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Thomas von Kempen // Wolf-Friedrich Schäufele: Von der Nachfolge Christi (Leseprobe)

Die »Nachfolge Christi« (De imitatione Christi) ist eines der wirkungsmächtigsten Werke der christlichen Frömmigkeits- und Erbauungsliteratur. Sie bietet eine mystisch grundierte Anleitung zu einem persönlichen geistlichen Leben frommer Innerlichkeit. Im frühen 15. Jahrhundert von dem Kanoniker Thomas von Kempen (1389/90–1471) auf Latein verfasst, fand die »Nachfolge Christi« über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart konfessionsübergreifend zahlreiche Liebhaber von Ignatius von Loyola bis Dietrich Bonhoeffer. Im Katholizismus der tridentinischen Reform und der Romantik wurde sie hochgeschätzt, ebenso im protestantischen Pietismus, und auch heute noch kann sie Menschen auf der Suche nach praktisch gelebter Religiosität inspirieren.

Die »Nachfolge Christi« (De imitatione Christi) ist eines der wirkungsmächtigsten Werke der christlichen Frömmigkeits- und Erbauungsliteratur. Sie bietet eine mystisch grundierte Anleitung zu einem persönlichen geistlichen Leben frommer Innerlichkeit. Im frühen 15. Jahrhundert von dem Kanoniker Thomas von Kempen (1389/90–1471) auf Latein verfasst, fand die »Nachfolge Christi« über die Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwart konfessionsübergreifend zahlreiche Liebhaber von Ignatius von Loyola bis Dietrich Bonhoeffer. Im Katholizismus der tridentinischen Reform und der Romantik wurde sie hochgeschätzt, ebenso im protestantischen Pietismus, und auch heute noch kann sie Menschen auf der Suche nach praktisch gelebter Religiosität inspirieren.

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Große Texte <strong>der</strong> Christenheit (GTCh) | 12<br />

<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Kempen</strong><br />

<strong>Von</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong><br />

Ausgewählt, neu übersetzt und<br />

kommentiert <strong>von</strong> <strong>Wolf</strong>-<strong>Friedrich</strong> <strong>Schäufele</strong>


Vorwort<br />

Der aus dem späten Mittelalter stammende, aber bis heute<br />

viel gelesene Traktat „<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong>“ (De imitatione<br />

<strong>Christi</strong> ) ist keine diskursive theologische Abhandlung,<br />

son<strong>der</strong>n ein Werk <strong>der</strong> Frömmigkeits- o<strong>der</strong> Erbauungsliteratur.<br />

Es ist nicht für eine fortlaufende Lektüre im Ganzen gedacht,<br />

son<strong>der</strong>n kann und soll in einzelnen, kurzen Abschnitten<br />

gelesen und meditiert werden. Ziel ist nicht das Erfassen<br />

und Verstehen <strong>von</strong> komplexen Gedankengängen und Argumenten,<br />

son<strong>der</strong>n die fromme Versenkung und existentielle<br />

Anverwandlung <strong>der</strong> Formulierungen und Bil<strong>der</strong> des jeweiligen<br />

Textabschnitts.<br />

Dieser literarische Charakter <strong>der</strong> „<strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong>“<br />

kommt den Bedürfnissen einer Auswahlausgabe wie <strong>der</strong> vorliegenden<br />

– an eine vollständige Wie<strong>der</strong>gabe und Kommentierung<br />

des Textes war aus Platzgründen nicht zu denken –<br />

entgegen. Ohne Beeinträchtigung des Verständnisses konnten<br />

charakteristische Kapitel aus allen vier „Büchern“ des<br />

Traktats ausgewählt werden. Über den Ort dieser ausgewählten<br />

Abschnitte im Ganzen <strong>der</strong> Komposition gibt das vorangestellte<br />

Verzeichnis <strong>der</strong> Kapitelüberschriften Auskunft. Alle<br />

Textauszüge wurden für dieses Buch neu aus dem lateinischen<br />

Original übersetzt.<br />

Die Kommentierung <strong>der</strong> einzelnen Kapitel musste oft<br />

umfangreicher ausfallen als bei einem diskursiven Text. Sie<br />

ist als Hinführung zu einem close reading gedacht, zu einer<br />

mikroskopischen Lektüre, die in beson<strong>der</strong>er Weise auf Fein-<br />

5


Vorwort<br />

heiten <strong>der</strong> Komposition, des Stils und <strong>der</strong> Semantik, <strong>der</strong> Traditionsbezüge<br />

und intertextuellen Verweise Acht hat. Eine<br />

exemplarisch in die Tiefe gehende Betrachtung des Textes<br />

lässt die allgemeinen Züge <strong>der</strong> Frömmigkeit <strong>der</strong> „<strong>Nachfolge</strong><br />

<strong>Christi</strong>“ hervortreten. Dabei dürfte es sich empfehlen, zunächst<br />

die allgemeine Hinführung zum Quellentext in den<br />

Kapiteln B 1-4 zu lesen und dann den Text kapitelweise unter<br />

Heranziehung <strong>der</strong> zugehörigen Erläuterungen zu studieren.<br />

Für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Große Texte<br />

<strong>der</strong> Christenheit“ und für die sorgfältige Durchsicht danke<br />

ich Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Johannes Schilling (Kiel) und Prof. Dr.<br />

Dietrich Korsch (Kassel). Dank gebührt auch meiner Ehefrau<br />

Ulla <strong>Schäufele</strong> und meiner Wissenschaftlichen Mitarbeiterin<br />

Sophia Farnbauer, die die Entstehung des Buches mit kritischem<br />

Rat begleitet haben, und meiner studentischen Hilfskraft<br />

Melina Vogt, die die Korrekturen gelesen hat.<br />

Die „<strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong>“ begleitet mich seit fast drei Jahrzehnten.<br />

Sie war Gegenstand in meinem ersten kirchengeschichtlichen<br />

Proseminar, das ich an <strong>der</strong> Universität Mainz<br />

gehalten habe, und später mehrmals in meinen Seminaren an<br />

<strong>der</strong> Universität Marburg. Über die Jahrhun<strong>der</strong>te hinweg hat<br />

das Büchlein in allen Konfessionen Liebhaber gefunden. Ich<br />

würde mich freuen, wenn die vorliegende Ausgabe diesen<br />

„großen Text“ abermals vielen Interessierten bekannt und<br />

lieb machen könnte.<br />

<strong>Wolf</strong>-<strong>Friedrich</strong> <strong>Schäufele</strong><br />

Marburg, am 550. Todestag <strong>von</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Kempen</strong> (25. Juli 2021)<br />

6


Inhalt<br />

A Der Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . 9<br />

Verzeichnis <strong>der</strong> Buch- und Kapitelüberschriften . . . . . . . . . . . . . 11<br />

Buch I: Nützliche Ermahnungen für das geistliche Leben . . . . . 17<br />

Buch II: Ermahnungen zur Innerlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />

Buch III: Das Buch vom innerlichen Trost. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68<br />

Buch IV: Vom Sakrament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />

B Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />

1. Verfasserschaft und Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />

2. Aufbau und literarische Eigenart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94<br />

3. Frömmigkeitsprofil und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98<br />

4. Textgrundlage und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />

5. Erläuterungen zu Buch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />

6. Erläuterungen zu Buch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125<br />

7. Erläuterungen zu Buch III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136<br />

8. Erläuterungen zu Buch IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142<br />

C Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . 151<br />

Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153<br />

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . 155<br />

7


A<br />

Der Text


Brüsseler Autograph <strong>der</strong> „<strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong>“ (1441) <strong>von</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Kempen</strong>, Beginn <strong>von</strong> Kapitel I 1 (Bibliothèque Royale de Belgique, Brüssel,<br />

Ms. 5855-61, fol. 4r). Copyright KBR.


