalten geblieben; in einigen spielen<br />

natürlich auch Hexen eine Rolle. Die<br />

Berühmteste von ihnen ist wohl die böse<br />

Hexe bei „Hänsel und Gretel“. Ihre Illustrationen<br />

aus den „Kinder- und Hausmärchen“<br />

sind bis heute populär: eine alte, bucklige<br />

Frau mit großer, krummer Nase und einer<br />

Warze darauf; natürlich dürfen auch die<br />

schwarze Katze und der Rabe nicht fehlen.<br />

„Hu, hu, da schaut eine alte Hexe raus“ -<br />

diese Zeile aus dem Kinderlied „Hänsel und<br />

Gretel“ gehörte schon vor der Schulzeit zu<br />

meinen Liedern, ohne dabei an Kannibalismus<br />

gedacht zu haben. <strong>Das</strong> war mir ganz<br />

und gar fremd.<br />

Mein erstes Faschingskostüm – ich war damals<br />

sieben Jahre alt – war nicht Cowboy<br />

oder Indianer sondern Hexe. Es war mein<br />

Wunsch, hatte mir viel Spaß gemacht und ich<br />

wurde von den anderen Kindern auch nicht<br />

gejagt. Ich wusste damals auch nichts von<br />

einer „Hexenverfolgung“ in früheren Zeiten.<br />

Kurze Zeit darauf bekam ich von meinen Eltern<br />

zwei lustige Bücher des deutschsprachigen<br />

Kinderbuchautors Otfried Preußler<br />

VON RAINER MATTHÄUS PARZMAIR<br />

geschenkt: „Räuber Hotzenplotz“ und „Die<br />

kleine Hexe“. Ich las beide mehrmals mit<br />

Begeisterung. Gerade im zweiten Buch von<br />

Preußler aus dem Jahr 1957 stieß ich zum<br />

ersten Mal auf eine Hexe, die gut werden<br />

wollte. Der im „jugendlichen“ Alter von<br />

127 Jahren stehenden kleinen Hexe mit<br />

ihrem Raben Abraxas gelang es, die bösen<br />

Hexen zu besiegen. Der Blocksberg, der in<br />

der Erzählung eine wichtige Rolle spielt,<br />

ist mit dem niedersächsischen Brocken im<br />

Harz ident. Im 16. Jahrhundert wird dieser<br />

Berg als Versammlungsort der Hexen in der<br />

Walpurgisnacht genannt. Heutzutage feiern<br />

viele Touristen, aber auch solche, die<br />

meinen, Hexen zu sein, am Blocksberg vom<br />

30. <strong>April</strong> auf den 1. Mai die Walpurgisnacht.<br />

<strong>Das</strong> Datum ist auch verantwortlich, dass es<br />

von mir in dieser <strong>April</strong>-<strong>Ausgabe</strong> den ersten<br />

