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Michael Heymel: Woran glaubst du? (Leseprobe)

Wer Christ wird, lernt immer neu mit Jesus anzufangen, meint Michael Heymel. Wie geht das heute, wenn man über die globale Situation des Christentums nachdenkt? Dieses Buch setzt voraus, dass christlicher Glaube gottesdienstlich gelebt, in unterschiedlichen Kulturen gestaltet, reflektiert und verantwortet wird. Es lädt aus evangelischer Perspektive zum Gespräch über den Glauben ein und bietet Auskünfte über das, was in Martin Luthers Kleinem Katechismus »Hauptstücke des Glaubens« genannt wird: das Apostolische Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, die Zehn Gebote, Taufe und Abendmahl. Außerdem führt es in solche Stücke ein, die auch für viele Christen nicht mehr selbstverständlich sind, wie das Kirchenjahr, die Heilige Schrift, den Gottesdienst, die Psalmen und die Beichte.

Wer Christ wird, lernt immer neu mit Jesus anzufangen, meint Michael Heymel. Wie geht das heute, wenn man über die globale Situation des Christentums nachdenkt?

Dieses Buch setzt voraus, dass christlicher Glaube gottesdienstlich gelebt, in unterschiedlichen Kulturen gestaltet, reflektiert und verantwortet wird. Es lädt aus evangelischer Perspektive zum Gespräch über den Glauben ein und bietet Auskünfte über das, was in Martin Luthers Kleinem Katechismus »Hauptstücke des Glaubens« genannt wird: das Apostolische Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, die Zehn Gebote, Taufe und Abendmahl. Außerdem führt es in solche Stücke ein, die auch für viele Christen nicht mehr selbstverständlich sind, wie das Kirchenjahr, die Heilige Schrift, den Gottesdienst, die Psalmen und die Beichte.

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<strong>Michael</strong> <strong>Heymel</strong><br />

<strong>Woran</strong> <strong>glaubst</strong> <strong>du</strong>?<br />

Evangelischer Glaube im Gespräch


Vorwort<br />

Seit Jahren wünsche ich mir ein Elementarbuch des christlichen<br />

Glaubens, das Auskunft gibt: <strong>Woran</strong> glauben Christen<br />

– und woran nicht? Die Frage lautet nicht: Was müssen<br />

sie glauben? Mich bewegen eher Bonhoeffers Wunsch: »Ich<br />

möchte glauben lernen«, und seine Frage: »Was glauben wir<br />

wirklich? D. h. so, daß wir mit unserem Leben daran hängen?«<br />

(DBW 8, 542; 559).<br />

Christentum und Kirche in Westeuropa sind in Erosion<br />

begriffen. Man kann nicht mehr voraussetzen, dass Grundworte<br />

des Glaubens verstanden werden. Wer heute in<br />

Deutschland Christ sein will, dem drängt sich der Eindruck<br />

auf: Die Fundamente sind brüchig, alle Glaubensaussagen,<br />

wirklich alle, werden in den Sog des Relativismus gezogen.<br />

Dann kam die Corona-Pandemie. Es dauerte nicht lange,<br />

da wurde an den Kirchen öffentlich Kritik geübt (zu Unrecht,<br />

meine ich): Sie hätten Kranke, Einsame, Alte und Sterbende<br />

allein gelassen und Gotteshäuser unnötigerweise geschlossen.<br />

Die Kritik verschärfte sich, als sie auch die kirchliche<br />

Verkündigung in den Blick nahm: »Ein Gott von gestern?«<br />

(Publik-Forum 13/2020) wurde vorwurfsvoll gefragt. »Pflegen<br />

unsere Kirchen überholte Gottesbilder und Denkmodelle?«<br />

Oder anders: Sind Theologie und Volkskirche wirklich<br />

auf das Unverfügbare vorbereitet? Es gebe »Wirklichkeiten<br />

…, gegen die wir keinerlei Dämme chaosbeseitigender<br />

zivilisierender Humanität zu errichten imstande sind, die<br />

dem Leben verbieten könnten, weiter zu gehen, als es erlaubt<br />

ist«, schrieb der systematische Theologe Ralf Frisch<br />

(Zeitzeichen 3/2020). Er sieht (zu Recht, wie ich finde) in dem<br />

5


Vorwort<br />

Virus eine Heimsuchung, aber »auch eine Chiffre für den<br />

Glauben an Gott«.<br />

Als aufgeklärte säkulare Protestanten sind wir in Verlegenheit:<br />

Wie sollen wir von Gott reden, wenn das Kontingente,<br />

Unberechenbare uns derart bedroht? Ja, es stimmt,<br />

wir Theologen, von Beruf zuständig für den Umgang mit<br />

dem Unbeherrschbaren – mit Katastrophen, die Leid und<br />

Tod bringen –, finden oft nicht die rechten Worte, bringen<br />

das, was da über uns hereingebrochen ist, nicht mit Gott zusammen.<br />

Ralf Frisch stellt fest, dass uns »die theologischen<br />

Umgangsformen für das existenzerschütternd Unverfügbare,<br />

für das Tragische und am Ende für das Heilige, also für<br />

Gott selbst abhanden gekommen sind«. Dem ethisch engagierten<br />

Protestantismus hält er vor, er habe »den theologischen<br />

Bezug zu allem verloren, was nicht verändert werden<br />

kann, sondern demütig hingenommen und in Gottes Hände<br />

gelegt werden muss«.<br />

Wenn diese Diagnose zutrifft, ist es höchste Zeit, neu<br />

über unser Verhältnis zur Wirklichkeit nachzudenken und<br />

darüber, was der christliche Glaube damit zu tun hat. Das<br />

Coronavirus ist ein Angriff auf den säkularen Fortschrittsglauben,<br />

auf die Ideologie des Wachstums, auf das Selbstbild<br />

des Menschen in der technologischen Zivilisation und seinen<br />

Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten des Machbaren.<br />

Indivi<strong>du</strong>elle Freiheit, freizügiges Handeln, Mobilsein<br />

und Reisen, Sozialkontakte, wo und wie es uns gefällt, unsere<br />

Lebens- und Essgewohnheiten, das Recht auf uneingeschränkten<br />

Konsum – das alles ist seit Monaten eingeschränkt,<br />

um die Ausbreitung des Virus einzugrenzen. Das<br />

Virus deckt auf, dass wir nicht wissen, wie wir mit den Rand-<br />

6


Vorwort<br />

bedingungen unserer indivi<strong>du</strong>ell-konsumtiven Lebensweise<br />

umgehen sollen. Es fordert uns heraus, neue Lebensmodelle<br />

zu entwickeln (Scherer). Wie kann man da an Gott<br />

glauben? Wer ist damit überhaupt gemeint?<br />

Ich wollte in dieser Situation nicht den Schluss ziehen,<br />

dass man sich verabschieden müsse von angeblich überholten<br />

Gottesvorstellungen, tradierten christlichen Lehren und<br />

Praktiken, um zu einem Christentum zu gelangen, das zeitgemäß<br />

und lebensnah ist. Das ist das alte liberale Verfahren,<br />

sich Glaube und Christsein so lange zurechtzuformen, bis es<br />

einem endlich einleuchtet. Es führt regelmäßig dazu, mit<br />

den alten Traditionsstücken, die man ablehnt, alles Fremde,<br />

Sperrige, Provozierende der christlichen Botschaft gleich<br />

mit zu entsorgen. Was nicht passt, wird passend gemacht.<br />

Der Weg, den ich gewählt habe, führt in eine andere Richtung.<br />

Mir geht es darum, das zu suchen, was am Christentum<br />

taufrisch, neu, unabgegolten, noch nicht verwirklicht<br />

ist. Mich interessiert das an ihm, was gängigen Wünschen<br />

und Erwartungen merkwürdig unzeitgemäß entgegensteht.<br />

Eine heilsame Weltfremdheit begegnet uns, wenn wir an<br />

die Anfänge des Christlichen zurückgehen: zur Person des<br />

Jesus von Nazareth, in dem seine ersten Anhänger den Messias,<br />

den Christus erkannten. Als Auferstandener lädt er sie<br />

ein, neu anzufangen.<br />

In der Begegnung mit ihm ist das Zentrum, das Geheimnis,<br />

der Glutkern des Christentums zu finden, der in der<br />

Komfortzone des modernen Westens abgekühlt ist. Um ihn<br />

zu entdecken und sich an ihm zu entzünden, braucht es<br />

Reibungspunkte. Was ich Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser,<br />

hier an die Hand gebe, sind Texte, an denen Sie sich rei-<br />

7


Vorwort<br />

ben können. Sie wollen keine fix und fertigen Antworten geben,<br />

sondern zum Fragen, Nachdenken und selbständigen<br />

Urteilen anregen. Ich wünsche mir Leserinnen und Leser,<br />

die sich vergewissern wollen, was sie trägt: <strong>Woran</strong> glaube<br />

ich? Die sich selbst von der Tragfähigkeit der christlichen<br />

Botschaft überzeugen wollen: <strong>Woran</strong> glauben Christen –<br />

und woran nicht?<br />

Christen sind keine Leute, die alles Mögliche glauben.<br />

Sie glauben, dass bei Gott alle Dinge möglich sind. Sie sprechen<br />

nicht einfach nach, was andere ihnen vorsagen. Sie<br />

prüfen alles und behalten das Gute. Sie tragen keine fraglosen<br />

Gewissheiten und Sicherheiten vor sich her. Manches<br />

verschlägt ihnen die Sprache, manchmal wissen sie nicht,<br />

was werden soll. Sie üben sich in einem Glauben, der über<br />

Abgründe trägt.<br />

Limburg, im Juli 2021<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Heymel</strong><br />