Verzeichnis <strong>der</strong> Buch- und Kapitelüberschriften<br />

Kursiv gesetzte Kapitel sind in <strong>der</strong> vorliegenden Ausgabe<br />

nicht enthalten.<br />

<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong><br />

Buch I: Nützliche Ermahnungen für das geistliche Leben<br />

1. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong> und <strong>der</strong> Verachtung aller Eitelkeiten<br />

<strong>der</strong> Welt<br />

2. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> demütigen Meinung über sich selbst<br />

3. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Wahrheit<br />

4. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Umsicht im Handeln<br />

5. Vom Lesen <strong>der</strong> heiligen Schriften<br />

6. <strong>Von</strong> ungeordneten Neigungen<br />

7. Dass man nichtige Hoffnung und Überhebung vermeiden soll<br />

8. Dass man sich vor zu großer Vertraulichkeit hüten soll<br />

9. <strong>Von</strong> Gehorsam und Unterordnung<br />

10. Dass man sich vor überflüssigen Worten hüten soll<br />

11. Vom Erlangen des Friedens und dem Eifer, Fortschritte zu machen<br />

12. Vom Nutzen <strong>von</strong> Widrigkeiten<br />

13. Dass man Versuchungen wi<strong>der</strong>stehen soll<br />

14. Vom Vermeiden eines unbedachten Urteils<br />

15. <strong>Von</strong> Werken, die aus Liebe geschehen<br />

16. Vom Ertragen <strong>der</strong> Fehler an<strong>der</strong>er<br />

17. Vom Mönchsleben<br />

18. Vom Vorbild <strong>der</strong> heiligen Väter<br />

19. <strong>Von</strong> den Übungen eines guten Ordensmannes<br />

20. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Liebe zur Einsamkeit und zum Schweigen<br />

21. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Reue des Herzens<br />

22. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Betrachtung des menschlichen Elends<br />

23. Vom Bedenken des Todes<br />

11


Verzeichnis <strong>der</strong> Buch- und Kapitelüberschriften<br />

24. Vom Gericht und den Strafen <strong>der</strong> Sün<strong>der</strong><br />

25. <strong>Von</strong> eifriger Besserung unseres ganzen Lebens<br />

Buch II: Ermahnungen zur Innerlichkeit<br />

1. Vom innerlichen Wandel<br />

2. <strong>Von</strong> demütiger Unterwerfung<br />

3. Vom guten, friedfertigen Menschen<br />

4. <strong>Von</strong> reiner Gesinnung und einfältigem Streben<br />

5. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Selbstbetrachtung<br />

6. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Freude des guten Gewissens<br />

7. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Liebe, die Jesus über alles liebt<br />

8. <strong>Von</strong> vertrauter Freundschaft mit Jesus<br />

9. Vom Entbehren allen Trostes<br />

10. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Dankbarkeit für Gottes Gnade<br />

11. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> geringen Zahl <strong>der</strong>er, die das Kreuz Jesu lieben<br />

12. Vom Königsweg des heiligen Kreuzes<br />

Buch III: Das Buch vom innerlichen Trost<br />

1. Vom innerlichen Reden <strong>Christi</strong> zur gläubigen Seele<br />

2. Dass die Wahrheit im Inneren ohne das Getöse <strong>der</strong> Worte redet<br />

3. Dass man Gottes Worte mit Demut hören soll und dass viele sie<br />

nicht erwägen<br />

4. Dass man vor Gott in Wahrheit und Demut wandeln soll<br />

5. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>baren Wirkung <strong>der</strong> göttlichen Liebe<br />

6. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Bewährung des wahren Liebenden<br />

7. Dass man die Gnade unter dem Schutz <strong>der</strong> Demut verbergen soll<br />

8. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Geringschätzung seiner selbst vor den Augen Gottes<br />

9. Dass man alles auf Gott wie auf ein letztes Ziel zurückführen<br />

soll<br />

10. Dass es angenehm ist, Gott zu dienen, wenn man die Welt<br />

verachtet<br />

11. Dass man die Wünsche des Herzens prüfen und mäßigen soll<br />

12. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Anleitung zur Geduld und dem Ringen mit den Begierden<br />

12


Verzeichnis <strong>der</strong> Buch- und Kapitelüberschriften<br />

13. Vom Gehorsam des demütigen Untergebenen nach dem Vorbild<br />

Jesu <strong>Christi</strong><br />

14. Dass wir die verborgenen Gerichte Gottes betrachten sollen,<br />

damit wir uns nicht wegen des Guten überheben<br />

15. Wie man sich bei je<strong>der</strong> wünschenswerten Sache verhalten und<br />

sprechen soll<br />

16. Dass man wahren Trost allein bei Gott suchen soll<br />

17. Dass man alle Sorge Gott anheimstellen soll<br />

18. Dass man zeitliche Nöte nach <strong>Christi</strong> Vorbild mit Gleichmut<br />

tragen soll<br />

19. Vom Ertragen <strong>von</strong> Unrecht und wer sich als wahrhaft geduldig<br />

erweist<br />

20. Vom Bekenntnis <strong>der</strong> eigenen Schwäche und vom Elend dieses Lebens<br />

21. Dass man über allen Gütern und Gaben in Gott ruhen soll<br />

22. Vom Gedächtnis <strong>der</strong> vielfachen Wohltaten Gottes<br />

23. <strong>Von</strong> vier Dingen, die großen Frieden bringen<br />

24. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Vermeidung neugieriger Ausforschung des Lebens<br />

eines an<strong>der</strong>en<br />

25. Worin <strong>der</strong> feste Herzensfriede und <strong>der</strong> wahre Fortschritt bestehen<br />

26. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Erhabenheit des freien Gemüts, die eher durch demütiges<br />

Gebet als durch Lektüre erworben wird<br />

27. Dass Eigenliebe einen am meisten vom höchsten Gut fernhält<br />

28. Gegen die bösen Zungen <strong>der</strong> Verleum<strong>der</strong><br />

29. Wie man im Angesicht <strong>der</strong> Bedrängnis Gott anrufen und<br />

preisen soll<br />

30. Vom Erbitten göttlicher Hilfe und <strong>der</strong> Zuversicht auf Wie<strong>der</strong>gewinnung<br />

<strong>der</strong> Gnade<br />

31. Vom Hintansetzen jedes Geschöpfs, so dass man den Schöpfer<br />

finden kann<br />

32. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Selbstverleugnung und <strong>der</strong> Absage an jede Begierde<br />

33. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Unbeständigkeit des Herzens und dass man Gott zum<br />

Ziel seines Strebens haben soll<br />

34. Dass dem Liebenden Gott über alles und in allem gefällt<br />

13


Verzeichnis <strong>der</strong> Buch- und Kapitelüberschriften<br />

35. Dass es in diesem Leben keine Sicherheit <strong>von</strong> Versuchungen gibt<br />

36. Gegen die eitlen Urteile <strong>der</strong> Menschen<br />

37. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> reinen und vollständigen Preisgabe seiner selbst, um die<br />

Freiheit des Herzens zu erlangen<br />

38. <strong>Von</strong> guter Führung im Äußerlichen und vom Zufluchtnehmen bei<br />

Gott in Gefahren<br />

39. Dass <strong>der</strong> Mensch in seinen Unternehmungen nicht rücksichtslos<br />

sein soll<br />

40. Dass <strong>der</strong> Mensch aus sich selbst heraus nichts Gutes hat und sich<br />

keiner Sache rühmen kann<br />

41. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Verachtung je<strong>der</strong> zeitlichen Ehre<br />

42. Dass man seinen Frieden nicht auf Menschen gründen soll<br />

43. Gegen eitle und weltliche Wissenschaft<br />

44. Dass man keine äußerlichen Dinge an sich ziehen soll<br />

45. Dass man nicht allen glauben soll und vom leichten Fehltritt<br />

mit Worten<br />

46. Dass man Zuversicht zu Gott haben soll, wenn man mit Worten<br />

angegriffen wird<br />

47. Dass man alles Schwere um des ewigen Lebens willen<br />

ertragen soll<br />

48. Vom Tag <strong>der</strong> Ewigkeit und den Bedrängnissen dieses Lebens<br />

49. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Sehnsucht nach dem ewigen Leben und wie große Güter<br />

den Kämpfern verheißen sind<br />

50. Auf welche Weise ein verlassener Mensch sich in Gottes Hände<br />

aufopfern soll<br />

51. Dass man sich niedrige Werke vornehmen soll, wenn man für<br />

die höchsten zu schwach ist<br />

52. Dass <strong>der</strong> Mensch nicht glauben soll, er sei des Trostes würdig,<br />

son<strong>der</strong>n vielmehr, er habe Züchtigung verdient<br />

53. Dass Gottes Gnade sich nicht gemein macht mit denen,<br />

die Gefallen am Irdischen finden<br />

54. <strong>Von</strong> den verschiedenen Regungen <strong>der</strong> Natur und <strong>der</strong> Gnade<br />

55. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Ver<strong>der</strong>bnis <strong>der</strong> Natur und <strong>der</strong> Kraft <strong>der</strong> göttlichen Gnade<br />