Teil zum Thema „Hexen“ gibt. Gestatten<br />

Sie mir an dieser Stelle noch eine kleine<br />

Anmerkung: Nicht von ungefähr trägt das<br />

Mädchen Bibi, eine hilfsbereite Hexe, auch<br />

den Namen „Blocksberg“.<br />

Zum Glück hatte meine Familie bereits in<br />

den 1960er-Jahren einen Fernseher. Warum<br />

ich von Glück spreche? Ich durfte eine<br />

liebe Hexe und einen guten Geist kennenlernen.<br />

Es dreht sich dabei um die US-amerikanischen<br />

Fernsehserien „Verliebt in eine<br />

Hexe“ und „Bezaubernde Jeannie“. Da das<br />

damalige Kinderprogramm im ORF nicht besonders<br />

reichhaltig war, zählten die beiden<br />

Serien zu meinen „Highlights“. Die Schauspielerin<br />

Elizabeth Montgomery verkörperte<br />

die liebenswerte Hexe „Samantha“, deren<br />

Ehemann Darrin nicht magisch begabt war.<br />

<strong>Das</strong> Besondere an Samantha war, dass sie<br />

zum Hexen keinen Zauberstab brauchte.<br />

Sie brauchte nur mit ihrer Nase zu wackeln<br />

und schon erfüllten sich ihre Wünsche. <strong>Das</strong><br />

herrliche Nasen-Wackeln der Hexe prägte<br />

sich fest in mein Gedächtnis ein. Die bezaubernde<br />

Jeannie in der anderen Serie war<br />

ein orientalischer, persisch sprechender,<br />

guter Geist. Nach 2000 Jahren wurde sie<br />

von ihrem späteren Ehemann Tony aus einer<br />

Flasche befreit. <strong>Das</strong> unvergessliche Markenzeichen<br />

von Jeannie beim Zaubern war das<br />

Verschränken der Arme und das Blinzeln mit<br />

den Augen. Die Rolle des Flaschengeistes<br />

spielte die „bezaubernde“ Schauspielerin<br />

Barbara Eden, die voriges Jahr ihr neunzigstes<br />

Lebensjahr vollendete.<br />

Gute und böse Hexen begleiteten mich in<br />

meiner Kindheit, ohne negative Auswirkungen<br />

auf meine Psyche zu nehmen. Es gab<br />

niemanden, der mir mit diesen fiktiven Figuren<br />

Angst machen wollte, und schon früh<br />

konnte ich sie von der Wirklichkeit trennen.<br />

Heute werden immer wieder Stimmen laut,<br />

die meinen, dass die brutalen Märchen für<br />

Kinder unzumutbar sind. Im Vorjahr fand<br />

ich zu diesem Thema einen interessanten<br />

Zeitungsartikel der Kinderpsychologin Dagmar<br />

Zahradnik aus Wien; er lautet: „Sind<br />

Märchen rückständig oder zeitlose Klassiker?“<br />

Unter anderem hielt die Psychologin<br />

folgendes fest: „Grausamkeit, die Erwachsene<br />

in die Märchengeschichten interpretieren,<br />

nehmen Kinder nicht so ausgeprägt<br />

wahr. Die bildliche Vorstellung der in den<br />

Ofen geschubsten und verbrennenden Hexe<br />

ist objektiv gesehen durchaus ein grausamer<br />

Akt. Jedoch empfinden Kinder dies im<br />

situativen Kontext der Geschichte eher als<br />

gerecht.“<br />

Im nächsten „<strong>Magazin</strong>“ werde ich die Märchen-Hexen<br />

zurücklassen und mich auf<br />

Spurensuche nach den Hexen der Vergangenheit<br />

und Gegenwart begeben. Vielleicht<br />

haben Sie inzwischen einmal Zeit, über Ihre<br />

eigenen Hexenerfahrungen der Kindertage<br />

nachzudenken.<br />

8 MAGAZIN „LEBENSKULTUR“ - STADT FELDBACH


VON MARIELLA SCHAUPERL<br />

Zwischen Dolce Vita und<br />

undichten Dächern<br />

Mein Umzug an den “Caput Mundi”<br />

Mitte 2021, irgendwo zwischen Lockdowns,<br />

Reisebeschränkungen und Sommerhitze,<br />

beschloss ich meinem Leben einen<br />

neuen Twist zu geben und mein (pandemiebedingtes)<br />

Online-Masterstudium nun<br />

in Präsenz fortzusetzen. Semiprofessionell<br />

vorbereitet und voller Freude auf einen<br />

neuen Lebensabschnitt zog es mich in den<br />

Süden – in die “Eternal City”, das wunderschöne<br />

Rom. Mein Leben fühlte sich für<br />

kurze Zeit an wie im Bilderbuch: Modestudium<br />

in Italien, täglich Sonnenschein und<br />

Aperolspritz wohin das Auge reicht – Dolce<br />

Vita hautnah. Doch, wie lebt es sich wirklich<br />

am “Nabel der Welt”? Alles Pizza, Pasta,<br />

Bella Ciao? Wo auch immer man lebt,<br />

es gibt natürlich überall Vor- und Nachteile,<br />

und wie man wohl vermuten mag, hat auch<br />

das Leben in der Millionenstadt nicht nur<br />

seine Sonnenseiten – das durfte ich sehr<br />

schnell erfahren. Mir wurde bewusst: “It is<br />

what it is” – manche Dinge muss man eben<br />

einfach akzeptieren, dann lebt es sich viel<br />

glücklicher.<br />

Begonnen hat meine “Reise der Akzeptanz”<br />

Anfang November, als ich nach ein paar Tagen<br />

Heimaturlaub, mit Flugverspätung und<br />

Zugstreik, gegen Mitternacht endlich wieder<br />

in der römischen Innenstadt ankam.<br />

Klatschnass vom Regen und hundemüde von<br />

der Reise betrat ich meine Wohnung. Als<br />

ich die Tür öffnete, schlug mir bereits ein<br />

kalter Luftzug ins Gesicht. Kurz darauf fand<br />

ich meine Küchenzeile total überschwemmt<br />

vor. Es tropfte noch immer von der Decke,<br />

daher entwickelte sich das Aufwischen mehr<br />

oder weniger zu einer Sisyphusarbeit. Ich<br />

beschloss, meine Vermieterin, eine etwas<br />

ältere, sehr liebenswerte Lady aus Palermo,<br />

anzurufen. Diese reagierte wenig schockiert<br />

und erzählte mir, ich sei die Dritte ihrer<br />

Mieter, die deswegen anriefe. Am nächsten<br />

Tag kamen dann die Herren von der Hausverwaltung.<br />

Diese waren gerade dabei, circa<br />

30 Wohnungen, alle von dem Gewitter<br />

beschädigt, abzuklappern. Nach drei Besuchen<br />

dieser Herren regnet es nun endlich<br />

nicht mehr in meine Wohnung (welche sich<br />

übrigens nicht im Dachgeschoß befindet).<br />

Gut einen Monat nach dem “stärksten Regen<br />

seit Jahren” (wie mir einige Römer<br />

versicherten), wachte ich frühmorgens<br />

mit nassem Gesicht auf – Wasserrohrbruch<br />

in der Wohnung über mir. Da ich wusste,<br />

jeder Mensch, der mir in diesem Moment<br />

helfen konnte, schläft noch, blieb mir nicht<br />

viel mehr übrig als die Situation zu akzeptierten.<br />

Ich wischte wieder alles weg und<br />

stellte die paar Schüsseln, die ich besitze,<br />

darunter. Am nächsten Nachmittag kamen<br />

dann dieselben Herren wie im Vormonat.<br />

Nach einer sehr langen Observierung der<br />

Situation und einigen Versuchen, das Wasser<br />

zu stoppen, gelang es endlich. Ich weiß<br />

nicht, wie das alles repariert wurde, doch<br />

dem Leichtsinn und dem Materialkoffer<br />

(bestehend aus einem Plastiksackerl) der<br />

Techniker zufolge wäre ich nicht schockiert<br />

gewesen, wenn einfach das gute, alte Gafferband<br />

zum Einsatz gekommen wäre. Doch<br />

wie in jeder Situation gab es auch in dieser<br />

Vorteile: Mein italienischer Wortschatz wurde<br />

erweitert, und ich kenne jetzt Ausdrücke<br />

wie “Scoppio del tubo d’acqua” für “Wasserrohrbruch”<br />

oder “Cazzo, sta ancora gocciolando”<br />

für “Mist, es tropft immer noch”.<br />

Auch wenn meine Wohnung nicht die größte,<br />

dichteste oder modernste ist, habe ich<br />

mich Hals über Kopf in mein kleines Nest<br />

9


verliebt und wahrlich ein zweites Zuhause<br />

darin gefunden. Hierbei spielt natürlich<br />

auch meine Lage eine große Rolle: Sobald<br />

ich mein Appartement verlasse, befinde ich<br />

mich zwischen dem Kolosseum und Vintageshops,<br />

mitten im Stadtteil Monti. Durch die<br />

zentrale Lage, sowie zu viel Pizza und Pasta,<br />

bin ich die meiste Zeit zu Fuß unterwegs.<br />

Hierbei bleibt jedoch zu sagen, dass<br />

ich bei fast jeder Kreuzung ein bisschen um<br />

mein Leben bange, denn das Klischee der<br />

italienischen Straßen kann ich nur bestätigen<br />

– sehr chaotisch, und rote Ampeln sind<br />

mehr oder weniger ein nett gemeinter Vorschlag.<br />

Mir wurde schnell klar, dass Autofahrer<br />

in den meisten Fällen (hoffentlich)<br />

schon wissen, was sie tun und den Fußgängern<br />

einfach ausweichen. Daher Regel Nummer<br />

1: Einfach immer weiter gehen. Auf den<br />

chaotischen Straßen Roms darf natürlich<br />

auch ATAC nicht fehlen. ATAC ist sozusagen<br />

Roms GVB, und die Busse fahren von 6:00<br />

bis 00:00 Uhr – wann genau oder in welchen<br />

Intervallen sei dahingestellt. Da kann<br />

es leicht passieren, dass man eine Stunde<br />

oder auch mehr im strömenden Regen wartet,<br />

denn sie kommen, wann sie wollen. Daher:<br />

Wenn Öffis, dann Metro – etwas, das in<br />

Rom tatsächlich sehr gut funktioniert.<br />

So unorganisiert die Stadt in manchen<br />

Dingen auch zu sein scheint, bei einer<br />

Sache gibt es strenge Regeln: dem Essen.<br />

Die Frage “Wie geht’s dir?” wird prinzipiell<br />

ersetzt durch “Was hast du heute gegessen?”.<br />

And I really think that’s beautiful.<br />

Gestartet wird ein typisches Abendessen<br />

mit Aperitivo, eines meiner liebsten, wenn<br />

nicht sogar das liebste Ding am italienischen<br />

Lifestyle – denn was gibt es besseres<br />

als Spritz und italienisches Essen VOR<br />

italienischem Essen?! Wenn ich die Wahl<br />

hätte, würde ich mein Leben lang Aperitivi<br />

machen. Die zentrale Rolle des Essens im<br />

Leben der Römer wird auch bei den Zeitangaben<br />

klar: Tischreservierungen werden<br />

zum Beispiel einfach nur für “Dopocena”,<br />

also nach dem Abendessen, gemacht. Der<br />

genaue Zeitpunkt dafür ist ungewiss – irgendwann<br />

