Leseprobe_Tiemeyer_Schreker
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Klang als dramatisches Ausdrucksmittel
in den Opern Franz Schrekers
WIENER VERÖFFENTLICHUNGEN
ZUR MUSIKWISSENSCHAFT
Begründet von Othmar Wessely (Bd. 1–35)
Fortgeführt von Theophil Antonicek und Elisabeth Th. Hilscher (Bd. 36–38)
sowie von Theophil Antonicek und Gernot Gruber (Bd. 39–44)
Herausgegeben von Michele Calella und Birgit Lodes
BAND 55
Daniel Tiemeyer
Klang als dramatisches Ausdrucksmittel
in den Opern Franz Schrekers
DANIEL TIEMEYER
KLANG ALS
DRAMATISCHES
AUSDRUCKSMITTEL
IN DEN OPERN
FRANZ SCHREKERS
Gedruckt mit Unterstützung des Dekanats
der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien
Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft
des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Wien
Reihenherausgeber: Michele Calella und Birgit Lodes
Diese Publikation wurde im Peer-Review-Verfahren evaluiert.
Umschlagbild:
Der Schatzgräber (1. Bild). Entwurf von Ludwig Sievert,
in Musikblätter des Anbruch 2/1 (1920), S. 17.
Umschlaggestaltung: Gabriel Fischer
Layout: Manon Louviot
Hergestellt in der EU
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung.
Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses
urheberrechtlich geschützte Werk oder Teile daraus in einem photomechanischen oder
sonstigen Reproduktionsverfahren zu vervielfältigen und zu verbreiten.
Der Autor hat sich nach Kräften bemüht, alle Publikationsrechte einzuholen.
Sollten dennoch Urheberrechte verletzt worden sein, werden die betroffenen
Personen oder Institutionen gebeten, sich mit dem Autor in Verbindung zu setzen.
© 2022 by HOLLITZER Verlag, Wien
ISBN 978-3-99012-901-2
ISSN 2617-3344
www.hollitzer.at
INHALT
Vorwort und Danksagung 7
1. Klang als dramatisches Ausdrucksmittel in den Opern
Franz Schrekers 9
2. Vorstudien zum Schreker-Klang 15
2.1. Spezifische Eigenschaften des Klangs 15
2.2. Franz Schrekers Schaffen im Blickfeld Paul Bekkers 29
3. Methodische Vorüberlegungen 59
3.1. Die Skepsis der Musikwissenschaft gegenüber dem Klang 59
3.2. Klang als musikanalytische Kategorie 66
3.3. Kriterien zur Untersuchung des Schreker-Klangs 68
4. Schrekers spektakulärer Erstlingserfolg: Der ferne Klang 81
4.1. Das Vorspiel 83
4.2. Erster Aufzug. Realismus und Phantasmagorie 88
4.3. La casa di maschere – Ein musikalisches Panoptikum 112
4.4. Dritter Aufzug. Die Realität des Scheiterns 137
4.5. Symmetrien und harmonische Tektonik im Fernen Klang 158
5. Das Spielwerk und die Prinzessin 159
5.1. Das Vorspiel 163
5.2. Erster Aufzug – Exposition der Märchensymbolik 170
5.3. Das Vorspiel zum zweiten Aufzug – Die Traumvision des Festes 183
5.4. Zweiter Aufzug – Ekstatischer Reigen und Weltenbrand 190
6. Die Gezeichneten 221
6.1. Das Vorspiel 222
6.2. Erster Aufzug – Die Exposition des Dramas 238
6.3. Zweiter Aufzug – Politische Intrigen und lyrische Stimmungen 254
6.4. Dritter Aufzug: Elysium – Die Imagination der Liebesinsel 271
7. Der Schatzgräber 303
7.1. Vorspiel – Der geraubte Schatz der Königin 306
7.2. Erster Aufzug – Die Exposition der Märchenwelt 311
7.3. Zweiter Aufzug – Die mittelalterliche Stadt 323
7.4. Dritter Aufzug – Die Liebesnacht von Els und Elis 337
7.5. Vierter Aufzug – Der Konflikt von Märchenwelt und Realität 360
7.6. Das Nachspiel – Die Evokation des Märchenlandes 374
8. „Wie wenn der Wind mit Geisterhand über Harfen streicht“ –
Die spezifischen Eigenschaften des Schreker-Klangs 381
Anhang 389
Literatur- und Quellenverzeichnis 393
Register 405
VORWORT UND DANKSAGUNG
Die Faszination und die Suche nach dem Klang in den Opern Schrekers hat
mich seit langer Zeit konstant begleitet. Angefangen mit einer aus dem Regal
gezogenen Aufnahme des Fernen Klangs hat sich dieses Interesse während der
letzten Phase meines Magister-Studiums an der Universität Wien entwickelt
und mündete schließlich in meiner Dissertation. Das vorliegende Buch ist eine
revidierte und stark gekürzte Version, die Struktur meiner Qualifikationsschrift
ist jedoch gleich geblieben. Die Publikation ist das Ergebnis meiner Suche
nach der Ergründung der Sinnlichkeit des Klangs von Schrekers frühen
Opern sowie des Vorhabens, deren kompositorische Gestalt musikanalytisch
zu untersuchen und zentrale Elemente des Parameters Klang zu versprachlichen.