14


Verzeichnis <strong>der</strong> Buch- und Kapitelüberschriften<br />

56. Dass wir uns selbst verleugnen und Christus durch das Kreuz<br />

nachfolgen sollen<br />

57. Dass <strong>der</strong> Mensch nicht allzu nie<strong>der</strong>geschlagen sein soll, wenn er<br />

in Fehler verfällt<br />

58. Dass man höhere Dinge und die verborgenen Gerichte Gottes<br />

nicht erforschen soll<br />

59. Dass man alle Hoffnung und Zuversicht allein auf Gott setzen soll<br />

Buch IV: Vom Sakrament<br />

0. [Proömium:] Fromme Ermahnung zur heiligen Kommunion<br />

1. Mit welcher Ehrerbietung Christus empfangen werden soll<br />

2. Dass die große Güte und Liebe Gottes im Sakrament dem Menschen<br />

dargereicht wird<br />

3. Dass es nützlich ist, oft zu kommunizieren<br />

4. Dass denen, die andächtig kommunizieren, viele Güter<br />

gewährt werden<br />

5. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Würde des Sakraments und vom Priesterstand<br />

6. Frage nach einer Übung vor <strong>der</strong> Kommunion<br />

7. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Prüfung des eigenen Gewissens und dem Vorsatz<br />

zur Besserung<br />

8. Vom Opfer <strong>Christi</strong> am Kreuz und <strong>der</strong> Selbsthingabe<br />

9. Dass wir uns und alles, was wir haben, Gott aufopfern und für alle<br />

beten müssen<br />

10. Dass man die heilige Kommunion nicht leichtfertig<br />

unterlassen darf<br />

11. Dass <strong>der</strong> Leib <strong>Christi</strong> und die Heilige Schrift <strong>der</strong> gläubigen Seele<br />

in höchstem Maße notwendig sind<br />

12. Dass sich mit großer Sorgfalt vorbereiten muss, wer mit Christus<br />

Gemeinschaft haben will<br />

13. Dass die andächtige Seele mit ganzem Herzen die Vereinigung mit<br />

Christus im Sakrament erstreben soll<br />

14. Vom brennenden Verlangen mancher Frommer nach dem<br />

Leib <strong>Christi</strong><br />

15


Verzeichnis <strong>der</strong> Buch- und Kapitelüberschriften<br />

15. Dass die Gnade <strong>der</strong> Andacht durch Demut und Selbstverleugnung<br />

erworben wird<br />

16. Dass wir unsere Nöte Christus eröffnen und seine Gnade<br />

suchen sollen<br />

17. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> brennenden Liebe und dem heftigen Verlangen,<br />

Christus zu empfangen<br />

18. Dass <strong>der</strong> Mensch nicht neugierig das Sakrament erforschen,<br />

son<strong>der</strong>n demütig Christus nachfolgen und seine Auffassung<br />

dem heiligen Glauben unterordnen soll<br />

16


Buch I<br />

Nützliche Ermahnungen für<br />

das geistliche Leben<br />

1. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong> und <strong>der</strong> Verachtung<br />

aller Eitelkeiten <strong>der</strong> Welt<br />

(1) Wer mir folgt, wandelt nicht in <strong>der</strong> Finsternis (Joh 8,12),<br />

spricht <strong>der</strong> Herr. (2) Dies sind Worte <strong>Christi</strong>, durch die wir<br />

ermahnt werden, sein Leben und sein Verhalten nachzuahmen,<br />

wenn wir wahrhaft erleuchtet und <strong>von</strong> aller Blindheit<br />

des Herzens befreit werden wollen. (3) Unser höchstes Bestreben<br />

soll sein, über das Leben Jesu <strong>Christi</strong> nachzusinnen.<br />

(4) Die Lehre <strong>Christi</strong> übertrifft alle Lehren <strong>der</strong> Heiligen, und<br />

wer den [heiligen] Geist hätte, fände in ihr verborgenes<br />

Manna. (5) Aber es kommt vor, dass viele, obwohl sie das<br />

Evangelium häufig hören, nur wenig Verlangen danach<br />

empfinden, weil sie den Geist <strong>Christi</strong> nicht haben. (6) Wer<br />

aber die Worte <strong>Christi</strong> vollständig und klug verstehen will,<br />

<strong>der</strong> muss sich bemühen, sein ganzes Leben ihm gleichförmig<br />

zu machen.<br />

(7) Was nützt es dir, tiefsinnig über die Dreieinigkeit zu<br />

disputieren, wenn dir die Demut fehlt, so dass du <strong>der</strong> Dreieinigkeit<br />

missfällst? (8) Es ist wahr: Tiefsinnige Worte machen<br />

nicht heilig und gerecht, aber ein tugendhaftes Leben macht<br />

einen Menschen Gott angenehm. (9) Ich wünsche mir mehr,<br />

Reue zu empfinden als ihre Definition zu wissen. (10) Wenn<br />

du die ganze Bibel und alle Aussprüche <strong>der</strong> Philosophen auswendig<br />

wüsstest – was würde das alles nützen ohne Liebe zu<br />

Gott und ohne Gnade?<br />

17


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Kempen</strong><br />

(11) Alles ist ganz und gar eitel (Pred 1,2), außer Gott zu<br />

lieben und ihm allein zu dienen (Mt 4,10). (12) Darin besteht<br />

die höchste Weisheit: durch Verachtung <strong>der</strong> Welt zum Himmelreich<br />

zu streben. (13) Folglich ist es Eitelkeit, vergängliche<br />

Reichtümer zu suchen und auf sie zu hoffen. (14) Eitelkeit ist<br />

auch, um Ehrenstellen nachzusuchen und sich zu Höherem<br />

zu erheben. (15) Eitelkeit ist es, den Begierden des Fleisches zu<br />

folgen und das zu begehren, wofür man danach schwer bestraft<br />

werden muss. (16) Eitelkeit ist es, ein langes Leben<br />

zu wünschen, sich aber wenig um ein gutes Leben zu sorgen.<br />

(17) Eitelkeit ist es, allein dem gegenwärtigen Leben Aufmerksamkeit<br />

zu schenken und sich nicht um das zu kümmern,<br />

was künftig ist. (18) Eitelkeit ist es, zu lieben, was rasend<br />

schnell vergeht und nicht dorthin zu eilen, wo bleibende<br />

und immerwährende Freude ist. (19) Denke häufig an<br />

den Spruch: Das Auge wird nicht satt vom Sehen und das<br />

Ohr wird nicht voll vom Hören (Pred 1,8). (20) Bemühe dich<br />

also, dein Herz <strong>von</strong> <strong>der</strong> Liebe zu den sichtbaren Dingen abzuziehen<br />

und dich auf die unsichtbaren Dinge zu verlegen.<br />

(21) Denn wer seiner Sinnenlust folgt, befleckt sein Gewissen<br />

und verliert Gottes Gnade.<br />

2. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> demütigen Meinung über sich selbst<br />

(1) Je<strong>der</strong> Mensch strebt <strong>von</strong> Natur aus nach Wissen. 1 Doch<br />

was bringt Wissen ohne Gottesfurcht? (2) Ein demütiger<br />

Bauer, <strong>der</strong> Gott dient, ist auf jeden Fall besser als ein hochmütiger<br />

Philosoph, <strong>der</strong> über den Lauf des Himmels nachdenkt,<br />

aber nicht auf sich selbst Acht hat. (3) Wer sich selbst<br />

gut kennt, wird sich selbst verächtlich und hat keine Freude<br />

1) Aristoteles, Metaphysik, I 1.<br />

18


<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong> – Buch I<br />

an menschlichem Lob. (4) Wenn ich alles wüsste, was in <strong>der</strong><br />

Welt ist, und wäre nicht in <strong>der</strong> Liebe (1Kor 13,2) – was hülfe<br />

es mir vor Gott, <strong>der</strong> mich nach meinem Tun richten wird?<br />

(5) Lass ab <strong>von</strong> <strong>der</strong> übermäßigen Wissbegier, denn dort findet<br />

man große Ablenkung und Täuschung. (6) Diejenigen, die<br />

Wissen haben, möchten gerne gesehen und weise genannt<br />

werden. (7) Es gibt vieles, das zu wissen <strong>der</strong> Seele wenig o<strong>der</strong><br />

nichts nützt. (8) Und sehr unklug ist, wer irgendwelchen an<strong>der</strong>en<br />