zwischen 22:00 und 0:00 Uhr<br />

eben. Für mich, einen Menschen, der zu<br />

Pünktlichkeit erzogen wurde, ist das nicht<br />

immer ganz so einfach. Daher habe ich<br />

klare Regeln beim Treffen mit meinen italienischen<br />

Freunden entwickelt: Haus erst<br />

dann verlassen, wenn die andere Person<br />

bereits in der Bar sitzt oder sich einfach<br />

mit dem Smart (dem Lieblingsauto vieler)<br />

abholen lassen.<br />

Doch egal ob Verkehrschaos, undichte Dächer<br />

oder verwirrende Zeitangaben, ich bereue<br />

es keine Sekunde, für mein Masterstudium<br />

nach Rom gezogen zu sein. Alles in<br />

allem habe ich mich bereits gut eingelebt<br />

und komme, Schritt für Schritt, immer besser<br />

mit dem Lebensmotto “Si, ma con calma”<br />

(Ja, aber mit Gemütlichkeit) klar. Aus<br />

Rome wird schön langsam Home. Denn: Wie<br />

kann man sich nicht in diese Stadt verlieben?<br />

Mariella Gianna Schauperl wurde 1996<br />

in Feldbach geboren und schloss im<br />

Herbst 2020 ihr Bachelorstudium<br />

„Informationsdesign, maj. Mediadesign”<br />

an der FH Joanneum in Graz ab.<br />

Im Februar 2021 begann sie ihr<br />

Masterstudium „Fashion Studies” an<br />

der La Sapienza in Rom. Neben ihrem<br />

Studium freelanced die 25-Jährige als<br />

Graphikdesignerin und Fotografin (u.a.<br />

für das regionale Kunstfestival HOCHsommer<br />

Art).<br />

10 MAGAZIN „LEBENSKULTUR“ - STADT FELDBACH


VON STEFAN PREININGER<br />

Was ist – Ein aktuelles Sittenbild<br />

Eine Satire in drei Teilen – Teil 1: Mein Bekannter<br />

Mein Bekannter ist ein echter Ökofuzzi.<br />

Manchmal denk ich mir, er übertreibt seine<br />

Sache. An die Umwelt denken, okay, aber<br />

warum gleich immer auf 120 %? Bevor mein<br />

Bekannter Ökofuzzi wurde, war er so ein richtiger<br />

Investmentfuzzi. Er wurde stinkreich,<br />

indem er in etwas investierte, dass es eigentlich<br />

nicht gibt und mit dem man grundsätzlich<br />

nichts machen kann, das aber unter<br />

enormem Energieverbrauch, Geldwäsche,<br />

Terrorfinanzierung und Transaktionen für<br />

Drogen-, Waffen- und Menschenhandel riesige<br />

Gewinne abwirft. Er hat echt richtig hart<br />

für sein Vermögen gearbeitet. Sein Problem<br />

war, dass er einfach nicht wusste, wohin mit<br />

der Kohle. Es sei nicht leicht, das viele Geld<br />

wieder richtig zu investieren, sagt mein Bekannter.<br />

Man werfe ja auch nicht gern Geld<br />

aus dem Fenster. <strong>Das</strong> hat ihn komplett überfordert.<br />

Burnout.<br />

Er war dann echt ganz unten, der Arme.<br />

Aber dann stand er wieder auf, fasste Mut<br />

und steckte die ganze Knete in ein von ihm<br />

gegründetes Unternehmen. Er hat gesagt:<br />

„Ich möchte der Welt wieder das zurückgeben,<br />

was ich ihr genommen habe. Nachhaltigkeit,<br />

das ist jetzt mein Ding!“ Ihm war<br />

es von Anfang an wichtig, die Hierarchien<br />

in seinem Unternehmen flach zu halten. Die<br />

körperliche Arbeit tue ihm gut. Trotz der<br />

großen Verantwortung steht er auch heute<br />

noch Seite an Seite mit seinen mittlerweile<br />

über 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.<br />

Er auf der einen, die Mitarbeiter auf der anderen<br />

Seite. Die Tätigkeit seiner Belegschaft<br />

besteht, glaube ich, in etwa darin, Schweröl<br />

aus großen Fässern portionsweise in kleine<br />

Schalen zu leeren, das Öl in den Schalen anzuzünden<br />

und die leeren Fässer danach zu<br />

stapeln. Die übriggebliebene Asche kommt<br />

danach in kleine Flaschen. Die Flaschen<br />

werden zur Aufbewahrung in ein Regal gestellt.<br />

Was mit den Flaschen passiert, wissen<br />

sie noch nicht ganz genau. Sie haben aber<br />

überlegt, die Asche präventiv in kleinen Gebinden<br />

abzupacken. „Präsentation ist heute<br />

alles, vor allem bei regional hergestellten<br />

Produkten“, sagt mein Bekannter, „und<br />

nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit<br />

gekommen ist.“ Hinsichtlich der leeren Fässer<br />

arbeiten sie an einer Lösung, diese zu<br />

recyclen. „Der technischen Fortschritt ist ein<br />

Segen“, sagt mein Bekannter, „es finden sich<br />

Lösungen für jedes Problem, irgendwann.“<br />

Sowas, oder etwas Ähnliches, macht er. Er ist<br />

so ein Visionär!<br />

<strong>Das</strong> Business läuft richtig gut. Gerade mussten<br />

sie ein weiteres Grundstück asphaltieren,<br />

um Lagerfläche für die leeren Fässer zu<br />

schaffen. Ihre Aufträge kommen mittlerweile<br />

nicht nur von privaten Unternehmen aus dem<br />

Bereich fossiler Energieträger, sondern auch<br />

aus nationalen und supranationalen Förderprogrammen.<br />

„Da ist schon Kohle drin“,<br />

meint mein Bekannter, „denn immerhin gibt<br />

es keinen Sektor, der so stark subventioniert<br />

wird wie jener der fossilen Energieträger.<br />

Und alles für die Umwelt!“ Da ging ich letztens<br />

mit meinem Bekannten in eine Kneipe.<br />

Ich sagte, es sei doch scheiße, was er mache.<br />

Wozu Öl verbrennen? Da hat er mir vorgerechnet:<br />

„Stell dir vor, wir würden es nicht<br />

machen. Dann würde die Nachfrage nach Öl<br />

sinken. <strong>Das</strong> drückt den globalen Ölpreis. Für<br />

Betriebe und für Staaten wäre es dann nicht<br />

mehr rentabel, auf erneuerbare Energien zu<br />

setzen. Ein Nullsummenspiel. Erneuerbare<br />

Energien sind aber wichtig!“<br />

Außerdem sei es doch immer noch besser,<br />

das Öl hier zu verbrennen. Stichwort höhere<br />

Umweltauflagen. Stichwort Arbeitsplätze.<br />

Stichwort Steuern.<br />

Ja, da musste ich ihm Recht geben. Verstehen<br />

Sie jetzt, was ich meine? Er denkt immer<br />

an die Umwelt. Zum Beispiel ist sein Betrieb<br />

CO2-neutral, hat ein Umweltsiegel bekommen.<br />

„Die paar Euro für eine Biogasanlage<br />

in Südafrika oder ein paar gepflanzte Bäume<br />

in einer guatemaltekischen Plantage ist mir<br />

der Klimaschutz allemal wert“, sagt mein Bekannter.<br />

Er hat schon auch was verdient mit<br />

der ganzen Geschichte. Ich finde ja, nachhaltiges<br />

Engagement soll auch belohnt werden.<br />

So manch einer würde jetzt sagen, es<br />

reiche ihm. Aber mein Bekannter, jaja, dem<br />

war das nicht genug. Er dachte noch einen<br />

Schritt weiter und legte sein Geld in „Green<br />

Investments“ an. Sie wissen schon, sowas<br />

wie Biodiesel aus Palmen, oder Biogas aus<br />

Mais, oder Atomkraftwerke, oder Erdgas. <strong>Das</strong><br />

war der Jackpot. Seine Vermögenswerte stiegen<br />

rasant und er hätte sich locker mal eine<br />

1000 Quadratmeter-Villa mit Infinity-Pool<br />

hinstellen können. Aber da kamen wieder<br />

seine grüne Seite und auch seine Bescheidenheit<br />

zum Vorschein. Er hat die Größe<br />

seiner neuen Hütte dann am Ende um 50 %<br />

reduziert, Passivhaus, mit Photovoltaikzellen<br />

am Dach und Schwimmteich statt Pool, Tesla<br />

in der Garage. Modell X. „Als Chef eines großen<br />

Unternehmens hat man eine besondere<br />

Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.<br />

Kleines Elektroauto, wenig Nachhaltigkeit.<br />

Großes Elektroauto, viel Nachhaltigkeit,<br />

denn da ist der Unterschied zum Verbrenner<br />

am krassesten“, sagt mein Bekannter.<br />

Zum Ausgleich für seine Bescheidenheit und<br />

für die Entbehrungen während der Pandemie<br />

hat er sich schon was gegönnt: ein klitzekleines<br />

Chalet in den Alpen und eine Miniwohnung<br />

am See. „Aber da fällt fast kein<br />

Energieverbrauch an“, sagt mein Bekannter,<br />

„denn die werden eh nicht so oft genutzt.“<br />

Ich dachte ja gleich: „Mann, Alter, was geht?<br />

Jetzt bist du schon wieder drin im Hamsterrad!“<br />

Aber mein Bekannter hat gelernt, einen<br />

Ausgleich zu finden. Er fliegt jetzt zweimal<br />

im Jahr auf Yoga-Retreat. <strong>Das</strong> ist heutzutage<br />

doch kein Luxus mehr. Letzten Monat war er<br />

auf den Malediven. Er ist nämlich der totale<br />

Naturliebhaber. Er hat schon die ganze Welt<br />

bereist. Durch seine Reisen ist er ein weltoffener<br />

Mensch geworden. Er hat schon viel<br />

gesehen. „Die Armen, wie glücklich sie doch<br />

sind! Haben nichts und lächeln trotzdem<br />

immer“, pflegt er stets zu sagen, wenn er<br />

sieht, wie ihre Inseln versinken. Die ganze<br />

Geschichte mit dem Klimawandel trifft die<br />

Ärmsten schließlich am härtesten. Wenn er<br />

in seinem Yoga-Turnsaal ein ayurvedisches<br />

Räucherstäbchen entzündet, dankt er immer<br />

dafür, dass es anderen nicht so gut geht wie<br />

ihm.<br />

Würden sich nur alle so verhalten, wie mein<br />

Bekannter, wir hätten die Klimakrise längst<br />

im Griff. Captain Kirk hatte schon Recht, als<br />

er nach seiner Reise ins All meinte: „Wenn<br />

nur jeder Mensch ins All fliegen würde, dann<br />

würden wir verstehen, dass wir unsere Erde<br />

schützen müssen.“ Ja, so ist es, mein Bekannter<br />

und Captain Kirk, die haben noch<br />

Visionen. Da können wir uns eine Scheibe<br />

abschneiden, richtig investieren und aus der<br />

Krise hinauswachsen!<br />

11


Die verlorene Zeit und die Musik<br />

Befasst man sich näher mit der Rolle der<br />