Für die finanzielle Unterstützung, ohne die ein solches Projekt sich nicht
realisieren lässt, darf ich mich herzlich bei der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften für ein dreijähriges DOC-Stipendium sowie bei der Universität
Wien für ein halbjähriges Abschlussstipendium bedanken. Die Drucklegung
wurde vom Dekanat der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät
der Universität Wien bezuschusst, auch dafür bedanke ich mich sehr.
Ein Buch wie dieses kann nicht ohne die Hilfe zahlreicher Freunde und
Mentoren entstehen, die mich inhaltlich, wissenschaftlich, aber auch mental
zu jedem Zeitpunkt unterstützten. Ihnen sei an dieser Stelle ausdrücklich und
herzlich gedankt. Allen voran meiner Doktormutter Birgit Lodes, die sich der
Betreuung dieses Vorhabens bereitwillig angenommen hat, ferner Michele
Calella, dem ich manchen kostbaren Rat verdanke. Außerdem möchte ich meinen
Wiener Kolleginnen und Kollegen für die schöne Zeit des gemeinsamen
Arbeitens und für die vielen Gespräche danken, genannt seien hier Barbara
Babić, Carolin Krahn sowie Jonas Pfohl. Auch an anderem Orte, in meinen
Wahlheimaten Weimar und Heidelberg, hat man mich stets mit Rat und Tat
unterstützt. Mein erster Dank gilt hier meiner Mentorin Christiane Wiesenfeldt
für ihre Hinweise und die Motivation, die Dissertation schließlich zur
Publikation zu bringen. Außerdem habe ich einer Reihe von Kollegen zu danken
für die unzähligen Diskussionen, die das Buch schließlich reifen ließen:
7
Michael Chizzali, Fabian Czolbe, Alexander Faschon, Stefan Menzel und
Maximilian Rosenthal.
Ein ganz besonderer Dank gilt Manon Louviot, nicht nur für die Erstellung
des Layouts dieses Buches, sondern vor allem für die Wärme, die sie mir in der
Schlussphase der Fertigstellung geschenkt hat.
Gewidmet ist das Buch meinen lieben Eltern, deren rückhaltlose Unterstützung
mir all dies erst ermöglichte.
Daniel Tiemeyer, im September 2021
8
1. KLANG ALS DRAMATISCHES AUSDRUCKS-
MITTEL IN DEN OPERN FRANZ SCHREKERS
Im Musiktheater des frühen 20. Jahrhunderts ragen die Opern Franz Schrekers
vor allem durch ihren besonderen Orchesterklang hervor. Bereits mit der Premiere
von Der ferne Klang galt dieses Spezifikum als Sensation, als Phänomen
im deutschsprachigen Raum. In jeder Oper Schrekers ereignen sich Momente,
in denen die Musik in ihrer materiellen Gestalt als suggestive Klangvision
selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Diese symbolischen Emanationen
des Klangs bilden das musikdramatische Zentrum der Werke und waren
für Schreker der Ausgangspunkt für die Konzeption seiner Textbücher. Ein
reich differenzierter Orchestersatz, schillernde Texturen und ein wogendes
Klangbild formen die grundlegenden Elemente seiner spezifischen Klangsprache.
Die vorliegende Untersuchung stellt deshalb die Frage nach der individuellen
Gestaltung dieses ‚Schreker-Klangs‘ und will diesem mit musikanalytischen
Detailstudien der frühen Opern nachgehen. Es handelt sich dabei um die
vier in Wien entstandenen Opern, die mit dem Fernen Klang beginnen und mit
dem Schatzgräber ihren stilistischen Höhepunkt erreichen.
Der Klang Schrekers zeigt sich als zeitaktuelles Phänomen der Wiener
Moderne. Schrekers Werke wurden eifrig rezipiert, was sich an der großen
Fülle an Rezensionen zeigt. Vor allem in den Musikblättern des Anbruch finden
sich mannigfaltige Kompilationen von Werkbesprechungen sowie Aufsätze,
die sich mit der Person Schreker auseinandersetzen. Gleich drei Sonderhefte
des Anbruch (1919, 1920 und 1924) sind Schreker und seinen Opern gewidmet.
Bereits im Jahr 1921 wurden zwei Schreker-Biographien, verfasst von Julius
Kapp 1 und Rudolf Hoffmann 2 , publiziert. Diese beziehen in der ästhetischen
Debatte klar Stellung für Schreker, zeichnen den künstlerischen Werdegang
des Komponisten nach und widmen den Opern ausführliche Besprechungen.
Der Kritiker Paul Bekker setzte sich mit Nachdruck für Schreker ein und
es entwickelte sich eine für beide Seiten produktive Freundschaft. Bekkers
1 Julius Kapp, Franz Schreker. Der Mann und sein Werk, München 1921.
2 Rudolf Hoffmann, Franz Schreker, Wien u. a. 1921.
9
1. Klang als dramatisches Ausdrucksmittel in den Opern Franz Schrekers
Kritiken sind von einem tiefen Verständnis der Werke Schrekers gekennzeichnet
und gipfeln in seinem Essay Franz Schreker. Studie zur Kritik der modernen
Oper 3 , in dem er zentrale Thesen seiner Operntheorie formuliert und an Schrekers
Œuvre exemplifiziert. Diese Gedanken Bekkers dienen noch heute als
Ausgangspunkt für die gattungs- und zeitgenössische Einordnung von Schrekers
Opern.