Dingen nachstrebt als dem, was zu seinem Heil dient.<br />

(9) Viele Worte machen die Seele nicht satt, aber ein gutes Leben<br />

erfrischt den Geist, und ein reines Gewissen verhilft zu<br />

großem Gottvertrauen.<br />

(10) Je größer und besser dein Wissen ist, desto strenger<br />

wirst du deswegen gerichtet werden, wenn du nicht umso<br />

heiliger gelebt hast. (11) Sei also nicht stolz über eine Fertigkeit<br />

o<strong>der</strong> ein Wissen, son<strong>der</strong>n fürchte dich lieber wegen <strong>der</strong><br />

dir geschenkten Kenntnis. (12) Wenn du meinst, dass du<br />

vieles weißt und bestens verstehst, dann wisse, dass es viel<br />

mehr gibt, was du nicht weißt. (13) Habe nicht den Wunsch,<br />

Schwieriges zu verstehen (Röm 11,20, Vulgata), son<strong>der</strong>n bekenne<br />

lieber deine Unwissenheit. (14) Weshalb willst du, dass<br />

man dir vor jemand an<strong>der</strong>em den Vorzug gibt, wo sich doch<br />

viele finden, die gelehrter sind als du und besser kundig im<br />

Gesetz?<br />

(15) Wenn du etwas Nützliches wissen und lernen willst,<br />

so liebe es, unbekannt zu sein und für nichts geachtet zu werden.<br />

(16) Das ist die höchste und nützlichste Lektion: wahre<br />

Erkenntnis und Verachtung seiner selbst. (17) <strong>Von</strong> sich selbst<br />

nichts zu halten, und <strong>von</strong> an<strong>der</strong>en immer eine gute und hohe<br />

Meinung zu haben, ist große Weisheit und Vollkommenheit.<br />

(18) Sähest du einen an<strong>der</strong>en offen sündigen o<strong>der</strong> irgendwelche<br />

schlimmen Taten begehen, solltest du dich selbst trotz-<br />

19


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Kempen</strong><br />

dem nicht für besser halten; denn du weißt nicht, wie lange<br />

du im Guten standhaft bleiben kannst. (19) Wir alle sind<br />

schwach; aber du sollst niemanden für schwächer halten als<br />

dich selbst.<br />

3. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Wahrheit<br />

(1) Glücklich ist, wen die Wahrheit durch sich selbst belehrt,<br />

nicht durch vergängliche Bil<strong>der</strong> und Worte, son<strong>der</strong>n so, wie<br />

sie ist. (2) Unser Meinen und unser Wahrnehmen trügt uns<br />

oft und erkennt wenig. (3) Was nützt großes Schwadronieren<br />

über verborgene und dunkle Dinge, <strong>der</strong>etwegen wir im Gericht<br />

nicht beschuldigt werden, wenn wir sie nicht gewusst<br />

haben? (4) Große Torheit ist es, dass wir Nützliches und Nötiges<br />

vernachlässigen und uns stattdessen mit Kuriosem und<br />

Schädlichem beschäftigen. (5) Wir haben Augen, doch wir sehen<br />

nicht (Jer 5,21; Röm 11,8). Und was kümmern uns Gattungen<br />

und Arten? (6) Zu wem das ewige Wort spricht, <strong>der</strong><br />

wird <strong>von</strong> vielen Meinungen befreit. (7) Aus dem Einen Wort<br />

ist alles, und <strong>von</strong> dem Einen spricht alles, und das ist „<strong>der</strong> Anfang“,<br />

<strong>der</strong> auch zu uns spricht (Joh 8,25). (8) Niemand kommt<br />

ohne es zur Erkenntnis o<strong>der</strong> urteilt recht. (9) Der, dem alles<br />

das Eine ist und <strong>der</strong> alles auf das Eine hinzieht und alles in<br />

dem Einem sieht, kann standhaften Herzens sein und in Gott<br />

im Frieden bleiben. (10) O Wahrheit Gott, mach mich eins mit<br />

dir in ewiger Liebe! (11) Es bereitet mir oft Überdruss, vieles<br />

zu lesen und zu hören – in dir ist alles, was ich will und wünsche.<br />

(12) Schweigen sollen alle Gelehrten, still sein alle Geschöpfe<br />

vor deinem Angesicht – du allein sprich zu mir!<br />

(13) Je mehr einer mit sich eins und innerlich einfältig ist,<br />

desto mehr und Höheres erkennt er ohne Mühe, weil er <strong>von</strong><br />

oben das Licht <strong>der</strong> Erkenntnis empfängt. (14) Ein reiner, ein-<br />

20


<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong> – Buch I<br />

fältiger und standhafter Geist wird auch in viel Arbeit nicht<br />

abgelenkt, weil er alles zur Ehre Gottes tut und danach strebt,<br />

nicht mit eigenen Absichten beschäftigt zu sein. (15) Wer behin<strong>der</strong>t<br />

und belästigt dich mehr, als deine unabgetötete Herzensleidenschaft?<br />

(16) Ein kluger und frommer Mensch legt<br />

sich seine Taten, die er äußerlich tun muss, zuvor innerlich<br />

zurecht. (17) Und nicht sie reißen ihn zu den Begierden einer<br />

lasterhaften Neigung hin, son<strong>der</strong>n er lenkt sie nach <strong>der</strong> Entscheidung<br />

<strong>der</strong> rechtschaffenen Vernunft. (18) Wer kämpft<br />

einen schwereren Kampf, als <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> danach strebt,<br />

sich selbst zu besiegen? (19) Und das sollte unsere Aufgabe<br />

sein: sich selbst besiegen und jeden Tag stärker werden als<br />

man selbst und ein Stück zum Besseren fortzuschreiten.<br />

(20) Je<strong>der</strong> Vollkommenheit in diesem Leben hängt eine<br />

gewisse Unvollkommenheit an, und alle unsere Betrachtung<br />

ist nicht frei <strong>von</strong> einer gewissen Dunkelheit. (21) Demütige<br />

Erkenntnis deiner selbst ist ein sichererer Weg zu Gott als<br />

tiefsinniges Forschen nach Wissen. (22) Wissen o<strong>der</strong> jegliche<br />

einfache Kenntnis <strong>von</strong> einer Sache ist nicht zu tadeln; sie ist,<br />

für sich selbst betrachtet, gut und <strong>von</strong> Gott verordnet. Aber<br />

ein gutes Gewissen und ein tugendhaftes Leben sind immer<br />

vorzuziehen. (23) Weil aber viele mehr danach streben zu<br />

wissen als gut zu leben, irren sie häufig und bringen fast<br />

keine o<strong>der</strong> mäßige Frucht. (24) Wenn sie doch nur ebenso<br />

große Sorgfalt darauf verwendeten, (in ihrer Seele) Laster<br />

auszurotten und Tugenden einzupflanzen wie darauf, Fragen<br />

zu erörtern, dann geschähen nicht so viele Übel und<br />

Ärgernisse im Kirchenvolk und nicht so großer Verfall in<br />

den Klöstern. (25) Gewiss werden wir, wenn <strong>der</strong> Gerichtstag<br />

kommt, nicht gefragt werden, was wir gelesen, son<strong>der</strong>n was<br />

wir getan haben, nicht, wie gut wir geredet, son<strong>der</strong>n wie<br />

fromm wir gelebt haben.<br />

21


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Kempen</strong><br />

(26) Sage mir, wo sind jetzt alle jene Herren und Lehrmeister,<br />

die du gut kanntest, als sie noch lebten und in ihren Studien<br />

blühten? (27) Jetzt besitzen an<strong>der</strong>e ihre Stellen, und ich<br />

weiß nicht, ob diese an sie denken. (28) In ihrem Leben waren<br />

sie angesehen, und jetzt schweigt man <strong>von</strong> ihnen. (29) O wie<br />

schnell vergeht weltlicher Ruhm (1 Joh 2,17)! (30) Wenn doch<br />

ihr Leben mit ihrem Wissen übereingestimmt hätte! Dann<br />

hätten sie gut studiert und gelesen. (31) Wie viele gehen durch<br />

nichtiges Wissen in dieser Welt zugrunde, weil sie sich darum<br />

wenig kümmern, Gott zu dienen! (32) Und weil sie sich lieber<br />

dafür entscheiden, groß als demütig zu sein, sind sie in ihren<br />

Gedanken dem Nichtigen verfallen (Röm 1,21). (33) Wahrhaft<br />

groß ist, wer große Liebe hat. (34) Wahrhaft groß ist, wer im<br />

Inneren klein ist, und jeden Gipfel <strong>der</strong> Ehre für nichts achtet.<br />