Musik in den großen Werken der Weltliteratur,<br />

wird man rasch fündig in Marcel Prousts<br />

À la recherche du temps perdu (Auf der Suche<br />

nach der verlorenen Zeit, 1913-1927).<br />

Bei einem Blick ins Biographische findet<br />

man den lebenslangen Freund Prousts, Reynaldo<br />

Hahn (1874-1947), einen Musiker,<br />

Komponisten und Direktor der Pariser Oper,<br />

ebenso wie den Schulfreund Jacques Bizet,<br />

den Sohn des Carmen-Komponisten, dessen<br />

spätere Witwe als Madame Straus einen<br />

Salon führte, in dem Proust häufig zu Gast<br />

war, sowie den Jugendfreund Daniel Halevy,<br />

Sohn des Opernkomponisten Jacques Fromental<br />

Halevy. Proust konnte am Telefon<br />

Direktübertragungen aus der Oper mitverfolgen<br />

(Theatrophon), hatte 1907 im Hotel<br />

Ritz ein Konzert veranstaltet und Jahre<br />

später ein Streichquartett in seine Wohnung<br />

eingeladen, um Werke Beethovens zu<br />

hören – Musik hat ihn ein Leben lang begleitet.<br />

Antike Mythologie, französische Gotik,<br />

aktuelle Theater-, Ballett- und Opernaufführungen,<br />

moderne Malerei seiner Zeit<br />

und vor allem die Literatur seiner Freunde,<br />

Kollegen, Widersacher und Vorbilder waren<br />

ihm auf Grund einer umfangreichen Ausbildung<br />

gut vertraut – man kann die gesamte<br />

Recherche auch als Schilderung zeitgenössischer<br />

Kunst lesen.<br />

Wie sieht es nun im Einzelnen aus, wie<br />

schildert ein Schriftsteller von Rang eine<br />

flüchtige Kunstgattung wie die Musik in seinem<br />

epochalen Werk? Wie beschreiben aber<br />

auch umgekehrt die Komponisten Geschehnisse<br />

mit außermusikalischen Mitteln? Man<br />

kennt die sogenannte „Augenmusik“, bei<br />

der im Sinne der lediglich sichtbaren, aber<br />

nicht zu hörenden optischen Textausdeutung<br />

in den Musiknoten, etwa bei „tenebrae“<br />

(Dunkelheit), inmitten hohler weißer<br />

Notenköpfe plötzlich gefüllte schwarze auftauchen,<br />

oder bei „crucifixus“ unvermittelt<br />

eine signifikante Häufung zahlreich auftretender<br />

Kreuz-Vorzeichen zu sehen ist.<br />

Diesen eher vordergründigen Bezug zur Musik<br />

kann man auch bei Proust finden, wenn<br />

es etwa um die Schilderung eines Musikabends<br />

in Gegenwart des Charles Swann<br />

geht: Auf der betreffenden Buchseite wimmelt<br />

es von den Buchstaben pp, p, f, ff,<br />

den Symbolen für die Dynamik in der Notenschrift,<br />

die sich dem Leser allerdings<br />

nur in der Originalsprache zeigen (Fischer<br />

VIII, 141ff). Ähnlich gelagert sind Textstellen<br />

mit lautmalerischer Faktur, in denen die<br />

Marktrufe der Straßenhändler und vor allem<br />

VON ERNEST J. KLEINSCHUSTER<br />

die Klänge von Geige oder bestimmten Lagen<br />

auf dem Klavier mit hellen oder dunklen<br />

Vokalfärbungen nachgeahmt sind – nur<br />

beim lauten Lesen erschließen sich diese<br />

(dto. u. Luzius Keller, Proust lesen, 262).<br />

Worum geht es Proust aber in erster Linie?<br />

Diese bloße imitatio naturae war bereits<br />

dem Symphoniker Beethoven allzu einfach<br />

(Pastorale: Mehr Ausdruck der Empfindung<br />

als Mahlerey), und Proust beschreibt meisterhaft<br />

die Gefühle und Empfindungen des<br />

verliebten Swann, wenn dieser bei einem<br />

Konzert unerwartet la petite phrase (die<br />

kleine Phrase) in der Violinsonate des Komponisten<br />

Vinteuil wieder erkennt (Prousts<br />

Hauptthema, la mémoire involontaire, die<br />

unbewusste, unfreiwillige Erinnerung), die<br />

damals seine inzwischen verklungene Liebe<br />

zu Odette de Crécy untermalt hat und<br />

deren Hymne sie war. In der Sekundärliteratur<br />

wird seit langem gerätselt, wer denn<br />

nun dieser Komponist sein könnte: So wie<br />

die Figuren des Romans immer eine Mixtur<br />

wirklich existierender Menschen sind – bei<br />

Erscheinen der jeweiligen Bände begann das<br />

Rätseln darüber, wer denn nun wer sei, und<br />

Proust hat sich immer mit einem Hinweis<br />

auf diese Vermischungen dagegen gewehrt<br />

– kann man nur vermuten, dass es sich um<br />

eine schriftstellerische Symbiose der Komponisten<br />

Gabriel Fauré, Camille Saint-Saens,<br />

César Franck, Henri Duparc oder Claude<br />

Debussy handelt, von denen Proust einige<br />

auch persönlich kannte.<br />

Eine Musikproduktion von 2021 versammelt<br />

denn auch unter dem Titel „Musik aus<br />

Prousts Salon“ Werke dieser Komponisten,<br />

von 2017 stammen Aufnahmen als La Sonate<br />

de Vinteuil mit Violinsonaten von<br />

Saint-Saens, Debussy, Hahn, Pierné; auch<br />

die reizvollen Comics von Stéphane Heuet<br />

(2006) bringen Szenen dazu. Im Film Le<br />

temps retrouvé von Raoul Ruiz mit Catherine<br />

Deneuve (1999) wird ein Werk von Jorge<br />

Arriagada gespielt, im Fernsehfilm À la<br />

recherche du temps perdu von Nina Companeez<br />

(2011) eines von Bruno Bontempelli.<br />

<strong>Das</strong>s Proust 1913 die skandalöse Uraufführung<br />

des Sacre du printemps von Igor Strawinsky<br />

selbst miterlebte und später nach<br />

12 MAGAZIN „LEBENSKULTUR“ - STADT FELDBACH


der Oper Le Renard desselben Komponisten<br />

im Anschluss daran noch mit dem leider<br />

schon etwas angetrunkenen James Joyce<br />

zusammen saß, sei hier nur am Rande bemerkt.<br />

Er war auch Zeuge der Uraufführungen<br />

einiger Werke von Claude Debussy, der<br />

ballets russes sowie von Darius Milhaud.<br />

Ein Septett von Vinteuil wird im fünften<br />

Band der Recherche aufgeführt, den Vermutungen<br />

des Proust-Biographen George<br />

D. Painter zufolge hat es Werke von Debussy<br />

und Vincent d‘Indy als Vorbild, und<br />

der Hörer erkennt freudig die kleine Phrase<br />

aus der Violinsonate: … fand ich mich plötzlich<br />

mitten in dieser für mich neuen Musik<br />

im Schoß der Sonate Vinteuils wieder, und<br />

wunderbarer noch als eine junge Maid kam<br />

die kleine Phrase verhüllt, silberumfangen,<br />

rauschend in schimmernden Klängen, leicht<br />

und sanft wie Schleier auf mich zu, doch wiedererkennbar<br />

unter diesem neuen Schmuck.<br />

Meine Freude, sie wiedergefunden zu haben,<br />

schwoll noch durch den so freundschaftlich<br />

vertrauten, so schmeichelnden, so schlichten<br />

Ton, in dem sie sich an mich wandte, nicht<br />

ohne weiterhin die schillernde Schönheit auszuspielen,<br />

die sie umstrahlte ... Während sich<br />

die Sonate über einem lilienhaften, ländlichen<br />

Morgengrauen auftat, ihre beschwingte<br />

Offenherzigkeit ablegte, nur um sich über das<br />

lockere und doch stabile Blättergewirr einer<br />

rustikalen Laube von Geißblatt und weißen<br />

Geranien zu breiten, begann das neue Werk<br />

auf geschlossenen, glatten Flächen gleich denen<br />

des Meeres an einem Gewittermorgen inmitten<br />

einer schneidenden Stille und unendlichen<br />

Leere … in einer rosigen Morgenröte<br />

allmählich aus Stille und Nacht herausgelöst.<br />

Dieses so neue Rot, das in der zarten, ländlichen,<br />

offenherzigen Sonate völlig abwesend<br />

war, färbte den ganzen Himmel gleich der<br />

Morgenröte mit einer mystischen Hoffnung.<br />

(Fischer V, 337/38).<br />

… so bemerkte ich, wie ich mich plötzlich inmitten<br />

dieser für mich neuen Musik im Herzen<br />

der Sonate von Vinteuil befand: Wundervoller<br />

noch als ein junges Mädchen trat das kleine<br />

Thema mir entgegen, mit silbernen Hüllen<br />

ausstaffiert, von blitzenden, leichten, schleierzarten<br />

Klängen um und um überrieselt und<br />

dennoch wiederzuerkennen in seinem neuen<br />

Schmuck. … Ein völlig neues Rot, das der<br />

zärtlichen, ländlichen und unschuldigen Sonate<br />

völlig fehlte, färbte den ganzen Himmel<br />

gleich der Morgenröte mit einer geheimnisvollen<br />

Hoffnung. (Rechel-Mertens/Keller V, 355).<br />

In einem seiner frühen Werke, Les plaisirs<br />

et les jours (Freuden und Tage), finden sich<br />

stimmungsvolle Portraits von Gluck, Mozart,<br />

Chopin und Schumann, ebenso jene von<br />

Watteau oder van Dyck. Dieses Werk enthält<br />

auch die Essays Famille écoutant la musique<br />

(Familie beim Musikhören), Sonate Clair de<br />

lune (Mondscheinsonate) und die bekannte<br />

Éloge de la mauvaise musique (Lobrede auf<br />

die schlechte Musik):<br />

Irgend so eine Arpeggienpassage oder irgend<br />

so ein wiederkehrendes Motiv haben in der<br />

Seele von mehr als einem Verliebten oder<br />

Träumer die Harmonien des Paradieses oder<br />

die eigene Stimme der Geliebten zum Klingen<br />

gebracht. (Keller 2016).<br />

Diese Arpeggien, diese Kadenz haben in der<br />

Seele von vielen Verliebten oder Träumern<br />

widergeklungen oder gar mit der Stimme der<br />

vielgeliebten Frau. (Ernst Weiss 1926).<br />

Die Recherche ist zugänglich in zwei vollständigen<br />

Übersetzungen (eher literarisch<br />

die eine von 1953/2012, Rechel-Mertens/<br />

Keller, Suhrkamp, diese auch als Hörbuch<br />

in 150 Stunden mit dem Burgschauspieler<br />

Peter Matic; griffiger und direkt die neuere<br />

von 2016, Fischer, Reclam) sowie in Teilen<br />

(1928, Walter Benjamin und 2010, Michael<br />

Kleeberg). <strong>Das</strong> 100ste Todesjahr <strong>2022</strong> wird<br />