Mitte der 1920er Jahre nahm das Interesse an Schreker jedoch rapide ab,
nicht zuletzt, da seine Vision vom Klang als nicht mehr zeitgemäß erschien. So
geriet Schreker als Komponist bereits zu Lebzeiten nahezu in Vergessenheit,
bevor mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten seine Opern komplett
aus dem Spielplan gestrichen wurden. Der einst so gefeierte Komponist war
damit von der Bildfläche der deutschsprachigen Opernproduktion verschwunden
und firmierte lange Zeit ausschließlich als ‚Geheimtipp‘.
Der Umfang der Schreker-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg ist aus
Gründen dieser Verdrängung überschaubar. Gab es zum hundertjährigen Jubiläum
des Komponisten 1978 eine Reihe von Konferenzen und Symposien, 4
die in einer Anzahl von Einzeldarstellungen mündeten, so blieb Gösta Neuwirth
mit seiner 1959 publizierten Kurzbiographie über Schreker 5 lange Zeit
der einzige Autor, der sich mit der Darstellung des Lebens des Komponisten
befasste. Neuwirth darf auch in einer zweiten Hinsicht als Pionier der Schreker-Forschung
gelten, denn er war der erste, der sich mit seiner Dissertation
zur Harmonik des Fernen Klangs aus dem Jahr 1972 6 detailliert mit der kompositorischen
Struktur einer Oper Schrekers auseinandersetzte. Christopher Hailey
legte mehr als dreißig Jahre nach Neuwirth die erste und bis heute einzige
umfangreiche Schreker-Biographie 7 vor, die 2018 schließlich auch in deutscher
Übersetzung erschien. 8 Hailey war unermüdlich tätig, um Quellenmaterial
3 Paul Bekker, Franz Schreker. Studie zur Kritik der modernen Oper, Berlin 1919.
4 Die beiden wichtigsten Publikationen in diesem Zusammenhang sind nach wie vor Franz
Schreker. Am Beginn der Neuen Musik, hrsg. von Otto Kolleritsch, Graz 1978 (Studien zur
Wertungsforschung 11) sowie das Franz-Schreker-Symposion, hrsg. von Elmar Budde und
Rudolph Stephan, Berlin 1980 (Schriftenreihe der Hochschule der Künstler Berlin 1).
5 Gösta Neuwirth, Franz Schreker, Wien 1959.
6 Gösta Neuwirth, Die Harmonik in der Oper „Der ferne Klang“ von Franz Schreker, Regensburg
1972 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 27).
7 Christopher Hailey, Franz Schreker, 1878–1934. A cultural biography, Cambridge 1993. Weiterführende
biographische Hintergründe finden sich zudem bei Ernst Hilmar, „Schrekers
Wiener Jahre“, in Kolleritsch, Franz Schreker, S. 59–75 sowie Haidy Schreker-Bures,
„Franz Schreker und seine Zeit“, in Franz Schreker, hrsg. von ders., Hans Heinz Stuckenschmidt
und Werner Oehlmann, Wien 1970 (Österreichische Komponisten des XX. Jahrhunderts
17), S. 9–38.
8 Christopher Hailey, Franz Schreker (1878–1934). Eine kulturhistorische Biographie, übers. von
Caroline Schneider-Kliemt und Volkmar Putz, Wien u. a. 2018.
10
1. Klang als dramatisches Ausdrucksmittel in den Opern Franz Schrekers
und Hintergrundinformationen über Schreker aufzubereiten und der Wissenschaft
sowie einem interessierten Leserkreis zur Verfügung zu stellen. Heute
liegt zu jedem Bühnenwerk mindestens eine Gesamtdarstellung vor: Der ferne
Klang 9 wurde exemplarisch von Ulrike Kienzle analysiert, Christiane Thiede
fertigte eine Gegenüberstellung der beiden Fassungen von Das Spielwerk und
die Prinzessin 10 an, während sich David Klein, Tim Steinke und Arne Stollberg
mit den Gezeichneten 11 auseinandersetzten. Der Schatzgräber 12 wurde eingehend
von Matthias Brzoska untersucht, Janine Ortiz widmete sich zunächst in ihrer
Magisterarbeit der Oper Irrelohe 13 und anschließend in ihrer Dissertation den
drei späten Schreker-Opern Der singende Teufel, Christophorus und dem Schmied
von Gent. 14
Diese Monographien legen die Hintergründe der jeweiligen Entstehungsgeschichte
offen, analysieren die Struktur der Werke und arbeiten den geistesgeschichtlichen
Kontext heraus. Was in der Forschung bislang noch nicht
unternommen wurde, ist eine Gesamtdarstellung der musikalischen Sprache
Schrekers: eine Untersuchung der kompositorischen Beschaffenheit des spezifischen
Klangs seiner Opern.