8


Inhaltsverzeichnis<br />

Einführung..................................................13<br />

Zur Situation des Christentums..........................19<br />

1. Spirituelle Suche......................................19<br />

2. Ein Evangelium für Suchende.......................20<br />

3. Christsein in der Moderne............................25<br />

4. Die geistliche Würde der Laien......................43<br />

Der Glaube...................................................46<br />

1. Das älteste christliche Bekenntnis...................46<br />

2. Wer ist die Kirche?....................................52<br />

3. Wie Kirche in Bewegung kommt.....................57<br />

4. Das Apostolische Glaubensbekenntnis..............65<br />

Das Kirchenjahr.............................................93<br />

1. Das christliche Festjahr..............................93<br />

2. Das Besondere des Kirchenjahres....................94<br />

3. Die Struktur des Kirchenjahres......................95<br />

4. Die liturgischen Farben..............................97<br />

5. Besondere Gedenktage................................98<br />

6. Leben im Kirchenjahr................................99<br />

Die Heilige Schrift........................................ 104<br />

1. Bibel – Schrift – Kanon............................. 104<br />

2. Lesen – Vorlesen – Verkünden...................... 106<br />

3. Die Bibel will gesungen werden................... 113<br />

4. Namen Gottes in der Schrift....................... 114<br />

9


Inhaltsverzeichnis<br />

Der Gottesdienst.......................................... 120<br />

1. Der Sinn der Liturgie............................... 120<br />

2. Die Predigt.......................................... 121<br />

3. Kirchenlied und Gesangbuch...................... 122<br />

Die Zehn Gebote.......................................... 124<br />

1. Die Zehn Worte – mit dem Judentum<br />

verstanden........................................... 125<br />

2. Das höchste Gebot.................................. 138<br />

3. Glaube und Leben nach den Briefen des Paulus.... 141<br />

Das Gebet – Kleine Gebetslehre......................... 145<br />

1. Die Gedanken für Gott öffnen<br />

(Abraham J. Heschel)............................... 145<br />

2. Einführung ins Beten (Martin Luther)............ 146<br />

3. Das Vaterunser...................................... 149<br />

4. Der Psalter – ein Gebetbuch....................... 154<br />

Das älteste Abbild Jesu Christi.......................... 160<br />

1. Begegnungen........................................ 161<br />

2. Geschichte und Bedeutung......................... 163<br />

Die Taufe................................................... 167<br />

1. Was bedeutet mir meine Taufe?................... 167<br />

2. Die Begrün<strong>du</strong>ng der christlichen Taufe........... 169<br />

3. Die Taufe Jesu...................................... 170<br />

4. Was berichten die Evangelien?.................... 172<br />

5. Was berichten die Briefe?.......................... 173<br />

6. Was geschieht? Die Bedeutung der Taufe........ 174<br />

7. Zur evangelischen Lehre von der Taufe........... 176<br />

10


Inhaltsverzeichnis<br />

Das Abendmahl........................................... 179<br />

1. Die Abendmahlsberichte im Neuen<br />

Testament........................................... 179<br />

2. Passa und Abendmahl.............................. 181<br />

3. Zur evangelischen Abendmahlslehre.............. 183<br />

4. Wie ist das Abendmahl zu verstehen?............. 185<br />

5. Evangelische Abendmahlslieder................... 188<br />

6. Formen der Abendmahlsfeier...................... 189<br />

Die Beichte................................................. 192<br />

1. Was bedeuten Beichte und Buße?.................. 192<br />

2. Biblische Wurzeln.................................. 193<br />

3. Zur Geschichte der Beichte......................... 195<br />

4. Beichte, evangelisch verstanden................... 197<br />

Glaubwürdig Christ sein................................ 200<br />

Die Chance der Christenheit............................ 203<br />

Die Zukunft der Kirche.................................. 207<br />

Drei Lektionen für Christen in Europa................. 209<br />

Ausblick: Wie die arabischen Seefahrer................ 216<br />

Bekenntnisse der Kirche................................. 218<br />

1. Martin Luther (1528/29)........................... 218<br />

2. Das Augsburger Bekenntnis (1530)............... 220<br />

3. Heidelberger Katechismus (1563)................. 222<br />

4. La Confession de Foi de la Rochelle (1569)....... 223<br />

5. Die Barmer Theologische Erklärung (1934)...... 225<br />

6. Die Basis des Ökumenischen Rats der Kirchen<br />

(1948)................................................ 230<br />

7. Die Charta Oecumenica (2001).................... 231<br />

11


Inhaltsverzeichnis<br />

Glaubensbekenntnisse von Theologen................ 234<br />

1. Dietrich Bonhoeffer (1931/1942).................. 234<br />

2. Kurt Marti (1980).................................. 237<br />

3. Lothar Zenetti (1989).............................. 239<br />

Literatur................................................... 243<br />

Nachweise................................................. 252<br />

12


Einführung<br />

Über den Glauben sprechen? Nicht jeder kann das, und man<br />

kann es nicht mit jedem. Es braucht geschützte Räume<br />

dazu, Menschen des Vertrauens, denen wir uns anvertrauen<br />

können. Beim Glauben geht es um persönliche Überzeugungen,<br />

aber auch um Lebenshaltungen und geistige Werte,<br />

um das, was mir heilig ist. Es geht um meine Beziehung<br />

zu Gott.<br />

Darüber ins Gespräch zu kommen, ist in anderen Kulturen<br />

leichter als bei uns in Mitteleuropa. Wer in Indien mit<br />

dem Zug fährt, wird rasch gefragt: »What is your religion?«<br />

Was würde die Frage bei Ihnen auslösen, wenn eine Mitreisende<br />

im ICE Sie danach fragte? Könnten Sie ihr antworten:<br />

»Ich bin Christin!« oder »Ich bin Christ!« und in einfachen<br />

Worten erklären, was das für Sie bedeutet?<br />

Christlicher Glaube braucht das Gespräch. Gerade das<br />

Gespräch mit weltoffenen, neugierigen, nachdenklichen<br />

Zeitgenossen.<br />

In der postmodernen freien Gesellschaft ist Diversität<br />

alltäglich. Wir können unterschiedliche Formen des Glaubens<br />

praktizieren und räumen Angehörigen anderer Religionen<br />

dasselbe Recht ein wie das, was wir für uns in Anspruch<br />

nehmen. Das gelingt nicht überall. Zur Verständigung<br />

braucht es Respekt und guten Willen, aber auch<br />

Urteilskraft, die Fähigkeit zu unterscheiden, und den Mut,<br />

für seine Überzeugung einzustehen.<br />

Christen können Auskunft geben, woran sie glauben –<br />

und woran nicht. Sie sollten ihren Glauben verantworten<br />

können. »Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jeder-<br />

13


Einführung<br />

mann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung,<br />

die in euch ist« (1 Petr 3,15). Um meinen Glauben verantworten<br />

zu können, muss ich bereit sein, über seine<br />

Grundlagen nachzudenken. Begegnungen fordern mich<br />

heraus, anderen diesen Glauben so darzustellen, dass sie mir<br />

abnehmen können, was ich sage. Das geschieht umso überzeugender,<br />

je mehr ich das, woran ich glaube, in Beziehung<br />

setzen kann zu den Vorstellungen meines Gegenübers. Welche<br />

Position beziehe ich zu seinen Ansichten, Fragen, Bedenken<br />

und Einwänden?<br />

Nicht alles, was Menschen dafür halten und was die öffentliche<br />

Meinung dafür ausgibt, ist christlicher Glaube. In<br />

der westlichen Welt wird oft sehr pauschal und unverbindlich<br />

über Glaube und Religion geredet. Viele, darunter gebildete<br />

Leute, diskutieren darüber so, als ob sie sich nicht<br />

vorstellen könnten, dass man als moderner Mensch eine<br />

persönliche Beziehung zu Gott und zu Jesus haben kann.<br />

Über Kirche und Christentum kursieren Vorurteile, Klischees,<br />

Halbwahrheiten, selbst bei Familienmitgliedern und<br />

guten Bekannten. Sie verraten vor allem eins: dass diejenigen,<br />

die sie weitergeben, mit Kirche und Christentum keine<br />

eigene Erfahrung verbinden oder schlicht keine Ahnung haben,<br />

wovon sie reden.<br />

Hier braucht es Christen, die Mut zur Wahrheit haben<br />

und sich trauen, sie auszusprechen. Das Neue Testament<br />

nennt diese Haltung parrhesía. Auf Deutsch heißt das »Freimut«<br />

oder »Zuversicht«. Gemeint ist der Mut, offen heraus<br />

zu sprechen, statt zu verstummen oder sich ver<strong>du</strong>mmen zu<br />

lassen. Jesus sprach frei und offen, auch die Apostel konnten<br />

so kühn und mutig auftreten, nicht etwa, weil sie von Hau-<br />

14


Einführung<br />

se aus mutiger als andere Menschen waren, sondern weil sie<br />

sich an Jesus Christus hielten. Im Glauben setzten sie auf<br />

den, der über die Mächte öffentlich (en parrhesía) triumphiert<br />

hat (Kol 2,15).<br />

Die globale Situation des Christentums stellt sich heute<br />

anders dar, als moderne Europäer sie meist sehen. Deshalb<br />

nimmt das erste Kapitel dazu Stellung. Zugleich gibt es Auskunft<br />

über die Position des Autors. Dieses Buch enthält<br />

Basistexte und Anregungen für das offene Gespräch über<br />

den Glauben aus evangelischer Perspektive. Es bietet Auskünfte<br />

über das, was in Martin Luthers Kleinem Katechismus<br />

»Hauptstücke des Glaubens« genannt wird: das Apostolische<br />

Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, die Zehn Gebote,<br />

Taufe und Abendmahl. Außerdem führt es in solche<br />

Stücke ein, die heute für viele Christen keineswegs mehr<br />

selbstverständlich sind, wie das Kirchenjahr, die Heilige<br />

Schrift, den Gottesdienst, die Psalmen und die Beichte.<br />

Zu den erklärungsbedürftigen Wörtern gehört auch das<br />

Adjektiv ›evangelisch‹. Was soll das heißen: evangelischer<br />

Glaube und evangelische Christen? Es geht mir dabei um<br />

mehr als die kirchliche Konfession, mit der man auf dem Papier<br />

seine Kirchenzugehörigkeit angibt. Ich verstehe darunter<br />

keine Eigenschaft, die wie Augenfarbe und Körpergröße<br />

einfach feststellbar ist, sondern eine Relation, die zum Vorschein<br />

kommen oder verstellt sein kann. Evangelisch ist,<br />

was dem Evangelium gemäß ist und sich als ihm angemessen<br />

erweist.<br />

Ich wurde als Kind evangelisch getauft und gehöre bis<br />

heute zur evangelischen Kirche. Aber ein Christ bin ich<br />

<strong>du</strong>rch Taufe und Kirchenzugehörigkeit noch nicht gewor-<br />

15


Einführung<br />

den. Beide tun es nicht, wenn der Glaube fehlt, der dazu bewegt,<br />

sich die Taufe anzueignen und aus ihr zu leben. Meinen<br />

Eltern fehlte dieser Glaube. Sie fühlten sich der Kirche<br />

kaum verbunden, mein Vater ist nach meiner Taufe aus der<br />

Kirche ausgetreten.<br />

Ich hatte mich entschieden, Pfarrer zu werden. Im Theologiestudium<br />

wollte ich herausfinden, ob es möglich ist,<br />

zum Christen ›erzogen‹ zu werden und andere zu Christen<br />

zu ›erziehen‹. Es stellte sich heraus, dass das nicht geht. Kein<br />

Mensch kann einen anderen zum Christen machen, keiner<br />

wird dazu, nur weil er christlich erzogen wurde. Wer selber<br />

in einem Glaubensverhältnis zu Jesus existiert, kann andere<br />

nur auf die Aufgabe des Christwerdens aufmerksam machen.<br />

Das sah ich als meine Aufgabe: das Christwerden. Das Entscheidende<br />

geschieht <strong>du</strong>rch das Evangelium, die Heilsbotschaft<br />

von Jesus Christus. Wer von ihr getroffen wird, sucht<br />

ihr befreit und dankbar zu entsprechen. Das erlaubt mir<br />

z. B., unbefangen auf Lehrer der Kirche und des Judentums<br />

zu hören. Was ich von ihnen lerne, hilft mir zum tieferen<br />

Verständnis meines Weges im Glauben. Christlicher Glaube<br />

ist kein Für-wahr-Halten zeitloser Wahrheiten. Glauben<br />

heißt vielmehr, einen Weg gehen und wahrnehmen.<br />

Keiner glaubt für sich allein. Keiner muss allein über den<br />

Glauben nachdenken. Eine große Schar von Glaubenszeugen<br />

ist uns auf dem Weg vorangegangen, viele sind neben<br />

uns und mit uns unterwegs, die sich der Fundamente ihres<br />

Glaubens vergewissern wollen. Sie suchen nach tragfähigen<br />

Antworten: Wer ist Jesus für mich? Was heißt eigentlich:<br />

eine Christin, ein Christ sein? Wie werde ich das, und wozu<br />

16


Einführung<br />

ist das gut? Wen kenne ich, dessen Beispiel mich von der<br />

Wahrheit des christlichen Glaubens überzeugt hat?<br />

Suchen Sie Menschen Ihres Vertrauens, mit denen Sie<br />

sich darüber austauschen! Lassen Sie sich darauf ein, mehr<br />

über die Essentials des christlichen Glaubens zu erfahren!<br />

Wir brauchen dieses Gespräch. Die Kirche braucht es, die<br />

Männer und Frauen brauchen es, die freie, mündige Christen<br />

sein wollen.<br />

17


Zur Situation des Christentums<br />

1. Spirituelle Suche<br />

Wir leben, wie der Sozialphilosoph Charles Taylor bemerkt<br />

hat, in einem »Zeitalter der Authentizität«, in dem viele auf<br />

der Suche nach echtem Lebenssinn und echten Erlebnissen<br />

des Heiligen sind. Der Einzelne muss selbst seinen Weg<br />

dorthin finden. »Die Grundform des spirituellen Lebens ist<br />

daher … die Suche« (Taylor, 847). Eine solche Spiritualität ist<br />

nicht an eine institutionalisierte Religion gebunden. Sie<br />

muss vor allem das indivi<strong>du</strong>elle Erleben ansprechen. Und<br />

dies möglichst nachhaltig. Davon sind auch die christlichen<br />

Kirchen betroffen. Sie reagieren auf die Suchbewegung, indem<br />

sie sich neu formieren. Aber nicht einmal den reformfreudigen<br />

evangelischen Kirchen gelingt es auf diese Weise,<br />

ihre Mitglieder an sich zu binden.<br />

Taylor meint, dass der Zugang zur religiösen Praxis vermittelt<br />

wird <strong>du</strong>rch »Formen der spirituellen Praxis, zu denen<br />

man sich hingezogen fühlt« (Taylor, 861). Wer eine von<br />

ihnen für sich übernehme, könne später seinen Ort in der<br />

kirchlichen Praxis finden. Als Katholik ist Taylor überzeugt,<br />

dass es konkrete Praktiken wie Meditation und Gebet, gemeinsames<br />

Singen und Pilgern sind, die den Zugang zu traditionellen<br />

Formen des christlichen Glaubens bahnen. Erfahrungen<br />

mit Gemeinschaften wie der Kommunität Taizé<br />

bestätigen seine Ansicht. Auch evangelische Kirchen und<br />

Gemeinden haben dafür Vorbilder. Starke religiöse Gemeinschaften<br />

sind am ehesten in der Lage, die spirituelle Sehnsucht,<br />

den Hunger nach Leben, nach Verbundensein mit der<br />

19


Zur Situation des Christentums<br />

Quelle des Lebens zu nähren und wachzuhalten. Um den<br />

Weg zu ihnen zu finden, ist es weder nötig noch sinnvoll, die<br />

Kirche zu verlassen. Unumgänglich ist aber, dass die Kirchen<br />

in Deutschland – und hier besonders die evangelische<br />

Kirche – sich von innen her wandeln, indem sie sich auf ihre<br />

Wurzeln besinnen.<br />

2. Ein Evangelium für Suchende<br />

Wer den Schutt unverstandener, erstarrter Traditionen beiseiteräumt,<br />

wird nicht mehr von Klischees, Vorurteilen und<br />

schlechten Gewohnheiten behindert, die den Blick verstellen<br />

oder einengen. Erst dann sieht er oder sie in die Weite: Es<br />

gibt mehr Möglichkeiten, als Christen zu leben, als man<br />

sich in den etablierten Kirchen Europas vorstellen kann. Das<br />

Johannesevangelium und der erste Johannesbrief haben<br />

mich inspiriert, solche Möglichkeiten zu entdecken. Nirgendwo<br />

sonst im frühen Christentum wurde das Thema der<br />

spirituellen Suche so tiefgründig bedacht wie hier.<br />

A) Johannes zeigt uns Menschen, die nach Jesus suchen.<br />

Zwei Jünger des Täufers suchen ihn kennenzulernen und<br />

folgen ihm nach (Joh 1,35ff.). Das Volk sucht ihn, weil er die<br />

Hungernden gesättigt hat (Joh 6,26). Griechen, die zum Passafest<br />

nach Jerusalem gekommen sind, suchen ihn und wollen<br />

ihn sehen (Joh 12,20ff.). Doch einen direkten Zugang zu<br />

Jesus gibt es nicht. Er muss vermittelt werden <strong>du</strong>rch die<br />

Apostel, die bereits mit ihm auf dem Weg sind (vgl. <strong>Heymel</strong><br />

2020).<br />

Wer Jesus ist, wird in Begegnungen anschaulich. Darauf<br />

weist gleich der Anfang des Johannesevangeliums in seinem<br />

20


2. Ein Evangelium für Suchende<br />

Spitzensatz hin: »Und das Wort ward Fleisch und wohnte<br />

unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit<br />

als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade<br />

und Wahrheit« (Joh 1,14). Es sind Glaubende (»wir«), die Jesus<br />

so wahrnehmen: Gottes Lichtglanz, die Klarheit, die er<br />

in der Begegnung mitteilt, wird an Jesus anschaulich. In<br />

diesem Menschen wohnt Gott selbst als leibhaftiges Wort<br />

inmitten seines Volkes. Sein Leben und Wirken ist ganz für<br />

das Leben und Wirken Gottes transparent. Das sehen die, die<br />

mit ihm gegangen sind. Sie haben erfahren: Bei ihm, der<br />

selbst das Leben ist, werden Hunger und Durst nach ewigem<br />

Leben gestillt (Joh 6,35).<br />

Eigenartig sind die Gespräche, die Jesus mit Nikodemus<br />

(Joh 3,1–21) und der Samariterin am Brunnen (Joh 4,1–26)<br />

führt. Der Mann, ein Lehrer Israels, fragt, wie ein Mensch<br />

geboren werden könne, wenn er doch schon alt sei. Der Frau<br />

geht auf, dass Jesus ihre Lebensgeschichte kennt und ihre<br />

Sehnsucht nach Leben stillen kann. In der Begegnung mit<br />

Jesus verändert sich bei beiden das gewohnte Denken. Beide<br />

fangen an, die Welt und sich selbst mit neuen Augen zu<br />

sehen.<br />

In Zeichenhandlungen enthüllt Jesus seine Herrlichkeit<br />

als Gottessohn. Doch die Welt erkennt ihn nicht (Joh 1,10).<br />

Johannes sagt: Nur wer ihm nachfolgt, wird das Licht des Lebens<br />

haben (Joh 8,12). Jesus fordert seine Jünger immer neu<br />

dazu auf, an seinem Wort dranzubleiben und es zu halten<br />

(Joh 8,31.51), mit ihm zu gehen und dort zu sein, wo er ist<br />

(Joh 12,26). Deutlicher kann man den Lesern und Hörern<br />

nicht zeigen, dass an Jesus glauben heißt, mit ihm auf dem<br />

Weg zum Vater zu sein (Joh 14,6.9).<br />

21


Zur Situation des Christentums<br />

Christsein bedeutet, einen bestimmten Weg mit Jesus gehen<br />

zu lernen. Diesen Weg lernt man zuerst <strong>du</strong>rch Menschen<br />

kennen, die ihn gehen bzw. schon gegangen sind. In Anlehnung<br />

an den biblischen Sprachgebrauch kann man diese<br />

Menschen Zeugen nennen: Ihre Existenz, ihr ganzes Leben<br />

spricht für Jesus. Es spricht dafür, sein Leben mit ihm zu führen,<br />

ja: in ihm das Leben neu zu entdecken.<br />

Auf dem Weg ist es immer auch möglich, sich von ihm<br />

abzuwenden. »Da sprach Jesus zu den Zwölfen: Wollt ihr<br />

auch weggehen? Da antwortete ihm Simon Petrus: Herr,<br />

wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens;<br />

und wir haben geglaubt und erkannt, dass <strong>du</strong> bist Christus,<br />