sicher noch Neues bringen.<br />

Dr. Ernst Kleinschuster lebt als pensionierter<br />

Musikwissenschaftler in Feldbach.<br />

Nach seiner Ausbildung in Graz<br />

und Berlin war er neben Tätigkeiten<br />

in den Bereichen Ärzteverband sowie<br />

Statistik Austria vorwiegend mit Urheberrecht<br />

im Musikbereich, Musikmonographie<br />

und -edition (Anton Faist),<br />

Musikberichten (u. a. Korrespondent für<br />

die Kleine Zeitung) und Kirchenmusik<br />

befasst.<br />

Luci serene von Monteverdi zeigen das leuchtende Augenpaar der Geliebten.<br />

13


VON ROSWITHA DAUTERMANN<br />

Wahrnehmungsblindheit<br />

Ein Plädoyer für die Reduktion optischer Reize im öffentlichen Raum.<br />

Unsere Wahrnehmung basiert auf der<br />

Verarbeitung von Sinneseindrücken und deren<br />

Interpretation über unser Gehirn. Diese<br />

Interpretation wiederum ist beeinflusst<br />

von unserer persönlichen und kollektiven<br />

Prägung, sowie das Ergebnis von Lernprozessen<br />

und Erfahrungen. Wahrnehmung ist<br />

deshalb immer ein dynamischer Prozess und<br />

von vielerlei Faktoren abhängig. Ein grundsätzliches<br />

Prinzip dabei ist, dass wir viel<br />

mehr wahrnehmen, als uns bewusst ist. Der<br />

weitaus größte Teil dessen, was wir sehen,<br />

hören, fühlen, schmecken oder riechen, findet<br />

unbewusst statt. Wir haben, sozusagen,<br />

„Filter“ eingebaut, die nur einen selektiven<br />

Teil der Sinneseindrücke ins momentane Bewusstsein<br />

durchlassen. Ein noch viel kleinerer<br />

Teil schafft es in das Langzeitgedächtnis.<br />

<strong>Das</strong>, was hier in Erinnerung bleibt, ist oft ein<br />

konzentrierter Auszug aus zahlreichen Eindrücken,<br />

die auch im Nachhinein bearbeitet<br />

und verändert werden. Dieser Prozess findet<br />

bei jedem Menschen individuell statt. So<br />

lässt sich auch erklären, warum Menschen,<br />

die die gleiche Situation erlebt haben, diese<br />

völlig unterschiedlich wiedergeben bzw. darstellen.<br />

Grundsätzlich gilt: Je mehr Eindrücke auf uns<br />

einprasseln, desto stärker müssen wir Informationen<br />

filtern, um diejenigen, die für uns<br />

wichtig sind, zu empfangen. Diese Tatsache<br />

wird in der Gestaltung des kollektiven Raumes,<br />

wie z.B. bei Straßen, Plätzen, Gewerbegebieten<br />

oder Geschäftsbereichen, meist<br />

komplett außer Acht gelassen. Wie könnte es<br />

sonst sein, dass, wenn wir unsere Straßen im<br />

städtischen Umfeld genauer betrachten, uns<br />

eine optische Überflutung an Informationen<br />

über Schilder, Plakate, Lichter, Fahnen, Werbungen,<br />

Verkehrszeichen usw. trifft.<br />

Wagen Sie einen Selbstversuch! Dieser sollte<br />

aus Gründen der Verkehrssicherheit eher<br />

beim „zu Fuß gehen“ durchgeführt werden!<br />

Variante I: Nehmen Sie sich eine Strecke von<br />

ca. 500 Metern im städtischen Bereich vor<br />

und schauen Sie bewusst auf alle Schilder,<br />

Zeichen, Beschriftungen, Werbelogos und<br />

Lichtsignale. Entdecken Sie Neues? Variante<br />

II: Schätzen Sie, wie viele oben genannte<br />

Objekte innerhalb der Strecke vorkommen.<br />

Gehen Sie die Strecke ab und zählen Sie die<br />

tatsächliche Anzahl. <strong>Das</strong> Ergebnis wird sehr<br />

unterschiedlich ausfallen, je nachdem welchen<br />

Ortsteil man sich vorgenommen hat.<br />

Der Bereich der Einkaufszentren im Vorstadtbereich<br />

ist besonders ergiebig. Hier unterscheiden<br />

sich die Städte in Österreich kaum<br />

voneinander. Es reihen sich Werbeinformationen<br />

und Firmenzeichen kombiniert mit<br />

Plakaten und Fahnen so aneinander, dass die<br />

Orientierung schwerfällt. Zudem versuchen<br />

Firmen auch durch Vervielfachungen und<br />

Wiederholungen von Werbeaufschriften noch<br />

mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Da<br />

die Reizüberflutung im Bereich der Augenhöhe<br />

schon sehr massiv ist, weicht man zusätzlich<br />

auch auf die oberen Bereiche aus.<br />

Beleuchtete hohe Pylone mit Werbelogos<br />

oder gar ein riesengroßer roter Sessel verkünden<br />

auch den Menschen in der weiteren<br />

Umgebung, dass es da etwas gibt.<br />

Man könnte jetzt meinen, all diese Informationen<br />

sind wichtig für den Verkehr, für<br />

die jeweilige Firma, zur Orientierung etc. Im<br />

Einzelnen mag das gelten, aber in der Masse<br />

führt das beim Menschen zu einer Reizüberflutung<br />

und dazu, dass unser Gehirn überfordert<br />

wird.<br />

Zudem tritt ein Effekt auf, dem wir uns nicht<br />

entziehen können: Menschen sind „Gewohnheitstiere“.<br />

<strong>Das</strong> führt dazu, dass wir Gewohntes<br />

nicht mehr bewusst wahrnehmen.<br />

So kann es sein, dass wir nicht einmal einschneidende<br />

Veränderungen erkennen, wenn<br />

wir uns in einem gewohnten Umfeld bewegen.<br />

Man nennt das Veränderungsblindheit.<br />

Diese auch Unaufmerksamkeitsblindheit genannte<br />

Veränderungsblindheit ist die Nichtwahrnehmung<br />

von Objekten, bedingt durch<br />

die eingeschränkte Verarbeitungskapazität<br />

des menschlichen Gehirns. Ein Werbeeffekt<br />

ist hier nicht mehr gegeben. Problematischer<br />

ist diese Veränderungsblindheit jedoch bei<br />

Verkehrszeichen. Wird z.B. auf einer Straße<br />

plötzlich eine neue Tafel mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung<br />