Die meisten einführenden Publikationen zu Schreker beschränken sich auf
die Wiedergabe des Entstehungskontextes und der Handlung, vermeiden aber
eine fundierte Untersuchung der Musik. 15 Die vorliegende Arbeit widmet sich
aus diesem Grund bewusst der musikalischen Klanganalyse, um den jeweiligen
dramatischen Kontext mit der klanglichen, harmonischen und motivischen
Gestaltung zu verknüpfen. Jürgen Maehder bemerkte in seinem Beitrag zur
Instrumentationskunst bei Richard Strauss bereits, dass „die Instrumentationslehren
des 19. Jahrhunderts, auch wenn diese ihre Beispiele mit Vorliebe
9 Ulrike Kienzle, Das Trauma hinter dem Traum. Franz Schrekers Oper „Der ferne Klang“ und die
Wiener Moderne, Schliengen 1998 (Sonus. Schriften zur Musik 3).
10 Christiane Thiede, Untersuchungen zu Franz Schrekers Oper „Das Spielwerk“ in ihren beiden
Fassungen, Magisterarbeit Universität Köln 1988.
11 David Klein, „Die Schönheit sei Beute des Starken“. Franz Schrekers Oper „Die Gezeichneten“,
Mainz 2010 (Schreker Perspektiven 2); Tim Steinke, Oper nach Wagner. Formale Strategien
im europäischen Musiktheater des frühen 20. Jahrhunderts, Kassel 2010; Arne Stollberg, Ohr und
Auge – Klang und Form. Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder,
Richard Wagner und Franz Schreker, München 2006 (Beiträge zum Archiv für Musikwissenschaft
58).
12 Brzoska, Franz Schrekers Oper „Der Schatzgräber“, Stuttgart 1988 (Beiträge zum Archiv für
Musikwissenschaft 27).
13 Janine Ortiz, „Feuer muss fressen, was Flamme gebar“. Franz Schrekers Oper „Irrelohe“, Mainz
2008 (Schreker Perspektiven 1).
14 Janine Ortiz, „Nun ist alles beim Teufel“. Franz Schrekers späte Opern, München 2017.
15 Magali Zibaso, Franz Schrekers Bühnenwerke. Eine Biographie in Selbstzeugnissen und Analysen
seiner Opern, Saarbrücken 1999.
11
1. Klang als dramatisches Ausdrucksmittel in den Opern Franz Schrekers
Opernpartituren entnahmen, niemals die Frage der Positionierung eines Klanges
im Verlaufe der Handlung diskutierten, sondern nur dessen technische
Herstellung“. 16 Genau dieser Zusammenhang soll in der vorliegenden Studie
detailliert herausgearbeitet werden, die kompositorische, mithin phänomenologische
Komponente des Klangs ebenso wie dessen dramatische Positionierung
im jeweiligen Werk. Die Untersuchung lehnt sich darüber hinaus
an das Konzept der „dramaturgischen Analyse“ von Carl Dahlhaus an, nach
der es gilt, „im musikalischen als auch im sprachlichen Text einer Oper die
Momente zu entdecken und zu akzentuieren, die für die Struktur des Werkes
als Drama und Theaterereignis konstitutiv sind“. 17 Der Schwerpunkt wird auf
ein spezifisches Charakteristikum der musikalischen Sprache Schrekers gelegt:
auf die besondere Inszenierung von Klang als dramatisches Ausdrucksmittel.
Die Analyse folgt der Chronologie der einzelnen Opern und fokussiert
im Detail sowohl die Progression des Dramas als auch die zentralen klanglichen
Momente. Als Untersuchungsgegenstand wurden die vier Wiener Opern
Schrekers, Der ferne Klang (UA 1912), Das Spielwerk und die Prinzessin (UA 1913),
Die Gezeichneten (UA 1918) und Der Schatzgräber (UA 1920) herangezogen. Auf
eine Untersuchung von Schrekers erster Oper Flammen wurde aus mehreren
Gründen verzichtet: Sie weist aufgrund ihrer lyrischen Konzeption die Anlage
einer „Lieder-Oper“ auf und birgt wenig dramatisches Potenzial für eine Realisierung
auf der Bühne. Sie wurde am 24. April 1902 im Bösendorfer-Saal
in Wien in einer kammermusikalisch reduzierten Klavierfassung in privatem
Rahmen uraufgeführt und zu Lebzeiten Schrekers nie wieder gespielt. Die
Premiere der orchestrierten Version fand erst im Jahre 2001 in Kiel statt, sodass
Flammen keinen Anteil an der zeitgenössischen Wahrnehmung des Phänomens
Schreker hatten. Schließlich sprechen stilistische Gründe für den Ausschluss
dieses Werkes, das sich in seiner Klanglichkeit und Orchestersprache mehr
Schrekers Orchesterkompositionen 18 und Liedern 19 um 1900 zuordnen lässt als
seinen großen Opern.
16 Jürgen Maehder, „Klangfarbenkomposition und dramatische Instrumentationskunst in
den Opern von Richard Strauss“, in Richard Strauss und das Musiktheater, hrsg. von Julia
Liebscher, Berlin 2005, S. 139–182, hier S. 412.