der Sohn des lebendigen Gottes« (Joh 6,67–69). Indirekt weist<br />

die Antwort Suchenden den Weg; sie bietet Orientierung,<br />

bei wem Worte ewigen Lebens zu finden sind. Der Weg Jesu<br />

wird <strong>du</strong>rch Zeugen wie Petrus zugänglich, die geglaubt und<br />

erkannt haben, wer er ist.<br />

B) Im ersten Johannesbrief heißt es:<br />

»Was von Anfang an war,<br />

was wir gehört haben,<br />

was wir gesehen haben mit unsern Augen,<br />

was wir betrachtet haben und<br />

unsere Hände betastet haben,<br />

vom Wort des Lebens –<br />

und das Leben ist erschienen,<br />

und wir haben gesehen und bezeugen und<br />

verkündigen euch<br />

das Leben, das ewig ist,<br />

das beim Vater war und uns erschienen ist –,<br />

22


2. Ein Evangelium für Suchende<br />

was wir gesehen und gehört haben,<br />

das verkündigen wir auch euch,<br />

damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt;<br />

und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und<br />

mit dem Sohn Jesus Christus.<br />

Und das schreiben wir,<br />

damit unsere Freude vollkommen sei« (1 Joh 1,1–4).<br />

Man kann diesen Text als Grundtext der Mission lesen.<br />

Glaubende geben das weiter, was sie selbst auf dem Weg mit<br />

Jesus erfahren haben. Sie stehen vor anderen als Zeugen dafür<br />

ein. Sie bekennen: Durch diesen Menschen hat Gott zu<br />

uns gesprochen. Sie haben das fleischgewordene Wort des<br />

Lebens gehört, mit eigenen Augen gesehen und mit ihren<br />

Händen betastet. Sie haben also mit allen Sinnen eigene Erfahrungen<br />

mit Jesus gemacht. Christliche Mission entsteht<br />

aus einer mitreißenden Glaubenserfahrung des Gottes, der<br />

sich in Jesus offenbart hat. Diese Erfahrung kann aus mir<br />

einen Apostel oder, was dasselbe bedeutet, einen Missionar<br />

machen: einen Gesandten, der seine Geschichte erzählen<br />

will. »Wenn <strong>du</strong> eine gute Nachricht von einer erlebten Begegnung<br />

mitbringst, muss man dich nicht erst auffordern,<br />

sie zu verkünden. Die Kraft der Erfahrung selbst wird dich<br />

dazu drängen« (Tagle, 470).<br />

Der Verfasser, der sich als Gesandter Jesu versteht, betont,<br />

dass es Gemeinschaft (koinonía) mit Gott und mit Jesus<br />

Christus nur in Gemeinschaft mit den ersten Zeugen des<br />

Evangeliums gibt. Wer Zugang zu Jesus sucht, findet ihn in<br />

der apostolischen Tradition, nicht abseits davon. Der Briefschreiber<br />

setzt voraus, dass die ersten Christuszeugen die<br />

23


Zur Situation des Christentums<br />

Menschen aufsuchen, um ihnen zu verkünden, wo das Leben<br />

erschienen ist. Glaube ist keine Bedingung, die sie erfüllen<br />

müssen, um zu Gott zu kommen, sondern folgt aus der<br />

Begegnung mit denen, die bezeugen: Der Vater hat in Christus<br />

schon längst den Weg für euch geöffnet.<br />

Dies wird in den folgenden Kapiteln bekräftigt. In Christus,<br />

so heißt es dort, sei die Liebe Gottes erschienen (1 Joh<br />

4,9). In diesem Licht werden die Menschen als Geliebte identifiziert:<br />

»Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist<br />

aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden«<br />

(1 Joh 3,2). Die anfängliche Erfahrung mit Christus bestimmt,<br />

wie Glaubende sich selbst und andere wahrnehmen.<br />

Sie sehen in ihnen Gottes Kinder, so dass die so Angesehenen<br />

werden können, was sie von Gott, dem Vater, her schon<br />

sind. »Kinder, ihr seid von Gott«, sagt der Autor zu denen, die<br />

seinen Brief lesen. »Der in euch ist – er meint wohl den Geist<br />

Gottes (vgl. 1 Joh 4,2) – ist größer als der, der in der Welt ist«<br />

(1 Joh 4,4). Daraus spricht unerhörtes Vertrauen in den Gott,<br />

der die Liebe ist (1 Joh 4,8), und in die Möglichkeiten, die er<br />

im Menschen freisetzt.<br />

Anregungen zum Gespräch<br />

– Wer hat mir einen Zugang zu Jesus ermöglicht?<br />

– Was hindert mich daran, in ihm das Leben zu entdecken?<br />

– Nach Johannes sagt Jesus: »Wer mich sieht, sieht den Vater«<br />

(Joh 14,9). Bin ich <strong>du</strong>rch ihn schon einmal Gott begegnet?<br />

– Was ändert sich in meinem Leben, wenn ich mich selbst<br />

und andere als Gottes Kinder verstehe und ansehe?<br />

24


3. Christsein in der Moderne<br />

3. Christsein in der Moderne<br />

Die Situation in Europa<br />

In einem Brief vom Oktober 1931 sieht ein junger evangelischer<br />

Theologe Anzeichen für das Sterben des westlichen<br />

Christentums und fragt, ob das Evangelium nicht mit ganz<br />

anderen Worten und Taten gepredigt werden müsse (DBW<br />

11, 33). 1934 schreibt er aus London an seinen Bruder Karl-<br />

Friedrich, »daß es im Westen mit dem Christentum sein<br />

Ende nimmt – jedenfalls in seiner bisherigen Gestalt (!) …«<br />

(DBW 13, 75). Der Briefschreiber heißt Dietrich Bonhoeffer<br />

und steht mit seiner Sicht noch ziemlich allein. Knapp 40<br />

Millionen evangelische Christen hat man 1925 im Deutschen<br />

Reich gezählt, das waren 64,1 Prozent der Bevölkerung.<br />

Bonhoeffer sieht das Christentum der Weißen in einer<br />

Krise, nachdem er 1930/31 afroamerikanische Christen der<br />

Abyssinian Baptist Church in Harlem erlebt hat. Zurückgekehrt<br />

nach Europa, verstärken die Ereignisse seit 1933 seine<br />

Vorbehalte gegenüber der Entwicklung des Christentums<br />

in Deutschland. Am 27. Oktober 1934 schreibt er einen Brief<br />

an Mahatma Gandhi, der kürzlich wiederentdeckt wurde,<br />

und fragt, ob er ihn in seinem Ashram besuchen dürfe. In<br />

Europa, »besonders in Deutschland«, herrsche »eine tiefe<br />

geistliche Not« (zit. nach Huber). Von dem Besuch im fernen<br />

Osten erhofft er sich neue Inspiration und Klarheit im Blick<br />

auf die Zukunft der Kirche. Der Einla<strong>du</strong>ng Gandhis, der ihn<br />

als »lieben Freund« anredet, ist er dann doch nicht gefolgt,<br />

weil eine andere Aufgabe – die Leitung eines Predigerseminars<br />

der Bekennenden Kirche in Pommern – für ihn vordringlich<br />

wurde.<br />

25


Zur Situation des Christentums<br />

Heute braucht es keine Hellsicht, um festzustellen: Das<br />

institutionalisierte Christentum in Europa ist im Niedergang<br />

begriffen. Auch die Kirchen in Deutschland verlieren<br />

fortwährend Mitglieder, das Christentum, wie es hier begegnet,<br />

hat für Glaube und Leben des Einzelnen immer weniger<br />

Bedeutung. Befunde der Sozialwissenschaft vermitteln<br />

uns ein düsteres Bild, das <strong>du</strong>rch empirische Daten gestützt<br />

wird.<br />

Nach der Freiburger Studie zur Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft<br />