eingeführt, so werden<br />

Verkehrsteilnehmer, die die Strecke täglich<br />

fahren, diese mit großer Wahrscheinlichkeit,<br />

nicht sehen. Dazu gibt es auch zahlreiche<br />

Beispielvideos auf YouTube, die sogar für<br />

einschlägige Schulungen verwendet werden.<br />

Es lohnt sich, diese anzusehen! Sie werden<br />

überrascht sein, wie „blind“ wir sind, wenn<br />

unser Gehirn mit der Wahrnehmung „überfordert“<br />

ist.<br />

Was ist nun das Resultat aus dieser Erkenntnis?<br />

Wie kann der öffentliche Raum, der ja für<br />

uns da ist, gestaltet werden? Auf jeden Fall<br />

sollte eine Reduktion stattfinden! Weniger<br />

ist hier nicht nur unter ästhetischen Aspekten,<br />

sondern tatsächlich auch aus werbestrategischen<br />

und verkehrssicherheitsbedingten<br />

Gründen, mehr! Haben wir nicht auch ein<br />

Recht auf optische Ruhe? In der Akustik ist<br />

es klar, dass zu viel Lärm Stress verursacht<br />

und krank macht. Zu viele optische Reize<br />

stressen uns jedoch auch, und man sieht<br />

„den Wald vor lauter Bäumen“ nicht mehr.<br />

14 MAGAZIN „LEBENSKULTUR“ - STADT FELDBACH


VON SANDRA PFEIFER<br />

Lieber Bügeltisch!<br />

Gestern in den Abendstunden,<br />

bist du – liebes Bügelbrett – verschwunden.<br />

Ich glaubte es kaum doch war es leider wahr,<br />

statt dir lag nur ein Zettel da:<br />

„Jedes Bügelbrett ist in Wahrheit ein Surfbrett,<br />

das seinen Träumen nicht gefolgt ist.“<br />

(<strong>Das</strong> reimt sich nicht, Mist.)<br />

Ich bin erschüttert, das habe ich wirklich nicht gewusst,<br />

doch ich trage ihn mit Fassung, diesen Verlust.<br />

Nach dem ersten Schock – ein paar Fragen bleiben:<br />

Wohin wird dich deine neue Bestimmung noch treiben?<br />

Warst du nicht immer glücklich hier bei mir?<br />

Ich dachte du genießt wie ich die Wäsche für vier.<br />

Oder auch das neue Dampfbügeleisen mit Station,<br />

sei ehrlich, wer von deinen Kollegen hatte das schon?<br />

Und das Panorama der Wäscheberge direkt vor deinem Gesicht,<br />

gefiel dir das ganz ehrlich nicht?<br />

Haben wir uns im Laufe der Jahre voneinander entfernt?<br />

Nein, schlimmer, wir haben uns gar nie richtig kennengelernt!<br />

Rückblickend waren auch unsere Gespräche einseitig und schlicht,<br />

wie meistens, wenn einer nur schweigt und der andere nur spricht<br />

und etwas dazwischen dann lautlos schallend zerbricht.<br />

Du warst mir immer ein stabiler und stiller Kamerad,<br />

ich stand hinter dir, mit vollem Dampf,<br />

kein weißes Hemd war uns je zu fad.<br />

Auf deine Reise will ich dir meinen Dank mitgeben,<br />

genieß dein zweites neues Leben.<br />

Lass dich mit Sonnenschein übergießen,<br />

mögest du nun Salzwasser statt destilliertes Wasser genießen.<br />

Verlass die alten Welten, tauche ein in neue Wellen,<br />

brich auf zu starken Quellen, vergiss alle Bügelfaltenstellen.<br />

Klapp nicht gleich zusammen wenn der starke Wind beginnt,<br />

du hast gewagt und es stimmt, wer wagt gewinnt.<br />

Dein <strong>Das</strong>ein als geduldiges Bügelbrett<br />

war zweifellos sowas wie…hmmm...nett?!<br />

Doch „nett“ ist die kleine Schwester von Schei…nkleister,<br />

bis jetzt warst du Lehrling – werde ein Meister!<br />

Flieg nur bitte nicht als erstes nach Hawaii,<br />

denn man sagt dort lauert der Hai!<br />

Andererseits: Haie sind ja doch eher Menschenfresser,<br />

da hast du es als Surfbrett doch wirklich besser.<br />

Und falls dich der Hai, der Sturm oder der Tod<br />

dann doch versehentlich frisst:<br />

Denk dran, dass es tausendmal besser ist,<br />

in Freiheit mit Stolz dem Maul, dem Himmel,<br />

oder der Sense entgegenzugehen,<br />

als völlig verkannt in einer Rumpelkammer zu stehen!<br />

SHAKA!<br />

15


Letzten Herbst, als sich die Nebel zu<br />

lichten begannen, schob ich mit einem<br />

Moment das Überlegen beiseite, begriff<br />

die Ehre und die Einmaligkeit des Anlasses<br />

und sagte zu, bei diesem Ausflug ans<br />

Meer dabei zu sein. In die eine Stadt, die<br />

ich ohnehin zu meinen Heimaten zählte,<br />

ohne jemals dort gelebt zu haben. <strong>Das</strong><br />

war meinen Vorfahren beschieden, also jenem<br />

Zweig der Familie, dem ich mich dem<br />

Herzen und Wesen nach zugehörig fühlte.<br />

Verantwortlich dafür zeichnete meine<br />

Großtante, die später zu einem meiner<br />

Lebensmenschen werden sollte. Im Jahr<br />

1900 kam sie dort zur Welt, am Meer, als<br />

Tochter eines Finanzbeamten, kaiserlichköniglich<br />

natürlich, wie es auch die Stadt<br />

lange gewesen war. Der Urgroßvater ging<br />

noch vor dem ersten großen Krieg in Pension,<br />

die Familie zurück ins österreichische<br />

Kernland. Viel noch ließe sich da erzählen.<br />

Von einer Vergangenheit, die zu einem Teil<br />

meiner Geschichte geworden war.<br />

VON MICHAEL MEHSNER<br />

Life is bigger<br />

Von der Stadt sagt man wohl zu Recht,<br />

sie hätte zu lange am Rand gelegen, zu<br />

vielen Winden ausgesetzt, und zu vielen<br />

Herren hätte sie dienen müssen, die ihre<br />

Geschicke stets in andere Richtungen lenken<br />

wollten. In den letzten Jahren hatte<br />

sie sich herausgeputzt. Wir fühlten uns<br />

wohl in dieser neuen Leichtigkeit, streiften<br />

herum, Tramezzini mit Birra oder Spritz<br />

im Sonnenuntergang am alten Hafen, ein<br />

stummes Lächeln für die ebenso stumme<br />

Statue dieses großen, einst hier ansässig<br />

gewesenen irischen Schreibers, dann weiter<br />

durch die Straßen, gut essen und trinken,<br />

am nächsten Tag noch einkaufen, mit<br />

dem Linienschiff die Bucht hinunter und<br />

zurück. Freilich kam ich nicht umhin, meinen<br />

Begleitern das Haus meiner Vorfahren<br />

zu zeigen. Dieses hatte ich dank meiner<br />

Erinnerung an frühere Gespräche, einen<br />

alten Film, der einen Flug über die Stadt<br />

zeigte, und einigen weiteren Recherchen<br />

schon vor einiger Zeit ausgemacht, trotz<br />

des Umstandes, dass die Straße seither<br />

einen neuen Namen bekommen hatte. Zuletzt<br />

blieben zwei Häuser übrig, von denen<br />

ich mir dann eines aussuchte. Jenes, das<br />

eben besser zur Familie eines kk Finanzbeamten<br />

passte, der seinen Dienst zur See<br />

leistete, auf einem kanonenbestückten<br />

Boot, das im Dienste der Steuergerechtigkeit<br />

die Küste hinunter bis nach Kataro<br />

fuhr, währenddessen es Frau und Kindern,<br />

bei aller Bescheidenheit, an nichts mangeln<br />

sollte.<br />

Aus Anlass der Reise hatte ich überlegt,<br />

noch einen anderen, nicht weit entfernten<br />

Ort aufzusuchen, mit dem mich ein wohl<br />

noch höherer Berg an Gefühlen verband.<br />

Aus einer anderen Vergangenheit freilich,<br />

einer selbst erlebten, von der ich dachte,<br />

es würde noch etwas Zeit vergehen müssen,<br />

um sie in schöner Erinnerung wieder<br />

aufzusuchen. Schließlich überredete ich<br />

meine Begleiter, an dem noch verbleibenden,<br />

schönen und warmen Sonntagnachmittag,<br />

noch einmal, zum Abschluss<br />

des Sommers, auf einen Sprung ins Meer<br />

zu hüpfen. Draußen vor der Lagune, an<br />

jenem vertrauten Ort, an den uns schon<br />

so viele Reisen geführt hatten. Es passte,<br />

und so fanden wir uns nach kurzer Anreise<br />

im, von meist anderen Österreichern, gut<br />

besuchten Strandbad wieder. Unsere Zelte<br />

schlugen wir nahe am Wasser auf, zunächst<br />

noch im warmen Sand, da es sich<br />

nicht mehr lohnte, Liegen zu mieten, ab<br />

16 Uhr waren sie ohnehin frei zu benützen.<br />

Meine Begleiter zog es in Richtung<br />

Strandbar, und mich überfiel die spontane<br />

Idee, einen nahe gelegenen Coiffeur aufzusuchen,<br />

gleich ums Eck in der Flanierstraße.<br />

Einen ebenso wohl bekannten, mit<br />

Namen Cesare, stets mit Sakko und Stecktuch<br />

bekleidet, am Kopf eine lockige Mähne,<br />

eine Tuba in der Auslage seines kleinen<br />

Geschäftes, in dem gleich links neben<br />

dem Eingang ein Schwarz-weiß-Foto vom<br />

Meister selbst hing, das ihn als jugendlichen,<br />

eleganten Tennisspieler zeigt, der<br />

es, jedenfalls vom Aussehen her, früher locker<br />

mit einem Vitas Gerulaitis oder einem<br />

Björn Borg hätte aufnehmen können. Vor<br />

Jahren einmal hatte er mit einem strikten<br />

„No, no!“ abgelehnt, die mehr als schulterlangen<br />

Haare unseres Sohnes noch ein wenig<br />