17 Carl Dahlhaus, „Zur Methode der Opern-Analyse“, in Carl Dahlhaus. Gesammelte Schriften,
hrsg. von Hermann Danuser, Laaber 2001, Bd. 2, S. 412–422, hier S. 412.
18 Eckardt van den Hoogen, Die Orchesterwerke Franz Schrekers in ihrer Zeit. Werkanalytische
Studien, Regensburg 1981.
19 Daniel Tiemeyer, „Die Funktion des Klangs in Franz Schrekers frühen Liedern“, in
Ästhetik der Innerlichkeit. Max Reger und das Lied um 1900, hrsg. von Stefan Gasch, Wien
2018 (Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 48), S. 254–270.
12
1. Klang als dramatisches Ausdrucksmittel in den Opern Franz Schrekers
Um sich dem spezifischen Klang Schrekers analytisch zu nähern, werden in
einem ersten Schritt Grundkategorien desselben erörtert. Zunächst wird die
Besetzung von Schrekers Orchester mit demjenigen von Wagner verglichen,
um das Entwicklungsstadium der Schreker zur Verfügung stehenden Klangmasse
zu eruieren. Anschließend werden Spezifika wie Räumlichkeit, Motivik
und die Funktion von Tonsymbolen herausgearbeitet. Ein Exkurs zur
Frage nach der Bedeutung des Jugendstils für Schrekers ästhetische Konzeption
schließt diese erste Annäherung ab (Kap. 2.1.). In der Folge werden die
zentralen Thesen Paul Bekkers anhand des Schreker-Essays sowie der vier Uraufführungs-Rezensionen
der behandelten Opern dargelegt, um aus einer zeitgenössischen
Perspektive heraus den Zugang zum Schreker-Klang zu schärfen
(Kap. 2.2.). Sodann wird der musikwissenschaftliche Umgang mit der Kategorie
des Klangs reflektiert (Kap. 3.1.) und Kriterien für die musikalische Analyse
erarbeitet (Kap. 3.2.). Als Ausgangspunkt hierfür dient die von Tobias Janz am
Ring des Nibelungen entwickelte Terminologie zur Untersuchung von Wagners
spezifischer „Klangdramaturgie“, die als Grundlage für die Analyse des Klangs
bei Schreker herangezogen wird (Kap. 3.3.).
Im Hauptteil der Arbeit werden die vier Opern in chronologischer Reihenfolge
hinsichtlich der musikdramatischen Verwendung von Klang untersucht,
um dessen Bedeutung und Konzeption bei Schreker herauszuarbeiten
(Kap. 4.–7.). Die Analysen der zentralen klanglichen Momente der Opern
sollen im Detail aufzeigen, wie der Klang als spezifisch dramatisches Ausdrucksmittel
fungiert. Es handelt sich um die erste vergleichende Studie, die
mehrere Opern Schrekers unter dem Gesichtspunkt des Klangs analysiert. Die
leitende Forschungsfrage ist, wie diese besonderen Momente der Entfaltung
des orches tralen Klangs kompositorisch beschaffen sind und wie die Partituren
diesbezüglich strukturiert sind. Die musikalischen Parameter, die hierfür
primär in Betracht kommen, sind Instrumentation, Motivik sowie Harmonik
und Dynamik. Aus ihnen resultiert ein spezifischer Klang, der als integraler
Bestandteil der Opern Schrekers und somit als eigenständiger musikalischer
Parameter betrachtet wird. Hier zielt die Frage auf die technische Realisierung
und Konstruktion der individuellen klanglichen Ereignisse innerhalb der
Partitur ab. Eine zweite Perspektive schließt sich unmittelbar daran an, da der
Klang in Schrekers Opern als zentraler dramaturgischer Bestandteil fungiert
und durch seine Wirkungsmacht auf die Protagonisten dezidiert in die Handlung
eingreift. In einer abschließenden Zusammenfassung werden die wichtigsten
Kriterien des Schreker-Klangs sowie die stilistische Entwicklung zwischen
dem Fernen Klang und dem Schatzgräber gebündelt präsentiert (Kap. 8.).
13
2. VORSTUDIEN ZUM SCHREKER-KLANG
2.1. Spezifische Eigenschaften des Klangs
Die Orchesterbesetzungen der Musikdramen Wagners und Schrekers
im Vergleich
Zwischen der Fertigstellung des Rings des Nibelungen und den dieser Untersuchung
zugrunde liegenden Opern Schrekers liegt ein Zeitraum von mehr als
vierzig Jahren. In diesen fällt die Komplettierung des spätromantischen Orchesters,
das mit den Symphonien Gustav Mahlers und den Gurreliedern Arnold
Schönbergs in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts seine größte Expansion
erfuhr. 1 Da der Musikkritiker Paul Bekker Schrekers Werke als Fortführung
Wagners ansah, wird diese Entwicklung des Orchesters nach Wagner in dem
folgenden Kapitel in den Blick genommen.