(2019) wird sich die Mitgliederzahl der<br />

evangelischen und der katholischen Kirchen in Deutschland<br />

bis 2060 von 44,8 Mio. im Jahr 2017 auf 22,7 Mio. (49 Prozent)<br />

verringern, der Anteil derer, die 65 Jahre und älter<br />

sind, wird von 26 auf 40 Prozent steigen. Die höchste Wahrscheinlichkeit,<br />

dass sie aus ihrer Kirche austreten, liegt derzeit<br />

bei Männern und Frauen der Altersgruppen zwischen<br />

25 bis 39 Jahren. Die evangelische Kirche wird 2060 noch<br />

10,5 Mio. Mitglieder haben, d. h. halb so viele wie heute, die<br />

Kaufkraft aus dem Kirchensteueraufkommen wird sich<br />

ebenfalls halbieren.<br />

Doch so gebannt die Gliedkirchen der EKD auf solche Prognosen<br />

über ihre Zukunft schauen: Das Bild trügt. Nicht nur<br />

deshalb, weil Unvorhersehbares wie z. B. COVID-19 ausgeklammert<br />

wird. Die künftige Entwicklung lässt sich aus<br />

empirischen Daten keineswegs sicher »hochrechnen«. Vergleicht<br />

man die Verhältnisse in Europa und in anderen<br />

Weltteilen, so zeigt sich: In einigen Ländern Nord- und Osteuropas<br />

nimmt die Zahl der Kirchenmitglieder ab, die Entkirchlichung<br />

im Osten Deutschlands ist weiter fortgeschritten<br />

als im Westen, in anderen westeuropäischen Ländern<br />

26


3. Christsein in der Moderne<br />

besonders dramatisch in den Niederlanden, aber außerhalb<br />

Europas, in Afrika, Asien und Südamerika, expandiert das<br />

Christentum. Es sind die Armen der südlichen Welthälfte,<br />

bei denen es zunehmend Anhänger findet.<br />

Die globale Situation<br />

Das Christentum wächst mindestens so schnell wie die Weltbevölkerung.<br />

Die einzige Weltreligion, die noch schneller<br />

wächst, ist der Islam. Doch religionskritische Medien blenden<br />

diesen Trend häufig aus, weil sie in einer eurozentrischen<br />

Sicht gefangen sind. Er widerspricht der Annahme des<br />

Säkularismus, mit fortschreitender Modernisierung werde<br />

die Religion verschwinden. Was moderne Gesellschaften<br />

kennzeichnet, ist gerade nicht das Fehlen von Religion, sondern<br />

eine zunehmende religiöse und weltanschauliche Vielfalt.<br />

Die klassische, im Bann von Max Weber entwickelte<br />

These, in der entzauberten Welt würden sich Religion und<br />

christlicher Glaube allmählich erledigen, hat sich als falsch<br />

erwiesen (vgl. Taylor, 710ff.; Joas, 165ff.). Eine vergleichende<br />

Betrachtung der Religionskulturen im globalen Zusammenhang<br />

zeigt: Der europäische Weg der Säkularisierung<br />

ist ein Sonderweg, den man auf den Rest der Welt nicht<br />

übertragen kann.<br />

Was in Europa zurückgeht, ist nicht »das« Christentum.<br />

Vielmehr schwindet diejenige Form dahin, in der es sich in<br />

der Geschichte Europas inkulturiert, d. h. eingewöhnt und<br />

ausgestaltet hat: die institutionalisierte Form nationaler<br />

Volkskirchen, wo die Mehrzahl der Mitglieder nur selten an<br />

Gottesdiensten teilnimmt und für gewöhnlich religiös inaktiv<br />

ist. Diese Form verliert ihre frühere Lebensbedeutung,<br />

27


Zur Situation des Christentums<br />

andere Formen dagegen, wie sie etwa in kleinen Gemeinschaften<br />

praktiziert werden, keineswegs. Der Bedeutungsverlust<br />

kann da<strong>du</strong>rch mitbedingt sein, dass die Kirchen eine<br />

vom Staat privilegierte Stellung genießen (wie in Westdeutschland),<br />

er kann aber auch <strong>du</strong>rch eine aggressiv antikirchliche,<br />

atheistische Propaganda des Staates gefördert<br />

werden (wie in Ostdeutschland bis 1989). Der Anteil der Agnostiker<br />

und Atheisten ist in der ostdeutschen Bevölkerung<br />

mehr als doppelt so groß wie in der westdeutschen, größer<br />

als in jedem anderen Land weltweit (nur Tschechien und<br />

Estland haben ähnlich hohe Anteile). Keiner christlichen<br />

Konfession anzugehören gilt bei Ostdeutschen als »normal«,<br />

während es anderswo in vielen Regionen der Erde eine<br />

Außenseiterposition ist.<br />

Der Historiker Yuval Harari hat jüngst die traditionellen<br />

Religionen als »Handlanger des modernen Nationalismus«<br />

beschrieben. Mit ihrer politischen Macht seien sie ein<br />

»Problem für die Menschheit«, hätten aber zur Lösung der<br />

globalen Probleme unseres Jahrhunderts »nicht viel zu bieten«<br />

(Harari, 190). Zu dieser Einschätzung gelangt er als Agnostiker,<br />

für den Religion massenhafte Identitäten <strong>du</strong>rch<br />

den Glauben an gemeinsame Fiktionen bzw. fiktionale Geschichten<br />

herstellt (vgl. a. a. O., 185ff.). Diese These lässt sich<br />

aus drei Gründen nicht aufrechthalten: Sie ist zu pauschal,<br />

sie re<strong>du</strong>ziert Religion auf eine ideologische Funktion, und<br />

sie verkennt völlig die Lebensbedeutung des christlichen<br />

Glaubens.<br />

In Deutschland entwickelte sich ein Nationalprotestantismus,<br />

der Gott in den Dienst der Nation stellte (»Gott mit<br />

uns« stand auf den Koppelschlössern der Soldaten), aber<br />

28


3. Christsein in der Moderne<br />

<strong>du</strong>rch zwei Weltkriege jegliche Plausibilität verlor. Die heutige<br />

Bundesrepublik übernimmt aus der Weimarer Reichsverfassung<br />

von 1919 den Grundsatz der Trennung von Staat<br />

und Kirche. Sie bewahrt ihre nationale Identität nicht mit<br />

Hilfe der Religion. Den von Harari angeführten Ländern, die<br />

sich dafür traditioneller Religionen bedienen, wie Japan,<br />

Russland, Polen, der Iran, Saudi-Arabien und Israel, lassen<br />

sich außer Deutschland noch andere gegenüberstellen, in<br />

denen Religion nicht zur Festigung nationaler Identität benutzt<br />

wird, wie etwa Holland, die baltischen und die skandinavischen<br />

Staaten, die vom Protestantismus geprägt sind.<br />

Wieder anders verhält es sich in den USA, wo dieser sich mit<br />

der puritanischen Vorstellung verbindet, Gottes erwählte<br />

Nation zu sein.<br />

Religion trägt also in sehr unterschiedlicher Weise zur<br />

nationalen Identität bei, ohne per se die Lösung politischer<br />

Probleme zu beeinträchtigen. Die wirkliche Bedeutung einer<br />

Religion erschließt sich erst, wenn man, anders als Harari,<br />

fragt, was sie aus den Menschen macht und wie sie ihr Leben,<br />

Denken und Handeln beeinflusst. Aus der Geschichte<br />

des Christentums können wir ersehen, wie christlicher Glaube<br />

zu helfendem Handeln zugunsten der sozial Schwachen<br />

– Armen, Hungernden und Kranken – motiviert oder in den<br />

historischen Friedenskirchen (Mennoniten, Quäker, Church<br />

of the Brethren) Kräfte des Gewaltverzichts und des zivilen<br />

Widerstands gestärkt hat. Es waren Baptisten, Quäker und<br />

Methodisten, die in den USA für die Religionsfreiheit als<br />

Menschenrecht und für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft<br />

haben.<br />

29


Zur Situation des Christentums<br />

Die Mehrheit moderner Europäer ist der Ansicht, Religion<br />

sei »intolerant« und »erzeuge Konflikte«. Das belegen<br />

Umfragen, die vor 20 Jahren <strong>du</strong>rchgeführt wurden. Diese säkularistische<br />

antireligiöse Voreingenommenheit führt dazu,<br />

»europäische Modernität mit Säkularisierung gleichzusetzen«<br />

(Casanova, 25), und verhindert, »das Christentum offen<br />

als eine der konstitutiven Komponenten der kulturellen<br />

und politischen Identität Europas anzuerkennen« (a. a. O.,<br />

29). Sie verleitet außerdem dazu, Einwanderern, die einer<br />

fremden Religion angehören, d. h. vor allem Muslimen, pauschal<br />

negative Merkmale zuzuschreiben. Integration wird<br />

da<strong>du</strong>rch nahezu unmöglich gemacht. Das Aufkommen<br />

fremdenfeindlicher populistischer Bewegungen in Ostdeutschland<br />

und anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks<br />

muss vor dem Hintergrund eines aggressiven Säkularismus<br />

verstanden werden.<br />

Anregungen zum Gespräch<br />

– Welche Argumente sprechen für eine säkularistische<br />

Sicht des Christentums?<br />

– Was kann ich ihnen entgegenhalten?<br />

Überall dort, wo Religion sich als vitale Kraft zeigt, wo der<br />

christliche Glaube als lebensverändernde Macht hervortritt,<br />

global betrachtet: in der südlichen Erdhälfte, reagieren aufgeklärte<br />

Europäer – darunter auch liberale Christen – beunruhigt,<br />

irritiert oder verängstigt: Das Phänomen ist ihnen<br />

nicht geheuer. In Südamerika, in Afrika, in Asien, hier v. a. in<br />

Südkorea, ist ein Wachstum an evangelikalen und pfingstlerischen<br />

Gemeinden zu beobachten. Charismatische Kirchen<br />

30


3. Christsein in der Moderne<br />

und Pfingstkirchen, in denen christlicher Glaube sich sehr<br />

emotional äußert, haben Zulauf. Sie teilen die Begeisterung<br />

für Mission und Evangelisation. Die meisten Christen sind<br />

weder Weiße noch Europäer noch Nordamerikaner, sondern<br />

Farbige, die zum überwiegenden Teil in Afrika und Lateinamerika<br />

leben. Sie gehören Missionskirchen an, die das<br />

Christentum in die jeweilige Kultur der Einheimischen inkulturiert,<br />

d. h. umgeformt haben.<br />

»Die vorherrschende Religion der Ärmsten der Welt ist<br />

heute eher das Christentum als der Islam oder der Hin<strong>du</strong>ismus«<br />