kürzer zu schneiden als er es für richtig<br />

befand. Was wir, von definitiv fachkundiger<br />

Seite ausgesprochen, so akzeptierten.<br />

„Cinque minuti“, ließ mich der Meister<br />

wissen, nachdem ich um eine Audienz angefragt<br />

hatte. So ergab sich eine Gelegenheit<br />

auf einen Espresso im Cafe gegenüber.<br />

Auch dieses war ein Ort aus der Vergangenheit.<br />

Von meinem Platz aus überblickte ich<br />

16 MAGAZIN „LEBENSKULTUR“ - STADT FELDBACH


die Straße, durch die wir so oft spaziert<br />

waren, von der Altstadt kommend, bis zum<br />

Kiosk und zu dieser hervorragenden Eisdiele.<br />

Alles war bestens abgespeichert in<br />

meinen Gedanken. Gleich vor mir, die Villa<br />

Romana, die, was mich sehr amüsierte, immer<br />

den Zusatz „meuble“ in ihrem Namen<br />

geführt hatte, längst war sie keine Pension<br />

mehr. Für einen kurzen Moment konnte<br />

ich mich selbst auf dem straßenseitigen<br />

Balkon sitzen sehen, mit einem Buch in<br />

der Hand, gleichzeitig das Geschehen auf<br />

der Straße überblickend, und dann meinen<br />

Sohn, dem das offensichtlich gefallen und<br />

der sich das abgeschaut hatte, in derselben<br />

Pose. Nun ja, ein bisschen etwas gibt<br />

man ja doch weiter. Die Buchhandlung<br />

gleich links existierte noch, dort hatten<br />

wir uns einmal um exakt Mitternacht für<br />

den gerade erscheinenden, neuen Harry<br />

Potter angestellt.<br />

In einem Moment bemerkte ich, dass Musik<br />

den Gastgarten bespielte, ein Radiosender<br />

offenbar, nicht zu laut, doch gut<br />

wahrnehmbar. <strong>Das</strong> gerade zu hörende Intro<br />

kannte ich nur zu gut, viel zu oft lief der<br />

Song über die diversen Sender. Dieser Band<br />

aus Athens, Georgia, die sich einst aufgemacht<br />

hatte, das Land zu vermessen („Maps<br />

& legends“), und das alles in höchst ehrbarem<br />

Indie-Rock, hatte ich noch immer<br />

nicht verziehen, dass sie sich, von einem<br />

aufs andere, vom Teufel reiten ließ, um<br />

in den Stadien dieser Welt aufzutreten.<br />

Gleich würde die Stimme des Sängers einsetzen,<br />

ein langgezogenes „Oooohh….“,<br />

gefolgt von den Worten: „Life … is bigger<br />

…“, und so weiter. „Assoziative Lyrik“,<br />

fiel mir ein, was bedeutet, dass der Sänger<br />

und zugleich Texter der Band, schon<br />

lange hatte er sich den Kopf kahl geschoren,<br />

keine wirkliche Geschichte zu erzählen<br />

beabsichtigt, sondern einfach gut zusammen<br />

passende Worte aneinander reiht,<br />

die dann ein spannendes Ganzes ergeben,<br />

dazu durchaus respektierliche Harmonien<br />

und Refrains, in die sich die Hörer gerne<br />

hineinfallen lassen würden. Der Sänger<br />

sang also („oh no i’ve said to much …“),<br />

und sang („that was just a dream …“), so<br />

richtig schlau wurde man daraus nicht, was<br />

ihn in diesem Titel so in Rage versetzte<br />

(„losing my religion …“), dann ein kurzes,<br />

den Pop-Charakter des Liedes keinesfalls<br />

störendes Solo …<br />

<strong>Das</strong> Lied ging dem Ende zu, ich selbst<br />

hingegen befand mich noch immer am<br />

Anfang. „Life is bigger“, diese allererste<br />

Zeile hatte mich nicht mehr losgelassen.<br />

Meine Gedanken schwirrten herum, rasten<br />

auf und ab, quer durch die Zeiten und Geschehnisse,<br />

vorbei an den Dingen, Menschen,<br />

Orten, denen man sich verbunden<br />

fühlte, dazu ein paar feuchte Begleiter,<br />

die mir mein überschäumender Geist in die<br />

Augen und auf die Wangen drückte. Alles<br />

das, dieses große Ganze, das sich schlicht<br />

wohl „Leben“ nennt, würde ich weiter mit<br />

mir nehmen, auf dem Weg, der da noch zu<br />

gehen sein würde. „Ist schon richtig so“,<br />

dachte ich mir, und was sollte man auch<br />

sonst denken und tun, und „größer“, ja<br />

„größer“ war das allemal. Und so richtig<br />

auch noch … Am Strand warteten meine<br />

lieben Begleiter und das Meer auf mich.<br />

Vorher noch rasch zum Coiffeur. Was die<br />

Band anging, beschloss ich, ihr ab sofort<br />

die Stadion-Phase zu verzeihen, obwohl<br />

„Reckoning“, „Fables“ und „Pageant“ immer<br />

meine Lieblingsalben bleiben würden.<br />

Ungeachtet dessen stand für den Moment<br />

fest: Eine Glatze würde es hier und jetzt<br />

sicher nicht werden, da würden Cesare und<br />

ich uns in diesem Fall einig sein.<br />

17


VON JOHANN SCHLEICH<br />

Die Brauereibesitzerin<br />

Josefine Hold<br />

Die Geigenlehrerin und<br />

Pianistin Mina Knittelfelder<br />

Dr. Olga Lehmann trat<br />

bereits 1904 als Pianistin auf.<br />

Emma Posch wurde 2018<br />

Obfrau des Stadtchors.<br />

Prof. Ella Kasteliz<br />

Feldbachs starke und kreative Frauen<br />

Ob als „Gräfin vom Raabtal“, als „Geigerin,<br />

die Musik im Blut“ hat, als erste Obfrau<br />

des Stadtchores oder als Künstlerin, spielten<br />

Frauen in der Gesellschaftsgeschichte von<br />

Feldbach vielfach eine wichtige Rolle. Doch<br />

einige von diesen erfolgreichen Feldbacher<br />

Frauen sind im Laufe der Zeit in Vergessenheit<br />

geraten, wie wir in dieser Serie noch<br />

sehen werden. Wegen der doch erheblichen<br />

Anzahl an verdienstvollen Feldbacher Frauen<br />

und dem vorgegebenen Platzrahmen für diese<br />

Dokumentation, musste ich mich bei jeder<br />

Frau, von meiner Warte aus gesehen, auf die<br />

wesentlichsten Leistungspunkte beschränken<br />

und diese Dokumentation auf einige Folgen<br />

aufteilen.<br />

Brauereibesitzerin Josefine Hold<br />

(geb. 1852, verst. 1927)<br />

Die Spurensuche nach erfolgreichen Frauen<br />

beginnt wegen der fehlenden Aufzeichnungen<br />

mit der Brauereibesitzerin Josefine<br />

Hold erst im 19. Jahrhundert. Sie hat mit<br />

dem Bau der Villa Hold, dem Brauhaus-Hotel<br />

(später Gewerbehaus, Hauptplatz 30),<br />

dem Braukeller und der Gruftkapelle am<br />

Stadtfriedhof bis zum heutigen Tag deutliche<br />

Spuren hinterlassen. Nicht umsonst<br />

wurde sie bereits zu Lebzeiten als „Gräfin<br />

vom Raabtal“ bezeichnet. Doch Aufstieg<br />

und Fall reichten sich bei dieser Frau schnell<br />

die Hände, sodass sie ihren Feldbacher Besitz<br />

bereits 1902 verkaufen musste.<br />

Mina (verst. 1938) und Mitzi Knittelfelder<br />

Völlig in Vergessenheit geraten sind Mina<br />

Knittelfelder mit ihrer Tochter Mina („Mitzi“).<br />

Die geniale Geigerin und Pianistin<br />

Mina war die erste Frau, die in den Männergesangsverein<br />

(heute Stadtchor) eindringen<br />

konnte und 1936 sogar als außerordentliches<br />

Mitglied aufgenommen wurde.<br />

Erstmals findet man die beiden Frauen im<br />

Jahr 1904 bei der Liedertafel des Männergesangsvereines<br />

in einem Programmheft. Als<br />

besondere Ehrerbietung wird in der Chronik<br />

des Männergesangsvereines erwähnt, dass<br />

der Männerchor mit Fahne 1938 am Begräbnis<br />

von Mina (Mutter) teilnahm.<br />

Vom Feldbacher Damenchor zum Stadtchor<br />

Bereits 1904 bestand in Feldbach auch ein<br />

Damenchor, der am 19. Juni im Weißen Saal<br />

der Brauerei bei der Liedertafel des Männergesangsvereines<br />

mitwirkte. Bei dieser<br />

Liedertafel treffen wir auch erstmals auf<br />

die beiden Feldbacher Musikerinnen Mina<br />

Knittelfelder (Violinsolo) und am Klavier<br />

ihre Tochter Mina „Mitzi“ Knittelfelder.<br />

Den Ton bei derartigen gemischten Konzerten<br />

mit Damen- und Männerchor gab<br />

der Männerchor an. <strong>Das</strong> nächste Mal wird<br />

der Damenchor bei der Faschingsliedertafel<br />

des Männergesangsvereines am 25. Februar<br />

1906 erwähnt. Bei dieser Faschingsliedertafel<br />

treffen wir wieder auf eine mitwirkende<br />

Frau. Es ist die Feldbacherin Olga Lehmann,<br />

die das „Lied der Deutschen in Österreich“,<br />

das der Männerchor sang, am Klavier<br />

begleitete. Namentlich kennen wir 1909 die<br />

beiden Chorsängerinnen Anna Ledinegg und<br />

Adrienne Maier.<br />

Ab 1948 bemühte sich der Männergesangsverein,<br />

den Frauenchor aufzunehmen. In<br />

der Chronik steht: „Nicht unerwähnt soll<br />

bleiben, dass unter anderem der Beschluss<br />

gefasst wurde, zur Hebung der Sängerfreudigkeit,<br />

wie überhaupt zur klaglosen Aufrechterhaltung<br />

der Vereinstätigkeit mit den<br />

sangeskundigen Frauen und Mädchen Feldbachs<br />

Unterhandlungen auf Angliederung<br />