(35) Wahrhaft klug ist, wer alles Irdische für Kot hält, um<br />

Christus zu gewinnen (Phil 3,8). (36) Und wahrhaft wohlgelehrt<br />

ist, wer Gottes Willen tut und seinen eigenen Willen<br />

preisgibt.<br />

5. Vom Lesen <strong>der</strong> heiligen Schriften<br />

(1) Wahrheit muss man in den heiligen Schriften suchen,<br />

nicht Sprachgewalt. (2) Jede heilige Schrift muss im selben<br />

Geist gelesen werden, in dem sie verfasst wurde. (3) Wir müssen<br />

mehr das Nützliche in den Schriften suchen als die Feinheit<br />

des Ausdrucks. (4) Ebenso gerne sollen wir fromme und<br />

schlichte Bücher lesen wie hoch hinausgehende und tiefgründige.<br />

(5) Nicht soll dich das Ansehen des Verfassers kümmern,<br />

ob er <strong>von</strong> großer o<strong>der</strong> geringer Bildung war, son<strong>der</strong>n<br />

die Liebe zur reinen Wahrheit soll dich zur Lektüre ziehen.<br />

(6) Frage nicht, wer das gesagt hat, son<strong>der</strong>n achte darauf, was<br />

gesagt wird. 2 (7) Die Menschen gehen dahin, aber die Wahr-<br />

22


heit des Herrn bleibt in Ewigkeit (Ps 117,2). (8) Ohne Ansehen<br />

<strong>der</strong> Person spricht Gott zu uns auf verschiedene Weise. (9) Unsere<br />

Neugier behin<strong>der</strong>t uns oft beim Lesen <strong>der</strong> Schriften,<br />

wenn wir verstehen und erörtern wollen, worüber man einfach<br />

hinweggehen müsste. (10) Wenn du Nutzen daraus<br />

schöpfen willst, lies demütig, schlicht und treu, und wünsche<br />

niemals, als wissend zu gelten. (11) Frage gern und höre<br />

schweigend die Worte <strong>der</strong> Heiligen. Die Gleichnisse <strong>der</strong> Alten<br />

lass dir nicht missfallen, denn sie werden nicht ohne Grund<br />

überliefert (vgl. Sir 32,12 f.; 8,9).<br />

6. <strong>Von</strong> ungeordneten Neigungen<br />

<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong> – Buch I<br />

(1) Sooft ein Mensch irgendetwas in ungeordneter Weise begehrt,<br />

wird er sogleich innerlich unruhig. (2) Ein Hochmütiger<br />

und ein Habgieriger finden niemals Ruhe; ein im Geist<br />

Armer und Demütiger lebt in <strong>der</strong> Fülle des Friedens. (3) Ein<br />

Mensch, <strong>der</strong> noch nicht völlig in sich gestorben ist, fällt<br />

schnell in Versuchung und wird in kleinen und geringfügigen<br />

Dingen besiegt. (4) Ein im Geist schwacher und in gewisser<br />

Weise noch fleischlicher und dem Sinnlichen zugeneigter<br />

Mensch kann sich nur schwer ganz <strong>von</strong> irdischen Wünschen<br />

losreißen. (5) Und deshalb verfällt er oft in Traurigkeit, wenn<br />

er sie sich versagt; auch entrüstet er sich leicht, wenn sich ihm<br />

jemand wi<strong>der</strong>setzt. (6) Wenn er aber erlangt hat, was er begehrt,<br />

wird er sofort <strong>von</strong> Schuldbewusstsein beschwert, weil<br />

er seiner Leidenschaft gefolgt ist, die ihm nicht zum Frieden<br />

verhilft, den er suchte. (7) Zum wahren Herzensfrieden findet<br />

man also, indem man den Leidenschaften wi<strong>der</strong>steht, nicht<br />

2) Augustinus, Enarratio in Psalmum 36, s. 3, 20 (CCSL 38, 381 Dekkers/Fraipont).<br />

Ähnlich bereits bei Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, II 12, 11.<br />

23


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Kempen</strong><br />

indem man ihnen dient. (8) Daher gibt es keinen Frieden im<br />

Herzen eines fleischlich gesinnten Menschen und nicht in einem<br />

Menschen, <strong>der</strong> dem Äußerlichen ergeben ist, son<strong>der</strong>n in<br />

einem eifrigen und geistlichen Menschen.<br />

7. Dass man nichtige Hoffnung und Überhebung<br />

vermeiden soll<br />

(1) Nichtig hofft, wer seine Hoffnung auf Menschen o<strong>der</strong> auf<br />

Geschöpfe setzt. (2) Schäme dich nicht, an<strong>der</strong>en aus Liebe zu<br />

Jesus Christus zu dienen und in dieser Welt arm zu erscheinen.<br />

(3) Verlass dich nicht auf dich selbst, son<strong>der</strong>n setze deine<br />

Hoffnung auf Gott. (4) Tu, was du kannst, so wird Gott deinem<br />

guten Willen beistehen. (5) Vertraue nicht auf dein Wissen<br />

o<strong>der</strong> die Schlauheit irgendeines lebenden Menschen, son<strong>der</strong>n<br />

vielmehr auf Gottes Gnade, die den Demütigen hilft<br />

und die Anmaßenden demütigt. (6) Rühme dich nicht des<br />

Reichtums (Jer 9,23), wenn er da ist, noch <strong>der</strong> Freunde, weil<br />

sie mächtig sind, son<strong>der</strong>n Gottes (1Kor 1,31), <strong>der</strong> alles gibt<br />

und sich selbst über alles schenken will. (7) Überhebe dich<br />

nicht wegen <strong>der</strong> Größe o<strong>der</strong> Schönheit deines Körpers, die<br />

schon <strong>von</strong> einer kleinen Krankheit zerstört und entstellt<br />

wird. (8) Sei nicht selbstgefällig wegen deiner Geschicklichkeit<br />

o<strong>der</strong> deiner Begabung, damit du nicht Gott missfällig<br />

bist, dem alles gehört, was du <strong>von</strong> Natur aus an Gutem besitzt.<br />

(9) Halte dich nicht für besser als an<strong>der</strong>e, damit du<br />

nicht vor Gott, <strong>der</strong> weiß, was im Menschen ist (Joh 2,25), für<br />

schlechter gehalten wirst. (10) Sei nicht hochmütig wegen<br />

guter Werke, denn Gottes Urteil ist an<strong>der</strong>s als das <strong>der</strong> Menschen,<br />

und häufig missfällt ihm, was den Menschen gefällt.<br />

(11) Wenn du irgendetwas Gutes (an dir) hast, glaube <strong>von</strong> an<strong>der</strong>en<br />

noch Besseres, damit du die Demut bewahrst. (12) Es<br />

24


<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong> – Buch I<br />

schadet nichts, wenn du dich allen unterordnest; es schadet<br />

aber sehr, wenn du dich auch nur über einen stellst. (13) Beständiger<br />

Friede ist mit dem Demütigen, aber im Herzen des<br />

Hochmütigen ist häufig Eifersucht und Verachtung.<br />

11. Vom Erlangen des Friedens und dem Eifer,<br />

Fortschritte zu machen<br />

(1) Wir könnten viel Frieden haben, wenn wir uns nicht mit<br />

den Worten und Taten an<strong>der</strong>er und dem, was nicht unserer<br />

Sorge obliegt, beschäftigen wollten. (2) Wie kann jener lange<br />

im Frieden bleiben, <strong>der</strong> sich in fremde Sorgen einmischt, <strong>der</strong><br />

draußen nach Vorwänden sucht, <strong>der</strong> sich nur wenig o<strong>der</strong> selten<br />

innerlich sammelt? (3) Selig sind die Einfältigen, denn sie<br />

werden viel Frieden haben. (4) Warum waren einige Heilige so<br />

vollkommen und kontemplativ? (5) Weil sie in allem danach<br />

strebten, für jedes irdische Verlangen abzusterben. Deshalb<br />

konnten sie mit allen Fasern ihres Herzens Gott anhängen<br />

und in Freiheit für sich sein. (6) Wir beschäftigen uns zu<br />

sehr mit den eigenen Leidenschaften und sorgen uns zu sehr<br />

um Vergängliches. (7) Wir besiegen selten auch nur ein einziges<br />

Laster vollkommen und lassen uns nicht zu täglichem<br />

Fortschritt entflammen; deshalb bleiben wir kalt und lau.<br />

(8) Wenn wir uns selbst vollkommen abgestorben und innerlich<br />

nicht im mindesten verstrickt wären, dann könnten wir<br />

auch das Göttliche verstehen und etwas <strong>von</strong> <strong>der</strong> himmlischen<br />