Der Umfang des Orchesters hat sich in den Jahren, die zwischen der Uraufführung
des Rings (1876) und derjenigen des Schatzgräbers (1920) liegen, enorm
erweitert. Insbesondere das Schlagwerk und das Diskantspektrum wurden im
Vergleich zum Ring-Orchester um die Jahrhundertwende stark vergrößert. 2
Vergleicht man jedoch die Besetzungen von Wagner und Schreker, so zeigt
1 Zur Entwicklung des Instrumentariums im 19. und 20. Jahrhundert siehe Peter Jost,
Instru mentation. Geschichte und Wandel des Orchesterklanges, Kassel 2004 (Bärenreiter Studienbücher
Musik 13), S. 56–58.
2 Tobias Janz, Klangdramaturgie. Studien zur theatralen Orchesterkomposition in Wagners „Ring
des Nibelungen“, Würzburg 2006 (Wagner in der Diskussion 2), S. 60: „Der Orchesterklang
um 1900 übernimmt zwar das Wagnersche Klangbild weitgehend und überbietet dessen
Gravitationstendenz teilweise noch durch Hinzuziehen weiterer Baß- und Kontrabaßklänge,
etwa in der Vergrößerung der Flöten- und Klarinettengruppe. Er unterscheidet
sich von diesem jedoch gleichzeitig signifikant durch die Öffnung der oberen Klangregionen
hin zu lichten, glänzenden oder grellen Farben – hohe, oft gedämpfte Trompeten,
kleine Klarinette, Celesta, Erweiterung des Schlagzeugs usw. Wagner nutzt den hohen
und grellen Klangbereich für sich genommen kaum.“
15
2. Vorstudien zum Schreker-Klang
sich, dass die Größe des Orchesters der frühen Schreker-Opern nicht signifikant
über die Dimension bei Wagner hinausgeht. Im Gegenteil, das Ring-Orchester
weist insbesondere im Bereich der Blechbläser eine wesentlich höhere
Klangfülle auf als Schrekers Wiener Opern. So kommen im Laufe der Tetralogie
insgesamt 18 verschiedene Blechbläser zum Einsatz, 3 während deren Anzahl
bei Schreker zwischen 11 im Fernen Klang und Schatzgräber, 13 in Das Spielwerk
und die Prinzessin und 14 in den Gezeichneten variiert. 4 Die Besetzungsstärke der
Opern Schrekers orientiert sich damit eher an den Dimensionen von Tristan
und Isolde, Die Meistersinger von Nürnberg sowie Parsifal als an derjenigen des
Rings, der mit Abstand das höchste Differenzierungspotenzial im tiefen Blechblasregister
aufweist. 5
Hinsichtlich der Holzbläser zeigt sich eine weitgehende Übereinstimmung,
da alle vier Instrumente dreifach besetzt und somit in der Lage sind, den vollen
Dreiklang zu spielen. Schrekers standardmäßige Besetzung der Holzbläser
beläuft sich auf drei große Flöten, kleine Flöte, drei Oboen, Englischhorn, drei
Klarinetten, Bassklarinette, drei Fagotte respektive zwei Fagotte und Kontrafagott,
wobei die jeweils dritte Flöte und Oboe das Alternativinstrument
übernehmen. Erweiterungen dieses Standards finden sich in den Gezeichneten,
die vier Flöten und vier Klarinetten erfordern, sowie in Das Spielwerk und die
Prinzessin, in denen neben vier Flöten zusätzlich noch ein Bassetthorn zum
Einsatz gelangt.
Die Vergrößerung des Instrumentariums um 1900 manifestiert sich mit
Blick auf das Ring-Orchester vor allem in der Sektion des Schlagwerks.
Wagner setzte dieses zwar ebenso wie Schreker situativ zur Erzeugung von
Atmosphäre ein, allerdings konnte letzterer aufgrund der Erweiterung der
Perkussionsinstrumente auf ein wesentlich größeres Differenzierungspotenzial
zurückgreifen. Kommen im Ring Triangel, Becken, Tamtam, Rührtrommel
und Glockenspiel zum Einsatz, so verfügt das Schlagwerk in Schrekers
Orchester über die dreifache Anzahl von Instrumenten: In Das Spielwerk und
die Prinzessin werden beispielsweise 14 verschiedene Perkussionsinstrumente
verwendet: Xylophon, zwei Glockenspiele, tiefe Glocken, antike Zimbeln,
Kastagnetten, zwei Triangeln, Becken, Tamtam, Rute, Tamburin (respektive
3 Bestehend aus: 8 Hörner (3. und 4. auch 2 Tenortuben in B, weitere 2 Hörner, auch 2
Basstuben), 1 Kontrabasstuba, 3 Trompeten, 1 Basstrompete, 3 (Tenor-Bass-)Posaunen, 1
Kontrabassposaune, 1 „gewöhnliche“ Basstuba.
4 Hier jeweils 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen und eine Basstuba; sowohl in Das Spielwerk
und die Prinzessin als auch in Die Gezeichneten kommen 6 Hörner zum Einsatz, während
bei letzterem noch eine 4. Trompete hinzutritt.
5 In diesen drei Musikdramen Wagners ist das Blech besetzt wie in Schrekers Der ferne
Klang, also mit 4 Hörnern, 3 Trompeten, 3 Posaunen und einer Basstuba.