mit lockerer Bindung anzubahnen. Der neu<br />

gewählte Obmann (Rechtsanwalt Dr. Rudolf<br />

Ressl) erklärte sich bereit, die Angelegenheit<br />

in Kürze spruchreif zu machen.“<br />

Der Frauenchor wurde 1950, anlässlich des<br />

100-jährigen Bestehens des Männergesangsvereines,<br />

mit dem Männerchor vereint. In<br />

der MGV-Chronik steht: „Obmann Dr. Ressl<br />

überreichte nach eingehender Würdigung<br />

der Leistungen des Frauenchores im Auftrage<br />

des Jubelvereines (100 Jahre MGV)<br />

als sichtbares Zeichen ihrer Zugehörigkeit<br />

zum Vereine jedem Mitgliede des Frauenchores<br />

das Vereinsabzeichen.“ Jetzt hatte<br />

der Frauenchor eine Obfrau und der Männerchor<br />

einen Obmann. Jahrzehnte danach<br />

wurden beide Chöre von einem Obmann geführt.<br />

Und es dauerte bis 2018, also 168<br />

Jahre, bis die erste Frau, Emma Posch, den<br />

„gemischten“ Stadtchor als Obfrau übernehmen<br />

konnte. Der von Männern bis in das<br />

21. Jahrhundert dominierte Chor steckt im<br />

Jahr <strong>2022</strong> in einer Männerkrise. Rund zwei<br />

Drittel der Chormitglieder sind Frauen.<br />

Prof. Ella Kasteliz (geb. 1911, verst. 1989)<br />

Auf künstlerischer Ebene schrieb die Presse<br />

1921 von der zehnjährigen Geigerin Ella<br />

Kasteliz, dass sie ein „musikalisches Wunderkind“<br />

sei. Kastleliz wurde als berühmteste<br />

blinde Geigerin Österreichs und als<br />

Frau, die Musik im Blut habe, bezeichnet.<br />

Bei mehr als 5000 Konzertabenden war sie<br />

in 15 Staaten der Welt zu hören. Sie war<br />

die Besitzerin des weithin sichtbaren „Ansitzes<br />

Geigenstöckl am Frauenhügel“ am<br />

Stadtrand von Feldbach. Kasteliz war unter<br />

anderem auch Geigenschülerin der zuvor<br />

genannten Mina Knittelfelder.<br />

18 MAGAZIN „LEBENSKULTUR“ - STADT FELDBACH


Am Morgen des 9.2. herrscht auf der<br />

L216 Ausnahmezustand. Bereits am Vorabend<br />

setzte heftiger Schneefall ein, der<br />

immer noch andauert. Die winterliche<br />

Dunkelheit wird vom Scheinwerferlicht der<br />

Autos zerschnitten, die in einer nicht enden<br />

wollenden Kolonne über die Fahrbahn<br />

kriechen. Auch eine Gruppe von Schulkindern<br />

kämpft sich durch die Schneemassen<br />

hin zur nächsten Bushaltestelle. Dort angekommen,<br />

bietet sich ihnen ein höchst<br />

seltsamer Anblick. Als hätte die Kälte sie<br />

an Ort und Stelle festgefroren, stehen sie<br />

nun da und starren in das Wartehüttchen,<br />

aus dem ein flackernder Schein dringt.<br />

Manche reiben sich ungläubig die verschlafenen<br />

Augen. Anderen steht der Mund<br />

sperrangelweit offen. Denn in diesem<br />

Hüttchen erblicken sie doch tatsächlich einen<br />

waschechten Cowboy. Zumindest sieht<br />

dieser Mann, der da mit verschränkten Armen<br />

und den Beinen dicht am wärmenden<br />

Lagerfeuer leise vor sich hin schlummert,<br />

genauso aus, wie man sich einen richtigen<br />

Cowboy eben vorstellt. Abgetragene braune<br />

Lederstiefel, ausgewaschene Blue Jeans<br />

mit schwarzen Chaps, kariertes Baumwollhemd,<br />

darüber eine pelzgefütterte Jacke<br />

und die breite Krempe eines Stetsons tief<br />

im unrasierten Gesicht. Daneben liest ein<br />

wildfarbener Appaloosa Pinto die aktuelle<br />

<strong>Ausgabe</strong> einer bekannten Tageszeitung.<br />

Immer noch glotzen die Kinder vor sich<br />

hin. Der Pinto schielt kurz über den Rand<br />

der Zeitung hinweg.<br />

„Morgen!“, brummt er mit dem Hauch eines<br />

Kopfnickens.<br />

Dann widmet er sich wieder den Lokalnachrichten.<br />

Nach unendlich lang scheinenden<br />

Augenblicken wagt sich schließlich<br />

ein kleines Mädchen, das mehr Schal<br />

als Mensch zu sein scheint, einen halben<br />

Schritt nach vorne. Diesmal senkt der Pinto<br />

mit einem Seufzer seine Zeitung.<br />

„Kann ich dir irgendwie behilflich sein?“,<br />

fragt er in Richtung der jungen Grundschülerin,<br />

der ein dünnes Rinnsal klarer Flüssigkeit<br />

aus dem Nasenloch läuft.<br />

„Ist der echt?“, schießt es plötzlich aus<br />

ihr heraus.<br />

Den Finger hat sie dabei wie die Spitze<br />

eines Pfitschipfeils auf den Cowboy gerichtet.<br />

Mit einem Stirnrunzeln zieht der Pinto<br />

eine Augenbraue nach oben. Ohne den<br />

Blick von der Kleinen abzuwenden, spricht<br />

er den Schlafenden an:<br />

„Franz, das Kind hier hat eine Frage.“<br />

VON ROMAN WALLNER<br />

Wanted<br />

Doch der Angesprochene gibt keinen<br />

Mucks von sich. Seufzend rollt der Pinto<br />

seine Zeitung zusammen, stupst dem Mann<br />

damit gnadenlos in die Rippen und ruft:<br />

„FRANZ!“<br />

Mit dem Geräusch eines Grizzlys, der unsanft<br />

aus seiner Winterruhe gerissen wird,<br />

schreckt der Mann hoch. Beinahe fällt ihm<br />

dabei die gefleckte Banane aus dem Holster.<br />

Noch bevor er zu einer bösen Schimpftirade<br />

ansetzen kann, setzt der Pinto fort:<br />

„Dieses Mädchen hier hat eine Frage an<br />

dich, Franz.“<br />

Überraschend schnell findet der Mann seine<br />

Kontenance, während er hastig Stetson<br />

und Banane zurechtrückt.<br />

„Guten Morgen, Kleine! Guten Morgen Kinder!<br />

Und ein herzliches Howdy euch allen!<br />

Nun, was hast du denn für eine Frage,<br />

Püppchen?“<br />

Der Mann entblößt ein strahlend weißes<br />

Lächeln. Seine Augen funkeln erwartungsvoll.<br />

„Ich bin kein Püppchen“, retourniert das<br />

Mädchen, „ich heiße Marie, bin siebeneinhalb<br />

Jahre alt und ich und die anderen da<br />

möchten bitte wissen, ob Sie ein echter<br />

Cowboy sind.“<br />

Der Mann richtet sich auf, bevor er nicht<br />

ohne Stolz antwortet:<br />

„Marie, liebe Kinder, es stimmt. Ich bin<br />

tatsächlich ein Cowboy. So, wie er im Buche<br />

steht. Und das hier, das ist mein Compañero,<br />

mein Freund in allen Lebenslagen,<br />

mein Hermano. Wir gehen zusammen durch<br />

dick und dünn, sind echte Amigos. Nicht<br />

wahr, Cornelius?“<br />

„Sieht wohl so aus“, antwortet der Pinto<br />

knapp, der nun die Kleinanzeigen studiert.<br />

Marie wischt sich mit einem Ärmel den<br />

Rotz aus dem Gesicht.<br />

„Und was machen Sie und das Pferd hier in<br />

unserem Wartehäuschen?“<br />

Dem Cowboy ist das ungläubige Staunen<br />

über diese Frage deutlich anzusehen.<br />

„Was wir hier machen? Wir sind natürlich<br />

auf dem Weg nach Westen!“<br />

Keine zufriedenstellende Antwort für Marie.<br />

„Und warum?“, fragt sie.<br />

„Warum?“ Der Cowboy scheint geradezu<br />

empört. „Weil alle echten Cowboys nach<br />

Westen reiten! Immer nach Westen, bis<br />

nichts mehr geht und dann erst recht wieder<br />

weiter in vollem Galopp.“ Er hält einen<br />

Moment lang inne. „Aber damit ist es jetzt<br />

wohl vorbei. <strong>Das</strong> stimmt doch, oder Marie?<br />

Kinder? Ihr könnt ruhig zugeben, dass unsere<br />

Begegnung kein Zufall ist.“<br />

Mit diesen Worten versteift sich der Cowboy<br />

plötzlich. Er kneift die Augen zu kleinen<br />

Schlitzen zusammen, während seine<br />

Hand langsam Richtung Halfter wandert.<br />

In der klirrenden Kälte bildet sein schwerer<br />

Atem dampfende Wölkchen. Der Pinto<br />

wiehert vor Anspannung auf. Dann biegt<br />

der Schulbus in die Haltestelle ein. Ohne<br />

dem Cowboy weiter Beachtung zu schenken,<br />

laufen die Kinder los. Allein Marie<br />

verabschiedet sich zuvor noch mit einem<br />

kurzen Winken. Nachdem alle eingestiegen<br />

sind, fährt der Bus wieder los. <strong>Das</strong> laut gebrüllte<br />

„FUCK“, das dem Cowboy entfährt,<br />

wird vom Dröhnen eines herannahenden<br />

Räumungsfahrzeugs verschluckt. Kreidebleich<br />

lässt er sich auf die Sitzbank nieder.<br />

„Ich habe wirklich gedacht, meine Stunde<br />

hat geschlagen“, bringt er schnaufend hervor.<br />

„Was ist mit dem Anzeigenteil?“, fragt<br />

er hoffnungsvoll.<br />

„Leider auch nichts“, muss der Pinto zerknirscht<br />

berichten. „Installateure, Maschinenschlosser,<br />

Kellner, Postboten, Pflegehelfer<br />

– alles wird gesucht, nur kein<br />

Cowboy.“ Die beiden bleiben noch eine<br />

Zeit lang sitzen, ohne ein weiteres Wort<br />

zu wechseln. Als sich die Sonne über die<br />

dunklen Hügel der Südoststeiermark quält,<br />

machen sich Franz und Cornelius einmal<br />

mehr auf nach Westen.<br />

(Fortsetzung folgt)<br />

19

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!