Beschauung erfahren.<br />

(9) Das ganze und größte Hin<strong>der</strong>nis ist, dass wir nicht frei<br />

sind <strong>von</strong> Leidenschaften und Begierden und nicht versuchen,<br />

den vollkommenen Weg <strong>der</strong> Heiligen zu beschreiten. (10)<br />

Wenn uns auch nur eine kleine Widrigkeit begegnet, werden<br />

wir allzu schnell umgeworfen und wenden uns menschli-<br />

25


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Kempen</strong><br />

chen Tröstungen zu. (11) Wenn wir uns bemühen würden,<br />

wie tapfere Männer im Gefecht standzuhalten, dann würden<br />

wir fürwahr die Hilfe des Herrn vom Himmel her über uns<br />

kommen sehen (2Chr 20,17). (12) Denn er ist bereit, denen zu<br />

helfen, die kämpfen und auf seine Gnade hoffen, und er verschafft<br />

uns Gelegenheiten zum Kampf, damit wir siegen.<br />

(13) Wenn wir den Fortschritt im religiösen Leben allein mit<br />

äußerlichen Pflichten verbinden, dann wird unsere Frömmigkeit<br />

schnell ein Ende haben. (14) Wir wollen aber die<br />

Axt an die Wurzel legen, damit wir, <strong>von</strong> Leidenschaften gereinigt,<br />

einen friedevollen Geist haben. (15) Wenn wir jedes<br />

Jahr nur ein Laster ausrotteten, würden wir schnell zu vollkommenen<br />

Menschen werden. (16) Doch jetzt nehmen wir<br />

oft das Gegenteil wahr; wir finden, dass wir am Anfang unserer<br />

Bekehrung besser und reiner waren als nach vielen Jahren<br />

im Ordensstand. (17) Der Eifer und <strong>der</strong> Fortschritt müssten<br />

täglich wachsen, doch jetzt gilt es schon als etwas Großes,<br />

wenn einer nur einen Teil des ersten Eifers bewahren kann. 3<br />

(18) Wenn wir uns am Anfang ein wenig Gewalt täten, dann<br />

könnten wir später alles mit Leichtigkeit und Freude vollbringen.<br />

(19) Es ist schwer, Gewohntes zu unterlassen, doch<br />

schwerer ist es, gegen den eigenen Willen anzugehen. (20)<br />

Aber wenn du nicht das Kleine und Leichte besiegst, wie wirst<br />

du das Schwierigere überwinden? (21) Wi<strong>der</strong>stehe deiner Neigung<br />

am Anfang und verlerne die schlechte Gewohnheit, damit<br />

sie dich nicht allmählich in größere Schwierigkeit führt.<br />

(22) Ach wenn du einsähest, wie du durch gutes Verhalten dir<br />

großen Frieden und an<strong>der</strong>en Freude bereiten würdest! Ich<br />

glaube, du würdest dich mehr um deinen geistlichen Fortschritt<br />

kümmern.<br />

3) Vgl. Bernhard <strong>von</strong> Clairvaux, Sermo 27,5.<br />

26


12. Vom Nutzen <strong>von</strong> Widrigkeiten<br />

<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong> – Buch I<br />

(1) Es ist gut für uns, dass wir manchmal einigen Beschwernissen<br />

und Wi<strong>der</strong>ständen begegnen, denn oft rufen sie den<br />

Menschen zu seinem Herzen zurück, damit er erkennt, dass<br />

er in <strong>der</strong> Fremde ist, und seine Hoffnung nicht auf irgendetwas<br />

in <strong>der</strong> Welt setzt. (2) Es ist gut, dass wir mitunter Wi<strong>der</strong>spruch<br />

erleiden und dass man Schlechtes und Unvollkommenes<br />

<strong>von</strong> uns denkt, auch wenn wir Gutes tun und erstreben.<br />

(3) Das hilft häufig zur Demut und schützt uns vor eitlem<br />

Ruhm. (4) Denn dann suchen wir umso lieber Gott als inneren<br />

Zeugen, wenn wir äußerlich <strong>von</strong> den Menschen geringgeschätzt<br />

werden und man nichts Gutes <strong>von</strong> uns glaubt. (5)<br />

Deshalb sollte <strong>der</strong> Mensch sich so fest in Gott gründen, dass<br />

er es nicht nötig hat, viele menschliche Tröstungen zu suchen.<br />

(6) Wenn ein Mensch guten Willens bedrängt und versucht<br />

o<strong>der</strong> <strong>von</strong> bösen Gedanken heimgesucht wird, dann erkennt<br />

er, dass er vor allem an<strong>der</strong>en Gott braucht, und begreift,<br />

dass er ohne ihn nichts Gutes vermag. (7) Dann ist er<br />

auch traurig, seufzt und betet wegen des Unglücks, das er erleidet.<br />

(8) Dann wi<strong>der</strong>strebt es ihm, noch länger zu leben, und<br />

er wünscht, <strong>der</strong> Tod käme, dass er aufgelöst werden und bei<br />

Christus sein könne (Phil 1,23). (9) Dann wird er recht gewahr,<br />

dass vollkommene Sicherheit und vollständiger Friede in <strong>der</strong><br />

Welt nicht bestehen können.<br />

13. Dass man Versuchungen wi<strong>der</strong>stehen soll<br />

(1) Solange wir in <strong>der</strong> Welt leben, können wir nicht ohne Bedrängnis<br />

und Versuchung sein. (2) Daher steht bei Hiob geschrieben:<br />

(3) „Versuchung ist das Leben des Menschen auf<br />

Erden“ (Hiob 7,1). (3) Deshalb sollte je<strong>der</strong> wegen seiner Versu-<br />

27


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Kempen</strong><br />

chungen besorgt und wachsam im Gebet (1Petr 4,7) sein, dass<br />

<strong>der</strong> Teufel keine Gelegenheit findet, ihn zu betrügen; denn<br />

<strong>der</strong> schläft nie, son<strong>der</strong>n geht umher und sucht, wen er verschlinge<br />

(1Petr 5,8). (5) Niemand ist so vollkommen und heilig,<br />

dass er nicht irgendwann Versuchungen hätte, und wir<br />

können nicht ganz ohne sie sein. (6) Dennoch sind Versuchungen<br />

häufig sehr nützlich für den Menschen, auch wenn<br />

sie lästig und beschwerlich sind. Denn in ihnen wird <strong>der</strong><br />

Mensch gedemütigt, geläutert und erzogen. (7) Alle Heiligen<br />

sind durch viele Bedrängnisse und Versuchungen hindurchgegangen<br />

und sind dadurch vorangekommen. (8) Und diejenigen,<br />

die den Versuchungen nicht wi<strong>der</strong>stehen konnten,<br />

sind verworfen worden und abgefallen. (9) Es gibt keinen<br />

Stand, <strong>der</strong> so heilig, und keinen Ort, <strong>der</strong> so abgeschieden<br />

wäre, dass es dort keine Versuchungen o<strong>der</strong> Widrigkeiten<br />

gäbe. (10) Solange er lebt, ist <strong>der</strong> Mensch nie ganz sicher vor<br />

Versuchungen, denn <strong>der</strong> Grund für die Versuchung liegt in<br />

uns selbst, weil wir in Begierde geboren wurden. (11) Wenn<br />

eine Versuchung o<strong>der</strong> Bedrängnis weicht, folgt eine an<strong>der</strong>e<br />

nach, und immer werden wir irgendetwas erleiden müssen,<br />

denn wir haben das Gut unserer Glückseligkeit verloren.<br />

(12) Viele bemühen sich, den Versuchungen zu entfliehen<br />

– und verstricken sich nur noch schwerer in sie. (13) Allein<br />

durch Flucht können wir nicht siegen, doch durch Geduld<br />

und wahre Demut werden wir stärker als alle Feinde.<br />

(14) Wer nur äußerlich ausweicht und nicht die Wurzel ausreißt,<br />

<strong>der</strong> wird nur wenig Fortschritte machen. (15) Vielmehr<br />

werden die Versuchungen schneller zu ihm zurückkehren,<br />

und er wird noch schlimmer <strong>von</strong> ihnen befallen werden. (16)<br />