16
2.1. Spezifische Eigenschaften des Klangs
die baskische Trommel), zwei kleine Trommeln, Rührtrommel, Große Trommel
und sogar ein mit Papier bespannter Holzrahmen. Eine derart reichhaltige
Besetzung des Schlagwerks sowie die zusätzliche Verwendung von Harfe und
Celesta findet sich jedoch auch in den Bühnenwerken von Richard Strauss oder
Alexander von Zemlinsky, sodass Schrekers Orchesterbesetzung keine Besonderheit,
sondern die Regel für das Musikdrama der Wiener Moderne darstellt. 6
Da die Orchestersatztechnik zwischen Wagner und Schreker erheblich voranschritt,
stand dem Jüngeren ein weitaus größeres Arsenal an durch Mischung
erzeugten, synthetischen Klängen zur Verfügung. Während für Wagner die
drei Orchesterchöre Streicher, Holzbläser und Blechbläser die Grundlage seiner
Klangkonzeption darstellten, erweiterte sich die orchestrale Sprache um
1900 dergestalt, dass sich zunehmend jede einzelne instrumentale Farbe miteinander
kombinieren ließ. 7 Diese Freiheit in der Zusammenstellung der Instrumente
führte zu einer neuen „Sensibilität gegenüber dem Klang und den
Möglichkeiten seiner Veränderung und Nuancierung“. 8
Die Tatsache, dass sich der Schreker-Klang wesentlich von demjenigen
Wagners unterscheidet, liegt damit zum einen an der Möglichkeit der freieren
Kombination von Individualklängen. Zum anderen ist Schrekers prononcierte
Verwendung der Celesta maßgeblich für die Klanggestalt seiner Opern
verantwortlich. Diese zählt durch ihre schillernde, gläserne Farbe und ihren
spezifisch obertonreichen, funkelnden Klang zu dem markantesten Instrument
in Schrekers Partituren. Die Celesta gehört mit den zwei Harfen zur Standardbesetzung
von Schrekers Opernorchester und wird immer dann gezielt
eingesetzt, wenn ein klangliches Ereignis im Zentrum der musikalischen
Darstellung steht: „Spielt der Klang als solcher eine Rolle, so bedarf das
Orchester einer grundsätzlichen Erweiterung, und zwar um Tasten- und
Zupfinstrumente.“ 9
Hebt sich also die Orchesterbesetzung bei Schreker nicht sonderlich von den
Gepflogenheiten seiner Zeitgenossen ab, so nutzt er dennoch zwei spezifische
Elemente, die seinen Partituren eine distinguierte Individualität verleihen:
Dies ist zum einen die Verwendung von Vokalisen in hinter oder seitwärts
6 Weiterführend zur Orchestertechnik in den Opern von Richard Strauss siehe Jürgen
Maehder, „Klangfarbenkomposition“, S. 139–181.
7 Janz, Klangdramaturgie, S. 121: „Wenn für Wagner die Chorteilung des Orchesters noch
die Grundlage des orchestralen Denkens darstellt, geht der nachwagnersche Orchestersatz
generell stärker auf eine kompositorische Aufhebung der Chorgrenzen, so daß
schließlich virtuell jede Farbe mit jeder anderen kombinierbar wird.“ Am sinnfälligsten
ereignet sich dies in Maurice Ravels Boléro aus dem Jahr 1928.
8 Jost, Instrumentation, S. 59.
9 Rudolf Stephan, „Franz Schreker“, in Rudolf Stephan. Vom musikalischen Denken. Gesammelte
Vorträge, hrsg. von Rainer Damm und Andreas Traub, Mainz 1985, S. 162–167, hier S. 167.
17
2. Vorstudien zum Schreker-Klang
der Bühne positionierten Chorensembles, um stimmungsvolle Klangräume zu
generieren. Diese vokalen Elemente sind von ihrer sprachlich-textbezogenen
Bindung abgelöst und werden direkt in den Gesamtklang der jeweiligen Szene
integriert, fungieren somit gewissermaßen als Teil der Instrumentation.