(Jenkins, 6). Die »Neubekehrten sind überwiegend Jugendliche<br />

und junge Erwachsene, keinesfalls die ergrauten<br />

Reaktionäre der Medienlegende« (a. a. O., 12). Europäern fällt<br />

es schwer, sich dies vorzustellen, weil das Christentum des<br />

wohlhabenden Westens im Niedergang begriffen ist. Aber<br />

das Christentum, das sich nach Süden und Osten bewege, so<br />

der Religionshistoriker Philip Jenkins, kehre nur zu seinen<br />

Ursprüngen zurück. In seinen ersten tausend Jahren war es<br />

in Asien und Nordafrika stärker als in Europa, das erst nach<br />

dem 14. Jahrhundert zum christlichen Kerngebiet wurde.<br />

Die verbreitete Sicht des Christentums erweist sich »als eine<br />

weiße westliche Ideologie, die dem Rest eines unwilligen<br />

Erdkreises aufgedrängt wurde« (Jenkins, 21).<br />

Die Eigenart des evangelischen Glaubens in Deutschland<br />

ist aus seiner Geschichte zu verstehen. Nach der Reformation<br />

organisierten Landesherren die evangelischen Kirchen<br />

als Fürstenkirchen. Erst die deutsche Aufklärung vertrat<br />

das Recht des Einzelnen auf persönliche Religion. Durch<br />

den Westfälischen Frieden 1648, der den dreißigjährigen Religionskrieg<br />

beendet hatte, war die Konfession zur Staats-<br />

31


Zur Situation des Christentums<br />

sache geworden. Religionsfreiheit gab es nur als das Recht,<br />

dorthin auszuwandern, wo ein Landesherr der passenden<br />

Konfession regierte. Darum hat sich das aufgeklärte Christentum<br />

im bürgerlichen Protestantismus als Privatsache<br />

entfaltet. Religion galt nun als private Angelegenheit. Das<br />

führte dazu, dass religiöse Freiheit zwar als das Recht, sich<br />

aus der Institution Kirche zurückzuziehen, wahrgenommen<br />

wurde, aber kaum wie in England und den USA als »die<br />

Freiheit, von seinem persönlichen Glauben in allen Stücken<br />

›öffentlichen Gebrauch‹ zu machen« (Moltmann, 19).<br />

Die <strong>du</strong>rch Artikel 4 des Grundgesetzes garantierte Religionsfreiheit<br />