Durch Geduld und Langmut und mit Gottes Hilfe wirst du<br />

sie allmählich besser überwinden als durch eigene Härte und<br />

Ungestüm.<br />

28


<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong> – Buch I<br />

(17) Nimm in Versuchung häufig Rat an, und mit einem<br />

Menschen, <strong>der</strong> versucht wird, gehe nicht hart um, son<strong>der</strong>n<br />

schenke ihm Trost, wie du es dir selber wünschen würdest.<br />

(18) Der Anfang aller bösen Versuchungen ist die Unbeständigkeit<br />

des Geistes und geringes Gottvertrauen. Denn wie ein<br />

Schiff ohne Steuerru<strong>der</strong> <strong>von</strong> den Fluten hin und her getrieben<br />

wird, so wird ein nachlässiger Mensch, <strong>der</strong> seinen Vorsatz aufgibt,<br />

mannigfaltig versucht. (19) Feuer prüft Eisen (Sir 31,31),<br />

und die Versuchung den gerechten Menschen (Sir 27,6). (20)<br />

Oft wissen wir nicht, was wir können; aber die Versuchung<br />

macht offenbar, was wir sind. (21) Dennoch muss man wachsam<br />

sein, vor allem zu Beginn <strong>der</strong> Versuchung. Denn <strong>der</strong><br />

Feind wird leichter besiegt, wenn man ihn überhaupt nicht<br />

erst in die Tür des Geistes eintreten lässt, son<strong>der</strong>n ihm schon<br />

vor <strong>der</strong> Schwelle, gleich, wenn er anklopft, entgegentritt. (22)<br />

Deshalb hat jemand gesagt: „Wehre den Anfängen, zu spät<br />

wird sonst die Medizin bereitet“. 4 (23) Denn zuerst kommt<br />

dem Geist ein einfacher Gedanke, dann eine lebhafte Vorstellung,<br />

danach Verlockung, böse Regung und Einwilligung.<br />

(25) Und so dringt <strong>der</strong> böse Feind nach und nach ganz ein,<br />

wenn man ihm nicht am Anfang Wi<strong>der</strong>stand leistet. (26) Und<br />

je länger jemand beim Wi<strong>der</strong>stehen untätig bleibt, desto<br />

schwächer wird er <strong>von</strong> Tag zu Tag in sich selbst und desto<br />

mächtiger gegen ihn sein Feind.<br />

(27) Einige erleiden zu Beginn ihres geistlichen Lebens beson<strong>der</strong>s<br />

schwere Versuchungen, an<strong>der</strong>e hingegen am Ende.<br />

(28) Einigen geht es fast das ganze Leben hindurch schlecht,<br />

manche werden nur mild versucht, nach <strong>der</strong> Weisheit und<br />

Gerechtigkeit <strong>der</strong> göttlichen Anordnung, die den Zustand<br />

und die Verdienste des Menschen berücksichtigt und im Vor-<br />

4) Ovid, Remedia amoris, 91.<br />

29


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Kempen</strong><br />

aus alles zum Heil ihrer Erwählten ordnet. (29) Deshalb müssen<br />

wir nicht verzweifeln, wenn wir versucht werden, son<strong>der</strong>n<br />

umso brennen<strong>der</strong> zu Gott beten, dass er uns in aller Versuchung<br />

Hilfe gewähre; er wird ja gewiss nach dem Wort des<br />

Paulus <strong>der</strong> Versuchung einen solchen Ausgang bereiten, dass<br />

wir sie aushalten können (1Kor 10,13). (30) Wir wollen also unsere<br />

Seelen in aller Versuchung und Bedrängnis unter die<br />

Hand Gottes demütigen, denn er wird die im Geiste Demütigen<br />

retten und erhöhen (1Petr 5,6). (31) In Versuchungen und<br />

Bedrängnissen wird <strong>der</strong> Mensch geprüft, wie große Fortschritte<br />

er gemacht hat; in ihnen entsteht größeres Verdienst<br />

und wird die Tugend besser offenbar. (32) Es ist aber nichts<br />

Großes, wenn ein Mensch fromm und eifrig ist, solange er<br />

keine Beschwernis fühlt. Doch wenn er zur Zeit des Unglücks<br />

geduldig durchhält, besteht Hoffnung auf großen Fortschritt.<br />

(33) Einige werden vor großen Versuchungen bewahrt<br />

und in den kleinen, alltäglichen oft besiegt, so dass sie,<br />

dadurch gedemütigt, in den großen Versuchungen niemals<br />

auf sich selbst vertrauen, da sie schon in so geringen schwach<br />

sind.<br />

20. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Liebe zur Einsamkeit und<br />

zum Schweigen<br />

(1) Suche dir eine passende Zeit aus, um für dich zu sein, und<br />

denke häufig über Gottes Wohltaten nach. (2) Lass hinter dir,<br />

was die Neugier reizt, und lies immer wie<strong>der</strong> über solche Gegenstände,<br />

die mehr <strong>der</strong> Reue als <strong>der</strong> Unterhaltung dienen.<br />

(3) Wenn du dich überflüssigen Reden und müßigem Umhergehen<br />

sowie dem Hören auf Neuigkeiten und Gerüchte<br />

entziehst, wirst du ausreichende und passende Zeit finden,<br />

um dich guten Betrachtungen zu widmen. (4) Die größten<br />

30


<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong> – Buch I<br />

Heiligen mieden, wo sie nur konnten, menschliche Gesellschaft<br />

und zogen es vor, im Verborgenen Gott zu dienen.<br />

(5) Jemand hat gesagt: (6) Sooft ich unter Menschen war, bin<br />

ich als geringerer Mensch zurückgekehrt. 5 (7) Das erleben wir<br />

häufig, wenn wir lange miteinan<strong>der</strong> plau<strong>der</strong>n. (8) Leichter ist<br />

es, ganz zu schweigen, als sich beim Reden nicht zu verfehlen.<br />

(9) Leichter ist es, daheim verborgen zu bleiben, als draußen<br />

genügend auf <strong>der</strong> Hut zu sein. (10) Wer also danach strebt,<br />

zum Innerlichen und Geistlichen zu gelangen, <strong>der</strong> muss mit<br />

Jesus <strong>der</strong> Volksmenge aus dem Weg gehen (Joh 5,13). (11) Niemand<br />

kann sicher in die Öffentlichkeit treten, <strong>der</strong> nicht gerne<br />

verborgen ist. (12) Niemand kann sicher reden, <strong>der</strong> nicht<br />

gerne schweigt. (13) Niemand kann sicher obenan stehen,<br />

<strong>der</strong> sich nicht gerne unterordnet. (14) Niemand kann sicher<br />

Befehle erteilen, <strong>der</strong> nicht gelernt hat, recht zu gehorchen.<br />

(15) Niemand kann sich sicher freuen, <strong>der</strong> nicht in sich das<br />

Zeugnis eines guten Gewissens hat.<br />

(16) Dennoch war die Sicherheit <strong>der</strong> Heiligen immer voll<br />

Gottesfurcht, und sie waren deshalb nicht weniger sorgsam<br />

und demütig, weil sie durch große Tugenden und Gnade herausragten.<br />

(17) Die Sicherheit <strong>der</strong> Bösen aber entsteht aus<br />

Hochmut und Vermessenheit und verkehrt sich am Ende<br />

in Selbstbetrug. (18) Versprich dir in diesem Leben niemals<br />

Sicherheit, auch wenn du ein guter Mönch o<strong>der</strong> ein frommer<br />

Einsiedler zu sein scheinst. (19) Oft sind diejenigen, die <strong>von</strong><br />

den Menschen beson<strong>der</strong>s geschätzt wurden, wegen ihres<br />

übergroßen Selbstvertrauens in umso größere Gefahr geraten.<br />

(20) Daher ist es für viele nützlicher, nicht völlig frei zu<br />

sein <strong>von</strong> Versuchungen, son<strong>der</strong>n oft angefochten zu werden,<br />

damit sie nicht allzu sicher sind und sich womöglich zum<br />

5) Vgl. Seneca, Epistulae morales ad Lucilium, I 7, 3.<br />

31


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Kempen</strong><br />

Hochmut erheben und sich auch nicht allzu leichtfertig äußerlichen<br />

Tröstungen zuwenden. (21) Was für ein gutes Gewissen<br />

könnte einer sich bewahren, <strong>der</strong> niemals nach vergänglicher<br />