Das zweite Spezifikum der frühen Opern Schrekers stellt die Einbindung
umfangreicher Bühnenmusiken und Fernorchester dar. Bei Wagner findet sich
hierfür – mit Ausnahme einzelner Signalinstrumente auf der Bühne – keine
Entsprechung, sodass im Vergleich mit dem Ring durch die Präsenz von zwei
und mehr Ensembles auf der Bühne eine neue Qualität der Instrumentationskunst
erreicht wird. Diese Bühnenorchester formen individuelle, heterogene
Sektoren, die für die Dramaturgie der jeweiligen Szenen von zentraler Bedeutung
sind, indem sie den Bühnenraum durch ihre Klangwirkung akustisch
ausgestalten: „Die Bühnenmusik wirkt nicht nur koloristisch, sondern auch
inszenatorisch. Durch die Reihung verschiedener Klangfelder werden aus dem
optischen Total der Szene einzelne Ausschnitte sukzessive akustisch vergegenwärtigt.“
10 Am auffälligsten dient sie im Fernen Klang der plastischen Herstellung
der Szenerie des Vergnügungsetablissements La casa di maschere. Verschiedene
Ensembles treten auf der Bühne zu dem Orchester im Graben hinzu und
erzeugen so eine vielschichtige Klangkollage, die der Opulenz des Bühnenbilds
und den simultan ablaufenden Handlungen entspricht. „Klang und Farben,
Ohr- und Augenwahrnehmung, wie sie oft in unmittelbare Beziehung
zueinander gesetzt, ja schon gelegentlich direkt miteinander verbunden wurden,
sind als Sinneserscheinungen unmittelbare Erosspiegelungen.“ 11 Schreker
schließt mit seinen heterogenen Bühnenensembles weniger an Wagner als vielmehr
an die Operntradition Verdis an, der durch die Verwendung der Banda
auf der Bühne bereits den Klangraum und die szenisch-räumliche Darstellung
der Gattung erweiterte. Dieses Ensemble stellte nicht nur einen Zusatz zum
Haupt orchester dar, sondern diente zur Strukturierung des Ablaufs des Geschehens,
indem „die szenische Situation in einen größeren räumlichen Kontext
eingebunden und als Ausschnitt einer über den Bühnenraum hinausgreifenden
Realität sinnfällig gemacht werden“ 12 kann. Dieses Element der klanglichen
Perspektive ist ein weiterer integraler Bestandteil der Konzeption und Faktur
der Partituren Schrekers. Sie eröffnet den Blick auf die räumliche Disposition,
in der sich dieser Klang entfaltet, sowie auf geradezu filmhafte Prinzipien, die
10 Brzoska, Franz Schrekers Oper „Der Schatzgräber“, S. 116.
11 Paul Bekker, „Klang und Eros. Brief in die Ferne“, in ders., Klang und Eros (Gesammelte
Schriften 2), Stuttgart 1922, S. 336–353, hier S. 347.
12 Arne Langer, „Die optische Dimension. Szenentypen, Bühnenräume, Kostüme, Dekorationen,
Bewegung, Tanz“, in Verdi Handbuch, hrsg. von Anselm Gerhard und Uwe
Schweikert, Stuttgart 2 2013, S. 270–297, hier S. 271.
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2.1. Spezifische Eigenschaften des Klangs
insbesondere im Zuge der großen Massenszenen zum Einsatz gelangen und
Bühnenraum sowie Handlungsverlauf strukturieren.
Räumliche und filmische Perspektiven
Schrekers Klang ist nicht eindimensional gestaltet, sondern zielt mit seiner Architektur
stets auf seine Entfaltung im Raum, wodurch er sich als „räumlich
erfahrbares Phänomen“ 13 manifestiert. Diese multimediale Perspektive basiert
überwiegend auf der Verwendung von Fernorchestern. Diese Ensembles sind
auf der Bühne positioniert und in den Kontext der jeweiligen Handlung eingebunden.
Darüber hinaus formen sie klangliche Entitäten, die hinter der Bühne
die Progression des Dramas symbolisch überhöhen. Der Bühnenraum fungiert
somit dezidiert als „Projektionsfläche innerdramatischer Vorgänge“, 14 sodass
sich eine Symbiose zwischen der klanglichen Ausgestaltung des Raums und
dem dramatischen Handlungsverlauf ergibt.
Die räumliche Wirkung des Klangs ist sowohl von der Position der jeweiligen
Instrumente als auch des Rezipienten abhängig: „Konkrete Raumvorstellungen
werden in musikalische Strukturen umgesetzt, musikalische Bauweisen
und Anlagen veranlassen bestimmte Dispositionen im Raum.“ 15 Die Erfahrungen
dieser Räumlichkeit sind zentrale Momente der europäischen Kunstmusik,
„denn in ihr haben Raumvorstellungen eine spezielle Bedeutung für
das musikalische Denken und für den Kompositionsbegriff erhalten“. 16 Schrekers
Verwendung von Bühnenensembles und Fernorchestern ist ein zentraler
Bestandteil für sein Konzept der Raumakustik, die eine mehrdimensionale
Klangsphäre generiert. Insbesondere die Massenszenen sind primär raumakustisch
gestaltet, sodass die optische Vielfalt der Regie ihr akustisches Pendant
erhält und die Szene zu einer synästhetischen Totale verschmilzt. Diese akustische
Illusion und Reizüberflutung des Zuhörers ist ein Teil der Inszenierung
der Klangereignisse bei Schreker und intendiert im Sinne einer Überwältigungsstrategie
das vollständige kontemplative Eintauchen des Rezipienten in
das dramatische Geschehen. In den Regieanweisungen zu Beginn des zweiten
Akts des Fernen Klangs notiert Schreker beispielsweise:
Die folgenden Szenen sollen sich […] in der Weise vermengen, daß der Zuhörer
einen möglichst getreuen Eindruck des Milieus erhält, und beinahe die Empfin-
13 Janz, Klangdramaturgie, S. 55. Zur historischen Entwicklung der Disposition von Orchestern
im Raum siehe Jost, Instrumentation, S. 135–140.
14 Klein, „Die Schönheit sei Beute des Starken“, S. 72.
15 Stefan Kunze, „Raumvorstellungen in der Musik. Zur Geschichte des Kompositionsbegriffs“,
in Archiv für Musikwissenschaft 31 (1974), S. 1–21, hier S. 10.
16 Ebd., S. 4.
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