muss also nicht als ›Freiheit im Glauben‹ gelebt<br />

und praktiziert werden. Man kann zu einer Kirche gehören,<br />

muss aber nicht zur Kirche gehen. Es ist möglich, gegenüber<br />

Andersgläubigen und Nichtgläubigen Toleranz zu<br />

üben. Und es ist bequem – am ehesten für die religiös Gleichgültigen.<br />

Religion ist Privatsache, das heißt auch: Man kann<br />

leben, ohne sich mit Religion und Glaube auseinandersetzen<br />

zu müssen.<br />

Was dabei leicht übersehen wird: Diese Haltung können<br />

sich nur Bewohner einer Komfortzone von Wohlstand, Liberalität<br />

und Rechtssicherheit leisten. Sie ist ein vornehmlich<br />

westliches Privileg. Auf der Vollversammlung des ÖRK 2013<br />

im südkoreanischen Busan sprach Metropolit Hilarion von<br />

Wolokolamsk über zwei Herausforderungen, denen die<br />

christliche Welt heute gegenüberstehe: der militante Säkularismus<br />

primär in Europa und Amerika und der radikale Islamismus,<br />

der in Nahost, aber auch in Teilen Asiens und Afrikas<br />

die nackte Existenz der Christenheit bedrohe (Report,<br />

66ff.).<br />

32


3. Christsein in der Moderne<br />

Zunehmende Christenverfolgung<br />

»Drei Viertel aller Menschen leben in Ländern, die die Religions-<br />

und Weltanschauungsfreiheit einschränken.« So<br />

nachzulesen im zweiten Bericht von Markus Grübel, Beauftragter<br />

der Bundesregierung für das Menschenrecht auf<br />

Religionsfreiheit. Davon sind vor allem Christen betroffen,<br />

die weltweit größte Glaubensgemeinschaft. Weltweit sei ein<br />

Trend zu vermehrten Einschränkungen zu beobachten,<br />

heißt es in dem Bericht. Beispiele dafür sind u. a. in Ägypten,<br />

der Türkei, Indien, Pakistan, Indonesien und vor allem China<br />

zu verzeichnen, wo die Regierung seit 2017 das Ziel der<br />

Sinisierung der Religionen verfolgt und zahlreiche Christen<br />

als Staatsfeinde behandelt. Die Kirchen wachsen dort seit<br />

Jahren. Man schätzt, dass in China zwischen 46 und 100 –<br />

nach anderer Schätzung zwischen 30 und 170 – Millionen<br />

Christen leben, die Mehrzahl von ihnen auf dem Land. Auch<br />

Buddhisten in Tibet und muslimische Minderheiten wie<br />

Uiguren und Kasachen werden in China unterdrückt.<br />

»Die meisten Christen weltweit werden von Muslimen<br />

verfolgt«, schreibt der Historiker Julien Reitzenstein (Die<br />

Welt, 22.1.2021). In Deutschland werde zu diesem politisch<br />

brisanten Thema aber weithin geschwiegen. Dabei hat das<br />

Pew Research Center schon 2016 darauf hingewiesen, dass<br />

die »Religionsfreiheit in den islamisch geprägten Staaten<br />

des Nahen Ostens und Nordafrikas … am stärksten bedroht«<br />

ist (Ökumenischer Bericht, 22). Martin G. Kugler, der sich<br />

mit der Intoleranz gegen Christen in Europa beschäftigt,<br />

sieht in einigen europäischen Ländern radikale muslimische<br />

Gruppen, die Christen ausgrenzen und bekämpfen. »Ein<br />

Problem ist, dass linke Politiker oftmals die von Muslimen<br />

33


Zur Situation des Christentums<br />

ausgehenden Probleme leugnen, weil sie nicht in ihr Konzept<br />

von politischer Korrektheit passen« (Kugler, 33). Ein zunehmender<br />

Säkularismus dränge Christen in Ländern wie<br />

Frankreich, England und Skandinavien ins Abseits.<br />

Genaue Zahlen, wie viele Christen weltweit verfolgt werden,<br />

sind wegen der Komplexität der Materie oft schwer zu<br />

ermitteln. Die gründlichste Studie, die vom internationalen<br />

Hilfswerk Open Doors jedes Jahr neu aufgesetzt wird, spricht<br />

im Januar 2019 »von mindestens 245 Millionen Christen, die<br />

einem hohen Maß an Verfolgung ausgesetzt sind« (Schuster,<br />

38). 2021 werden über 309 Millionen angenommen. Die Corona-Pandemie<br />

habe vor allem in Afrika und Asien die Lage<br />

christlicher Minderheiten verschlimmert, heißt es im Weltverfolgungsindex<br />

2021 des Hilfswerks. Dies bestätigt auch<br />

der neueste Bericht der päpstlichen Stiftung ›Kirche in Not‹<br />

(ACN), nach dem die Religionsfreiheit v. a. von autoritären<br />

Regierungen, islamischem Extremismus und ethno-religiösem<br />

Nationalismus angegriffen wird.<br />

Weitere Informationen und Analysen bieten das ›Jahrbuch<br />

Verfolgung und Diskriminierung von Christen‹ und<br />

das ›Jahrbuch Religionsfreiheit‹, die beide seit 2014 vom Internationalen<br />

Institut für Religionsfreiheit (IIRF) herausgegeben<br />

werden. In den deutschsprachigen Ländern, so die<br />

Jahrbücher für 2020, haben vor allem Migranten, insbesondere<br />

zum christlichen Glauben konvertierte Muslime, mit<br />

Diskriminierung und Marginalisierung aufgrund ihrer religiösen<br />

Überzeugung zu kämpfen.<br />

34


3. Christsein in der Moderne<br />

Ein eurozentrisches Bild<br />

Das Christentum ist wie nie zuvor zur Weltreligion geworden.<br />

Im angelsächsischen Raum wird es längst so wahrgenommen,<br />

doch in Deutschland fällt es uns schwer, das zu<br />

realisieren. Obwohl seit den 1980er Jahren die Mehrheit der<br />

Christen in Ländern der südlichen Hemisphäre lebt, zeigten<br />

deutschsprachige Darstellungen der Kirchengeschichte bis<br />

vor wenigen Jahren noch ein einseitig eurozentrisches Bild<br />

der Verhältnisse: »die christliche Welt außerhalb Europas<br />

[kommt] entweder gar nicht oder nur am Rand vor« (Koschorke,<br />

189).<br />

Das Christentum der kommenden Jahrzehnte wird in<br />

weiten Teilen der Welt konservativ, evangelikal und fundamentalistisch<br />

geprägt sein. Wie sehr sich die Verhältnisse in<br />

Deutschland davon unterscheiden, kann man sich an den<br />

Evangelikalen klarmachen. Sie sind hierzulande eine kleine,<br />

wenn auch einflussreiche Minderheit in dem ansonsten liberalen<br />

volkskirchlichen Protestantismus. Als ›innerkirchliche<br />

Protestbewegung‹ sieht sie die Kirchenhistorikerin Gisa<br />

Bauer. Gerade ein bis drei Prozent der Deutschen, also je<br />

nach Zählung 1,5 bis 2,5 Millionen gehören dazu. Zum Vergleich:<br />

In den USA waren es 2007 etwas mehr als 26 Prozent<br />

von 301 Millionen Menschen. Heute beträgt der Anteil der<br />

Protestanten dort insgesamt 43 Prozent. Davon sind etwa 25<br />

Prozent Evangelikale, die übrigen 18 Prozent verteilen sich<br />

auf rund zehn Freikirchen.<br />

Evangelikale und Fundamentalisten<br />

Zwei moderne Ausprägungen des protestantischen Christentums,<br />

die in Deutschland nur von Minderheiten vertre-<br />

35


Zur Situation des Christentums<br />

ten werden, haben in den USA und der angelsächsischen<br />

Welt weitaus mehr Anhänger: der Evangelikalismus und<br />

der Fundamentalismus. Deshalb ist es angebracht, sie näher<br />

zu betrachten.<br />

Evangelikale und christliche Fundamentalisten verbindet<br />

der Glaube, dass die Bibel wörtlich inspiriert und das unfehlbare,<br />

irrtumslose Wort Gottes sei. Liberale Theologie und<br />

Säkularismus werden von beiden Richtungen abgelehnt. Die<br />

Grenzen zwischen beiden sind fließend, nichtsdestoweniger<br />

darf man sie nicht gleichsetzen. Für Evangelikale steht wie<br />

für den klassischen Pietismus der Glaube an Jesus Christus<br />

im Zentrum, ihre Mehrheit heute lehnt den Fundamentalismus<br />

ab. Während die Fundamentalisten sich als wiedergeborene<br />

Gläubige verstehen, die für einen bibeltreuen Glauben<br />

und ihre darauf beruhende neuorthodoxe Lehre kämpfen,<br />

sind Evangelikale zum Dialog mit anderen Glaubensrichtungen<br />

bereit. Sie lassen sich auf Ergebnisse wissenschaftlicher<br />

Forschung ein, was für Fundamentalisten indiskutabel<br />

ist. Deren Glaubensideologie steht und fällt mit einem Bibelglauben,<br />

der die buchstäbliche Tatsachenwahrheit der<br />

Bibel gegen die Moderne verteidigt. Angst vor den Zweifeln<br />

und Ungewissheiten der Moderne ist ein, wenn nicht gar das<br />

bestimmende Motiv des Fundamentalismus.<br />

Im Kern sind beide Richtungen nach ihrem Bibelverständnis<br />

zu beurteilen. Evangelikale akzeptieren, dass es sowohl<br />

unterschiedliche menschliche und kulturelle Dimensionen<br />

der Bibel wie auch verschiedene Zugänge zur Wahrheit<br />

der Bibel gibt. Das ist für Fundamentalisten von<br />

vornherein ausgeschlossen. Sie geben vor, alle Fragen aus<br />

der Bibel und mit ihr beantworten zu können: »Die Bibel<br />

36


3. Christsein in der Moderne<br />

sagt …« Mit solchen Aussagen wird für die eigene Bibelinterpretation<br />

ein absoluter, nicht mehr befragbarer Anspruch<br />

erhoben.<br />

Nichtreligiöse<br />

Eine wachsende Gruppe in modernen Gesellschaften stellen<br />

die Nichtreligiösen dar. Die meisten religiös Ungebundenen<br />

leben in Gesellschaften mit niedriger Geburtenrate und<br />

einem hohem Altenanteil. Dazu gehören die USA, Europa,<br />

Japan und China. In den USA stieg die Zahl der religiös Ungebundenen<br />

(Religious Nones) zwischen 2007 und 2018 um<br />

mehr als das Doppelte auf etwa 25 Prozent der Bevölkerung.<br />

Nach der im Januar 2019 veröffentlichten internationalen<br />

Studie des Pew Research Center sind 31 Prozent der<br />

Deutschen den religiös Ungebundenen zuzurechnen. Andere<br />

Zählungen wie z. B. die von FoWiD für 2019 veranschlagen<br />

bis zu 39 Prozent. Dabei müssen allerdings der gewichtige<br />

Unterschied zwischen Ost und West und das Nord-Süd-<br />

Gefälle in den alten Bundesländern berücksichtigt werden:<br />

Im Osten haben deutlich mehr als zwei Drittel (zwischen 71<br />

Prozent in Thüringen und 85 Prozent in Sachsen-Anhalt)<br />

keinen Bezug zu Religion, im Westen ist es ein Viertel bis<br />

mehr als die Hälfte der Bevölkerung (zwischen 27 Prozent<br />

im Saarland und 58 Prozent in Hamburg). Hinzu kommt,<br />

dass im Westen die religiöse Landschaft weit mehr pluralisiert<br />

ist, während der Osten nur einen vergleichsweise kleinen<br />

religiösen Markt hat. Religionslosigkeit, so scheint es,<br />

ist im Westen eher eine bewusste Option, im Osten eher<br />

Ausdruck sozialer Anpassung an die Mehrheit.<br />

37


Zur Situation des Christentums<br />

Indivi<strong>du</strong>alisierung<br />

Was wird aus dem Protestantismus in Deutschland? Klar ist:<br />

Wenn der bisherige Trend der Entkirchlichung sich bei uns<br />

fortsetzt, gerät das Betriebssystem der Kirche, das auf landeskirchlichen<br />

Strukturen aufbaut, ins Wanken. Es beruht<br />

nämlich in hohem Maß auf traditionell »zugeschriebener<br />

Mitgliedschaft«, d. h., evangelische Eltern lassen ihre Kinder<br />

taufen, diese werden ohne eigenes Zutun Kirchenmitglieder.<br />

Das ist aber längst nicht mehr selbstverständlich.<br />

Einen wesentlichen Einfluss auf die Erosion der Kirchenbin<strong>du</strong>ng<br />

hat der Indivi<strong>du</strong>alisierungsprozess, den der<br />

Soziologe Ulrich Beck in den 1980er Jahren untersuchte und<br />

als typisch für die fortgeschrittene Moderne erkannte. Der<br />

innere Widerspruch dieses Prozesses besteht darin, dass er<br />

»innere Verselbständigungen … in zunehmendem Maße unmöglich<br />

macht: Der einzelne wird zwar aus traditionalen<br />

Bin<strong>du</strong>ngen herausgelöst, tauscht dafür aber die Zwänge des<br />

Arbeitsmarktes und der Konsumexistenz und der in ihnen<br />

enthaltenen Standardisierungen und Kontrollen ein« (Beck,<br />

211). Die Folge davon ist, dass der Einzelne »zum Spielball<br />

von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten«<br />

(ebd.) gemacht wird.<br />

Christlicher Glaube ist eine Option<br />

Die religiöse Kultur Europas verändert sich. Wie sollen die<br />

Kirchen darauf reagieren? Die Veränderungen lassen sich<br />

mit drei Stichworten skizzieren. Was stattfindet, ist:<br />

(1) eine Indivi<strong>du</strong>alisierung oder ein »subjective turn«: Religion<br />

wird nicht mehr als etwas von der Gemeinschaft<br />

Erlebtes, sondern als etwas Indivi<strong>du</strong>elles verstanden;<br />

38


3. Christsein in der Moderne<br />

(2) eine Betonung der persönlichen Erfahrung: der Schwerpunkt<br />

verlagert sich von der Lehre hin zur subjektiven<br />

Erfahrung;<br />

(3) ein Phänomen, das als Patchwork- oder Do-it-yourself-<br />

Religiosität beschrieben wird: Menschen schöpfen ihre<br />

religiöse Inspiration nicht mehr aus einer einzigen<br />

Quelle oder Tradition, sondern aus einer Vielzahl von<br />

Quellen, deren Elemente sie dann wieder zu einem privaten<br />

religiösen Repertoire zusammensetzen (vgl. Dalferth<br />

1996).<br />

Zusammengefasst kann man von einer Entwicklung zu<br />

weichen subjektiven Formen der Religiosität oder Spiritualität<br />

sprechen. Das Christentum wird zunehmend enttraditionalisiert<br />

und deinstitutionalisiert, es »verflüssigt« sich.<br />

Wir haben es mit einem Prozess zu tun, der für die Moderne<br />

charakteristisch ist. Der Sozialwissenschaftler Peter L.<br />

Berger und der Sozialphilosoph Charles Taylor haben ihn<br />

erhellend analysiert. Die Moderne zieht eine Bewegung vom<br />

Schicksal zur Wahl nach sich und vervielfacht die Wahlmöglichkeiten.<br />

Christlicher Glaube wird zu einer Option unter anderen.<br />

Unter den Bedingungen der Moderne, in der »Multioptionsgesellschaft«<br />

(Peter Gross) ist es leichter, nicht gläubig<br />

zu sein, als gläubiger Christ zu sein. Wer den Glauben<br />

als Option für sich wählt, riskiert, ins soziale und kulturelle<br />

Abseits zu geraten, je säkularisierter sein Umfeld ist.<br />

Nichtsdestoweniger gilt: Es ist eine Errungenschaft liberaler<br />

Gesellschaften, dass ich als Einzelner die Wahl habe, ob<br />

ich Christ sein will oder nicht. Ob ich überhaupt einer religiösen<br />

Gemeinschaft angehören will. In früheren Zeiten bestimmte<br />

der Landesfürst die Religion seiner Untertanen.<br />

39


Zur Situation des Christentums<br />

Protestanten in katholischen Ländern wurden verfolgt oder<br />

nur unter bestimmten Auflagen ge<strong>du</strong>ldet. Wollten sie ihrer<br />

Überzeugung treu bleiben, mussten sie auswandern oder<br />

sich als Minderheit in der Diaspora einrichten.<br />

Kennzeichnend für die Moderne ist, dass religiöse Einstellungen<br />

brüchig werden. Die Bindekraft der Kirchen als<br />

Glaubensgemeinschaften nimmt ab, gemeinsame Glaubensinhalte<br />

verflüchtigen sich. Umgeben von Alternativen, neigen<br />

verunsicherte Christen dazu, sich in ein kirchliches Milieu<br />

zurückzuziehen, in dem sie unter ihresgleichen sind.<br />

Aber ihr Glaube wird da<strong>du</strong>rch nicht gestärkt. Und das Milieu<br />