Freude strebte und sich niemals mit <strong>der</strong> Welt beschäftigte!<br />

(22) Wie großen Frieden und große Ruhe könnte<br />

einer besitzen, <strong>der</strong> jede eitle Sorge abschnitte und stattdessen<br />

nur über heilsame und göttliche Dinge nachdächte und seine<br />

ganze Hoffnung auf Gott setzte!<br />

(23) Niemand ist himmlischen Trostes würdig, wenn er<br />

sich nicht in heiliger Reue übt. (24) Wenn du <strong>von</strong> Herzen Reue<br />

empfinden willst, geh in deine Kammer und schließe das Getümmel<br />

<strong>der</strong> Welt aus, wie geschrieben steht: (25) Empfindet<br />

Reue in euren Kammern (Ps 4,5). (26) In <strong>der</strong> Zelle wirst du finden,<br />

was du draußen oft verlierst. (27) Die Zelle, in <strong>der</strong> du dauernd<br />

bleibst, wird dir lieb, aber die schlecht gehütete Zelle erzeugt<br />

Wi<strong>der</strong>willen. (28) Wenn du sie am Anfang deines Ordenslebens<br />

treu bewohnst und hütest, wird sie dir nachher<br />

eine geliebte Freundin und ein hochwillkommener Trost<br />

sein. (29) In Schweigen und Ruhe kommt die fromme Seele<br />

voran und lernt die Geheimnisse <strong>der</strong> Schriften; dort findet sie<br />

die Tränenströme, mit denen sie sich in je<strong>der</strong> Nacht wäscht<br />

und reinigt (vgl. Ps 6,7), dass sie ihrem Schöpfer desto vertrauter<br />

wird, je länger sie abseits <strong>von</strong> jedem weltlichen Getümmel<br />

bleibt. (30) Wer sich also <strong>von</strong> Bekannten und Freunden<br />

zurückzieht, <strong>der</strong> naht sich Gott selbst mit seinen heiligen<br />

Engeln.<br />

(31) Es ist besser, verborgen zu bleiben und für sich selbst<br />

Sorge zu tragen, als sich selbst zu vernachlässigen und Wun<strong>der</strong><br />

zu tun. (32) Es ist löblich für einen Ordensmann, selten<br />

hinaus zu gehen, zu vermeiden, sich sehen zu lassen, und<br />

auch selbst keine Menschen sehen zu wollen. (33) Warum<br />

willst du sehen, was du nicht haben darfst? (34) Die Welt ver-<br />

32


geht mit ihrer Lust (1 Joh 2,17). (35) Die sinnlichen Begierden<br />

verleiten uns, umherzugehen. Doch wenn die Stunde vorüber<br />

ist – was bringst du heim außer einem schweren Gewissen<br />

und einem zerstreuten Herzen? (36) Der fröhliche Ausgang<br />

gebiert oft eine traurige Rückkehr, und ein fröhlicher Abend<br />

macht einen traurigen Morgen. (37) So tritt jede fleischliche<br />

Freude schmeichelnd herein, doch am Ende beißt und tötet<br />

sie. (38) Was kannst du an<strong>der</strong>swo sehen, was du hier nicht<br />

siehst? (39) Sieh den Himmel und die Erde und alle Elemente,<br />

denn aus ihnen ist alles gemacht. (40) Was kannst du irgendwo<br />

sehen, was lange unter <strong>der</strong> Sonne bestehen kann? (41) Du<br />

glaubst vielleicht, du könntest dich daran sattsehen, aber das<br />

wirst du nicht erreichen. (42) Wenn du alles sehen könntest,<br />

was es gibt – was wäre das an<strong>der</strong>es als ein eitler Anblick?<br />

(43) Hebe deine Augen auf zu Gott in <strong>der</strong> Höhe und bete für<br />

deine Sünden und Nachlässigkeiten. (44) Überlass das Eitle<br />

den Eitlen, du aber strebe nach dem, was dir Gott geboten hat.<br />

(45) Schließe deine Tür hinter dir und rufe Jesus, deinen Geliebten,<br />

zu dir. (46) Bleibe mit ihm in <strong>der</strong> Zelle, denn nirgendwo<br />

sonst wirst du so viel Frieden finden. (47) Wärest du<br />

nicht hinausgegangen und hättest nicht irgendwelche Gerüchte<br />

gehört, wärest du besser in rechtem Frieden geblieben.<br />

(48) Weil es dich freut, bisweilen Neues zu hören, wirst du<br />

daraufhin die Unruhe des Herzens ertragen müssen.<br />

21. <strong>Von</strong> <strong>der</strong> Reue des Herzens<br />

<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Nachfolge</strong> <strong>Christi</strong> – Buch I<br />

(1) Wenn du Fortschritte machen willst, so erhalte dich selbst<br />

in Gottesfurcht und sei nicht zu freizügig, son<strong>der</strong>n halte alle<br />

deine Sinne unter <strong>der</strong> Zucht und gib dich nicht ungehörigen<br />

Freuden hin. (2) Widme dich <strong>der</strong> Reue des Herzens und du<br />

wirst Frömmigkeit finden. (3) Die Reue eröffnet den Zugang<br />

33


<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Kempen</strong><br />

zu vielen Gütern, die die Zügellosigkeit schnell zu verlieren<br />

pflegt. (4) Es ist erstaunlich, dass sich ein Mensch in diesem<br />

Leben jemals vollkommen freuen kann, wenn er seine Verbannung<br />

und die vielen Gefahren für seine Seele erwägt und<br />

bedenkt. (5) Wegen des Leichtsinns unseres Herzens und <strong>der</strong><br />

Gleichgültigkeit gegenüber unseren Fehlern fühlen wir<br />

nicht die Schmerzen unserer Seele, son<strong>der</strong>n lachen oft grundlos,<br />

wenn wir eigentlich weinen müssten. (6) Es gibt keine<br />

wahre Freiheit und keine ungetrübte Freude außer in Gottesfurcht<br />

und mit einem guten Gewissen. (7) Glücklich, wer<br />

jede hin<strong>der</strong>liche Zerstreuung abwerfen und sich zum Einswerden<br />

heiliger Reue sammeln kann! (8) Glücklich, wer sich<br />

<strong>von</strong> allem lossagt, was sein Gewissen beflecken o<strong>der</strong> beschweren<br />

kann.<br />

(9) Kämpfe tapfer! Gewohnheit wird durch Gewohnheit<br />

besiegt. (10) Wenn du es verstehst, die Menschen gehen zu<br />

lassen, werden sie dich in Ruhe das Deine tun lassen. (11) Mache<br />

dir nicht die Belange an<strong>der</strong>er zu eigen und mische dich<br />

nicht in die Angelegenheiten <strong>der</strong> Großen ein. (12) Habe immer<br />

zuerst ein Auge auf dich selbst und ermahne vor allen<br />

an<strong>der</strong>en, die du liebst, beson<strong>der</strong>s dich selbst. (13) Wenn du die<br />

Gunst <strong>der</strong> Menschen nicht hast, sei deswegen nicht betrübt;<br />

bedrücken soll dich aber, wenn du dich nicht so gut und umsichtig<br />

verhältst, wie sich ein Diener Gottes und frommer Ordensmann<br />

betragen sollte. (14) Oft ist es nützlicher und sicherer,<br />

dass ein Mensch in diesem Leben nicht viele Tröstungen<br />

hat, vor allem solche nach dem Fleisch. (15) Doch dass wir<br />

die göttlichen Tröstungen nicht haben o<strong>der</strong> nur selten fühlen,<br />

ist unsere Schuld, weil wir die Reue des Herzens nicht suchen<br />

und die eitlen und äußerlichen Tröstungen nicht völlig<br />

abwerfen. (16) Erkenne, dass du des göttlichen Trostes unwürdig<br />

bist, son<strong>der</strong>n eher viel Bedrängnis verdient hast.<br />

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Bibliographische Information <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />

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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: makena plangrafik, Leipzig<br />

Satz: ARW-Satz, Leipzig<br />

Druck und Binden: CPI books GmbH, Leck<br />

ISBN 978-3-374-07067-1 // eISBN (PDF) 978-3-374-07068-8<br />

www.eva-leipzig.de

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