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Andreas Kunz-Lübcke: Dissidenten, Außenseiter und Querulanten (Leseprobe)

In den biblischen Literaturen begegnen zahlreiche Charaktere, die sich durchaus als Gestalten der Weltliteratur charakterisieren lassen. Einer der möglichen Gründe dafür dürfte der Umstand sein, dass diese in extremen Lebenssituationen agieren oder radikale Positionen vertreten, die sie von einer etablierten Normen und Weltsichten abheben. Die Beiträge in diesem Band, der im Rahmen der Tagung »Außenseiter, Dissidenten und Querulanten« der Projektgruppe »Religiöser Radikalismus« entstanden ist, widmen sich Figuren (wie z.B. Jael, Henoch, Jiftach, Choni ha-Me‘aggel, Eliezer ben Hyrkanos oder auch Paulus), die sich durch die Radikalität ihres Handelns und Denkens im Bezug auf ihre individuellen religiösen Systeme oder ihr soziales Umfeld auszeichnen. Im Mittelpunkt stehen dabei Erzählfiguren und Individuen, die sich deutlich von den etablierten Normen abheben und somit eine bleibende Faszination auf die Leserschaft ausüben.

In den biblischen Literaturen begegnen zahlreiche Charaktere, die sich durchaus als Gestalten der Weltliteratur charakterisieren lassen. Einer der möglichen Gründe dafür dürfte der Umstand sein, dass diese in extremen Lebenssituationen agieren oder radikale Positionen vertreten, die sie von einer etablierten Normen und Weltsichten abheben.

Die Beiträge in diesem Band, der im Rahmen der Tagung »Außenseiter, Dissidenten und Querulanten« der Projektgruppe »Religiöser Radikalismus« entstanden ist, widmen sich Figuren (wie z.B. Jael, Henoch, Jiftach, Choni ha-Me‘aggel, Eliezer ben Hyrkanos oder auch Paulus), die sich durch die Radikalität ihres Handelns und Denkens im Bezug auf ihre individuellen religiösen Systeme oder ihr soziales Umfeld auszeichnen. Im Mittelpunkt stehen dabei Erzählfiguren und Individuen, die sich deutlich von den etablierten Normen abheben und somit eine bleibende Faszination auf die Leserschaft ausüben.

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<strong>Andreas</strong> <strong>Kunz</strong>-<strong>Lübcke</strong><br />

»Wir alle sind <strong>Außenseiter</strong>«, so titelte im Jahr 1981 der große Literaturwissenschaftler<br />

Hans Mayer <strong>und</strong> knüpft damit an den Titel seines 1976 erschienenen<br />

Werks an.<br />

»Ich möchte von der Behauptung ausgehen, daß das Problem eines gesellschaftlichen<br />

<strong>Außenseiter</strong>tums in der europäischen Neuzeit, oder seit dem Zerfall des mittelalterlichen<br />

Corpus christianum, als Vorgang der Säkularisation verstanden werden<br />

muß. Der christliche Monotheismus kannte den <strong>Außenseiter</strong> nur im Bereich der<br />

Glaubenseinheit. Es gab die Exoterik <strong>und</strong> die Esoterik. Ungläubige Heiden, Juden<br />

der Synagoge mit der Binde vor den Augen, gute Katholiken, Häretiker, Ketzer. Alles<br />

reduziert auf ein Innen oder Außen in bezug auf die christliche Glaubensgemeinschaft.<br />

<strong>Außenseiter</strong> durch ihre Taten <strong>und</strong> Meinungen sind sündige Menschen. Nur<br />

ein einziges existentielles Monstrum bevölkert die Welt der Evangelien: der verräterische<br />

Apostel Judas Ischariot. Jener Jude <strong>und</strong> Apostel, der zum Judas schlechthin<br />

werden sollte. Die Erkenntnis aber, daß <strong>Außenseiter</strong> möglich sind jenseits von Mythos<br />

<strong>und</strong> Dogma, vollzieht sich in der Tat als Säkularisationsprozeß. Sie weitet sich<br />

aus in der Renaissance <strong>und</strong> gehört dem frühen bürgerlichen Denken an.« 1<br />

Mayer repräsentiert hier eine sowohl jüdische als auch eine »unorthodoxe« marxistische<br />

Sichtweise. Demnach würden religiöse Systeme <strong>Außenseiter</strong> produzieren.<br />

So, wie Judas in der christlichen Perspektive das Jüdische <strong>und</strong> somit das<br />

Anti-Christliche repräsentiert, so gilt das natürlich für jeden anderen Häretiker<br />

<strong>und</strong> Feind des wahren Glaubens auch. Mit diesem Gedanken steht Mayer nicht<br />

allein. So hat etwa Peter Sloterdijk in die Debatte um den Monotheismus eingegriffen<br />

<strong>und</strong> den <strong>Außenseiter</strong>gedanken noch einmal zugespitzt: Monotheistische<br />

Gebilde brauchen ein Gegenüber; ist dieses nicht zur Hand, dann muss es<br />

eben in Gestalt von Häretikern <strong>und</strong> Ketzern erf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> konstruiert werden. 2<br />

Während bei Mayer Judas das Modell des vom religiösen System geschaffenen<br />

<strong>Außenseiter</strong>s darstellt, der in diese Rolle gewissermaßen hineingedrängt<br />

wird, kommt der wahre <strong>und</strong> positive <strong>Außenseiter</strong> erst mit der Literatur der beginnenden<br />

Neuzeit auf. Das Paradebeispiel dafür ist für Mayer die Gestalt des<br />

Dr. Faustus. Von Goethes Faust wird ein Bogen geschlagen zu den Verhören von<br />

<strong>Dissidenten</strong> in den Folterkellern der Gestapo bis hin zu den politischen Intellektuellen<br />

der späten 1970er Jahre, wo im öffentlichen Diskurs von »Pinschern«,<br />

»Ratten« <strong>und</strong> »Schmeißfliegen« die Rede gewesen ist. Anders gesagt: Wer für<br />

Aufklärung <strong>und</strong> Freiheit streitet, wer dafür geschmäht <strong>und</strong> verfolgt wird, der ist<br />

ein <strong>Außenseiter</strong> des neueren Typs. Während also die Zeit vor Faust von einer<br />

»<strong>Außenseiter</strong>produktion« bestimmt ist, die auf Stigmatisierung <strong>und</strong> Ausgrenzung<br />

zielt, begegnet erstmals mit der goetheschen Lichtgestalt der Typ des <strong>Außenseiter</strong>s,<br />

der sich freiwillig <strong>und</strong> unverzagt in seine Rolle hineinbegibt <strong>und</strong> der<br />

1<br />

2<br />

Mayer, <strong>Außenseiter</strong>, 47.<br />

Vgl. Sloterdijk, Gottes Eifer, 161–168.

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