ist keine feste Burg, in der man vor Angriffen sicher wäre.<br />

Wie Charles Taylor einleuchtend zeigt, wird die eigene Perspektive<br />

gerade <strong>du</strong>rch die Auseinandersetzung mit Alternativen<br />

gefestigt, nicht da<strong>du</strong>rch, dass man ihnen ausweicht.<br />

Der Glaube, der sich der Alternative stellt, wird stärker. In<br />

der modernen Gesellschaft rücken die Alternativen zum tradierten<br />

Glauben mit zunehmender Globalisierung näher<br />

denn je. Inzwischen leben wir in einer Gesellschaft, »in der<br />

mehr Menschen ihre Positionen verändern, also im Laufe<br />

ihres Lebens ›konvertieren‹ oder sich eine andere Position als<br />

die ihrer Eltern zu eigen machen« (Taylor, 928, Anm. 20).<br />

Je mehr das Christentum sich von kirchlichen Traditionen<br />

und Institutionen ablöst, je mehr der Glaube als persönliche<br />

Option wahrgenommen wird, desto mehr werden<br />

die Kirchen herausgefordert, sich zu wandeln. Dass der Glaube<br />

keine vorgegebene soziale Norm mehr ist, sondern eine<br />

Option, kann von den Amtskirchen als Bedrohung oder als<br />

Chance begriffen werden. Tatsächlich gibt es für Menschen,<br />

die Christen sein wollen, drei Möglichkeiten, sich zur Mo-<br />

40


3. Christsein in der Moderne<br />

derne zu verhalten: Sie können den Pluralismus ablehnen<br />

und sich in die Gegenwelt einer kleinen Gemeinschaft zurückziehen;<br />

sie können sich ihm anpassen oder ihn akzeptieren<br />

und mit ihm auseinandersetzen (vgl. Berger 1994, 41–43).<br />

In der modernen Situation des Westens wollen Protestanten<br />

gern die Modernen sein. Bemüht, nicht rückständig<br />

zu erscheinen und Anschluss an die Zeit zu halten, erliegen<br />

sie allzu leicht dem Säkularismus. Die permanente Anpassung<br />

führt zur Selbstauflösung. Es stellt sich aber die Aufgabe,<br />

die Glaubensinhalte der christlichen Tradition verstehend<br />

nachzuvollziehen und dafür eine neue Sprache zu finden,<br />

ohne sich vom Grund und den Quellen des Glaubens<br />

abzulösen.<br />

Das säkulare Zeitalter bietet uns die Möglichkeit, die Geschichte<br />

des Christentums aus unserer Erfahrung neu zu<br />

verstehen. Der moderne Pluralismus erlaubt uns, den einzelnen<br />

Christen und der christlichen Gemeinde, den Glauben<br />

in einer Form zu leben, wie sie ausgeschlossen ist, solange<br />

wir eine traditionelle Ordnung haben, in der es zum<br />

Glauben keine Alternativen gibt. Sobald wir uns mit ihm<br />

auseinandersetzen, »bietet sich uns die Gelegenheit, immer<br />

wieder das Wagnis des Glaubens zu üben« (Berger 1994, 47).<br />

Nach verbreiteter Meinung steht Glaube im Gegensatz<br />

zum Wissen. Agnostiker behaupten wider besseres Wissen,<br />

gläubige Christen müssten ihren Verstand aufgeben. Diese<br />

Behauptung wird <strong>du</strong>rch die Geschichte christlicher Theologie<br />

als modernes Vorurteil widerlegt. Gläubige Christen<br />

und christliche Denker haben seit je danach gestrebt, Gott<br />

und sich selbst zu erkennen. Christlicher Glaube sucht nach<br />

Einsicht und Verstehen: fides quarens intellectum, wie der<br />

41


Zur Situation des Christentums<br />

mittelalterliche Theologe Anselm von Canterbury (1033–<br />

1109) es formuliert hat. Es ist eine Errungenschaft der Theologie<br />

des Mittelalters, nach Regeln der Logik Streitgespräche<br />

(Disputationen) über die Wahrheit des Glaubens zu führen.<br />

Argumente zählen, auch in Glaubenskontroversen. 1521 vor<br />

den Reichstag in Worms zitiert, bestand Luther darauf, er<br />

könne nur <strong>du</strong>rch das Zeugnis der Schrift und klare Gründe<br />

der Vernunft widerlegt werden.<br />

Da christlicher Glaube jedoch keine bloß gedachte, sondern<br />

eine gelebte Religion ist, wäre es falsch, seine Geschichte<br />

mit der Geschichte der christlichen Theologie zu verwechseln.<br />

Der Glaube, die Beziehung zu Jesus Christus, liegt<br />

der Theologie voraus. Diese folgt der Glaubenspraxis und erwächst<br />

aus paradigmatischen Lebensvollzügen der christlichen<br />

Gemeinde: Beten, Glauben und Miteinanderleben.<br />

Anregungen zum Gespräch<br />

– Weshalb fällt es modernen Europäern so schwer, die<br />

globale Entwicklung des Christentums, aber auch anderer<br />

Weltreligionen realistisch und unvoreingenommen<br />

wahr zunehmen?<br />

– Bereitet es mir Unbehagen, dass christlicher Glaube heute<br />

nur eine Option unter anderen ist, oder sehe ich darin<br />

Chancen, die ich gern ergreifen möchte?<br />

– Wie geht es mir, wenn ich mich mit Alternativen zum<br />

tradierten Glauben auseinandersetze?<br />

– Was wünsche ich mir, um auf eine solche Auseinandersetzung<br />

besser vorbereitet zu sein?<br />

42


4. Die geistliche Würde der Laien<br />

4. Die geistliche Würde der Laien<br />

Bei der Suche nach den Anfängen des Christlichen möchte<br />

ich mich nicht von einem zeitgenössischen theologischen<br />

Programm leiten lassen, sondern am Beispiel Luthers orientieren,<br />

der sich als von der Kirche berufener »Doktor der Heiligen<br />

Schrift« (Glosse 1531, WA 30/III, 386) verstand. Theologie<br />

wurzelt bei ihm in einer Praxis, einer Existenz- und<br />

Lebensform, die sich an dem von der Schrift bezeugten Wort<br />

Gottes ausrichtet. Ein Theologe zu sein bedeutet folglich:<br />

sich mit Herz, Sinn und Verstand an der Heiligen Schrift zu<br />

bilden, die mir die für mein Leben entscheidende Wahrheit<br />

mitteilt. Es ist die Schrift, die mir als Theologe meinen Ort<br />

zuweist: als Laie bei den Laien.<br />

Biblisch verstanden sind Laien keine Nichtexperten, keine<br />

Nichttheologen, sondern Glieder des Gottesvolkes. In<br />

diesem Horizont sehe ich Jesus und seine Jünger, seine Lehrlinge.<br />

Sie sind Handwerker, Fischer und Zöllner, also Laien<br />

im ursprünglichen Sinn des Wortes. Sie predigen und lehren<br />

unterwegs, unabhängig von einer Institution, sie vergeben<br />

Sünden ohne priesterliche Weihe und heilen Kranke ohne<br />

ärztliches Diplom. Hier hat die geistliche Würde der Laien<br />

in der Gemeinde Jesu Christi ihren Grund. »Ich bin auch ein<br />

Laie. ›Laie‹ heißt einfach ›ein dem Volk (Gottes) Zugehöriger‹«,<br />

sagt ein bedeutender Theologe und erklärt dazu: Im<br />

»Volke Gottes stehen wir nebeneinander; der eine hat Theologie<br />

studiert und der andere nicht« (Barth, 36). Christenmenschen<br />

können in diesem Sinn »nie mehr sein als Laien«<br />

(Busch 2019, 88). Theologen, so gelehrt sie sein mögen, sollten<br />

sich bewusst sein: »Ein Theologe ist Gott nicht näher als<br />

ein ungelehrtes Kind« (Martin Niemöller).<br />

43


Zur Situation des Christentums<br />

Theologie hat es mit der Rede von Gott zu tun. Sie setzt,<br />

Max Weber zufolge, den Glauben an bestimmte Offenbarungen<br />

als heilswichtige Tatsachen voraus. Wer diesen Glauben<br />

nicht hat, dem kann keine Theologie ihn ersetzen. Als<br />

evangelischer Theologe habe ich darüber nachzudenken,<br />

wer der Gott ist, dessen Wirklichkeit die biblischen Propheten<br />

und Apostel bezeugen. Ich glaube, dass er im Evangelium<br />

definitiv für alle Menschen zur Sprache gekommen ist:<br />

als der Gott, der sich in der Geschichte Jesu Christi tief in die<br />

Lebensbedingungen der Menschen hineinziehen lässt. Er<br />

hat ihn dazu gesandt, dass keiner zugrunde geht (Joh 3,16),<br />

sondern alle Menschen gerettet werden (1 Tim 2,4).<br />

Theologen, die als seine Zeugen authentisch die Einheit<br />

von Glaube und Wissenschaft verkörpern, können für die<br />

Kirche, für die konkrete Gemeinde eine Hilfe sein. Sie suchen<br />

eine neue Sprache für die Inhalte des Glaubens, indem<br />

sie sich als Laien in der Gemeinschaft mit Laien verstehen<br />

und die Geschichte des Christentums auf der Basis gemeinsamer<br />

Erfahrungen reflektieren. »Wenn das Christentum<br />

eine Zukunft hat, dann im Wiederaufleben christlicher Erfahrung<br />

und Frömmigkeit bei Menschen, die niemals ein<br />

theologisches Buch gelesen haben« (Berger 1980, 202).<br />

44


4. Die geistliche Würde der Laien<br />

Anregungen zum Gespräch<br />

– Wie sehe ich die Zukunft des Christentums und der<br />

evangelischen Kirche?<br />

– Welche Chancen möchte ich nutzen?<br />

– Wo habe ich mich mit Alternativen zu meiner Überzeugung,<br />

meiner Position als glaubender/zweifelnder/suchender<br />

Mensch auseinandergesetzt?<br />

– Was hat sich danach bei mir verändert?<br />

– Welchen Alternativen bin ich ausgewichen?<br />

45


<strong>Michael</strong> <strong>Heymel</strong>, Dr. theol. habil., Jahrgang 1953, studierte<br />

Evangelische Theologie und Philosophie in Frankfurt am<br />

Main und Heidelberg. Pfarrer der Evangelischen Kirche in<br />

Hessen und Nassau (EKHN), 1982–2006 in Landgemeinden,<br />

hier auch Dienst als nebenamtlicher Chorleiter, 1991–2006<br />

Dekanatsbeauftragter für Prädikantenausbil<strong>du</strong>ng, 1998–<br />

2004 Mitglied der 9. Kirchensynode der EKHN, 2007/08 landeskirchlicher<br />

Referent für Ehrenamtliche Verkündigung im Zentrum Verkündigung<br />

der EKHN, 2008–2016 theologischer Mitarbeiter am Zentralarchiv der<br />

EKHN und Pfarrdienst in verschiedenen Kirchengemeinden im Raum Darmstadt,<br />

seit März 2016 im Ruhestand; bis 2012 auch Privatdozent für Praktische<br />

Theologie an der Universität Heidelberg.<br />

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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Gesamtgestaltung: makena plangrafik, Leipzig<br />

Coverbild: Angelika Kauffmann, Christus und die Samariterin am Brunnen<br />

(1796), Neue Pinakothek München<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07033-6 // eISBN (PDF) 978-3-374-07034-3<br />

www.eva-leipzig.de

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